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Die "Religionsgeschichtliche Schule"


Der akademisch-theologische Verein in Göttingen

    (=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS1)

Zwar entwickelte der "Eichhorn-Kreis" seine neuartigen Ideen in ständiger Auseinandersetzung mit seinen theologischen Lehrern. Doch fand diese nicht nur in den Hörsälen statt. Hier keimten lediglich erste Ideen auf, die im gemeinsamen Kreis der Freunde außerhalb der Vorlesungsverpflichtungen diskutiert und weiterentwickelt werden mußten.

    "Freilich wird es manchem Studenten sehr schwer, mit dem, was unfertig und unklar in seinem Innern vorgeht, seinen akademischen Lehrern sich zu erschließen. Viel leichter geht er im Kreise der Kommilitonen aus sich heraus. Daher stellt sich überall das Bedürfnis ein, daß sich die Studierenden untereinander in fachwissenschaftlichen Vereinen zusammenschließen. An unsern theologischen Fakultäten gibt es daher überall besondere theologische Vereine, häufig ihrer mehrere nebeneinander an derselben Universität."
      [D.G. Kawerau: "Evangelisch-theologische Fakultät", in: W. Lexis (Hrsg.): Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich, 1. Band: Die Universitäten im Deutschen Reich, Berlin 1904, S. 61-76, hier S. 70 (ausführlich abgedruckt in Lüdemann/Schröde, S. 41).]

Somit kommt neben den universitären Aktivitäten der "Religionsgeschichtler" ihren außeruniversitären Beziehungen eine große Bedeutung zu. Hier gab es durchaus genügend Möglichkeiten, die interessierte Studenten zur Entwicklung oder Festigung von eigenen theologischen Positionen nutzen konnten.

1878 hatte sich "im studentischen Rahmen an der Universität Göttingen neben den vielen bereits vorhandenen studentischen Verbindungen ein zunächst nur auf Theologen bezogener 'akademisch-theologischer Verein' konstituiert" [vgl. Nittert Janssen, Theologie fürs Volk. Eine Untersuchung über den Einfluß der Religionsgeschichtlichen Schule auf die Popularisierung der theologischen Forschung vor dem Ersten Weltkrieg unter besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Liberalismus in der lutherischen Landeskirche Hannovers, Göttingen 1993, S. 16 (dieser Band ist vergriffen; Restexemplare können noch bezogen werden über das Archiv "Religionsgeschichtliche Schule", Platz der Göttinger Sieben 2, 37073 Göttingen)], an dessen Gründung auch William Wrede und Wilhelm Bornemann beteiligt waren. Sein Ziel war "eine Gemeinschaft Theologie Studierender mit dem Zwecke gemeinsamer theologischer Ausbildung und der Pflege freundschaftlichen Verkehrs" [Paragraph 1 der Statuten (Universitätsarchiv Göttingen, Sekretariatsakten X G 2, 693 [97])]. Man traf sich zu wöchentlichen Zusammenkünften, in denen jeweils ein Mitglied ein Referat zu ausgesuchten Themen vortrug. Es war üblich, daß sich an diese Vorträge längere Diskussionen anschlossen. "Das Kaffee Cron & Lanz, damals noch im südlichen Eckhaus von Theater- und Weender Straße, sah unseren regelmäßigen Mittagstisch [...], sah unsre arbeitsreichen Sitzungen, unsre oft geistsprühenden Kneipen", berichtet Johannes Bornemann [Johannes Bornemann, Ein hannoverscher Theologe um die Jahrhundert-Wende. Otto Gehrke. Erinnerungsbilder mit Ausblicken auf unsere kirchliche Zukunft, Göttingen 1932, S. 13 (zitiert in Janssen, S. 18)].

Ebenfalls einmal in der Woche wurde der zweite Teil der Vereinsstatuten erfüllt: Zur Pflege des freundschaftlichen Verkehrs wurde jeden Samstag eine "Kneipe" abgehalten, die sich oft bis weit nach Mitternacht hinzog und an der sich natürlich auch die "Religionsgeschichtler" aktiv beteiligten.

Doch manchmal schlug man auch ein wenig über die Strenge. Immerhin waren die Studenten gerade 20 Jahre alt, und auch die angehenden Lizentiaten waren nicht viel älter. Ihre Späße unterschieden sich kaum von den heutigen:

    Montag, 23.7.1888: "Exkneipe zu Ehren des alten Herren Muuß. Beim Nachhausegehen thaten Gunkel, Lic. Bernhard Vulmahn u. ich uns zusammen. Vor dem Stifte ulkten wir erst noch mit Rieffenberg. Dann zogen wir im Stumpfebiel weiter zum Spritzenhaus. Hier wurden Theaterscenen gemimt. Rieffenberg war hinaufgestiegen in seine Bude, machte aber noch Radau. So hielt er eine rasselnde Weckuhr zum Fenster heraus. Endlich warf er seinen Spazierstock herunter. Gunkel nahm ihn u. nun begannen wir zu fechten u. uns tot zu stechen. Er [d.i. Gunkel] stürzte gegen die Spritzenhaustür u. ich brach auf dem Grandhaufen zusammen. Dann belagerten wir einen Thorweg in einer hohen Mauer. Ich erklärte aber - als König Philipp von Macedonien (359-336) -, ein goldener Esel würde trotzdem die Mauer überschreiten. Sofort ermunterte mich der lustige Gunkel, ich sollte es doch versuchen. Ich sagte ihm auch, gleich auf den Scherz eingehend, ich hätte leider kein Geld, er sollte mir jedoch ein Goldstück geben, dann wollte ich es schon fertig bringen. Er drückte mir dann ein Geldstück in die Hand u. beide hoben mich empor. Dabei entglitt dem Pulle [d.i. Vulmahn] seine Pfeife. Kopf u. Schwammdose zersplitterten. Fast war ich oben auf der Mauer, da kamen Männer u. wir rückten aus. Auf der Weenderstraße wurden dann der Taucher, der Sänger u. andere Stücke aufgeführt. Auf dem Walle gab es ebenfalls noch viel Spaß. Beim heftigen Gestikulieren entflog dem armen Pulle auch das Pfeifenrohr. - Dann brachten wir Gunkel nach Hause, nachdem wir noch alle drei auf dem Trottoir sitzend uns Witze erzählt hatten."
      [IV. Tagebuch von Friedrich Borcherding, S. 286.].

Aus dem Eichhorn-Kreis waren in der ersten Hälfte der 80er Jahre William Wrede sowie die Brüder Wilhelm und Johannes Bornemann Mitglieder im akademisch-theologischen Verein, in der zweiten Hälfte desselben Jahrzehnts gehörten Hermann Gunkel und Karl Mirbt zu ihrem Kreis, wie überhaupt trotz aller theologischer Differenzen "die Mehrzahl mit Begeisterung Albrecht Ritschl und Hermann Schultz anhing" [Bornemann, S. 19].

Es fällt auf, daß von den vier Gründungsmitgliedern der später auch für die Entwicklung zur "Religionsgeschichtlichen Schule" wichtig werdenden liberalen Zeitschrift "Christliche Welt" mit Wilhelm Bornemann, Friedrich Loofs und Paul Drews allein drei dem akademisch-theologischen Verein angehörten. Lediglich Martin Rade zählte nicht dazu; er hatte nie in Göttingen studiert.

Neben den studentischen Mitgliedern konnten bei den Zusammenkünften auch Professoren, Privatdozenten oder vor der Lizentiatenprüfung stehende Theologen begrüßt werden, und zwar in einem regelmäßig sich einfindenden Kreis. Besonders häufig nahm Bernhard Duhm als Gast an den Vereinsabenden teil. Von den Lizentiaten waren Gunkel, Mirbt, Weiß und später Rahlfs, sowie der nach Göttingen zurückgekehrte Wrede oft dort gesehene Gäste, nicht nur bei den wissenschaftlichen Vorträgen, sondern auch bei den geselligen Kneipen.

Man fühlte sich als "Clique" und empfand die gemeinsamen Abende als harmonisches Zusammensein mit guten Freunden. Diese Gemeinschaft gleichgesinnter angehender Theologen blieb auch während des Habilitationsprozesses bestehen: man half sich gegenseitig durch die Disputation. So traten die Freunde für einander als Opponenten bei der Verteidigung der Lizentiatenthesen auf:

    Samstag, 7.1.1888: "Ich ging um 11 nach der Aula, wo Inspektor Mirbt seine 10 Thesen verteidigte zum Zweck die Licentiatenwürde zu erhalten. Als Opponenten traten officiell cand. theol. Gunkel und J. Weiß auf [...]. Nach ihrer Zurückweisung griff auch Prof. Ritschl in launiger Weise die eine der 10 Thesen an, sagte dann aber am Schlusse, er wünsche dem Mirbt, daß er bis zum Ende hin mit gleicher Bravour sie verteidige. Von der Zuhörerschaft trat auch ein hallescher Licentiat auf gegen eine der Thesen. Als auch der zurückgeschlagen war, bestieg unser Dekan Prof. Wagenmann die Rednerbühne u. las eine lateinische Rede vor u. vereidigte zum Schluß auf Lateinisch den Mirbt auf die Heilige Schrift."
      [Borcherding, IV. Tagebuch., S. 279.].

Nur einen Monat später habilitierte sich Johannes Weiß, der spätere Schwiegersohn Albrecht Ritschls. Auch er hatte zwei Freunde zu Opponenten:

    Samstag, 25.2.1888: "[...] heute vormittag um 10 Uhr fort zur Disputation des Licentiaten Weiß. Auf der Weenderstraße sah ich cand. Gunkel ganz gemütlich dahin ziehen. Er fragte, ob ich denn auch wüßte, daß es erst um 10 anginge. Ich sagte Ja, das wäre es nämlich jetzt. Er wurde vor Schreck ganz rot u. bat mich mit nach seinem Hause zurückzukehren. Er hatte sich [...] um eine Stunde verrechnet u. wollte sich gerade die Haare schneiden lassen. Ich half ihm nun beim Anziehen, da er unbedingt dabei sein mußte als Opponent des Weiß. Wir kamen glücklicherweise zur rechten Zeit an, doch bekam ich nur noch einen Stehplatz. - Die Disputation war sehr interessant. Mirbt, der zweite Opponent, wünschte dem Weiß immer soviele Zuhörer wie heute."
      [A.a.O., S. 306.]

Wiederum nur 4 Monate später verteidigte Hermann Gunkel seine Thesen. Die Opponenten: Karl Mirbt und Johannes Weiß.

Alf Özen, 1996