Rezekne, Donnerstag 23. September
Zu Fuß mit Vladimirs Nikonovs durch Rezekne
(protokolliert von Juliane Michael)
Der Tag begann mit dem letzten Frühstück im kargen Studentenwohnheim in Daugavpils und dem Zug unserer wieder mal bepackten Gruppe zum Busbahnhof Daugavpils, Linie 7, wo wir, uns neugierig umsehend oder müde rauchend, die Abfahrt unseres Busses um circa 9 Uhr Richtung Rezekne entlang einer schnurgeraden Landstraße abwarteten.
Da wir etwas zu früh waren, konnten wir beobachten und beobachtet werden. Die Busbahnhofsatmosphäre war einer-seits sehr reg und lebendig, jedoch schien es eine bestimmte Routine zu geben. Nur wir mit unserem Gepäck d.h. mit den riesigen Rucksäcken passten nicht recht in diesen Alltag.Wir standen allen im Weg, konnten nicht verstanden werden… Nachdem der Bus schließlich recht pünktlich mit uns und einigen anderen ruhigen Insassen angefahren war, bekam David zu spüren, was es heißt, aus Gutmütigkeit den Großteil einer Fünf-Liter-Wasser-flasche zu leeren, damit man sie nicht wegschütten oder mitschleppen muss.
Inmitten der recht angeregten Unterhaltungen im Bus fiel uns etwa gegen 10 Uhr, zum ersten Mal im Wachzustand Davids, eine anhaltende, ungewöhnliche atmosphärische Stille auf.

Schließlich flehte er nach einiger Leidenszeit um Halt am Waldesrand. „Alles klar?“, fragte dann auch nur der inzwischen rauchende Busfahrer David auf deutsch, welcher erleichtert wieder in den Bus stieg und ihm einen Lats Trinkgeld in die Hand drückte. Circa zwei Minuten nach dem Halt gab es keine atmosphärische Stille mehr. Schließlich wurden wir nach zweistündiger Fahrt in Rezekne von Natalijas Verwandten in Empfang genommen, welche uns in Einzelfahrten in das organisierte Ausweichmotel am Rande der Stadt Rezekne brachten. Weil wir dieses Motel direkt an der Straße zwei Mal im Dunkeln durch einen halbstündigen Fußmarsch erreichten, schien sein Name „Nakts zvaigzne“ (Nachtstern) gerechtfertigt.
Verena enthüllte allerdings sofort das wahre, sich uns erst am Abend erschließende Gesicht des Hauses, als sie es fälschlicherweise „00-24“ betitelte. Es begrüßten uns defekte Wasserhähne neben nackten Toiletten, braunes, aber immerhin fließendes Wasser, durchgelegene und wahllos zusammen gewürfelte Betten mit fleckigem Bettzeug auf knarrenden Dielen, nicht zu öffnende Türen bzw. nicht zu schließende Fenster in einem chagallesk anmutenden, luftigen „Aufenthaltsraum“.
Allerdings ließen ein buntes musikalisches Nachtprogramm, welches Ausdauer in Volumen und Bass bewies, ein zigarrengefüllter Tresen mit Ausschank von Kaffee, Bier und Wodka sowie die zur Benutzung freien Billardtische den Nachtmenschen unter uns viel Gelegenheit, inmitten geistreicher Gespräche Tagespläne zu organisieren und Dokumente zu bearbeiten.
Trotzdem riet man uns aus verschwiegener Quelle, zu jeder Tageszeit auswärts zu speisen. Nach der Ankunft wanderten wir auf der sonnigen Landstraße in Richtung Stadtkern.
Plötzlich hielt vor uns ein LKW. Aus dem sprang ein älterer Mann in Latzhosen und Gummistiefeln heraus, in dem unsere Gruppenleiterin den Regionalhistoriker Vladimirs Nikonovs erkannte. Er begrüßte uns und ritzte uns die Wegbeschreibung zu einem für Lettland typischen Selbstbedienungs-restaurant und Bistro namens Ermantitis mit einem Schlüssel in den Sand.

Dieses Bistro sollte unser Treffpunkt mit ihm und unser Stammlokal in Rezekne werden.

Um 14.30 Uhr trafen wir uns mit Vladimirs Nikonovs, welcher bereits seit einigen Jahren mit Verena bekannt ist und der uns nun mittels eines Rundganges die Geschichte Rezeknes und der Altgläubigen des Ortes erzählen wollte. Doch zuvor berichtete uns Verena, die es bereits vor zwölf Jahren zu Forschungszwecken nach Rezekne zog, vom „berühmtesten Sohn der Stadt“, Jurij Nikolaevic Tynjanov, geboren 1894 in Vitebsk und gestorben 1943 in Moskau, einem russischen Prosaiker und Literaturwissenschaftler, der als Theoretiker und Mitbegründer der Formalen Schule gilt. Die Formale Schule ist eine circa 1915-1930 durch russische Literaturwissenschaftler geprägte Richtung, welche die Formanalyse betont und alle nicht-ästhetischen Kriterien ablehnt. Sie wird als Vorgängerin der strukturalistischen Schule angesehen. Nach seinem Studium war Tynjanov von 1921 bis 1930 neben seiner Tätigkeit als
lyrischer Übersetzer Professor der Literaturwissenschaft am Russischen Institut für Kunstgeschichte im (damaligen) Leningrad.
Verbunden mit seiner philologischen Arbeit lieferte er wissenschaftliche Bearbeitungen russischer lyrischer Editionen und betätigte sich außerdem als Schriftsteller u. a. von symbolträchtigen und psychologisch ausgefeilten historischen Romanen und satirischen Erzählungen. Sein dritter und berühmtester Dichterroman über die Kinder- und Jugendjahre Alexander Puschkins bis 1820, an dem er acht Jahre bis zu seinem Tod arbeitete, blieb allerdings unvollendet. Die erste Station unseres Stadtrundganges mit V. Nikonovs bildete der Schlossberg und die Burgruine von Rezekne (rechts).
Zuvor besichtigten wir das zu Anschauungszwecken errichtete Schlossmodell gegenüber den Ruinen. Wie wir erfuhren, erreicht das Modell keine vollständige historische Genauigkeit. Sein Plan beruht auf schriftlichen Quellen des 16. bis 18. Jahrhunderts, doch ist beispielsweise der komplette Aufbau sowie Beginn und Dauer der Bauzeit der Burg nicht vollständig erschlossen. Zur Blütezeit des Deutschen Ritterordens während des 13. Jahrhunderts, begann man das Schloss, für das der Fluss
Rezekne zu Verteidigungszwecken umgeleitet wurde, im Jahre 1285 zu errichten. Diente es zuerst als Festung an der östlichsten Grenze des Territoriums zu Polen der Verteidigung während heftiger Kämpfe in den Nordischen Kriegen, so wurde es danach für wirtschaftliche und später auch für touristische Zwecke genutzt, so etwa als Re-staurant und Sommertheater. Doch begann es zum Ende des 18. Jahrhunderts zu Ruinen zu verfallen, seine Steine wurden nach und nach zum Bau der Steinhäuser des Ortes abgetragen und von den Sowjets in den 1940er Jahren als Baumaterial benutzt. Einer Legende nach befindet sich unter dem Schloss ein Netz von Kellergewölben und Gängen, welches die Schlösser der Gegend um Rezekne unterirdisch miteinander verbindet, doch erweist sich nach den Worten unseres kundigen Leiters die Interpretation als Fluchtwegsystem im Falle einer Belagerung als die wahrscheinlichere Variante.
Die zweite Legende erzählt von einer der ersten Burgen auf lettgallischem Boden, der Burg von Wolkenberg, die heute Makonkalns heißt, die noch vor 1260 gebaut wurde. Der Herr der Burg von Wolkenberg hatte drei Töchter, die Roze, Lucija und Marija hießen. Die Töchter erbten die Burgen:Rositten, 1285 gebaut und heute Rezekne genannt, Marienhausen, 1293 gebaut und heute
Vilaka genannt und Lucina, 1399 errichtet und heute Ludza geheißen. Der Legende nach übertrugen sich die Namen jener Töchter auf die heute allgemein bekannten Burg- und Ortsnamen. Aus Anlass des offiziellen siebenhundertsten Geburtstages der Stadt im Jahre 1998 gestaltete man den Ruinenplatz zum Besichtigungspunkt für Besucher. V. Nikonovs berichtete auch von archäologischen Ausgrabungen, welche an diesem Ort u. a. Knochen und Keramiken ans Licht brachten, was nach Meinung des Historikers wohl auf eine frühmittel-alterliche lettgallische Siedlung vor dem Schlossbau schließen lässt.
Während wir weiterwanderten, informierte V. Nikonovs uns, dass das Jahr 1282 als offizielles Gründungsdatum von Rositten gelte, da in diesem Jahr die Siedlung das erste Mal offen in historischen Quellen erwähnt wurde; die entsprechende Urkunde, die in Lübeck im Stadtarchiv
liegt, sei den Historikern bereits im 19. Jahrhundert bekannt gewesen. Aus ihr und anderen historischen Quellen gehe außerdem hervor, dass jene Siedlung direkt an einer großen Handelsstraße, welche von Osten nach Westen verlief, gelegen war. 1685 entstand bereits die erste Holzkirche des Ortes gegenüber dem Schloss, dem Markt und den Verwaltungsgebäuden. Als am Ende des 18. Jahrhunderts unter Katharina der Großen die große Nord-Süd-Handels-verbindung von Moskau nach St. Petersburg erschlossen wurde, welche die alte Ost-West-Straße zum Teil ersetzte und zum Teil ergänzte, entwickelte sich ab dieser Zeit neben der alten Siedlung die offizielle, administrative Stadt direkt an dieser Straße und sorgte dafür, dass es heute mehrere Stadtteile und Zentren der Stadt Rezekne gibt. Der neue Stadtteil galt von Anfang an als rechtwinklig angelegtes Verwaltungszentrum, dass durch eine Brücke
mit dem älteren Handelszentrum verbunden war und dessen Kirchen und administrative Gebäude, im Gegensatz zu den Holzhäusern, aus Stein erbaut wurden.
Rezekne besitzt eine im Jahr 1846 gebaute orthodoxe Kirche, eine 1938 aus Stein errichtete neue lutheranische Kirche, sowie zwei altgläubige Bethäuser, von denen eines im Jahr 1905 zerstört wurde, sowie eine 1879 erbaute unierte Kirche. Vor dem Zweiten Weltkrieg besaß Rezekne außerdem viele Synagogen, von denen heute, neben einem alten jüdischen Badehaus, nur noch eine 1906 aus Holz erbaute erhalten ist. Der Ort blickt heute auf eine überschaubare Zahl von 40 000 Einwohnern, von denen etwa je die Hälfte Letten und Russen sind. Nach Aussage des Historikers leben jene heute in recht gutem
Einvernehmen nach „Kleinstädterart“ zusammen und miteinander. Zur Zeit Katharinas der Großen beinhaltete die Einwohnerzahl wohl etwa zu 70% Juden. Heute leben in Rezekne nur noch circa 150 Juden, welche ihre einzig verbliebene Synagoge an der Ecke Izraelas iela (Straße) und Kraslavas iela besuchen. Auf unserem Weg durch den Ort zeigte uns V. Nikonovs das unter Denkmalschutz stehende Backsteinhaus des altgläubigen Kaufmannes Tubickij, eines Unternehmers und im

Eisenbahnbau Tätigen. In einem der Lagerhäuser neben dem Wohnhaus befand sich ein geheim gehaltenes Bethaus, welches heute wieder in seiner ursprünglichen Form zu finden ist.
Als wir durch die Tynjanovstraße gingen, wies uns V. Nikonovs darauf hin, dass hier früher das jüdische Viertel gewesen war.
Vor allem in der Bauskas iela sahen wir zum großen Teil die noch erhaltene und heute wieder beliebte Holzbauweise der Wohnhäuser vom Anfang des 19. Jahrhunderts, bemerkten aber auch, wie scharf die einzelnen Grundstücke von Hunden bewacht wurden.

Schließlich gelangten wir auf unserem Rundgang in die Straßen der altgläubigen Gemeinde Rezeknes, deren Wohnhäuser nach dem Krieg aus Bauresten wieder aufgebaut wurden. In der Zavoloko iela liefen wir an der alten Gemeindeschule für die Altgläubigen vorbei und betraten das
umfangreiche, auf einem Hügel gelegene Gelände der Bethäuser in der Ivana Sinicina iela. V. Nikonovs in seiner Funktion als weltlicher Vorsteher der Gemeinde, der mit Haushalts- und Wirtschaftsfragen betraut ist, erklärte uns, dass momentan im so genannten Sommerbethaus (links) umfangreiche Renovierungsarbeiten laufen und dass sich die gesamte Ikonostase im kleineren Winterbethaus befindet, wo auch derzeit die Gottesdienste abgehalten werden. Auch dieses Sommerbethaus besitzt für die gläubigen Männer und Frauen getrennte Eingänge, und trotz der Bauarbeiten fanden wir die kleinen Ikonen über den Eingängen, vor denen sich die Altgläubigen vor ihrem Eintritt in das Bethaus bekreuzigen. Der Historiker zeigte uns im Vorhof einen alten Stein mit einem darauf gemeißelten Altgläubigenkreuz, ein Denkmal, welches in der Erde gefunden wurde und das für das Museum her-gerichtet werden soll.
Anschließend besichtigten wir den Altgläubigen- „Devotionalien-Laden“, in dem wir neben entsprechender Literatur auch Weihrauch, Kerzen und eine lestovka, ein rosenkranzähnliches „Leiterchen“ mit zwei übereinander stehenden, die jeweiligen Testamente symbolisierenden Dreiecke zur Erinnerung an die wichtigsten Gebete, erwerben konnten.
Nachdem die Frauen der Exkursions-gruppe ihre Kopftücher umgelegt hatten, gebot uns V. Nikonovs im Winterbethaus, auf den Bänken Platz zu nehmen und einem Exkurs in die Geschichte der lettgallischen Altgläubigen zu folgen. Er berichtete, dass das Gebiet Rezekne zur Zeit des raskols polnisch war und dass sich die aus Russland flüchtenden und auf der Pskovstraße ziehenden Altgläubigen keilartig verdichteten und pyramidenförmig angesiedelten, viele blieben in Latgale, manche aber ließen sich in Riga und in Litauen nieder; immer weniger altgläubige Familien
und Gemeinden zogen überhaupt bis Preußen weiter. Besonders in den Jahren zwischen 1659 und 1661 entstanden die Ansiedlungen in oder um Rezekne, die frühe Migration setzte sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts fort.
Die Altgläubigen, welche wohl wegen ihrer Arbeitsfähigkeit zur Pacht und zur Bearbeitung des Landes angeworben wurden, bildeten zu dieser Zeit hauptsächlich auf dem Land etwa vierzig Gemeinden und kleinere Siedlungen, ab Mitte des 19. Jahrhunderts aber auch in dem Ort selbst. Zu dieser Zeit entstanden in den dauerhaften Siedlungen auch die ersten Bethäuser, welche allerdings, wie V. Nikonovs betonte, keine baulichen Spezifika aufwiesen. Im Jahr 1862 wurde das erste Bethaus errichtet, 1863 dieses Winterbethaus, 1885 das Sommerbethaus mit seinem illegal gebauten Turm, der aber 1898 offiziell genehmigt wurde. Nach 1905 entstanden und vereinigten sich nach und nach bis zur Russischen Revolution diese Gebäude und der Glockenturm, das Armenhaus, die Gemeindeschule, das Wirtschaftsgebäude, und der 1858 angelegte Friedhof zu einem großen Komplex.
Schließlich besichtigten wir die Ikonen, von denen einige vom altgläubigen Ikonenmaler Frolov, der aus Estland stammte und zeitweise in Rezekne lebte, angefertigt wurden.
V. Nikonovs erzählte auch von den in den 1940er Jahren aus Rezekne nach Sibirien deportierten Altgläubigen. Über die genaue Zahl der Gemeindemitglieder konnte uns der Historiker aber keinen Aufschluss geben, da keine entsprechenden Kirchenbücher geführt werden. In den Zählungsbüchern der Beichte allerdings werden derzeit etwa fünfhundert Mitglieder verzeichnet. Er erzählte, dass auch heute noch viele Altgläubige ihre Toten außerhalb der Stadt begraben lassen und dort auch Gottesdienste feiern, weshalb es auf dem Land eine Vielzahl von altgläubigen Friedhöfen gibt.
Da uns auch immer wieder die zum Gebet benutzten kleinen quadratischen Kissen (podrušcniki) interessierten, beantwortete er unsere Fragen bezüglich ihrer Gestaltung, dass es regional typische, also immer unterschiedliche Vorstellungen von der Anordnung bestimmter Muster auf den Kissen gebe.
Dies sei aber auch davon abhängig, ob eine Altgläubigen-gemeinde einen Vorsteher besitze, welcher beispielsweise bestimmte Zahlwerte auf den Kissen vorschreibe. Da uns auch immer wieder die zum Gebet benutzten kleinen quadratischen Kissen (podrušcniki) interessierten, beantwortete er unsere Fragen bezüglich ihrer Gestaltung, dass es regional typische, also immer unterschiedliche Vorstellungen von der Anordnung bestimmter Muster auf den Kissen gebe. Dies sei aber auch davon abhängig, ob eine Altgläubigengemeinde einen Vorsteher besitze, welcher beispielsweise bestimmte Zahlwerte auf den Kissen vorschreibe. Auf unserem Gang über das Friedhofgelände erfuhren wir, dass hier der Altgläubige Dr. Ivan Zavoloko 1984 in einem Holzsarg begraben wurde. 1897 geboren, war I. Zavoloko einer der prominentesten Führer der altgläubigen Wiedererweckungsbewegung der 1920er und 1930er Jahre und begeisterte sich für das folkloristische Liedgut der Altgläubigen.
Er war einer der eifrigsten Sammler und Bewahrer altrussischer Religions- und Kulturzeugnisse, z. B. alter liturgische Bücher und Ikonen.
Viele der von ihm gefundenen und bearbeiteten Überlieferungen entfachten am Anfang der 1920er Jahre neues öffentliches und akademisches Interesse an altrussischer Kunst, Kultur und Religionsausübung. 1928 begründete I. Zavoloko innerhalb der lettischen Republik einen Kreis regionaler „Sammler“ russischer Folklore-Artefakte, untersuchte in zahlreichen feldstudienartigen Exkursionen altgläubige Gemeinden in ländlichen Gebieten und bewahrte in Riga den Hauptteil seiner seltenen Manuskripte und Bücher auf, welche allerdings während der Besetzung Rigas im Zweiten Weltkrieg verschwanden.
Auch I. Zavoloko gehörte zu den in den 1940er Jahren nach Sibirien deportierten Altgläubigen aus Rezekne. Großen Ruhm unter gesamteuropäischen und russischen Gelehrten, Historikern und Forschern sowie zahllose Kongresseinladungen brachte ihm die Entdeckung und erste Bear-beitung des Originals vom „Leben des Protopopen Avvakum“, dem im Exil autobiographisch verfassten Lebensbericht des so genannten „Mitbegründers“ des Altgläubigentums. Des Weiteren berichtete der Historiker, dass viele Gräber und Kreuze aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zerstört wurden und dass viele der Eisenkreuze aus den 1870er Jahren stammen.
Aus dem Jahr 1849 stammt das älteste Grab auf dem Friedhof, hierbei handelt es sich um das Kindergrab einer Kaufmannstochter. Im Zusammenhang mit den russischen Holzkreuzen aus dem Zweiten Weltkrieg kam V. Nikonovs – leider viel zu kurz – auf die schlechten Beziehungen zwischen den deutschen Besatzern und den ansässigen Altgläubigen zu sprechen, in welchen sich die religiöse Unkenntnis der Deutschen besonders schwerwie-gend bemerkbar machte, indem sie die Altgläubigen zunächst mit den alttestamentarischen Juden in Verbindung brachten.
Als nächstes erfuhren wir an Ort und Stelle, dass dem 1905 gebauten Glockenturm eine ein Jahr später gegossene, von zwei Kaufleuten gestiftete Glocke angepasst werden konnte. Bald darauf kam eine weitere, von der Gemeinde gestiftete Glocke hinzu. Alle drei zusammen ergeben das beachtliche Gewicht von circa zehn Tonnen, welche beständig in dem stabil konstruierten Holzkirchenturm hängen. Nachdem uns Herr Nikonovs in den Ort zurückbegleitet hatte, endete unser informativer
Rundgang nach dem Essen in unserem Stammlokal und ei-nem Gang zum lettisch-latgalisches Nationaldenkmal „Latgales Mara” am höchsten Punkt der Poststraße von Petersburg nach Riga. Trotz des hohen Einsatzes aller Exkursionsmitglieder fanden eben jene abends noch die Kraft, begeistert die soeben erfolgte, lettisch-russisch-deutsche Gründung der Republik Spaltavpils (siehe links) auszurufen, bevor wir die erste Nacht im Motel „Nachtstern” angingen. Die Heraldik erklärt sich wie folgt: Axt und Pils symbolisieren den Namen der Republik, die neun Becher stehen für die Republiksgründer/innen, die beiden viereckigen Felder zitieren ein übliches Ikonenelement – die Anzahl der Ecken ist gleich der Anzahl der Erzengel bzw. der Evangelisten . Die TET-Flasche ist ein Sinnbild der nicht-versiegenden Freude, der Anhänger ist der Schlüssel dazu und der auffällige Dorn der Rose bezieht sich auf die Namen unserer „Špaltavnika“.