Rezekne, Freitag 24. September
Die Bethäuser in der Umgebung Rezeknes: eine Bus-Tour
(protokolliert von Juliane Michael)
Nach unserer ersten, recht kurzen Nacht im abseits gelegenen Motel „Nachtstern“ begingen wir den Tag mit einem deftigen Frühstück in unserem Stammlokal Ermanitis. Dort trafen wir mit Vladimirs Nikonovs zusammen, welcher sich bereit erklärt hatte, uns an diesem Tag viele altgläubige Bethäuser in der ländlichen Umgebung von Rezekne zu zeigen. Zu diesem Zweck erwartete uns ein Kleinbus, um uns in recht kurzer Zeit einen weiten Überblick über das Um-land gewinnen zu lassen.
Unsere erste „Station“ war denn auch gleich die kleine Gemeinde Recinskaja. V. Nikonovs hatte uns bereits erklärt, dass es gegen Ende des 19. Jahrhunderts in dieser Gegend circa 19 300 Anhänger des Altgläubigentums gab, welche sich in den 1940er Jahren um Rezekne in zweiundvierzig altgläubige Gemeinden verteilten, von denen in heutiger Zeit allerdings nur noch um die zwanzig existieren. Er wies uns aber auch sofort auf die Unmöglichkeit genauer statistischer Angaben hin, gleichwohl könne man hier von der größten Dichte an Altgläubi-gengemeinden sprechen.

Er erzählte uns, dass alle von uns besichtigten Bethäuser nach 1870 erbaut wurden und nur eins aus Backstein, die restlichen aus teilweise unbemaltem, roh belassenem Holz bestehen.

Wir erfuhren auch, dass alle Holzbethäuser aufgrund der hohen Motivation vieler Gemeinden recht schnell nach dem Toleranzedikt von 1905 eine Glocke besaßen, nur der Backsteinbau besäße ein bilo, ein besonders schlaues Provisorium. Wir sollten uns überraschen lassen.

In Recina zeigte uns V. Nikonovs ein Beispiel für ein ländliches, recht großes Bethaus in der Verkleidung eines privaten Wohnhauses mit einem provisorischen Glockenturm.

Jener Turm wurde Ende des 19. Jahrhunderts räumlich gesondert gebaut und bekam eine ange-nagelte Eisenbahnschiene (bilo), die man durch Anschlagen zum Klingen brachte. Dieser steht heute noch neben dem ver-witterten, verlassen erscheinen-den Bethaus mit Farbmustern in verblassten grünen und blauen, an Bethäusern nicht unüblichen Farben. Nachdem das Bethaus unter seinem nastavnik A. Karpušenko zu seinem Provisorium gekommen war, wurde im Jahr 1912 ein neuer, gesonderter Glockenturm aus Lehm und Holz erbaut.

Heute scheint die Migration der Einwohner in die größeren Ortschaften und Städte des Rayons Rezekne leider eine allgemeine Tendenz zu sein. Außer finanziellen Gründen ist dies eine Hauptursache für die allmähliche Verwahrlosung der Gemeinden und ihrer Gemeindehäuser. Nach diesem ersten, recht kurzen Aufenthalt, welcher uns aber auf die Geschwindigkeit der Exkursion im weiteren Verlauf vorbereiten sollte, führte uns V. Nikonovs zum See Raznas, dem zweitgrößten Binnensee Lettlands, der uns einen Eindruck von der landschaftlichen Schönheit Latgales vermitteln sollte. Wir erfuhren, dass sich der See bei einer Tiefe von circa fünfzehn Metern inklusive aller Ausbuchtungen über mehr als 48 Quadratkilometer ausdehnt und heute als beliebter Camping- und Badeort gilt. Im aufgefrischten Wind am Ufer stehend, blickten wir auf die den See umgebenden Sümpfe, Feuchtwiesen und Wäldchen.

Sprachunkundigen sei gesagt, dass der dort zu findende Hinweis „SIA Eko punkts“ nur den Namen der GmbH bezeichnet, die für die wirtschaftlichen und ökologischen Interessen dieses Gebietes verantwortlich ist. Im Laufe des 17. Jahrhunderts hatten altgläubige Familien und bald ihre Gemeinden die Ufer des Sees besiedelt, um dort ihren Lebensunterhalt mit Fischerei zu verdienen. In der Nähe des Sees hielten wir nach einer äußerst kurzen Fahrt im kleinen
Dorf Ruduški, dessen altgläubige Gemeinde sich um das Jahr 1813 herum dort ansiedelte und 1876 ein Bethaus für das Dorf baute, welches heute als das älteste, noch erhaltene Bethaus im Kreis Rezekne und Umgebung gilt. Es war ein hölzerner Rohbau mit einem Strohdach, welches aber einen eingebauten Glockenturm umfasste. Im Zweiten Weltkrieg sollten viele Gemeinden auf Be-fehl der durchziehenden deutschen Truppen ihre Glocken zur Eisenverwertung für die Waffenproduktion abnehmen und ihnen zur Verfügung stellen.
Nicht ohne einen gewissen Stolz erzählte uns V. Nikonovs, dass sich die altgläubige Gemeinde in Ruduški allerdings im Gegensatz zu anderen Gemeinden weigerte, ihren Glockenturm zu demontieren und die Glocke herzugeben. Ob man hinter der Weigerung neben religiösen und bautechnischen Ursachen auch politische Gründe und (kommunistische) Tendenzen vermuten kann, blieb aufgrund der Kürze des Aufenthaltes leider unklar. Um die Mittagszeit herum erreichte unsere wissbegierige Truppe, die nun durch die schnelle Abfolge der geschichtsträchtigen Bethäuser einen vergleichenden, wenn auch vorerst nur äußeren Überblick bekam und immer interessierter wirkte, das lebhaftere, durchaus größere Dorf Lipuški, deren Gemeinde nach Aussage V. Nikonovs Ende des 18. Jahrhunderts dort entstand und heute als eine der größten Altgläubigengemeinden Latgales noch besteht.
Aus zeitlichen Gründen erhaschten wir nur aus dem Autobus heraus einen schnellen Blick auf das erst 1954 erbaute Bethaus, welches ebenso noch heute erhalten ist und mit in Moskau gegossenen Glocken aufwarten kann. Auch die Informationsangaben zu diesem Bethaus beschränkten sich leider nur auf recht kurze Aussagen, wie dass die Gemeinde zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Vereinigung mit der orthodoxen Kirche gezwungen worden sei und dass daraus eine unierte Kirche entstand.
Einen landschaftlich optischen Genuss der ganz besonderen Art bescherte uns unser nächster Aufenthalt am Fuße der Burg Wolkenstein, welcher durch das Herausbrechen der Sonne noch verfeinert wurde. Gemeinsam erklommen wir die äußerst feuchten und deshalb sehr rutschigen Sandwege der 247 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen bemoosten Burg-ruinen. Auf dem teilweise befestigten Weg nach oben war oft die Hilfe unserer männlichen Exkursionsteilnehmer gefragt, die, alarmiert durch die schrillen
Angstschreie vieler weiblicher Touristen, denen wir begegneten, ihre Hand zur Stütze reichten. Oben erwarteten uns inmitten schattiger Bewaldung die Reste der Burgruinen,
welche von jahrhundertealter Geschichte zeugen.
Bereits der Deutsche Ritterorden erkannte im 13. Jahrhundert die damals strategisch günstige Lage des Platzes und ließ dort die Burg aus machtpolitischen Gründen und zum Schutz der am nahe gelegenen See siedelnden Bauern errichten. Allerdings verlor die Burg durch die Errichtung neuer strategischer Befestigungen recht schnell ihre ursprüngliche Bedeutung, so dass die Wolkenburg im Laufe der Zeit zum Teil zerstört wurde und zum Teil verfiel.
Diese heute malerisch zwischen den Ruinen gelegene Stelle kann aber wegen ihrer optischen Reize und guten Akustik im Sommer als Konzertplatz genutzt werden. Nach diesem schönen Ausblick fuhren wir mit unserem Kleinbus in das Gemeindezentrum Malta, etwa zwanzig Kilometer westlich der Wolkenburg gelegen, um uns dort kurz das Bethaus der altgläubigen Borovskaja Gemeinde anzusehen.
Es wurde nach einem Entwurf des Rigaer Architekten V. Šervinskis gebaut. V. Nikonovs erklärte uns, dass dies eines der jüngsten Bethäuser in der Umgebung Rezeknes sei und wies uns auch auf die Aluminium- und Silberkuppel des Bethauses hin, die wir im Sonnenlicht funkeln sahen. Dieses 1931 errichtete Haus sei aufgrund mehrmaliger Umgestaltung vergleichsweise modern. Außerdem war es das einzige Bethaus entlang unserer Route, welches durch einen stabilen Zaun eingefriedet und geschützt wird.
Recht holprig, aber immer noch gut gelaunt, verlief der Großteil unserer Fahrt zur nächsten „Station“, dem Fleckchen Borisova mit dem Dorfzentrum Kruki. Im Nachhinein fanden wir zwar den Namen des Dorfes auf unserer Karte für Rezekne und Umgebung, nicht aber den Weg bzw. die Straße dorthin. Sehr überraschend für uns waren die augenscheinliche Freude und die Beredsamkeit der Gastgeber und Verwalter des Bethauses, eines älteren Ehepaares, als wir mit unserem Bus vorfuhren.
In legerer, aber praktischer Kleidung erklärten sie sich sofort bereit, uns von der Gemeinde-geschichte zu berichten und uns trotz fehlender Röcke und Kopftücher im Betraum herumzuführen sowie unsere Fragen zu beantworten. Noch vor der kleinen Führung erzählten sie uns, dass dies früher einmal ein sehr großes Dorf gewesen war, aber seit Beginn der 1990er Jahre ebenso wie viele andere Gemeinden im Prozess der Abwanderung begriffen sei. Als eine Folge der sowjetischen Zeit leben nun nur noch überwiegend
ältere Leute in den Dörfern, jüngere Gemeindemitglieder und nastavniki aber fehlen. Ursprünglich wurde das dem wundertätigen Nikolaus geweihte Bethaus im Jahr 1879 an dieser Stelle ganz aus Holz gebaut, später von 1911 bis 1924 allerdings mit Backstein umkleidet.
V. Nikonovs wies uns nochmals ausdrücklich darauf hin, dass dies das einzige Bethaus aus Backstein in dieser Gegend sei. Nach dem Betreten der traditionell himmelblau und hellgrün gestrichenen Tür, die einen frischen Kontrast zum roten Backstein bildet, staunten wir über die innere Gestaltung des recht großen Betraumes. Der Anstrich in der Farbe des Himmels und vor allem in Lindgrün setzte sich über den runden Fensterbögen, an den Seitenwänden und auf den Holzbänken fort.
Auch dieser schlicht gehaltene Betraum ist reich und prächtig geschmückt – allerdings mit vielen gelben und blutroten Blumensträußen und Girlanden statt mit Gold und Silber. Den schönsten Anblick auf dieser ganzen Fahrt bildete für mich die große dunkle Hauptikone vor der einfachen weiß getünchten Wand unter der sternenbemalten Dielendecke, behangen mit einer ausladenden, leuchtend roten Blumengirlande.

Auf unsere Frage, warum viele Ikonenrahmen nur Miniaturen von Ikonen enthielten, erzählte man uns, dass dieses Bethaus bereits zweimal ausgeraubt worden sei und nun haupt-sächlich „Ersatz“-Ikonen besitze.

Von der Aufgeregtheit unserer freundlichen Gastgeber angesteckt, bewunderten wir auch die sorgfältige und besondere Detailarbeit an den Betkissen, podrušcniki (links) genannt, von denen besonders Verena sehr angetan war und interessiert nachfragte.

Doch schließlich bekamen wir die wirkliche Kostbarkeit dieses Bethauses zu sehen:
das bilo, die ganz spezielle „Glocke“ im Holzturm des Bethauses. Sie besteht nämlich aus einer eigens in Sankt Petersburg angefertigten breiten Metallschiene, die als schlaue Alternative zu einer gewöhnlichen Kirchenglocke bereits im 19. Jahrhundert zum Einsatz kam und heute noch kommt. Da die Altgläubigen ihre Glocken bis zum Toleranzedikt von 1905 nicht benutzen durften, hängten sie diese sehr unauffällige, aber praktische Variante aus Eisen an das Turmfenster.
Auf das Angebot, mal gegen das bilo zu schlagen, um seinen Ton zu hören, reagierte Verena mit Begeisterung und schlug erst einmal vorsichtig, danach voller Kraft und Ausdrucksstärke gegen die Schiene, so dass das Eisen richtig klang. Als wir nach freundlicher Verabschiedung das Gelände des Bethauses wieder verlassen mussten, waren wir fühlbar vom gegenseitigen Verständnis und der freundlichen Offenheit beeindruckt. Der durchdringende Ton des bilo klang noch immer in uns nach, um ihn, zusammen mit dem friedlichen und bescheidenen Stolz der Gemeinde, auf unserer Exkursion weiter zu tragen.
Zurück in unserem weißen Bus führte uns V. Nikonovs zum „russischsten Ort in Lettland“, dem vergleichsweise größeren Gemeindezentrum Tiskadi, direkt am See Tiskada gelegen.
Dort siedelte um das Jahr 1733 eine der ältesten Altgläubigen-gemeinden von Rezekne und seiner Umgebung. Während der Missionierung durch die orthodoxe Kirche entstand 1876/77 nahe des Altgläubigen-bethauses eine Kirche des Einheitsglaubens mit circa zweihundert Gemeinde-mitgliedern. Nach deren Auflösung war es nur noch eine orthodoxe Kirche, bis schließlich in den 1970er Jahren das Kirchengebäude endgültig aufgegeben und dem äußeren Verfall preisgegeben wurde.
Jene Kirche, vor der wir kurz anhielten, unterstreicht ihre trostlose Verlassenheit durch ein schiefes Turmgerippe auf einer verwahrlosten Kirchenhülle, an dem die rotbraune Farbe bereits abgeblättert ist. Mit mehr Begeisterung wandte sich V. Nikonovs dem etwa einhundert Meter entfernten altgläubigen Bethaus zu, welches mit einer satten dunkelroten Färbung, mehreren Glocken und einer aus mehreren Reihen bestehenden, reichen Ikonostase auf-wartet, wie uns der Historiker erzählte. Leider konnten wir das Bethaus, das 1886 erbaut und 1907 restauriert wurde, nicht betreten, um die Worte unseres Experten bestätigt zu finden.
Allerdings entschädigte er uns mit einer Legende, diesen Ort betreffend. Um ihre Glocke vor der Beschlagnahmung durch die russische Obrigkeit zu schützen, versenkten die altgläubigen Gemeindemitglieder ihre Glocke angeblich im nahe gelegenen See. Doch ist diese Stelle unbekannt und über sie nichts in den Archiven zu finden; noch nicht einmal der Forscher Ivan Zavoloko, der nach Hinweisen suchte, konnte die Stelle und die Glocke aufspüren und das Geheimnis lüften.
An diesem Haltepunkt lief unsere Nutzungszeit für den gemieteten Kleinbus langsam aus, so dass wir erschöpft nach Rezekne zu einem späten Mittagessen in gemütlicher Runde zurück-kehrten. Bis zum Abend wanderten wir mit verschiedenen Zielen durch die Straßen Rezeknes, um den Abend wieder in der Kneipe „Mõls“ bei lettischem Bier, Kaffee, kunstvollen Cocktails und spannenden Tangogeschichten von Verena zu beschließen.