Jekabpils, Dienstag, 21. September
„Weiter, weiter!“ Im Schnellschritt durch Jekabpils
(protokolliert von Thomas Lewandowski)
Am Dienstag hieß es dann vorerst Abschied nehmen von der großen Stadt. Mit einem Ex-press-Zug ging es an der Daugava entlang Richtung Osten. Nachdem die dichte Besiedlung der Hauptstadt erst langsam, dann aber abrupt nachließ, sahen wir nur noch selten hohe Häuser neben uns auftauchen. Der Express-Zug hielt an vielen kleineren Bahnhöfen, und auch die Geschwindigkeit zwischen den Haltepunkten empfanden wir nicht als sonderlich schnell.
Etwa zwei Stunden später befanden wir uns in Krustpils (deutsch: Kreutzburg), dem seit 1962 eingemeindeten nördlichen Stadtteil von Jekabpils. Valerijs Plotnikovs, der Geschäftsführer der Altgläubigen Gemeinde, empfing uns und sorgte mit seiner fröhlichen Art dafür, dass wir überflüssige Scheu schnell ablegten und uns von Anfang an in Jekabpils wohl fühlten. Mit dem öffentlichen Bus ging es über die erst 1962 gebaute einzige Brücke des Ortes auf die andere Seite der Daugava.

Auf dem Weg von der Bushaltestation zum Bethaus zeigte uns V. Plotnikovs das Gebäude, in dem sich die Schule der Altgläubigen befand und wo zuvor das Bethaus stand, das auf Anraten eines rechtgläubigen Priesters wegen angeblicher Baufälligkeit durch die russischen Behörden 1851 abgerissen wurde. V. Plotnikovs trieb uns mit einem flotten „Weiter! Weiter!“ durch die Stadt. Das jetzige Bethaus war von außen weniger prunkvoll (siehe rechts unten) als der Tempel, den wir später in Daugavpils (Dünaburg) sehen sollten, wurde von unserer Exkursionsgruppe aber insoweit geschätzt, als die Mehrheit einen Kalender mit seinem Motiv kaufte.

Vielleicht gaben aber auch die allgemeinen guten Erfahrungen in Jekabpils den Ausschlag für den Erwerb. Das Bethaus in Jekabpils ist nach der typischen Struktur des ländlichen Kapellenbaus eingerichtet. Die Verbindung von Wohn- und Bethaus steht in der Tradition der Altgläubigen. Ihr liegt eine Dreiteilung des Innenraumes zu Grunde, deren Elemente sind: ein rechteckiger Hauptraum (klet) mit einem mehr oder weniger abgegrenzten normalerweise leicht erhöhnten vordern Bereich für den Chor (soleja), den Eingangsraum (trapeza), der als Passage zwischen Profanem und Heiligem gilt und einem weiteren Nebenraum, der ursprünglich als Vorratsraum gedacht ist, in Jekabpils allerdings als Tauf- und Arbeitszimmer genutzt wird. (Robson: 1995) Im trapeza des Bethauses empfingen uns nastavnik Vasilijs Volkovs und die pensionierte Lehrerin Zinaida Zimova, die sich in der Gemeinde sehr stark engagiert.
Dieser Raum, in dem neben anderen ein Bild des Kaufmannes Egor [Georgij] M. Kitov an der Wand hängt, dient dazu, Ungetauften, obwohl sie bei Gottesdiensten nicht in den Betraum dürfen, trotzdem die Teilnahme daran zu ermöglichen. Z. Zimova musterte uns anfangs skeptisch und kommentierte unser Erscheinen mit dem modischen Interesse, das derzeit im Ausland den russischen Minderheiten in Lettland entgegen gebracht werde. Unsere weiblichen Exkursionsmitglieder hatten noch keinen Rock an, der Not wurde schnell abgeholfen, indem ohne großes Rumreden eine Ausnahme gemacht wurde. V. Plotnikovs verwies humorvoll darauf, wenn Frauen sich erst umzögen, dann müssten sie sich auch gleich noch schminken, und so viel Zeit hätten wir nicht. Vasilijs Volkovs zeigte uns sein Arbeitszimmer. Der nastavnik erklärte am Taufbecken, es müsse immer bedeckt sein, damit keine bösen Kräfte hineinkämen,
und sei es auch nur durch einen Strohhalm. Er präsentierte uns stolz alte Bibeln und deren Interpretationen. Ein Buch war eine Handschrift aus dem 17. Jahrhundert mit 1800 Seiten, das sich mit der Auslegung von Psalmen beschäftigt. Eine gedruckte so genannte „Astroskaja-Bibel“, vom ersten Bibeldrucker in Russland Ivan Federov hergestellt, aus der Zeit vor dem raskol 1652 zeigte auf der linken Seite den Text in der griechischen Urfassung und rechts daneben die kirchen-slawische Übersetzung.
Obwohl erst seit 1905 eine Druckerlaubnis für die Schriften der Altgläubigen bestand, wurde auch schon vorher gedruckt. Der nastavnik wies besonders auf den guten Zustand der Bücher hin, die er uns zeigte. Auf die Frage, ob das Lesen dieser alten, meist in Kirchenslawisch verfassten Bücher, schwierig sei, begann der nastavnik gleich einen Abschnitt vorzutragen. Während er uns herumführte, wurde er mehrfach durch das Klingeln seines Handys unterbrochen, dass er dann lässig aus seinem Kaftan zog.
Bei den Altgläubigen hat das geschriebene Wort Vorrang vor dem gesprochenen. Deshalb gibt es eine hohe Buchkultur im Alten Glauben, war die Alpha-betisierungsrate unter den Alt-gläubigen relativ hoch. Manche Historiker (J. Billington, A. F. Heard) vertreten deshalb die These, dass der Alte Glaube dem Protestantismus nahe steht: Hier wie dort wird nicht das Abend-mahl (Körper und Blut Christi) auf dem Altar zelebriert, sondern das Wort Gottes von hier aus verkündet.
Allerdings wird das geschriebene Wort unterschiedlich verstanden: im Protestantismus als argumentatives Wort, im Alten Glauben als altes, authentischpräsentes Zeichen. (Robson: 1995)
Der Betraum war nicht besonders hoch und hatte keine gewölbte Decke, da das Haus bis 1862 als Wohnhaus diente und auch danach nicht auffällig sein sollte, um in den Zeiten, in denen Altgläubige Verboten und Verfolgungen ausgesetzt waren (besonders vor dem Toleranzedikt von 1905), nicht unnötig für Aufsehen zu sorgen. Der Eindruck, sich in einem ehemaligen Wohnhaus zu befinden, wird auch dadurch verstärkt, dass es kein Podest gibt, wie es in Beträumen üblich ist. Es ist allerdings für die Zukunft geplant. Sitzend den Gottesdienst zu verfolgen, ist nicht vorgesehen. Die Bänke im Betraum gelten als ein Zugeständnis an die vielen älteren Gemeindemitglieder. (Betraum siehe unten bzw. vorige zwei Abb. oben)

Eine besondere Art von Ikone, die an ein Triptichon erinnert, zeigte uns der nastavnik. Sie besteht aus vier mit Scharnieren verbundenen Messingplatten. Ihre Herstellung ist ein eigenes Handwerk und stammt aus einem der ersten von Altgläubigen besiedelten Orten. Sie hat den Vorteil, im zusammengeklappten Zustand einfach zu transportieren und zu verstecken zu sein, was sie gerade in den Zeiten der Verfolgungen von unschätzbarem Wert machte.
Die für Gottesdienste unabdingbaren Kerzen werden von speziellen Kerzenmachern hergestellt. Von dem intensiven Wachsgeruch der frischen Kerzen konnten wir uns eigenständig überzeugen.
Die Bethäuser der Altgläubigen sind entweder Ereignissen oder bestimmten Personen ge-weiht. Im Jahre 1889 wurde das zweite Bethaus der Gottesmutter „Pokrov presvjataja bogo-rodica“ (dem Schutz der allerheiligsten Gottesmutter) geweiht; Dank der Tatsache, ist das Bethaus in Jekabpils einem Vorfall in Konstantinopel zugeeignet. Der Stadt drohte eine Bela-gerung, als sich in einer Kirche die Gläubigen versammelten. Während die Gemeinde mit Beten beschäftigt war, sah ein „Tölpel“ (Tölpel gelten besonders empfänglich für Visionen) die heilige Maria, wie sie ein Tuch zum Schutz über die Betenden ausbreitete.

Die Belagerer konnten die Stadt nicht einnehmen und zogen ab, seitdem wird dieses Ereignis als Wunder verehrt. Der Glockenturm des jetzigen Bethauses wurde nach dem Toleranzedikt von 1905 gebaut. Im klet befinden sich immer noch Ikonen aus der Anfangszeit der Gemeinde. Es gab zwar Einbruchsversuche, aber diese schlugen allesamt fehl. Die Bethäuser auf dem Lande seien von Einbrüchen und Diebstählen stärker betroffen als die Bethäuser in dichter besiedelten Gebieten. Zu den vielen verschiedenen Festen der Altgläubigen gibt es jeweils besondere Ikonen, die dann im vorderen Teil des Betraumes installiert werden. Am beliebtesten seien die Ikonen des Heiligen Nikolaj. Denn dieser sei für seine schnelle Hilfe in Notsituationen bekannt. Von der Gottesmutter gibt es etwa 800 verschiedene Darstellungsformen. Der nastavnik Vasilijs Volkovs gilt als einer der besten, wenn nicht sogar als der beste Sänger innerhalb der altgläubigen Chöre Lettlands.

Der Gesang der Altgläubigen besteht aus 150 notenähnlichen Zeichen und acht verschiedenen Intonationen der Stimme, was den Gottesdienst zu einem sehr melodiösen Ereignis werden lässt. Sogar die offizielle (orthodoxe) Kirche hat inzwischen damit begonnen, teilweise die Darstellungsweisen und den Gesang der Altgläubigen in ihre Rituale zu übernehmen.

Nachdem Z. Zimova unser aufrichtiges Interesse erkannte, entbrannte eine Art Wettstreit zwischen ihr und V. Plotnikovs, da jeder der drei uns etwas erzählen wollte. Es war nicht einfach, den verschiedenen Erklärungen zu folgen, und vor allem unsere Übersetzer hatten Mühe, mitzukommen und allen gerecht zu werden. Besonderer Stolz waren die „Bet-Kissen“, die sog. podrušcniki. Besondere Bedeutung komme bei der Herstellung der Zahl neun zu. Die podrušcniki sollen aus neun teilbaren Stücken bestehen.

Z. Zimova zeigte uns podrušcniki, die bis zu 297 Teile aufwiesen. Sie verriet, dass sie eine große Sammlung von podrušcniki habe. Alte Frauen überließen ihr oftmals ihre eigenen, wenn sie niemanden mehr hätten, dem sie sie geben könnten. Sie versuche gerade, einen eigenen Raum für den Alten Glauben im Stadtmuseum zu bekommen, um die podrušcniki und andere Exponate darin auszustellen.
Die Zeit verging wie im Fluge. Nach dem gemeinsamen Essen mit Z. Zimova und V. Plotni-kovs erklang wieder das vertraute „Weiter! Weiter!“, dann ging es mit einem eigens für uns besorgten Kleinbus zum Friedhof der Altgläubigen. (siehe unten)

Bis 1850 befand sich der Friedhof der Altgläubigen zentral in der Stadt beim Basar. Früher hatte jede Konfession einen eigenen Friedhof, aber in der Sowjetzeit wurde ein gemeinsamer Friedhof benutzt. Mittlerweile gibt es wieder verschiedene Friedhöfe. Auf dem Weg zum neuen Altgäubigen-Friedhof zeigten uns unsere „Fremdenführer“, welches Gebiet und wie viel Land den Altgläubigen zum Bewirtschaften zur Verfügung standen. Was in vergangenen Zeiten zum Leben reichte, sei heutzutage nur noch ein Verlustgeschäft.

Der Friedhof liegt in einem Waldstück und scheint sehr groß zu sein.

Die Altgläubigen werden nach Osten ausgerichtet begraben, um beim „Auferstehen“ das Kreuz und den Osten im Blick zu haben. Die Kreuze waren früher grundsätzlich aus Holz, weil andere Materialien zu teuer waren und es keine Werkzeuge zum Bearbeiten gab. Ab etwa 1890 nahm, gerade bei reicheren Altgläubigen, die Anzahl der Steinkreuze ständig zu.
Auf der Fahrt vom Friedhof zum Schloss war Z. Zimova in ihrem Element. Wir hielten an einigen Häusern, an denen sie uns die sog. nalicniki (Verzierungen an Fenstern) zeigte. Die ornamentalen Verzierungen beinhalten die heidnischen Elemente Sonne und Wasser, wodurch die Öffnungen der Häuser vor bösen Kräften geschützt werden sollten. Um den straff organisierten Zeitplan von V. Plotnikovs einzuhalten, erklang zwischendurch immer wieder der bekannte Ruf: „Weiter! Weiter!“. Der nächste Halt war an der Stelle, von der aus die Besiedlung der Stadt Jekabpils ausging.

An der kleinen Bucht, wo einst Flösse und Strusen festmachten, erzählte uns Z. Zimova die Stadtgeschichte. Sie zeigte uns intakte Befestigungsanlagen aus dem 17. Jahrhundert,

die Stelle, wo früher die Stromschnellen begannen, die erst 1962 fertig gestellte Brücke (Foto links) und den Blick auf die Stadt Krustpils, die sich früher unter polnisch-litauischer Herrschaft befand. Den letzten Anlaufpunkt bildete das Schloss Krustpils (Fotos unten). Mit Disk-Man ausgerüstet, bekamen wir einen medialen Rundgang durch das Gebäude, der uns Einblicke in die Geschichte des Schlosses gab. Wenn unser Zug nach Daugavpils nicht gefahren wäre, würden unsere „Fremdenfüher“ uns sicherlich immer noch unterhalten.