Daugavpils, Mittwoch, 22. September
Geschichte und Gegenwart Lettlands von Latgale her betrachtet
Unser Seminar an der Universität Daugavpils
Vorbemerkung
Verena Dohrn
 

Auf dem Marktplatz von Rezekne steht ein Mahnmal aus der Sowjetzeit, das an die Er-schießung der Einwohner des Altgläubigendorfes Audrene im Jahre 1942 durch die deutsche

Okkupationsmacht erinnert. Ihnen wurde Kollaboration mit der feindlichen Sowjetarmee unterstellt. Von Charlotte Mönch nach der politischen Haltung der Altgläubigen in der Grenzregion während der Nazi-Okkupation befragt, hielt sich der Regionalhistoriker Vladimirs Nikonovs zurück mit der Bemerkung, die Quellen müssten neu gelesen und differenziert gedeutet werden. Forschungen über die Geschichte und die kollektive Identität der Altgläubigen im Baltikum haben erst unlängst begonnen.

Viele Historiker sprechen von ihnen als einer ethno-konfessionellen Gruppe, deren Verhältnis zu Russland infolge der immer wieder aufflammenden Verfolgungen durch die orthodoxe Kirche und den Staat und aufgrund von Jahrhunderte lang währender Nichtanerkennung und Marginalisierung kompliziert ist. In der Regel haben sich die Altgläubigen zumeist in offizielle Fragebögen als „Altgläubige“ und nicht als „Russen“ eingetragen. Die Forschungen des französischen Kollegen Yvan Leclère ergaben, dass sich das Verhältnis der Altgläubigen in Latgale zur Staatsmacht mit der Reformpolitik Zar Alexander II. zum Besseren zu wenden begann, da er ihnen Land verschaffte und manche Vorteile brachte. In jener Zeit begannen sie sich kulturell und politisch mit Russland zu identifizieren. Doch die russische Revolution und die Machtübernahme der Bolševiki rissen erneut eine tiefe Kluft zwischen die Altgläubigen und Russland. Die politische Situation Latgales im Zweiten Weltkrieg brachte die Altgläubigen in der Grenzregion erneut in eine außerordentlich schwierige Lage. Die Gegner – die deutsche Wehrmacht und die Sowjetarmee – verlangten beide von ihnen Loyalität. Ein Indiz dafür, dass sich manche Altgläubige in dieser Not zu Russen und Russland zugehörig fühlten, ist eine Grabstätte für unbekannte russische Soldaten auf dem Friedhof der orthodoxen Sv. Ioann-Kirche an der Maza kalna in der Moskauer Vorstadt, die bei der Einnahme Rigas durch die deutsche Wehrmacht im Sommer 1941 getötet und – wie auf den Grabsteinen steht – von altgläubigen Anwohnern begraben wurden.

   
Vortrag zum Thema: Die Altgläubigen und ihr Verhältnis zu Russland während der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg. Die Russen des östlichen Lettland während der Nazi-Okkupation von Dmitrijs Olechnovics
(übersetzt und gekürzt von Verena Dohrn)
Eine besonders engagiert diskutierte Frage in der Historiographie ist die Periode der Nazi-Okkupation Lettlands. Die politische Umerziehung der 1990er machte es notwendig, sich Fragen zuzuwenden, die scheinbar schon erforscht waren. Eine von ihnen ist die nationale
Politik der Nazis auf dem okkupierten Territorium Lettlands.  Von Anfang an errichteten die Nazis eine „neue Ordnung“ auf dem okkupierten Territorium Lettlands, denn es war für die Okkupationsmacht strategisch wichtig, gute Beziehungen zur Bevölkerung zu entwickeln und zu nutzen, um die Protesthaltung wie den Wider-stand hinter der Kampflinie der deutschen Armee einzudämmen. Dies wurde eine der grund-legenden Aufgaben der Presse, denn sie war die einflussreichste Informationsquelle.

In der politischen Propaganda auf dem okkupierten Territorium wurden die bereits erprobten Methoden den regionalen Verhältnissen angepasst. Die Propaganda zeigte die Soldaten des Dritten Reiches, geführt von Hitler, als Symbol des Kampfes gegen die „dunklen Mächte“. Jedem wurde seine Rolle zugewiesen – der Wehrmachtssoldat mit der Waffe in den Händen, kämpft für ein Neues Europa, und die Bevölkerung des okkupierten Territoriums hilft ihm dabei mit allen Kräften. Letztendlich sollte die Propaganda, alle von der Überlegenheit und Wahrheit der Ideologie des Nationalsozialismus zu überzeugen.
Im von den Nazis okkupierten Lettland war der Haupttrick der politischen Propaganda, ein Feindbild zu schaffen und auszubeuten. Die Beschreibung des „schrecklichen Jahres“ (ge-meint war das Jahr der sowjetischen Besetzung 1940/41) und die hyperbolisierte Interpretati-on der Fakten der Geschichte Lettlands, dabei die besondere Akzentuierung der Themen des blutigen Terrors und der Verschwörung gegen das lettische Volk und später gegen das russi-sche, wurden das Schlüsselmoment der Propaganda. Die auf dem Territorium Lettlands he-rausgegebenen Zeitungen in lettischer, russischer und später auch lettgallischer Sprache zeichneten unaufhörlich ein Bild der dunklen Vergangenheit und einer zu erwartenden hellen Zukunft, die dank der mutigen Leitung des Führers möglich wurde.
In der Anfangsphase der Okkupation Lettlands wurden mehr als dreißig Presseorgane in letti-scher Sprache herausgegeben, und nur mit der Veränderung der Lage auf den Schlachtfeldern und der Verstärkung des Protests unter der ansässigen Bevölkerung im Winter 1942 kam Presse in russischer Sprache auf. Am 12. Februar 1942 wurde eine vertrauliche Mitteilung der Propagandaabteilung des Generalkommissariats Riga herausgegeben, in der man daraufhin wies, dass „ ... [der Gebrauch] des Wortes ’Sowjetrussland’, ’sowjetische Russen’ oder ’Russ-land’ und ’Russen’ falsch ist. In allen Fällen soll von ’Sowjetunion’ oder von ’Bolševiki’ ge-sprochen werden.“ Dabei wurden die Versuche der Okkupationsmacht, mit den Vorstehern der russischen Gemeinden Latgales anzubändeln, nicht verborgen:

„... der hier und heute stattfindende Kampf mit den Bolševiki ... das ist ein großartiger Kreuzzug der gesamten Kulturmenschheit gegen die Kräfte der Zerstörung und des Bösen, die von dem internationalen jüdischen Kahal gefüttert und genährt werden und das russische Volk in den Abgrund unerhörter Leiden und Opfer gerissen haben. Die Zerstörung dieser finsteren Kräfte für das Glück der gesamten Menschheit, und in erster Linie für die Befreiung des russischen Volkes ... ist eine heilige Mission Adolf Hitlers ...“ („Dvinskij vestnik“ vom 18. April 1942)

Das Okkupationskommando verstand sehr gut, dass ein bedeutender Teil der russischen Be-völkerung sich außerhalb der Kontrolle der Nazipropaganda befand und dass viele über lange Zeit sowjetische Propagandamaterialien aufbewahrten.
Die bedeutendste Zeitung war der „Dvinskij vestnik“. Sie kostete 10 Pfennige (was wenig war; der geringste Stundenlohn für einen Arbeiter betrug derzeit 27 bis 50 Reichspfennige) und auch das Fehlen anderer Informationsquellen machte sie außerordentlich populär unter der russischen Bevölkerung nicht nur in Ostlettland, sondern auch in Riga. Der verantwortliche Redakteur Alberts Zembergs arbeitete seit Beginn der Okkupation mit den Okkupationsverbänden zusammen, was die Aufsicht über die Publikation erheblich erleichterte, so dass das genannte Presseorgan wie die Mehrheit der anderen Zeitungen erst nach seinem Erscheinen zensiert wurde. Das Schema, nach dem die Materialien in der Quelle veröffentlicht wurden, entsprach dem der anderen Publikationsorgane jener Zeit: Die erste Rubrik war den Ereignismeldungen von der (Ost-)Front gewidmet, in der zweiten wurden grundsätzlich Propagandaartikel untergebracht und in der dritten offizielle Mitteilungen, lokale und regionale Neuigkeiten; die vierte Rubrik bot in der Regel Unterhaltung, mit einem scharfen propagandistischen Unterton. Die Zeitung besaß eine klare Ausrichtung auf den russischen Leser. Artikel über die Partisanen gab es mehr als in den Veröffentlichungen in lettischer Sprache. Sie sind breiter angelegt und detaillierter. Das sagt indirekt etwas darüber aus, dass gerade die russische Bevölkerung die Hauptstütze der Partisanen war:

„ ... Im Monat November 1941 wurden von den Bolševiki Sabotagebanden ... in den Dörfern Janciški und Zelenovka ausgesetzt. Die Bauern haben sie monatelang unterstützt und versteckt. Die schuldigen Bauern Ivan Titov und Osin Grigor’ev aus Zelenovka wurden auf meinen Befehl hin öffentlich erhängt. Den Bauern Fotij Anisimov aus Zelenovka, der sich ebenfalls derselben Sache schuldig gemacht hat, habe ich begnadigt, da er im letzten Moment zur Kommandantur kam und durch ihn ein flüchtiges Mit-glied dieser Bande entdeckt wurde...“. („Dvinskij vestnik“ vom 27. Mai 1942)

Einer der Gründe für die Unterstützung der Partisanen war scheinbar, dass die Russen die sowjetischen Einheiten hinter der Front als ihre eigenen Leute ansahen. Die Propagandisten versuchten die Bevölkerung dazu zu bringen, die Hilfeleistungen für die Partisanen einzustellen:

„Was ist das, Partisanentum? Das ist Diebstahl am helllichten Tage. Die […] Partisanen bedeuten ein schreckliches Elend für den Bauern und erst recht für den in Armut gebrachten und von den verbrecherischen bolschewistischen Armeen bestohlenen. Diese Banden können nur durch Diebstahl existieren und dabei wälzen sie die Verantwortung für ihr verbrecherisches und sinnloses Handeln auf die unglückliche Bevölkerung ab. Die Bauern terrorisierend, stürzen die Räuber ganze Dörfer nach den Gesetzen des Krieges ins Verderben. Die Bauern werden unter Todesangst zur Abgabe ihres letzten Besitzes gezwungen, und haben sie ihn hergegeben, werden sie von der deutschen Kommandantur zur Verantwortung gezogen. Diese schreckliche Geißel sollte vor Ort von den Bauern selbst liquidiert werden. […] Sowjetische Partisanen verteidigen können nur überzeugte Verbrecher, die nichts auf das Wohl des Volkes und seine Interessen geben. Die Sache der Bauernschaft ist es, sich vor dem schrecklichen Bösen in acht zu nehmen, vor den räuberischen Partisanen...“ („Dvinskij vestnik“ vom 26. September 1942)
Die Nazipropagandisten registrierten das Gerücht, dass Kirchen errichtet würden, mit beson-derer Aufmerksamkeit, vor allem weil die Sowjetmacht sich in erster Linie als „gottlos“ dar-stellte. In diesem Fall ist die folgende Karikatur aussagekräftig.

Die Hauptfeinde des russischen Volkes waren nach Ansicht der Zeitungen Stalin und seine jüdischen Helfershelfer aus der GPU, aber nicht die Sowjetmacht als ganze, obgleich auch sie als das absolut Böse erschien, besonders wenn sie mit Stalin identifiziert wurde. Die Artikel in der durchgesehenen Quelle stellen etwas Ähnliches wie die mittelalterlichen exempla vor, was ihre Aufnahme durch ein breites Publikum erleichterte. Die nationalsozialistische Propa-gandamaschine war darauf aus, bei der ansässigen Bevölkerung ein Feindbild zu schaffen und sie zugleich zur Kollaboration mit den Okkupationstruppen zu bewegen, gleichwohl scheint es den Propagandisten im großen Maßstab nicht gelungen zu sein, dies zu realisieren.

 
Vortrag zum Thema: Geschichte und Gedächtnis der russischen Minderheiten in Lettland von Prof. Irena Saleniece
(protokolliert von Diana Krastina und David Sittler)
2003 wurde an der Stelle, wo 1660 das erste Bethaus der altgläubigen Migranten im Baltikum gebaut worden ist, ein schwarzes Kreuz als Gedenkstätte errichtet. Damit wird dieser Teil der lettischen Geschichte in der aktuellen Erinnerungskultur aufgewertet. Dies ist gerade deshalb interessant, weil sich die Minderheitenstatistiken im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts stark verändert haben: Von 1943-1989 stieg der Bevölkerungsanteil der Russen in Lettland von 10% auf über 30%.

Damit waren Russen in Lettland kaum mehr als Minderheit zu betrachten. Dieser Prozess wurde aber bereits durch das Gesetz von 1919 zur Schulautonomie begünstigt. Ein weiteres Gesetz sicherte allen Konfessionen das Begehen ihrer Feiertage zu. Die gezielte Ausbildungsförderung der Minderheiten von staatlicher Seite war Teil ihrer stärkeren kulturellen Beachtung in der Ersten Republik. Die Finanzierung wurde von eigens dafür eingerichteten Abteilungen in den Ministerien organisiert. Die Altgläubigen passten sich daher in den 1920er Jahren nicht nur stärker an, sondern es herrschte auch auf Grund gemeinsamer Interessen eine z. T. aktive Kooperation zwischen den Altgläubigen und ihrem gesellschaftlichen Umfeld.
Zu einer Neubewertung und -bearbeitung des Minderheitenbegriffs kam es zwangsläufig nach der Eingliederung Lettlands in das sowjetische Herrschaftsgebiet im Jahr 1940, dann der deutschen Besatzung und schließlich nach der Unabhängigkeit Lettlands.

I. Saleniece gewann bei ihrer Arbeit den Eindruck, dass russische und lettische Zeitgenossen etwa gleichen Alters die Geschichte seit 1918 und die Okkupation Lettlands ziemlich ähnlich erlebt hätten. Die individuellen Unterschiede erschienen ihr in den Interviews wichtiger als die ethnisch-religiösen. Diesen Eindruck konnten die Befragungen von Sowjetbürgern, die nach 1940 eingewandert sind, nicht untermauern, da sie natürlich keine Erinnerung an die Zeit der Ersten Republik haben. Zugespitzt lautet daher die These I. Salenieces: „Es gibt keine speziell russische „Erinnerungsvariante“ (russkaja versija Latvii) der erlebten Geschichte Lettlands.“
Verena bezweifelte die These über die Identität der Erinnerungen von Minderheit und Mehr-heit während der 1920er Jahre ebenso wie in der Sowjetzeit. Aufgrund von Übersetzungs- und Zeitproblemen gelang keine explizite Beantwortung.
In der anschließenden kleinen Gesprächsrunde mit I. Saleniece und ein paar ihrer Studenten
wurde auf die Oral-History-Interviews eingegangen, die I. Saleniece und ihre Studierenden durchführen. Dabei interessieren sie sich für Fragen der Alltags-, Regional-, Bildungs-, und Minderheitengeschichte. Hier spielt die Erinnerung der Regimewechsel eine wichtige Rolle und taucht in den gemeinsam entwickelten Fragebögen auf. Wahrscheinlich auch aus Zeit-gründen bekamen wir keine Fragebögen zu sehen und erfuhren daher keine Details zu den methodischen Problemen. I. Saleniece berichtete, dass es mittlerweile 300 Kassetten mit sol-chen Interviews gibt, die aber noch nicht – wie das Material in Riga und in Estland – transkri-biert und publiziert sind. Eine Veröffentlichung ist allerdings geplant. Bei den Expeditionen zu den zu Befragenden sind Linguisten, Psychologen und Regionalhistoriker beteiligt. Die Beweiskraft der Interviews blieb unklar.