Der Bibliothekar als Kultfigur in Cyberspace
Tagtraeume
eines deutschen Bibliotheksbenutzers
von Alois Payer
Textfassung
vom 10. Juni 1995
URL: http://www.well.com/user/payer/alois.html
Gruezi miteinand,
meine sehr verehrten, lieben Damen und
Herren!
"Es ist wirklich erstaunlich, was jemand mit einer
Kenntnis von allgemeinen Katalogwoertern und -phrasen mit
Archie zustande bringt. Aber ich vermute, das ist
es, wozu Bibliothekare ausgebildet sind." (Zitat)
"Einige der leidenschaftlichsten Benutzer des Internet
sind Bibliothekare. (Freilich hat dies nichts mit dem Internet zu tun:
Bibliothekare sind von Natur aus leidenschaftlich). Im Internet gibt es
so viele Resourcen, dass nur ein Bibliothekar sie alle katalogisieren
und beschreiben kann." (Zitat)
Diese zwei Zitate stammen nicht etwa von Fuktionaeren eines
bibliothekarischen Berufsverbandes, sondern von Cybergurus, Leuten, die schon im 21. Jahrhundert leben.
Es ist
schon ein seltsamen Gefuehl fuer einen alten Mann wie mich: als meine
Frau vor ueber zwanzig Jahren ihre Bibliotheksausbildung machte, war ein
Bibliothekar ein liebenswertes schrulliges, etwas verstaubtes,
rueckwaerts-gewandtes Wesen, und da wacht man eines Tages auf und
entdeckt, dass neben einem die Angehoerige eines Berufsstandes liegt,
der an der Spitze von Hightech marschiert und eine ganz wesentliche
Rolle in den revolutionaeren Vorgaengen spielt, die durch die
Moeglichkeiten computervermittelter Kommunikation eingeleitet wurden.
Doch wenn ich nach anfaenglichem
Erstaunen mir diesen Wandel im Berufsbild naeher ueberlege, dann weicht
die Verwunderung der Einsicht, dass diese Entwicklung ganz konsequent
ist. Haben doch Bibliothekare immer schon eine wichtige Rolle gespielt
als Vermittler ungleichzeitiger und ungleichartiger Kommunikation.
Ungleichzeitige Kommunikation indem Bibliothekare durch ihre
Sammlertaetigkeit Kommunikation selbst ueber die Jahrhunderte hinweg
ermoeglichen. Vermittlung ungleichzeitiger Kommunikation durch die
Haltung und Erschliessung ungeheurer Zeitschriftenbestaende ist fuer
uns heute eine solche Selbstverstaendlichkeit, dass wir uns der Leistung
der Bibliothekare kaum mehr bewusst sind. Zur Illustration der Leistung
von Bibliothekaren als Vermittler ungleichortiger Kommunikation muss ich
nur als Beispiel darauf hinweisen, dass Bibliothekare mir ermoeglichen,
im vertraeumten Tuebingen besser mit Kollegen in Indien zu
kommunizieren, als es an den meisten Orten Indiens moeglich ist.
Auch haben Bibliothekare schon laengst eingesehen, dass die
Beschraenkung der vermittelten Resourcen auf gedruckte Medien nicht
sinnvoll ist. So bieten mir Bibliothekare schon lange neue Medien an,
und gute Auskunftsbibliothekare wissen auch, dass die beste
Resourcenvermittlung oft der Hinweis auf eine kompetente lebende Person
ist.
Mit diesen nun schon traditionellen
Vermittlungstaetigkeiten decken Bibliothekare ein weites Feld dessen ab,
was computervermittelte Kommunikation in einem noch nie dagewesenen
Umfang und mit voellig neuen Qualitaeten ermoeglicht.
Computervermittelte Kommunikation macht voellig unabhaengig davon, dass
die Kommunizierenden am gleichen Ort und zur gleichen Zeit
kommunizieren. Sie befreit weitgehend von Ort und Zeit.
Computervermittelte Kommunikation befreit auch - und das ist neu -
weitgehend von der Bindung von Kommunikation an ein bestimmtes
physikalisches Medium, sei es Stimme, Papier, Mikrofilm oder sonst ein
bestimmter Datentraeger. Computervermittelte Kommunikation wird
ausserdem immer mehr eine Kommunikation von Mensch zu Mensch mit all
seinen Sinnen sein. (Weder ein beschriebenes oder bedrucktes Blatt
Papier, noch Bildschirm, Maus und Tastatur sind die menschengerechtesten
und menschenwuerdigsten Formen von Kommunikation!). Computervermittelte
Kommunikation befreit vom Rundfunkmodell der Kommunikation (einer teilt
durch ein Buch, einen Aufsatz vielen etwas mit, man macht Retrieval in
einer Datenbank) und anderen nicht-dialogischen Kommunikationsmodellen.
Computervermittelte Kommunikation ermoeglicht naemlich alle Formen von
Kommunikation:
- Eine zu Einer
- Eine zu Vielen
- Viele zu Einer
- Viele zu Vielen
Damit solch maechtige Moeglichkeiten, wie sie
computervermittelte Kommunikation bietet, auch sinnvoll genutzt werden
koennen, bedarf es Fachleute, die Hilfe und Orientierung bieten koennen
und wollen. Und hier ist die Chance fuer Bibliothekare, Kultfiguren im
Cyberspace zu werden.
Ich moechte diese Chance mit wenigen
Schlagworten andeuten:Schlagwort 1: Befreiung vom Zwang zur
Gleichzeitigkeit
Wenn auch computervermittelte Kommunikation vom
Zwang zur Gleichzeitigkeit endgueltig befreit, so besteht doch die
Gefahr, dass die Moeglichkeit der Kommunikation ueber die Jahrhunderte
hinweg dann verschlechtert wird, wenn sich niemand dafuer zustaendig
fuehlt, zu sammeln, zu speichern und das Gespeicherte zu pflegen -
klassische Aufgaben von Bibliothekaren! Da nun aber jeder leicht sein
eigener Verleger sein kann, stellt sich die Frage, was fuer die Nachwelt
gesammelt und gespeichert werden soll und darf. Hierzu gibt es eine
relativ einfache Loesung: die URC - Universal Resource
Characteristics - . Wenn die URC Informationen
darueber enthaelt, wie lange z.B. ein Paper gueltig sein soll, dann kann
der Autor in der URC auch angeben, ob und fuer wie lange sein Produkt
gesammelt und gespeichert werden soll. Dies waere die Anwendung des
Grundsatzes der WELL: You own your
own words. Aufgabe der Bibliothekare waere das so bevollmaechtigte
Sammeln und Speichern.
Hier eine Kleine Nebenbemerkung: Unsere
Bundes- und Landesbibliotheken sammeln mit gesetzlicher Grundlage alle
Buecher, Zeitschriften usw. aus ihrem Zustaendigkeitsbereich in
gedruckter Form. Dabei wird heute kaum noch etwas gedruckt, ohne dass es
zuvor in elektronischer Form vorliegt. Gewiss, das Zugaenglichmachen
solcher Werke in elektronischer Form haengt noch von vielen ungeloesten
rechtlichen Problemen ab. Wie waere es aber, wenn die Bibliothekare eine
Lobby bilden wuerden fuer ein Pflichtexemplarrecht, das die Verleger zur
Abgabe der elektronischen Vorlagen ihrer Verlagsprodukte verpflichten
wuerde. Diese elektronischen Vorlagen waeren dann so lange gesperrt, bis
die rechtlichen Fragen geloest sind bzw. das Copyright erloschen ist. So
wuerden Bibliothekare kuenftigen Generationen ersparen, muehsam wieder
in elektronische Form bringen zu muessen, was einstmals vor der
gedruckten Form schon in elektronischer Form vorlag. (Hinweis
auf den Urheber dieses Vorschlags)
Schlagwort 2: Befreiung der Kommunikation von der Abhaengigkeit von
Ort, Medium, Verlegern, DFG, Fachreferenten und anderen Zensoren
Nicholas Negroponte, einer der Grossen am Media Lab des Massachusetts Institute for Technology schreibt:
"Thomas Jefferson begruendete oeffentliche Bibliotheken als
Grundrecht der Amerikaner. Diesem Vorvater kam aber niemals in den Sinn,
dass jeder Buerger jederzeit jede Bibliothek betreten koennte, jedes
Buch sofort entleihen koennte, mit einem Knopfdruck, ohne sich auch nur
einen Schhritt von zuhause wegbewegen zu muessen. Ploetzlich werden all
diese Bibliotheksatome zu Bibliotheksbits und sind jedem im Netz
zugaenglich. Das konnte sich Jefferson nicht vorstellen, das stellen
sich Autoren nicht vor, das stellen sich Verleger nicht so vor. Das
Problem ist einfach. Solange Information an Atomen haengt, so lange
braucht man alle moeglichen industriellen Mittel und grosse Unternehmen
zur Informations-Lieferung. Wenn aber das Schwergewicht auf die Bits
faellt, dann sind ploetzlich die traditionellen Grosskopferten nicht
mehr noetig. Do-it-yourself-publishing im Internet ist sinnvoll, bei
Verbreitung durch Papier ist es nicht sehr sinnvoll." (Zitat)
Auch Negropontes Bild vom elektronischen Betreten der
Bibliotheken ist noch viel zu traditionell. In Wirklichkeit kann sich
jeder jederzeit eine virtuelle Bibliothek der Resourcen schaffen, die er
gerade wuenscht oder benoetigt. Der tatsaechliche Standort, das
urspruengliche Medium der Resource ist voellig unwichtig. Auch kann mir
kein Verleger, keine DFG, kein Fachreferent, kein anderer Zensor den
Bestand meiner virtuellen Bibliotheken beschraenken. In meinen
virtuellen Bibliotheken gibt es keine Giftschraenke, die nicht ich
selbst eingerichtet habe.
Das klingt ja alles schoen und recht
und ist auch schon beginnende Wirklichkeit. Doch erlebe ich immer
wieder, dass auch sehr intelligente Menschen voellig ueberfordert sind,
sich ihre virtuellen Bibliotheken ihrer Resourcen aufzubauen oder
sinnvoll im Netz zu kommunizieren und publizieren. Dies liegt zum Teil
daran, dass sich zum Glueck nicht das erratische Projekt
Xanadu durchgesetzt hat, sondern das
anarchistische Internet. Allerdings bedeutet im Internet Anarchie zur
Zeit nicht nur schoepferisches Chaos, sondern auch Leerlauf-bedingendes
Chaos. Hier fuehlen sich die Bibliothekare gefordert. Besonders die
deutschen Bibliothekare sind ja Spezialisten im Umgang mit Anarchie, man
muss nur an die Verbuende denken. Bibliotheksbau wird eine Aufgabe von
allen Bibliothekaren, nicht nur von profilierungssuechtigen Politikern
und Bibliotheksdirektoren. Bibliotheksbau aber nicht von Palaesten aus
Glas, Stahl und Stein, sondern Bau von Millionen virtueller Bibliotheken
im weltweiten Dorf. Die klassische Funktion des Bibliothekars als
Vermittler von Resourcen!
Sind damit die Bibliothekare nicht
zeitlich voellig ueberfordert? Ganz gewiss! Deshalb werden
Bibliothekare ihre ganze Erfahrung einbringen in die Entwicklung von elektronischen Bibliothekaren, Programmen, die
dem Benutzer die von ihm gewuenschten Resourcen erschliessen. Solche
elektronischen Bibliothekare duerfen keine starren Fach- oder
Benutzerprofile sein, sondern sie muessen wie gute
Auskunftsbibliothekare lernfaehig und flexibel im Laufe der Zeit die
Beduerfnisse des Benutzers immer besser erfuellen.
Schlagwort 3: Befreiung von Kontrolle durch Unternehmer,
Interessengruppen, sonstigen "Wohltaetern" der Menschheit
Was
nuetzen aber all die Moeglichkeiten computervermittelter Kommunikation,
wenn sie letztlich doch wie die meisten klassischen Medien unter die
Kontrolle von Unternehmern, Interessengruppen und aehnlichen
"Wohltaetern" der Menschheit fallen?
Hier sehe ich eine ganz
grosse Aufgabe der Bibliothekare als Lobbyisten der Freiheit, damit die
computervermittelte Kommunikation nicht letztendlich doch von den
Bertelsmaennern und/oder von Leuten kontrollifert und bestimmt wird,
die schon immer wussten, was fuer uns gut oder schlecht ist und wovor
wir bewahrt werden muessen.
Meine lieben angehenden
Kultfiguren! Entwickeln und pflegen Sie, bitte, zusaetzlich zu Ihren
klassischen bibliothekarischen Tugenden noch folgende Eigenschaften:
- ein kindlich-naives Gemuet mit Neugier und Offenheit fuer alles
Neue
- die Faehigkeit, alte Denkgewohnheiten aufzugeben, wenn
die Voraussetzungen
nicht mehr bestehen, unter denen diese
Denkgewohnheiten sinnvoll waren.
Haben Sie den Mut zu sagen:
das war 1950 sinnvoll, es war 1970 sinnvoll,
1995 ist es Mist,
also weg damit!
Kurz, entwickeln Sie, was man im Zen-Buddhismus "a beginner´s
mind" nennt. Dann kann ich voll folgende Aussage von Nicolas Negroponte
unterschreiben:
Bibliotheken als Gemaeuer mit Buechern werden immer mehr vergehen
(dafuer sorgt schon der Saeurefrass)
Bibliothekare aber
bleiben bestehen(Zitat)
Zurueck zu Tuepfli´s Global
Village Library
Anmerkungen
Anm. 0: Archie ist ein
Datenbanksystem, das die Verzeichnisse von Anonymous-FTP-Servern
erschliesst. Mittels von Archie kann man recht schnell ermitteln, wo
bestimmte Files heruntergeladen werden koennen. (Zurueck
zum Text)
Anm. 1: Krol, Ed: The whole Internet
user´s guide and catalog. - 2. ed. - Sebastopol, Calif. : O´Reilly, 1994. - ISBN 1-56592-063-5. - S. XXIV. (Zurueck
zum Text)
Anm. 2: Hahn, Harley: The
Internet golden directory / Harley Hahn ; Rick Stout. - 2. ed. -
Berkeley : Osborne McGraw-Hill, 1995. - ISBN 0-07-882107-X - S. 394.
(Zurueck zum Text)
Anm.
3: Cybergurus sind Gurus (angesehene Lehrmeister) in Cyberspace.
Der Ausdruck "Cyberspace" - von griech. kybernao ("Steuermann sein",
"steuern") und engl. space - geht zurueck auf den Science-Fiction-Roman
"Neuromancer" von William Gibson. Er bezeichnet eine virtuelle,
computergeschaffene Realitaet, in der man mittels
Gehirn-Computer-Interfaces herumnavigieren kann. (Zurueck
zum Text)
Anm. 4: Viele
Vernuepfungen mit Resourcen zur computervermittelten Kommunikation
findet man in den Telecommunications-Abschnitten von Tuepflis Global Village Library. (Zurueck zum Text)
Anm. 5: Zu URI, URN, URL, URC s. http://www.acl.lanl.gov/URI/. (Zurueck zum Text)
Anm. 6: Die WELL (Whole Earth ´Lectonic
Link) ist eine experimentierfreudige virtuelle Gemeinschaft mit
Schwerpunkt in Kalifornien. Naeheres zur Well findet man im WELL-Gopher und den WELL-WWW-Pages.
(Zurueck zum Text)
Anm.
7: Dieser Vorschlag geht zurueck auf: Negroponte, Nicholas:
A bill of writes. - In: Wired. -
3 (1995), 5. - S. 224. (Zurueck zum Text)
Anm. 8: Nicholas Negroponte: e-mail:
nicholas@media.mit.edu
Zu Negroponte´s neuestem Buch "Being digital" finden sie im WEB-Server
von Randomhouse
naehere Informationen und auch einige Auszuege.
MIT Media Lab: http://www.media.mit.edu. Obwohl schon veraltet, ist immer noch
lesenswert: Brand, Steward: Media Lab : Computer, Kommunikation
und neue Medien ; die Erfindung der Zukunft am MIT. - Reinbeck bei
Hamburg : Rowohlt, 1990. - (rororo ; 8169). - ISBN 3-499-18169-X. -
Einheitssacht.: The media lab. (Zurueck zum Text)
Anm. 9: Negroponte, Nicholas: Bits
and atoms. - In: Wired. - 3
(1995), 1. - S. 176. (Zurueck zum Text)
Anm. 10: Eine hervorragende Darstellung des Projektes
Xanadu ist: Wolf, Gary: The curse of Xanadu. - In: Wired. - 3 (1995), 6. - S. 137ff. (Zurueck zum
Text)
Anm. 11: Vgl. Negroponte,
Nicholas: Less is more : Interface agents as digital butlers. - In:
Wired. - 2 (1994), 6. - S. 142.
(Zurueck zum Text)
Anm.
12: "Libraries as places and as buildings, are the product of an
industrial age, and, sooner or later, will go away. But librarians will
not disappear." Negroponte, Nicholas in der Antwort auf eine
Leserzuschrift . - In: Wired. -
3 (1995), 4. - S. 28. (Zurueck zum Text)
Autor:
Alois Payer
Buddhologe und Indologe
Universitaet
Tuebingen
e-mail: payer@well.com