VL WS 06/07:     Einführung in das Christentum – 1. Sitzung

Christentum als Religion: eine religionswissenschaftliche Perspektive

(J. Gentz / A. Grünschloß)
 

 

1. Zur Begriffsgeschichte von religio“

2. Religionstypologien und unterschiedliche Klassifizierungen des Christentums

3. Christliches Selbstverständnis und Religion“

4. Religionswissenschaftliche Außendarstellung des Christentums

a) Art der Botschaft (Kodierung, Grundannahmen, Inhalte, Tradierung, Frömmigkeitsformen, ethische Konsequenzen)

b) Sozialer und interreligiöser Kontext

c) Konstanz und Identität

 

 

 

 

Wenn heutzutage vom Christentum als Religion gesprochen wird, so wird die zuhöchst kontroverse geschichtliche Debatte, die dem zugrunde liegt, meist nicht mitgedacht. Beide Begriffe, sowohl der des Christentums“ als auch derjenige der Religion“ sind in ihrer Bedeutung höchst strittig und keineswegs so klar wie wir meinen, wenn wir sie verwenden. Ich möchte mich in der heutigen ersten Vorlesung der Reihe als Religionswissenschaftler dem Christentum zunächst analytisch von außen nähern. — Was ist das Christentum eigentlich religionswissenschaftlich-vergleichend gesehen? ... Ist es eine Religion? Wenn es eine Religion ist: was für eine Religion ist es dann? ... Inwiefern unterscheidet es sich denn von anderen Religionen und wo lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen? — Zu diesen Fragen gibt es, wie Sie sich sicher denken können, unterschiedliche Auffassungen. Wie ordnen Religionswissenschaftler das Christentum systematisch in eine Typologie der Religionen ein? Welche unterschiedlichen Typologien gibt es da überhaupt, also aus was für unterschiedlichen Perspektiven lässt sich das Christentum religionswissenschaftlich beschreiben? Wie ist es geschichtlich zu diesen Typologien gekommen? Und dann stellt sich natürlich auch die Frage, wie denn Christen selbst das Christentum als Religion beschreiben? Ist es in deren Augen überhaupt eine Religion? Wie verhält es sich denn eigentlich zu anderen Religionen? Hier sollen theologische Standpunkte von einflussreichen Theologen wie Friedrich Schleiermacher, Heinrich Frick, Karl Barth und anderen kurz vorgestellt werden. – Am Ende ist zu zeigen, wie heute eine religionswissenschaftliche analytische Außendarstellung des Christentums aussehen kann ...

 

 

 

 

Grobe Begriffsgeschichte zu religio

 

Römisches Reich

Kultisch-ritueller Aspekt: religio à rituelle Exaktheit und Sorgfalt

 

Spätantike

religio in christlicher Literatur keine große Rolle, nur als Abgrenzungsbegriff von Glauben vs. Ritus.

 

Mittelalter

Begriff nicht wichtig, nicht komparatistisch, nicht theologisch, sondern moralisch. Monastische Ordenslebensform als perfekter und reiner Ausdruck von religio.

 

Renaissance und Reformation

Im 16. Jhd. Ausweitung über christl. Religion hinaus, komparatistisch: wahre und falsche Religion.

 

Neuzeit

Grundlegender Wandel in Auffassung. Unterscheidung zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion. Nach 1700 entscheidende Veränderungen, faktische Neukonzeption des Begriffes Religion“.

Wegen zunehmenden ethnologischen Materials seit dem späten 18. Jhd. à Entwicklung von Religionstypologien. – Konzept der "Weltreligionen" wird zum ersten Mal in Thieles Outline of the History of Religion to the Spread of Universal Religions 1876 formuliert.

 

20. Jhd.

Rudolf Otto (1912): Das Heilige

Paul Tillich (1959): Religion = ultimatives, unbedingtes Anliegen

William A. Christian (1964): Jemand ist religiös, wenn in seinem Universum etwas ist, dem alles andere prinzipiell untergeordnet ist.

Ninian Smart (1983): Religion = Weltsicht als ein Glaubenssystem, das durch Symbole und Handlungen die Gefühle und den Willen der Menschen mobilisiert.

Melford E. Spiro (1966): Institution, die aus kulturell gestalteter Interaktion mit kulturell postulierten übermenschlichen Wesen besteht.

Axel Michaels (1997): Religion = Antwort des Menschen auf das Bewusstsein seiner Sterblichkeit.

 

 

 

 

Systematische Probleme beim Definieren von Religion“

 

 

 


      Es gibt ein Dilemma zwischen Inhalt und Umfang: Vergrößert man den Umfang des Religionsbegriffs, umfasst er zwar umso mehr Fälle, wird aber auch entsprechend diffuser. Umgekehrt fasst ein genauer definierter Begriff auch weniger Phänomene, die man vielleicht doch als religiös bezeichnen wollte.

 

      Das Problem der Übersetzbarkeit: Außereuropäische Sprachen haben oft kein eigenes Wort, keinen Begriff für Religion.“

 

      Der Konflikt zwischen Innenperspektive und Außenperspektive: Wird die Definition besser aus dem jeweils eigenen Glauben heraus vorgenommen oder von einem distanzierten Betrachter von außen?

 

      Der Konflikt zwischen deskriptiver und normativer Definition: Soll die Definition sagen, wie man Religion beschreiben kann, oder soll sie sagen, was Religion sein sollte?

 

 

Beispiele für Religionstypologien ...

 

 

1. Typologie der Religionen nach Gottesvorstellungen

(Paul Tillich im ersten Band seiner Systematische Theologie)

a) Mythologisch-polytheistischer Typ

b) Universalistischer Typ

c) Dualistischer Typ

d) Monarchisch-monotheistischer Typ

e) Mystischer Monotheismus

f) Exklusiv-monotheistischer Typ

g) Trinitarischer Typ

h) Henotheistischer Typ

 

2. Typologie religiöser Strukturen

(Carsten Colpe in HrwG)

a) Umwelt- und sprachintegrierter Typ

b) Kulturell desintegrierter Typ

c) Ritenorientierter Typ

d) Zeitbezogener Typ

e) Normenorientierter Typ

f) Synkretistisch-komplexer Typ

g) Synthetisch-komplexer Typ

 

3. Typologie gesellschaftlicher Entwicklungsstadien

(Goldammer Die Formenwelt des Religiösen, 1960)

a) Gruppenreligionen der Naturvölker

b) National gegliederte Kulturreligionen

c) Universalreligionen (Missionsreligionen)

d) Neuzeitliche Individualreligiosität

 

(Sundermeier Was ist Religion)

a) Stammesreligionen, Nomaden-, Bauern-, Stadtreligionen

b) regional begrenzt bleibende vs. expandierende Religionen

c) Primitive/Naturreligionen vs. Hoch-/Kulturreligionen

d) primäre vs. sekundäre Religionen

 

4. Psychologische bzw. Geschlechter-Typologie

Vater- vs. Mutterreligion (19. Jhd., 20. Jhd. Feminismus)

 

 

5. Typologie nach Frömmigkeitstypus

(Söderblom, Ursprung des Gottesglaubens 1910)

a) persönlichkeitsverneinende Mystik, Unendlichkeitsmystik/ Persönlichkeitsmystik/ Gefühlsmystik, akosmische Erlösungsreligion

b) persönlichkeitsbejahende Mystik, Willens-/ Berufungsmystik, prophetische/Offenbarungsreligion.

 

(Heiler Das Gebet, 41921, 248–283)

a) Mystische Religionen (Rel. indischen Ursprungs, aber auch Griechenland, China und Ägypten)

b) Prophetische Religionen (aus semitischem Kulturraum, Zarathustra)

 

(Goldammer 1960 fügt dieser Zweiteilung noch einen dritten Typus hinzu)

a) Prophetische Religionen (Israel, Zoroastrismus)

b) Kultisch-priesterliche Religionen (Vorderer Orient)

c) Mystische Religionen (Indien)

 

6. Typologie nach Wahrheitsquelle

(Glasenapp Die fünf Weltreligionen)

a) Religionen des ewigen Weltgesetzes (asiatische Religionen: Hinduismus, Buddhismus, chinesischer Universismus)

b) Religionen der geschichtlichen Offenbarung (Judentum, Christentum, Islam).

 

7. Phänomenologische Typologien

(Gerardus van der Leeuw: Phänomenologie der Religion 1933)

a) Religionen der Entfernung und der Flucht

b) Religionen des Kampfes

c) Religionen der Ruhe

d) Religionen der Unruhe

c) Religionen des Dranges und der Gestalt

d) Religionen der Unendlichkeit und der Askese

e) Religionen des Nichts und des Mitleids (Buddhismus)

f) Religionen des Willens und des Gehorsams

g) Religionen der Majestät und der Demut

h) Religionen der Liebe

 

8) Typologie nach Gemeinschaft

a) Kollektive Religion

b) Individuelle Religion

 

9. Typologie nach Herkunft

a) Stifterreligionen (Buddhismus, Konfuzianismus, Christentum, Islam)

b) Nicht gestiftete Religionen (Hinduismus, Shintoismus)

 

(William Robertson Smith (1846–1894). 1889: Lectures on the Religion of the Semites)

a) Judentum, Christentum, Islam: positive Religionen“ mit klarem Ursprung, der sich gegen andere Traditionen abgrenzt

b) Unbewusst wachsende Religionen

 

(Goldammer 1960, 399–402)

a) gewachsene

b) gestiftete Religionen

 

(Söderblom)

a) Animismus

b) Dynamismus

c) Urheberreligion

 

10. Typologie nach Heilsweg

(Sundermeier Was ist Religion)

a) Erlösungsreligion (Buddhismus)

b) Versöhnungsreligion (Judentum, Christentum)

 

11) Typologie nach Höhe

a) Höhere

b) Niedere Religion

 

12) Sprach-/Rassentypologie

a) Semitischer Gottesbegriff

b) Indogermanischer Gottesbegriff

 

13) Typologie nach Heilsweg:

(H. Frick)

a) Religion der Werke

b) Religion der Gnade

 

14) Idealistische Typologie

(Hegel II, 185ff.

a) Objektive Stufe, auf welcher Gott Naturmacht ist

b) Subjektive Stufe, auf welcher Gott als geistige Individualität erscheint

c) Dritte Stufe: Christentum, in dem sich Gott als absoluter Geist offenbart

 

15) Typologie nach Art der Ehrfurcht:

(Goethe)

a) Ehrfurcht richtet sich auf das, was über uns ist: Heidentum, erste Ablösung der Furcht b) Ehrfurcht richtet sich auf das, was uns gleich ist: philosophische Religion

c) Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, vor Schwachem und Niedrigem, sogar Widerwärtigem: Christentum: Religion des Leidens und des Todes als Letztes und Höchstes.

 

 


Religionswiss. Beschreibung des Christentums

von Fritz Stolz im RGG4-Artikel Christentum“

 

 

1. Art der Botschaft

a) Kodierung

b) Grundannahmen und deren Konsequenzen:

c) Inhalte

d) Modalitäten der Weitergabe der Botschaft

e) Frömmigkeitsformen

f) Ethische Konsequenzen

 

2. Sozialer und interreligiöser Kontext

 

3. Konstanz und Identität