Das Nichts läßt sich nicht nutzen.

In der Tiefe des Termitenhügels lauert die Depression: Wiens mißratenes Gasometer-Projekt.

Wien. Anfang August

Weit draußen, im Nirgendwo, der Peripherie, sieht selbst Wien aus wie Iserlohn oder Bratislava. Nichts hat der Vorort Simmering gemein mit dem Zuckrigen des ersten Bezirks, mit dem sahnigen Prunk der Ringstraße. Nur Raffinerien, Möbelmärkte und Speditionen wuchern dort zwischen Schnellstraßen, zehn U-Bahn-Minuten, also eine halbe Ewigkeit, vom historischen Zentrum entfernt. Die Gewerbewüste unweit des Prater ist Wiens Anteil an der globalen Stadt, die allüberall gleich ausschaut und weltweit mit denselben Übeln zu ringen hat. Das einzig Eigentümliche in dieser vorstädtischen Problemzone sind vier monumentale Gasometer, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts errichtet wurden, seit Mitte der achtziger Jahre leer stehen, als Denkmale der technischen Moderne aber besonderen Schutz genießen. Sie abzureißen kam auch deshalb nicht in Frage, weil die Wiener auf verwickelt sentimentale Weise an den historisierenden Großbauten hängen. Denn sie sind die sichtbarsten Zeichen der Kommunalisierung der Gasversorgung, die seinerzeit privaten Unternehmen  entrungen werden mußte und damit für viele Bürger erst erschwinglich wurde.

 

Wie vier wuchtige Burgfriede liegen die Gasometer am Rande der Autobahn, hohle Landmarken, die selbst aus der Luft, bei der Landung auf dem Flughafen Schwechardt, leicht auszumachen sind. Lange dienten sie als spektakuläre Orte für Kulturverarstaltungen, immer mal wieder wurden auch Vorschläge ersonnen, die Rundbauten neu zu nutzen, als Hotel, Museum oder gigantische Inline-Skater-Bahn. Keine der Ideen aber ließ sich finanzieren. Erst die sehr wienerischen Instrumente der gemeindlichen Wohnungsbauförderung machten einen Umbau halbwegs bezahlbar - freilich um den Preis der Zerstörung der Denkmale.

 

Wütend hat die Wiener Kritikerin Liesbeth Waechter-Böhm das Gasometer-Projekt, das dieser Tage der Vollendung entgegengeht, als Kitsch bezeichnet. Als "Staffage", als Perversion der historischen Substanz. Ihr Zorn entzündete sich dabei weniger an dem Kulissenhaften der historisierenden Fronten, die nur mehr als Camouflage für profane Zwecke dienen. Das ist ja nichts Neues, schließlich waren die Backsteinmauern von Anfang an bloß prächtiges Blendwerk, dekorative Hülle eines seinerzeit hochmodernen Gewerbebaus. Nein, das Fatale an dem Wiener Vorhaben ist die Rücksichtslosigkeit im Umgang mit der Essenz des Denkmals. Das Hinreißende der Gasometer war deren großartige Leere. Recht eigentlich lebten sie aus der Abwesenheit jeder Substanz. Sie umhüllten das pure Nichts und ließen etwas vom reinen Raum ahnen.

 

Gerade diese eigentümliche Qualität aber stürzte die Denkmalpflege in eine vertrackte Lage, trieb ein Dilemma auf die Spitze, das jedem Konservator sattsam vertraut ist. So schwer es schon ist, für Kirchen, Schlösser oder Bahnhöfe eine neue Verwendung zu finden, so aussichtslos wird dieses Unterfangen bei einem hochspezialisierten Bauwerk wie einem Gasometer. Denn das Nichts läßt sich nicht nutzen.

 

Jeder Versuch, die ziegelummauerten Hohlkörper zu füllen, mußte deren Zauber zerstören. Und genau das ist geschehen. Wie backsteinerne Wurstpellen haben die Investoren die vier Ziegeltröge mit Büros, Läden und Wohnungen vollgestopft, als platze Wien aus allen Nähten, als könne sich die Stadt nirgends sonst ausdehnen. Rücksichtslos haben sie an renditeträchtigen Quadratmetern hineingepreßt, was sich nur eben hineinpressen ließ. Es ist, als habe man eine Kathedrale mit Kaninchenställen vollgestellt. Wo Leere war, ist Masse. Wo Helle war, ist Dämmer, und in die hehre Weite ist die Enge eingezogen. Die schmalen Lichtschächte und düsteren Höfe, die sich wie Tiefbrunnen durch die Etagen bohren, beschwören die verlorene Großzügigkeit nun nur um so drastischer.

 

 

Keiner der renommierten Architekten, die von den Bauherren direkt beauftragt wurden - Jean Nouvel, Coop Himmelb(l)au, Manfred Wehdorn, Wilhelm Hofbauer -, wußte dem Dilemma wirklich zu entkommen. Allein Nouvel hat sich der unlösbaren Aufgabe mit einigem Anstand entledigt, indem er neun schlanke Türme in den Gasometer A stellte, deren metallverkleidete Flanken zusätzlich Licht in das Halleninnere lenken. Allerdings konnte sich der Franzose diese Rücksichtnahme nur leisten, weil anderswo umso rigider verdichtet wurde. Zumal den Gasometer B mußte das Büro Coop Himmelb(l)au bis über den rand mit der üblichen Mixtur aus Wohnen, Einkaufen  und Amüsement vollstopfen, die derzeit rund um die Welt die Augen von Developern aufleuchten läßt - ein urban entertainment center im Ziegelkleid. In den Keller haben die Himmelblauen eine Halle für Rockkonzerte mit dem Querschnitt eines flachgeklopften Knödels gequetscht. Durch das Erdgeschoß aller vier Baukörper zieht sich, mit gläsernen Stegen untereinander verbunden, eine Ladenpassage, darüber wurden Wohnungen hochgestapelt, ganz hinten, im Gasometer D, ist das Wiener Gemeindearchiv auf drei Stockwerken eingezogen

 

Im Inneren der Gasometer fühlt man sich wie in der Tiefe eines Termitenhügels. Die Flure sind lichtlos, niedrig und eng, alle Räume unterliegen der eigentümlichen Grundrißgeometrie der mächtigen Rundbauten, die Studenten hausen in Kabinen, die zu den Fenstern hin immer schmaler werden, ihre Gemeinschaftsküchen kennen weder Tageslicht noch natürliche Belüftung. Daß auch der sozialdemokratische Wiener Gemeindebau einst mit dem Vorsatz antrat, ebensolche rachitisfördernden Wohnverhältnisse auszumerzen, scheint vergessen. Je tiefer man hinabsteigt in die Menschensilos, desto schwerer kann sich vorstellen hier drinnen Novembertage ohne Depressionen zu überstehen.

 

Da aber selbst diese Zusammenballung von vermietbaren Flächen noch nicht ausreichte, die enormen Kosten des Renommierobjekts halbwegs wieder hereinzuholen, hat Coop Himmelb(l)au zusätzlich ein veritables Hochhaus vor den Gasometer B gestellt, eine sechsundsiebzig Meter hohe Wohnscheibe von bemerkenswerter Banalität. Ihr einziger Witz sind ein paar schrägstehende Stützen im Eingangsbereich und ein Knick in der Fassade, der suggeriert, der Neubau lehne sich an den Bestand an. Es ist eine durchaus fade Pointe, denkt man an die revolutionäre Frechheit früherer Entwürfe der offenbar vollends etablierten Avantgardisten.

 

Nun räumt allerdings sogar Wolf D. Prix, der eine der beiden Himmelblauen, selbst ein, daß es nicht die architektonische Bedeutung des Projekts gewesen sei, die ihn interessiert habe, sondern die urbanistische. Er möchte in den vier Gasometern die Kerne eines zweiten oder dritten Wiener Zentrums sehen. Er spricht von einem ,,dynamischen Städtebau", der die Entwicklungskräfte der österreichischen Kapitale herauslenkt aus den historischen Quartieren, der Platz schafft für etwas Neues. Wo aber ausgerechnet in Wien die eruptiven Kräfte lauern sollten, die sich im Drang in die Vorstadt Bahn brechen könnten, ist einigermaßen rätselhaft.        Heinrich Wefing

 

 

erschienen im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen am 3.8.2001