Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft

Marc Ermer, U Göttingen 1996
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Kein Vorwort

Ein praktischer Hinweis zum Aufbau dieser Arbeit: Die etwas gezwun­gene Trennung in „Einführung“ und „Einleitung“ soll unterschiedliche „Einstiege“ in das Thema er­möglichen.  In der Einführung wird versucht, eine allmähliche Annäherung an jene Fragen nachzu­zeichnen, die eben nicht nur der Konstruktivismus behandelt.  Außerdem soll begründet werden, warum es überhaupt sinnvoll und notwendig ist, diesen Fragen nachzugehen.  Die Einleitung hingegen konzentriert sich auf den Konstruktivismus und bietet eine schlagwortartige Charakterisierung sowie eine knappe Darstellung der biologischen Grundlagen.

Während der erste Teil also eher allgemeine Erläuterungen zum Konstruktivismus sowie Voraussetzungen für die Diskussion in der PuK. bietet, enthält der zweite Teil Zusammenfassungen von Aufsätzen zu spezielleren Aspekten des Konstruktivismus in der PuK.  Diese sind möglichst quellennah wiedergegeben, weshalb zahlreiche Zitate und der Konjunktiv die Lesbarkeit möglicherweise erschweren.

 

 

Einführung

Es scheint eine wenig dankbare Aufgabe zu sein, wenn eine wissenschaftliche Strömung dargestellt werden soll, von der selbst ihre prominentesten Vertreter zugeben müssen: „[D]er Konstruktivismus ist kein einheitliches Theoriengebäude, das von einer homogenen Gruppe von Forschern entwickelt worden ist und bereits in lehrbuchhafter Form vorliegt.  Vielmehr handelt es ich um einen Diskurs, in dem viele Stimmen aus ganz unterschiedlichen Disziplinen zu hören sind.“ (Schmidt 1994a: 4).

Eine ganze Reihe von Fragen ergibt sich bereits aus dieser unscheinbaren Feststellung: Wie ist der Konstruktivismus in Kategorien der Wissenschaftsgeschichte einzuordnen — „Strömung“ oder „Diskurs"?  Wenn es kein Lehrbuch gibt — auf welche Texte soll man sich denn berufen?  Welche „Stimmen“ und welche „Disziplinen“ sind da gemeint?  Gerade mit der grundlegenden Frage zu be­ginnen, was der Begriff „Konstruktivismus“ bezeichnet, führt offenbar zu solchen Schwierigkeiten, daß (Schmidt 1994a: 4) es vorzieht, statt eines Definitionsversuches zunächst lediglich auf die Berei­che hinzuweisen, mit denen sich der Konstruktivismus hauptsächlich beschäftigt.  Von diesen The­men führt Schmidt auf die theoretischen Ursprünge des Konstruktivismus.  Diese wiederum faßt er zusammen in „Zugangsweisen": biologisch-neurowissenschaftliche, kybernetische, philosophisch-soziologische und philosophisch-psychologische.[1]  Schmidt zählt hier drei Ansätze, konzentriert diese später (1994b: 593) auf zweie (Epistemologie und Empirie[2]) — und im allgemeinen wird der Konstruktivismus bezüglich seiner Herkunft auf einen neurophysiologisch-wahrnehmungs­psycho­logischen Kern reduziert.  Damit sei die Komplexität der Ausgangslage angedeutet.  Beginnen wir erneut mit der Frage:

 

Was heißt „Konstruktivismus"?

Obwohl der Begriff nicht nur in der aktuellen Fachdiskussion[3] eine große Rolle spielt, scheint er keineswegs weit verbreitet.  So findet sich kein entsprechender Eintrag in der Encyclopædia Britannica (181993).  Der Brockhaus (191990, XXII: 298) bietet eine Aufteilung in vier Bereiche (Konstrukti­vismus in den bildenden Künste, Literatur, Mathematik, Philosophie/ Wissenschaftsheorie).  Schon dadurch hat der Begriff recht unterschiedliche Bedeutungen[4].  Inner­halb des vierten Bereiches gibt es dann den wissen­schafts­theoretischen Konstruktivismus, und in der Philosophie wird differenziert zwischen dem Erlanger und Konstanzer Konstruktivismus und dem Radikalen Konstruktivismus: Kein Wort von einem speziellen Konstruktivismus in der Kommunikationswissenschaft.

 

Der Konstruktivismus — ein Phantom?

Schwer greifbar scheint er, der Konstruktivismus.  Wie wird er in Standardwerken der Publizistik­wissenschaft behandelt?  Fehlanzeige bei Pürer (51993).  Das Fischer Lexikon erwähnt die „Konstruktion von Realität“ zumindest in seiner neuesten Ausgabe in den Abschnitten über Kom­munikationstheorien und Nach­richt.  Und in der großartigen Bestandsaufnahme zur Medienwir­kungsforschung von Schenk (1987: 435-41) findet sich die „Realitätskonstruktion“ im Schlußkapitel über „Fortschritte in der Medien­wirkungsforschung".  Es scheint ihn also zu geben, den Konstruk­tivismus[5] in der Kommunikations­wissenschaft — wenn auch noch nicht als konstruktivistische Kommuni­kationswissenschaft.

Doch worum geht es bei 'unserem' Konstruktivismus?  Die genannten Stichwörter deuten es bereits an: Grob eingegrenzen läßt sich der Erkenntnisgegenstand auf das Verhältnis von Medien und Wirklichkeit.  Aus diesem Zusammenhang ergeben sich Fragen wie: Was ist Wirklichkeit? Können wir Wirklichkeit erkennen? Können wir Wirklichkeit vermitteln? Spiegeln Medien die Realität oder konstruieren sie eine eigene „Medienrealität"? Um die Relevanz dieser Fragen zu verdeutlichen, versuche ich die Konstruktivismusdebatte in einen Kontext einzuordnen:

 

Stichwort “Mediengesellschaft”

Zwei Phänomene charakterisieren die Bedeutung der Medien unter dem hier relelvanten Aspekt: Wir erleben ein in verschiedenen Dimensionen (Ausweitung der Sendedauer[6], Zahl der Sender, neue Medien, Aufsplitterung des Zeitschriftenmarktes etc.) gewachsenes und wachsendes Medienangebot.  Aus der Tatsache, daß alle Medienangebote mehr oder minder dem ökonomischen Zwang der Marktwirtschaft ausgesetzt sind, kann man rückschließen, daß das gewachsenene Angebot mit einer ebnso gewachsenen Nachfrage korrespondiert.[7]  Tatsächlich deuten alle statistischen Erhebungen darauf hin, daß die Mediennutzung zumindest quantitativ, also gemessen am Zeitaufwand, in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen ist.  Wenngleich die Nutzungsdauer sich bei einem (vorüber­gehenden?) Maximum einzupendeln scheint[8], ist unbestreitbar, daß ein erheblicher Anteil der Freizeit zur Mediennutzung verwendet wird.[9]  Diese Feststellungen läßt die zunächst scheinbar triviale Schluß­folgerung zu, daß Menschen die Nutzung der Medien mit einen Nutzen bewerten (sonst würden die Ressource Freizeit, das knappe Gut Aufmerksameit eine andere Allokation erfah­ren).

 

Weltbilder

Diesen “Nutzen” genauer zu bestimmen ist eine Aufgabe der PuK.  Die Qualität und die Motive der Medien­nutzung sind m.E. auch für die Einschätzung des Konstruktivismus von grundlegender Be­deutung.  Kaum verständlich wäre die Aufregung, wenn sich die Funktion der Medien tatsächlich darin erschöpfte, was Schulz (1986: 64) aufzählt: “Der überwiegende Teil dient der Unterhaltung, Ab­lenkung und Entspannung”.  Nicht daß etwa die Eskapismusfunktion gering zu schätzen wäre, aber die allgemeine Relevanz der Frage nach jenem Zusammenhang von Wirklichkeit und Medien er­gibt sich m.E. erst aus der Eigenschaft als Orientierungshilfe in einer überkomplexen Welt wie sie auch bei Schulz (1986: 64f) erkennbar ist:  “Die Medien liefern den Ersatz für eigene Beob­achtun­gen, die großtechnisch und großorganisatorisch produzierte Erfahrung schafft eine neue, eine Sekun­där­umwelt[10]. [...] Immer mehr von dem, was unsere Vorstellungen von der Realität ausmacht, ist Sekundärerfahrung, kennen wir nicht aus eigenem Erleben oder eigener Anschauung, sondern nur aus der Darstellung in Presse, Hörfunk und Fernsehen.”  Die Verbindung zu den Auswirkungen zeigt das vielzitierte „Thomas-Theorem", demzufolge die Folgen von Situationen, die als real definiert werden, ihrerseits real sind.

Mit einer derart angedeuteten Abhängigkeit unseres Wissens von der Welt und dem darauf beruhen­den Handeln ist die potentielle Bedeu­tung der Medien m.E. schon deutlich geworden: Die Frage nach dem Verhältnis zur Realität bleibt keine abstrakt-philosophische, sondern hat wissenschafts­theoretische, methodologische Konsequen­zen von der Forschung bis zur Praxis des Journalismus sowie eben auch politische und politologi­sche, soziale und soziologische Implikationen.[11] 

Einleitung

Kehren wir nach der somit begründeten Relevanz der Grundfrage zu den anfänglichen Versuchen zurück, den Konstruktivismus zu lokalisieren. Von den „Stimmen“ und „Disziplinen“ war bereits die Rede; die verschiedenen theoretischen Voraussetzungen des Konstruktivmus können in dieser Arbeit nicht dargestellt, sondern nur erwähnt werden; insbesondere die philosophische Tradition des Er­kenntniszweifels[12], das Konzept der Autopoiesis nach Maturana sowie die Systemtheorie von Luhmann[13].

"Wenn es kein Lehrbuch gibt — auf welche Texte soll man sich denn berufen?", lautete die zweite Frage. Der Konstruktivismus ist nicht einheitlich beschrieben, es gibt keine „Schule". Es gibt kein „allgemeingültiges“ Standardwerk oder Lehrbuch, die Publikationen zum Thema sind vielzählig und ihre Auslegungen vielfältig. Saxer (1993: 65) hat diese Situation umrissen mit den Attributen 'komplex', 'vieldeutig', 'schwach integriert'.  Daraus leitet er die leichte Angreifbarkeit jeden summa­rischen Kritikversuches und die notwendige Eingrenzung der Bezugstexte ab.[14]  Folglich konzen­triere ich mich auf zwei jüngere Sammelbände: die Theorien öffentlicher Kommunikation[15] und die als „Einführung in die Kommunikationswissenschaft“ untertitelte Wirklichkeit der Medien; die Hinzunahme weiterer Texte bedeutet bei weitem nicht, daß vorliegende Arbeit allen Facetten der 'Konstruktivismen' gerecht zu werden versuchte.

Bleibt von den Eingangsfragen schließlich noch die der Einordnung des Konstruktivismus: In welche Kategorie gehört er?  Von „Mode“ bis „Paradigma“ reicht die Bandbreite, mit denen der Konstrukti­vismus belegt wird.[16]  Bereits die kleine Auswahl von Texten, mit der im folgenden konstruktivisti­sche Positionen dargestellt und kritisiert werden sollen, umfaßt eine Vielzahl von Bezeichnungen, die selbst innerhalb einzelner Aufsätze nicht einheitlich verwendet werden — ein Indiz für die Unsicher­heit gegenüber dem Konstruktivismus?.  Einmal sind konstruktivistische Thesen lediglich „Metaphern“ (Haller 1993: 139).  Der Konstruktivismus könnte aber auch eine „Partialtheorie“ (Saxer 1993: 68) sein.  Oder ein „Modell".  Oder vielleicht doch das neue Paradigma?[17]

Schmidt wählte zuletzt den unverdächtigen „Diskurs".  Der hier vorgeschlagene Begriff einer „Strömung“ soll zweierlei zum Ausdruck bringen: Er ist ähnlich unspezifisch wie „Ansatz“ und soll damit widerspiegeln, wie schwer der Konstruktivismus einzugrenzen ist.  Zum anderen soll er den Einfluß des Konstruktivismus veranschaulichen.  Er trifft zwar keineswegs auf ungeteilte Zustim­mung, konnte aber schon intensive Auseinandersetzungen hervorrufen.

Der Versuch, den Konstruktivismus in einem einfachem Satz vorzustellen, ist also leicht angreifbar: So wirft schon die moderate Formulierung 'Der Konstruktivismus ist ein neuerer Ansatz in der Kom­munikationswissenschaft' nicht nur die Frage auf: Was ist ein „Ansatz"?, sondern auch: Wieso „neuer", neuer als was?.

 

Novität

Die Annahme, der Konstruktivismus biete der PuK etwas grundlegend Neues, bleibt zumeist unaus­gesprochen.  Wiewohl auch in der wissenschaftsgeschichtlichen Rezeption das (als Nachrichtenfak­tor bekannte) Attribut „neu“ relevant sein dürfte, erhebt z.B. Schmidt (1994: 5f) als Vertreter des Radikalen Konstruktivismus keineswegs den Anspruch, etwas grundlegend Neues einzuführen.  Er formuliert „keineswegs revolutionäre Einsichten"; vielmehr habe er nur bestimmte Einsichten konse­quent zu Ende gedacht (Saxer 1993: 67), was Haller (1993: 151) überspitzt: „Das Radikalste am 'Radikalen Konstruktivismus' ist seine Namensgebung".  Schmidt (1994: 5f) verweist v.a. auf die lange philosophische Tradition[18], daneben jedoch auch auf Ansätze der Psychologie und der PuK selbst[19].

 

Attraktivität

Auch ohne das Prädikat „neu“ konnte der Konstruktivismus große Aufmerksamkeit im Fach wecken. Saxer (1993: 65f) gelingt es, diese Beobachtung „in den theoriegeschichtlichen Zusammenhang der Götterdämmerung der Sozialwissenschaften seit den 70er Jahren zu stellen".  Diese Ausgangslage kennzeichnet er mit der „Zerbrechlichkeit der modernen Sozialsysteme", verbunden mit unzureichen­den „linearen Theorien des sozialen Wandels". Aus dem „gesellschaftlichen Orientierungsverlust", der Unsicherheit über das „Makrogeschehen“ biete der Konstruktivismus in seiner Individuumszen­triertheit einen — allerdings reduktionistischen — Ausweg.  Als weitere Gründe für seinen Erfolg werden „ziemlich robuste“ Durchsetzungstechniken genannt, wenn der Konstruktivismus sich ver­steht als „eine imperiale Theorie, zu der man sich vollumfänglich bekennt oder als 'Objektivist' aus­gegrenzt wird".  Schließlich „immunisisert“ sich der Konstruktivismus (u.a. durch eine eigene Spra­che) gegen fachliche Kritik.

 

Perspektivität

Als eine Bedingung für seine Verbreitung nannte Saxer die wissenschaftliche Flucht ins Individuum, die der Konstruktivismus ermögliche.  Tatsächlich geht der Konstruktivismus von einer subjektivisti­schen Mikroebene aus, und nicht von einer Betrachtung aus der Makro-Perspektive.  Ausgangspunkt sind neben der bereits angesprochenen philosophischen Tradition des Erkenntniszweifels v.a. natur­wissenschaftliche Untersuchungen menschlicher Kognition.  Durch Ergebnisse aus Neurobiologie, Sinnesphysiologie und Wahrnehmungspsychologie sehen sich Skeptiker teilweise bestätigt, da offen­sichtlich ist, daß unser kognitiver Zugang zur Welt zumindest sehr eng begrenzt ist und zudem indi­rekt erfolgt.

 

Selektivität

auf individueller Ebene: Beschränktheit der Sinne

Relativ gut erforscht ist die Wahrnehmung auf der Ebene des Individuums. Wir wissen, daß (mechanische, optische, chemische etc.) Reize über die Sinnesorgane in zunächst „bedeutunglose“ (elektrische) Erregung transformiert wird, aus deren „Interpretation“ (Bewertung) durch das Gehirn erst Bewußtsein und Wahrnehmung entstehen.[20]

Wir können über die Welt nur das erfahren, was unseren Sinnen zumindest indirekt (z.B. über Medi­en oder physikalische Meßgeräte) zugänglich ist.  So ergibt sich schon aus unserer sensorischen Grundausstattung, daß wir für viele Phänomene der Welt von Natur aus 'blind' sind: Wir haben keine Sensoren für Magnetismus oder Radioaktivität.  Zudem sind die Sinne, die wir haben, eng be­schränkt: Die Reizbarkeit unserer optischen Rezeptoren ist auf einen vergleichsweise winzigen Aus­schnitt im Kontinuum der elektromagnetischen Wellen begrenzt; schon UV-Strahlung und infrarote Wellen entgehen unserer optischen Wahrnehmung, ähnlich wie Infraschall und Ultraschall untere und obere Schranke unseres Hörspektrums.[21]  Die Daten, auf denen unsere Wahnehmung beruht, sind also schon durch die Art der 'Erhebung' äußerst unvollständig.  Hinzu kommt jedoch noch eine Selektion: Die Informationseinheiten werden durch einen neuronalen Filterungsprozeß weiter reduziert.

All diese Befunde machen überdeutlich, daß unsere Wahrnehmung sebst im 'Normalzustand' auf einer höchst unvollständigen Datenbasis aufbaut.  Doch damit nicht genug: Die Reize, aus denen das Gehirn Informationen über unsere Umwelt konstruiert, sind oft für sich genommen schon Ergebnis einer Filterung, wenn wir uns an die eingangs dargestellte Medienrezeption erinnern. Dies führt zur Frage nach der...

 

Selektivität

auf Medienebene

"Das meiste, was auf der Welt passiert, berichten die Agenturen nicht. Das meiste, was die Agentu­ren berichten, wird nicht gedruckt und nicht gesendet. Das meiste was gedruckt oder gesendet wird, wird nicht gehört und nicht gelesen."[22]  In dieser pessimistischen Einschätzung offenbart sich die Parallele, die auch der Konstruktivismus zwischen menschlicher Wahrnehmung und der „Wahrnehmung“ der Medien zieht.  Durch eine Analogie wird der Charakter der selektiven Wahr­nehmung übertragen vom Individuum auf soziale Systeme: „Man kann die Medien daher auch als 'kollektive Organe' begreifen", schließt Schulz (1989: 240). Seine Erläuterung kann zugleich als Einstieg in die Diskussion des Begriffes 'Konstruktivismus' dienen:

 

"[W]as die Medien als 'Ereignis' begreifen, ist bereits das Ergebnis von Selektions- und Verarbei­tungsprozessen.  Ereignisse sind in der natürlichen und sozialen Umwelt nicht 'roh' vorfindbar, so daß man sie mit ihrem journalistischen Abbild, den Nachrichten vergleichen könnte.  Auch Ereig­nisse müssen erst als solche definiert werden, indem das kontinuierliche Geschehen interpunktiert, indem sinnvolle 'Figuren' von einem irrelevanten 'Hintergrund' abgehoben werden.  Ohne derartige konstruktive Operationen des Betrachters ist Wahrnehmung, ist auch Nachrichtenberichterstattung nicht möglich."

 

Konstruktivität

... ist damit das Hauptmerkmal von Wirklichkeit: „Bei der individuellen Wahrnehmung [...] trifft der Beobachter nicht bloß eine Auswahl, sondern geht aktiv und schöpferisch vor“ (Schulz ³199X: 336).  Der Vorstellung, daß Wirklichkeit (individuell) geschaffen wird, verdankt der Konstruktivismus wohl auch seinen Namen.  Gerade solche Formulierungen jedoch hält Schmidt (1994a: 5) für irrefüh­rend. Er weist darauf hin, daß das umgangssprachliche Verständnis von „konstruieren“ (nämlich die Konnotation „planvolle, intentionale Herstellung") dem konstruktivistischen Verständnis zuwider­läuft.  Dort nämlich bezeichnet Konstruktion Prozesse, „in deren Verlauf Wirklichkeitsentwürfe sich herausbilden".[23]

Diese willentlich nicht kontrollierbare Tätigkeit wird dem Subjekt erst dann bewußt, wenn es seine Aufmerksamkeit gezielt auf eben diese Vorgänge seiner Innenwelt (die Beobachtung beobachten) oder auf das Wie seines Handelns und Kommunizierens richtet (vgl. Schmidt 1994b: 595).

Die Wirklichkeitskonstruktion erfolgt also keineswegs willkürlich, und zwar weder willkürlich im Sinne von Steuerbarkeit[24] noch im Sinne von Beliebigkeit.  Wirklichkeit konstruiert 'sich' vielmehr „gemäß den konkreten biologischen, kognitiven und soziokulturellen Bedingungen, denen sozialisierte Individuen in ihrer sozialen und natürlichen Umwelt unterworfen sind.“  Hieraus spricht nun der Versuch, das konstruktivistische Prinzip von seiner subjektivistischen Isoliertheit zu lösen und in einen gesellschaftlichen Kontext zu integrieren.  So schreibt Schmidt (1994b: 593-5) mit Blick auf „Konstruktivismus und Kulturwissenschaften", daß kein Individudum „mit 'der Realität als solcher'“ umgehe, sondern „schon in eine sinnhaft konstituierte Umwelt hineingeboren“ werde.  Hier soll der Sozialisationsaspekt eingebunden und damit die kulturelle Bedingtheit der Wirklichkeitskonstruktion aufgezeigt werden.  Die Realität als solche ist durchaus existent, wird jedoch als kognitiv unzugäng­lich angenommen.[25]  Unsere Vorstellungen von der Welt können nicht stimmen, sondern nur passen, wie es die Evolutionäre Erkenntnistheorie in 'darwinistischen' Termini nahelegt.[26]  Unser „Weltbild“ kann nicht (und muß, ja dürfte gar nicht) die „wirkliche“ Welt widerspiegeln.  Entscheidend ist allein Viabilität der Konstrukte: Sie müssen von einer Qualität sein, die dem Individuum das Überleben in dieser Außenwelt ermöglicht.[27]

Damit sind nun alle Elemente vorgestellt, die zum Verständis des Definitionsversuchs von Schmidt (1994b: 595) nötig sind. Ihm zufolge ist Wirklichkeitskonstruktion „ein empirisch hoch konditionier­ter sozialer Prozeß, in dem sich Modelle für (nicht von) ökologisch validen Erfahrungswirklichkei­ten/Umwelten im sozialisierten Individum als empirischem Ort der Sinnproduktion herausbilden“.[28]  Die wesentlichen Elemente seien jetzt nur stichwortartig wiederholt:

Übertragbarkeit

Bislang wurde die konstruktivistische Vorgehensweise neutral dargestellt. Die Übertragung natur­wissenschaftlicher Ergebnisse von der individuellen Ebene auf gesellschaftliche Zusammenhänge, wie sie die konstruktivistiche Medientheorie vornimmt, muß m.E. jedoch sehr kritisch betrachtet werden.  Zum einen wäre zunächst die Verläßlichkeit der naturwissenschaftlcihen Grundlagen zu untersuchen (so weist z.B. Haller (1993: 138-9) auf kritische Artikel hin, welche die Schlußfolge­rungen von Humberto Maturana anzweifeln).  Doch selbst von solch konkreten Zweifeln abgesehen ist es mE. grundsätzlich fragwürdig, ob oder in welchem Um­fang Ergebnisse solch voraussetzungs­reicher, spezieller naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Neurobiologie für Sozialwissenschaf­ten relevant sein können, und ob bei den Versuchen der Übertra­gung nicht die Gefahr besteht, nur teilweise Verstandenes unbegründet als Erklärungsmuster auf sozialwissenschaftliche Phänomene anzuwenden.[29]  Neben diesem wissenschaftstheoretischen Problem sei abschließend hingewiesen auf...

 

Konsequenzen

Welche Folgen haben die konstruktivistischen Annahmen?  Was bedeutet es für die Forschung in der PuK, wenn die objektive Realität als unzugänglich angenommen wird?  Wenn Medieninhalte keinen 'Inhalt' i.S.v. 'Bedeutung' mehr haben, sondern ihnen nur noch die Funktion eines Angebotes zur Sinnkonstruktion zugemessen wird (Schmidt 1994b: 615)?[30]

Was folgt daraus für den praktizierten Journalismus?  Auch wenn es oft nicht expliziert wird, bedeutet die neue Betrachtung von Objektivität evtl., daß journalistische Aufgaben und die Qualität ihrer Erfüllung neu definiert werden müssen.  Berührt scheinen tradierte Maximen wie die Trennung von Nachricht und Meinung, wenn denn die „Vermittlung“ der bare facts ohnehin nicht möglich ist.  Diese und andere Implikatio­nen des Konstruktivismus werden zumindest teilweise herausgearbeitet in den Aufsätzen, die der anschließende Teil II dieser Arbeit vorstellt.

 


Teil II: Texte zum Konstruktivismus

 

Der erste Aufsatz stammt von Winfried Schulz (1989), der mit seinem schon vor zwanzig Jahren erschienenen Werk Die Konstruktion von Realität in den Nachichtenmedien gewissermaßen zu den „Konstruktivisten der ersten Stunde“ gerechnet werden könnte.  Wenn wir von der eingangs angedeuteten Medienabhängigkeit unseres Weltbildes ausgehen, stellt sich die Frage: Wie gut sind „die Medien“[31] geeignet, unser Bild von der wirklichen Welt zu fundieren?

 

Seinen vielzitierten Aufsatz über das Verhältnis von „Massenmedien und Realität“ leitet Schulz ein mit dem Hinweis auf die Tradition des Zweifels an einer „wirklichkeitsgetreuen“ Vermittlung durch die Medien. Dabei nennt er neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung insbesondere die Kla­gen von Politikern. Nach einer Liste typischer Vorwürfe gegen die Berichterstattung bietet Schulz „einen knappen Überblick“ über die vielfältige Forschungsliteratur. Da dieser Abschnitt als Hinfüh­rung zum eigentlichen Thema dient, seien die von Schulz identifizierten Kritikpunkte hier nur stich­wortartig genannt:

Wiederholt zitiert Schulz das Fazit, die Berichterstattung sei „[v]erzerrt und unausgewogen“ (138) bzw. Massenmedien repräsentierten Wirklichkeit idR. nicht (139). Zur Erklärung dieser Beobach­tungen verweist Schulz auf zwei Ansätze: Nachrichtenwert und Agenda Setting.

”Nachrichtenfaktoren“ sind Merkmale von Ereignissen, die deren Nachrichtenwert bestimmen im Sinne eines positiven Zusammenhangs mit der Publikationswahrscheinlichkeit. Diese Nachrichten­faktoren werden im Falle der Publikation dann betont, womit ein zusätzlicher Grund für die systema­tische Verzerrung des „wahren Charakters“ der Ereignisse gegeben ist (139). Dem Agenda-Setting-Ansatz zufolge richten Massenmedien sich nicht nach der tatsächlichen Aktualität, und die Öffentli­che Meinung werde durch Massenmedien nicht widergespiegelt, sondern geprägt (139). Schulz faßt zusammen: „Die Berichte der Medien sind oft ungenau und verzerrt, sie bieten manchmal eine ausgesprochen tendenziöse und ideologisch eingefärbte Weltsicht. Die in den Medien dargebotene Wirklichkeit repräsentiert in erster Linie die Stereotype und Vorurteile der Journalisten, ihre profes­sionellen Regeln und die politischen Einstellungen, die Zwänge der Nachrichtenproduktion und die Erfordernisse medialer Darstellung. Sie läßt nur bedingt Rückschlüsse zu auf die physikalischen Eigenschaften der Welt, die Strukturen der Gesellschaft, den Ablauf von Ereignissen, die Verteilung der öffentlichen Meinung.“ Es geht hier also gar nicht mehr um eine (illusionäre) objektiv-realisti­sche 1:1-Darstellung der Wirklichkeit, sondern um handfeste „Fehl-Leistung“ der Medien.

Aus dieser Feststellung ergeben sich für Schulz zwei Fragen: Welches sind die individuellen und kollektiven Folgen einer Orientierung an Medienrealität? Wie steht es um die journalistischen Prin­zipien? Darauf seien nun „zwei grundsätzliche Antworten“ möglich in Abhängigkeit von grundsätz­li­chen Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Medien und Realität (140). Die Antinomie „Realismus vs. Konstruktivismus“ vermeidend und dabei zugleich das „Paradigma-Konzept“ evozie­rend, belegt Schulz die beiden Positionen mit zwei Namen aus der Wissenschaftsgeschichte: Ptolo­mäus und Kopernikus. Die knappe Darstellung läßt sich in folgender Gegenüberstellung zusammen­fassen:

 

Medien als Spiegel (die „ptolemäische“ Sicht)

 

”Weltbildapparate”

  •       starker Einfluß der Medien auf das Individuum (”infiltrieren, kontrollieren, manipulieren”)

  •       zwei Prämissen: prinzipieller Gegensatz Medien–Gesellsch. (”Fremdkörper”); Aufgabe d. Medi­en = Realität widerspiegeln

  •       Medien = passive Vermittler, Transfermodell; Lernmodell [Lehr~?]

  •       ”Klagen, Kritik, Vorwürfe”; zielt auf Kon­trolle/ Zensur

  •       neg. Bewertung (”dysfunktional”) der Selekti­vität

  •       Realität = Gegenstand u. Voraussetzung

  •       kein Gegensatz zw. Medien u. Gesellschaft, integraler Bestandteil (141)

  •       Aufgabe: Ereignisse/ Stimuli der soz. Umwelt selegieren, verarbeiten, interpretieren (142)

  •       Teilnahme am kollektiven Bemühen um Kon­struktion einer Realität als Basis sozialen Han­delns[36] 

  •       nicht bloß passive Vermittler, sond. aktives[37] Element im soz. Prozeß der Wirklichkeitsent­stehung

  •       Reduktion „erwünscht”[38] (142)

  •       Realität als Ergebnis v. Kommunikation

  •  

    Der Kernpunkt der so skizzierten „kopernikanischen“ Sicht, Realität als das Ergebnis von Kommu­nikation, bedarf näherer Erläuterung. Das „Realitätskonstrukt“ setze sich nämlich zusammen aus ex­ternen und internen Informationen, wobei „externe“ aus der „Umgebung“ stammen und „interne“ dem System immanente „Erfahrungen und Regeln“ bezeichnen. Aus der Interaktion dieser „Schemata“ und externer Information entsteht Wirklichkeit. Dies gelte sowohl für individuelle als auch für mediale Realitätskonstruktion.

    Als Konsequenz dieser Annahme ergeben sich für die theoretische Behandlung des Journalismus, daß die „Hypothese“ der Verzerrung nicht falsifizierbar ist. Aus dem „epistemologische[n] Di­lemma“ (Wirklichkeit als immer verzerrt) bleibt allein die Möglichkeit, „verschiedene Realitätskon­strukte“ miteinander zu vergleichen und dadurch „näherungsweise“ an der „unbeeinflußten“ Realität messen. Allerdings betont Schulz, daß dieses epistemologische Problem „vorwiegend von akademi­scher, theoretischer Bedetung“ bleibt. Im Alltagsleben kämen pragmatische Lösungen (”Konvention oder ‘trial and error’”) zum Zuge, entscheidend sei, daß die Wirklichkeitskonstrukte „plausibel“ seien und handlungsfähig machten.[39] Diese Sicht schließt ein, daß das Handeln einer Gesellschaft auf „falschen“ Annahmen gegründet sein kann, womit Schulz zugleich die zumindest indirekte Erkenn­barkeit der „Angemessenheit einer bestimmten Wirklichkeitskonstruktion“ impliziert.

    Ganz anders wird aus „kopernikanisch”-konstruktivistischer Sicht die Wirkung von Medien betrach­tet. An Stelle der passiven Vermittlung treten Wirkungsmodelle[40], in denen Medien eine „aktive, kon­struktive Rolle“ spielen. Schulz nennt dazu 1. das framing: Das Verhalten von Individuen wird durch Medien in Abhängigkeit von deren Glaubwürdigkeit determiniert. 2. Die co-orientation: Individuen orientieren sich an der Medienrealität, die als „'virtuelle' Bezugsgruppe“ die Öffentliche Meinung im Sinne der Schweigespirale repräsentiert. Der 3. festgestellte reciprocity effect besteht in einer „Rückkopplung von den Massenmedien auf“ den Gegenstand ihrer Berichterstattung (das Er­eignis wird durch die Beobachtung beeinflußt). Damit wird die Realität, über die Medien berichten, durch das Berichten „präformiert”.[41] Damit verwandt scheint die 4. als „Reflexivitätsmodell“ be­nannte Annahme, wonach allein der öffentliche Charakter der Medienrealität dazu führe, daß Rezi­pienten sich verhalten, als ob eine veröffentlichte Information allgemein bekannt sei.

    Abschließend kehrt Schulz zu der eingangs aufgeworfenen Frage nach der Folgen für den prakti­schen Journalismus zurück. Obwohl Objektivität in „kopernikanischer“ Sicht nicht meßbar ist, blei­be sie doch „als ein abstraktes Ziel, als handlungsleitende Norm, als ein ‘Ideal’“ bestehen. Die entsprechende Forderung, „so genau und unparteilich wie möglich zu berichten“ nennt Schulz eine „methodische Objektivität”.[42] Dabei müsse Medienkritik entsprechende Defizite aufzeigen, dürfe sich jedoch nicht instrumentalitiseren lassen „für bestimmte partikulare Interessen”. Medienpolitisch entspricht dem (statt „Ausgewogenheit und Neutralität“ zu prüfen) die Förderung von „Vielfalt und Wettbewerb”.

    Daß es in der „kopernikanischen“ Sicht notwendig Abweichungen „zwischen Ideal und Wirklichkeit“ gibt und keine „einzige, unstrittige, intersubjektiv verbindliche Definition von Realität”, führe zu ei­ner toleranten Grundhaltung. Die „Konkurrenz verschiedener Definitionen von Wirklichkeit sowie die wechselseitige kritische Auseinandersetzung zwischen ihnen“ schließlich betrachtet Schulz als „die bestmögliche Annäherung an die objektive Realität”.

     

    Eine Gemeinsamkeit zwischen Schulz (1989) und dem folgenden Aufsatz besteht darin, daß auch Weischenberg (1993) einen Dualismus konstruiert, d.h. zur Vereinfachung die Debatte auf zwei grundsätzlich verschiedene Positionen reduziert.  Während Schulz zum Schluß eher die Berührungspunkte mit bestehenden Forschungsrichtungen der PuK aufzeigt, konzentriert sich Weischenberg hier auf notwendige Ausarbeitungen innerhalb des Konstruktivismus.

     

    Ausgangspunkt seiner Betrachtung ist die andauernde (wissenschaftliche und nicht-wissenschaftli­che[43]) Kritik, die an journalistischen Leistungen geübt wird. Basis solcher Kritik sei die Annahme, Medienaussagen mit der Realität vergleichen zu können. Gegen die „weltanschauliche Enge“ und die methodisch-theoretische „Sackgasse“ (127) der empirisch und praktizistisch betriebenen Journalis­musforschung stellt Weischenberg den Konstruktivismus[44]. Der Konstruktivismus biete darüber hin­aus die Möglichkeit, Makro- und Mikroansätze „bisheriger“ Kommunikationsforschung miteinander zu verbinden. Diese habe kognitive und soziale Systeme getrennt behandelt und nicht die Beziehun­gen (”strukturelle Kopplungen”) zwischen Individuum und Umwelt.

    Das „Theorieangebot“ des Konstruktivismus skizziert Weischenberg (128) im Kontrast zum „realistischen“ mainstream. Seine Gegenüberstellung läßt sich wie folgt zusammenfasssen:

    'hM'

    „Konstruktivismus und Systemtheorie”

    -   allmächtige Medien

    -   Wirklichkeitskonstruktion = subjektabhängig begrenzter Medieneinfluß

    -   Falsifikationsmaßstäbe f. Medienrealität

    -   kognitives System = autonom

    -   Manipulationsvorwurf

    -   Handlungsmaßstab = Verantwortungsethik

    -   ontolog. Gewißheiten, absolute Bezugspunkte für Bewertung

    -   Realität = kognitiv nicht zugänglich (biolog./ philosoph./ psycholog. Gründe)

    -   Kausalitätsdenken Ursache-Wirkung

    -   zirkuläre Strukturen (Selbstorganisation/ ~referenz sozialer Systeme)

     

    Als Kernpunkt des Konstruktivismus erscheint die Annahme[45] einer unzugänglichen Realität. Daraus ergeben sich verschiedene Konsequenzen für die Betrachtung des Journalismus.

    Als erstes erteilt Weischenberg jenem technischen Verständnis von Medien eine Absage, demzufolge der Journalismus Informationen transportiere.  Mit Rückgriff auf die Psychologie[46] werden die Me­dieninhalte als „Informationsangebote“ interpretiert, die für sich genommen noch keinen Sinn ent­hielten; dieser werde vom Einzelnen erst produziert.  Kommunikation wird so zum „Prozeß individueller Sinnkonstruktion”, Journalismus und Medien zu sozialen Systemen, die Wirklichkeits­entwürfe anbieten (128).  Weischenberg betont die Selbstorganisation und Selbstreflexivität dieser Systeme.

    Des weiteren ergebe sich aus dem selbstreferentiellen, selbstorganisiernden und autopoietischen[47] Wesen kognitiver Systeme, daß die von ihnen erzeugten Wirklichkeitskonstruktionen nicht absolut beurteilt werden könnten.[48]  Entscheidungen wie „wahr“ oder „falsch“ gebe es nur im „Referenzbereich”; Maßstab sei nicht die „Umwelt“ (also die Realität), sondern miteinander vergleichbar seien lediglich Konstruktionen.  Der Journalismus könne beispielsweise nur an der „Glaubwürdigkeit und Nützlichkeit seiner Informationsangebote“ gemessen werden (nicht jedoch an der Realitätsadäquatheit seiner Darstellungen).

    Die Bedeutung von Wirklichkeitskonstruktionen liege darin, daß sie die Handlungsfähigkeit be­stimmen.  Obwohl jede Wirklichkeitskonstruktion subjektabhängig ist, sei sie „nicht willkürlich”.  Durch intersubjektive Vereinbarungen werde sie verbindlich; diese Abstimmung erfolge „in einem permanenten sozialen Prozeß“ (129).  An dieser Konsensbildung orientierten sich Journalisten.[49]

    So wie für die „kognitiven Systeme“ auf Rezipientenseite gelte natürlich auch für Journalisten, daß keine Aussagen über die „Welt-an-sich“ möglich seien, sondern „Tatsachen“ individuell konstruiert würden; der Einzelne (Journalist) entscheide, welche Ereignisse wie bedeutend seien (130).[50]  „Objektivität“ gebe es nicht in dem Sinne, daß die „objektive Realität“ erkennbar und sprachlich abbildbar sei.  Was bleibt, ist die „(Objektivität)”, die „relative“ Wirklichkeit[51] eines Individuums.  Daraus leitet Weischenberg ein wenig unvermittelt die Verantwortung des Jounalisten für die von ihm verbreiteten Medienaussagen ab.[52]  Als Besonderheit journalistischer Wirklichkeitskonstruktion wird hinzugefügt, daß sie von „professionellen Regeln und Schemata“ sowie „durch die Strukturen der Medienbetriebe“ geleitet werde.  Mit diesem Hinweis sind die zusätzlichen „überindividuellen“ Bedingungen der medieninduzierten Wirklichkeitskonstruktion angesprochen: der ökonomische, poli­titische und technische Einfluß auf Medienangebote.

    Im folgenden äußert sich Weischenberg zur wissenschaftstheoretischen Qualität des Konstruktivis­mus.  Dabei meldet er zunächst Zweifel an, ob eine „konstruktivistische Medientheorie oder gar Journalismustheorie“ überhaupt möglich sei und betont, daß „die radikalen Konstruktivsten“ selbst lediglich den Anspruch eines Modells erhöben.  Dessen „Nützlichkeit“ bei der Erklärung von Kom­munikationsprozessen sei vermutlich größer denn seine Anwendbarkeit speziell auf „das soziale Funktionssystem Journalismus”, auf die Prozesse der sog. „Massenkommunikation”[53].

    Auch wird kein „Paradigmenwechsel“ behauptet.  Vielmehr weist Weischenberg darauf hin, daß ei­nige „konstruktivistische“ Elemente bereits praktiziert werden (so die Abkehr von linearem Denken; die Konzentration auf den Rezipienten).  Nebenbei wird als Problem des Konstruktivismus endlich die bislang ungeklärte Kluft benannt „zwischen der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit und der letztlich entscheidenden Wirklichkeitskonstruktion im Individuum“ (131f).  Weitere Berührungs­punkte mit dem Konstruktivismus werden in der Debatte um Objektivität und Glaubwürdigkeit gesehen, in der Medienethik und insbesondere in der langen Tradition der Nachrichtenforschung: Lippman wird als Vorbereiter des konstruktivistischen Realitätsbegriffes präsentiert, und die berühmte Untersuchung von Galtung/Ruge markiere den Beginn einer allgemeinen Abkehr von der Annahme, es gebe eine „wirkliche Realität”, an der die durch Journalisten dargestellte Realität gemessen werden könne.[54]

    Ausgehend von den verschiedentlich identifizierten „Nachrichtenfaktoren“ zeichnet Weischenbeg das Bild eines Mediensystems, in dem eine weitgehend konsensualisierte Wahrnehmung der Jounalisten zu „konsonanten oder sogar uniformen“ Aussagen führe.  Der „Nachrichtenwert“ habe sich als Hilfs­kon­struktion zur Erleichterung von Selektionsentscheidungen[55] herausgebildet und wird als eine „jour­nalistische Hypothese von Realität“ betrachtet (133).

    Selbst wenn es eine objektive Realität gebe[56], sei auch jeder Journalist in der Subjektivität seiner Wahr­nehmung gefangen.  Die objektive Realität bleibt unzugänglich, und damit gilt: „[J]ede Aus­sage über diese Realität ist eine Konstruktion”.  Für die Forschung habe dieser Verzicht auf einen ab­soluten Bezugspunkt zwei Vorteile: Zum einen (= analytisch) erlaube er, „den Blick auf die Pro­zes­se und Effekte von Selbstorganisation und Selbstreferenz zu richten”[57], und zum anderen (= normativ) eine Entideologisierung und die Befreiung von den „äußere[n]“ Maßstäben einer Weltan­schauung.

    Schließlich skizziert Weischenberg einige Konsequenzen, die sich für die Journalismusforschung aus radikal konstruktivistischer Perspektive ergäben.  Den bereits genannten Thesen (Abkehr von Medien als Transporteuren hin zu autonomen Konstruktionsprozessen der Produktion und Rezeption; zirkuläre Strukturen von Selbstorganisation und Selbstreferenz; multikausale Zusam­menhänge „ganzheitlicher [...] vernetzen”) fügt er hinzu:

    Kategorisierungen wie der Nachrichtenwert sind als konsensuelle Phänomene zu interpretieren,

    das Verständnis von „Objektivität“ beschränke sich auf das einer „brauchbaren Prozedur“ und „handlungsleitenden Norm“ (133),

    individuelle und soziale Konstruktion sind v.a. durch Untersuchen der Sozialisation zu verbin­den.

    Dadurch würden schon Untersuchungen auf Mikro-Ebene komplizierter, und Weischenberg räumt auch ein, daß „Makro-Themen“ wie die Ökonomie der Medien in ein konstruktivistisches Modell schwer einzuordnen sind.

    Als Ausblick führt Weischenberg notwendige Weiterentwicklungen an (135).  Zu klären seien Fra­gen zur Autonomie und Macht der Aussagenproduktion durch Journalisten, der fraglich-autopoieti­sche Charakter des Journalismussystems, die Operationalisierung der Viabilität von Wirklichkeits­konstruktionen sowie der Begriff „Wirklichkeit“ vor dem Hintergrund des Postulats einer prinzipiel­len Nichtunterscheidbarkeit von Illusion und wahrgenommener „Wirklichkeit”.[58]  Schließlich wird er­neut die Verbindung von sozialen und kognitiven Systemen beschworen, die in der Journalismus­for­schung zu erreichen sei durch einen Übergang „von der traditionellen Einstellungs- auf die Handlungsebene“ (136). Als notwendige Ergänzung der als unzureichend betrachteten Ergebnisse traditioneller Kommunikatorforschung, also (indiviudeller) Einstellungen, nennt Weischenberg die Untersuchung sozialer Strukturen hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Zusammenhang zwischen Vorstellungen und Handeln.

     

    Während Weischenberg einen eher wissenschaftstheoretischen Schwerpunkt setzt und dabei den Konstruktivismus grundsätzlich befürwortet, beläßt der nächste Autor es nicht bei einzelnen Modifikationen und Einschränkungen. Bentele (1993) geht zudem etwas stärker auf den praktischen Journalsimus ein und stellt zum Schluß (wie schon in seiner Antrittsvorlesung) die Frage: Wie wirklich ist die Medienwirklichkeit?

     

    Bentele gliedert seinen Aufsatz in acht „Kapitel”, in deren Verlauf die gegensätzlichen Positionen dargestellt und schließlich in einem eklektischen Kompromißvorschlag zusammengeführt werden.  Zunächst vereinfacht er in seiner Einleitung, ähnlich wie zuvor schon andere, die Diskussion auf zwei „Ansätze”.[59]  Als Kernpunkte der Auseinandersetzung um Konstruktivismus und Realismus identifiziert er fachliche Grundbegriffe, die Leistung der Medien, Relationen zwischen den Elementen von Kommu­nikation sowie die Methodologie.  Folglich betrachtet er jenen „kleinen Paradigmen­streit“ als Chance, „wichtige theoretische Grundlagen des Faches zu diskutieren.”

    Nach dieser Einordnung werden konstruktivistische Theoreme referiert und kritisiert.  Als „sinnvoll“ bezeichnet Bentele die in der Individualperspektive des (radikalen) Konstruktivismus begründeten Aufmerksamkeit für die subjektive Tätigkeit der Kommunikanden; dagegen behindere eben diese „Einsichten in Zusammenhänge interpersonaler, wie auch öffentlicher Kommunikation”(153).  An­ders als die Konstruktivisten hält Bentele die Frage nach dem Realitätsgehalt von Medieninhalten, für sinnvoll (was einen Glauben an die Erkennbarkeit „der“ Wirklichkeit vorausssetzt).

    Für die weitere Diskussion schlägt Bentele drei Ebenen vor, auf denen sich unterschiedliche Fragen stellen: Praxis ( Normen, alltagsnotwendige Annahmen), PuK ( prinzipielle Frage: Vergleichbar­keit Wirklichkeit – ihre Darstellung) und Epistemologie/ Wissenschaftstheorie (Grundsätzliches wie Verhältnis Mensch – Natur, Erkennbarkeit der Welt).

    Im vierten Abschnitt erfolgt eine Rekonstruktion der „Paradigmen”, wobei Bentele auf die Band­breite der Positionen hinweist, die unter der jeweiligen Bezeichnung firmieren.  Die „Realisten“ wer­den unterteilt in „naive“ und „elaborierte”.  Erstere gehen (deskriptiv) davon aus, daß Medien die Realität abbilden bzw. solches (normativ) fordern.  Die „elaborierten Realisten“ hingegen verwenden den Begriff des „Abbildens“ als Metapher, wobei eine gewisse „Unschärfe“ vorausgesetzt wird.  Als Konsequenzen dieses Verständnisses ergebit sich für Journalisten die Forderung nach getreuer Wie­dergabe der Wirk­lichkeit[60].  Für die PuK bedeutet es, daß Vergleich möglich und nötig ist; dazu werden subjektive Wirk­lichkeiten mit „extra- und intramediale Daten“ in Beziehung gebracht (158).

    Den Konstruktivisten bleibt eine ähnlich differenzierte Darstellung durch Bentele versagt.  Ihnen wird pauschal unterstellt, die Existenz einer unabhängigen Realität zu leugnen.[61]  Als Folge dieser Annahme für die Forschung ist es prinzipiell unmöglich, Bericht und Wirklichkeit miteinander zu vergleichen.  Die Frage nach dem „richtigen“ Bild, d.h. der Vermittlung von Realität sei nicht beant­wortbar.  Darüber hinaus verweist Bentele auf die Ablehnung bzw. Umdeutung bestimmter Begriffe wie „Wahrheit“ oder „Objektivität”.  Der journalistischen Arbeit i.S. eines Erfassens und Darstellens von Realität werde mit dem konstuktivistischen Verzicht auf den Wirklichkeitsbegriff das Fundament entzogen (159).

    Die folgende Problematisierung der verschiedenen Ansätze beschränkt sich beim Realismus auf dessen Erklärungsschwäche hinsichtlich der „subjektiven Anteile des einzelnen Journalisten an der Berichterstattung“ und der „strukturellen Leistungen des Mediensystems”, sowie gegenüber nicht-genuinen Ereignissen.  Der Kritik konstruktivistischer Annahmen wird demgegenüber ca. achtmal so viel Raum gewidmet.  Die Vorwürfe lauten, der Konstruktivismus vereinfache, sei mißverständlich, trivial und enge ein.[62]  Im einzelnen wird ausgeführt, daß die häufige Polarisierung durch Konstruk­ti­visten unangemessen sei; viele Begriffe schließen sich laut Bentele nicht automatisch aus, sondern könnten in­tegriert werden.  Die zentrale Metapher des „Konstruierens“ wird mit den Vorwürfen der Vereinfachung und Mißverständlichkeit belegt.  So lehnt Bentele — die Existenz einer beobachte­runabhängigen Realität voraussetzend — die seltsam anmutende Formel ab, derzufolge erst Kom­munikation Wirklich­keit konstruiere (160f).[63]  Des weiteren beharrt er auf der Unterscheidbarkeit von Ereignis und des Bericht darüber („Differenz [...] unaufhebbar“, 161).  Eine „Konstruktion“ erkennt Bentele erst dann in der Be­richterstattung, wenn Ereignisse nicht genuin, sondern durch Journalisten selbst hervorgerufen werden; dies bezeichnet er zugleich als „intentionale Verfälschung bzw. Verzer­rung der Wirklichkeit“ (161).  Des weiteren kritisiert er die fehlende Unterscheidung „zwischen der ontologischen und der gnoseologischen Konstruktion".  Wenn alles Konstruktion wäre, resultierte dies in der Ununterscheidbarkeit von Zeichen und Bezeichnetem.[64]  Dies widerspricht der Alltagser­fahrung, weshalb Bentele (162) vermutet, daß unter „Konstruktion“ lediglich zu verstehen sei, für Rezipienten existiere wegen der Nicht-Wahrnehmbarkeit der berichteten Wirklichkeit nur die berich­tende Medien-Wirklichkeit.  Wenngleich diese Interpretation die nicht-mediale Konstruktion von Wirklichkeit vernachlässigt, bleibt als Kritikpunkt festzuhalten die Mißverständlichkeit der „Konstruktionsmetapher".

    Der Vorwurf der Trivialität zielt darauf, daß Konstruktivisten nicht nach den Gründen von Unter­schei­dungen bzw. der Unterscheidbarkeit selbst fragten.  So betrachtet Bentele es offensichtlich als selbstver­ständlich, daß nicht die Realität und ihre Darstellung miteinander vergleichbar seien.  Zu recht weist er auf das Phänomen hin, daß wir zwischen Realität und ihrer Darstellung unterscheiden, und daß wir auch innerhalb der Darstellungen differenzieren können in präzis, adäquat etc.

    Des weiteren versucht Bentele nachzuweisen, die Konstruktivisten widersprächen sich selbst, wenn sie etwa „Wahrheit“ für unerreichbar erklären und zugleich mit dem Verteidigen ihres Ansatzes einen Wahr­heitsanspruch offenbarten (ohne einen solchen würde schließlich auch jeder Wissen­schaftsan­spruch aufgegeben; 163).  Darüber hinaus verrieten Begriffe wie „Vorurteile“ oder „Miß­ver­ständ­nisse", mit denen Konstruktivisten wie Schmidt in der wissenschaftlichen Auseinander­setzung ihre Position zu verdeutlichen suchen, daß es eine „richtige“ Interpretation gebe.[65]

    Schließlich behauptet Bentele, daß aus dem Konstruktivismus eine Einengung der Kritikmöglichkei­ten folge.  Seinen Befürchtungen zufolge sei es streng konstruktivistisch nicht mehr möglich, unter­schiedli­che Qualität im Journalismus zu messen (etwa durch den Vergleich der Berichterstattung mit Statisti­ken).  Seine Darstellung unterschlägt das Merkmal der Konsensfähigkeit von Wirklichkeits­konstruktio­nen und beruft sich allein auf das (in der Tat unzureichende) der Glaubwürdigkeit.  Zwar gibt Bentele selbst Beispiele für Ereignisse, in denen verschiedene „glaubwürdige Versionen“ der „Wirklichkeit“ relevant wurden, besteht jedoch schon im nächsten Satz wieder auf der „wahrheitsgetreuen Berichter­stattung".  Soviel zum Vorwurf der Selbst­wider­sprüchlichkeit.

    In seinem sechsten „Kapitel“ untersucht Bentele dann die „Konvergenz“ bzw. Integrationsmöglich­kei­ten der beiden Ansätze.  Als der „andere“ Ansatz entpuppt sich jedoch eine „Evolutionäre Er­kennni­stheorie“ — und nicht etwa der Realismus, wie die einleitende Gegenüberstellung annehmen ließe.  Zu den Gemeinsamkeiten stellt Bentele fest, daß allgemein die Existenz der Realität ange­nommen wird (also kein ontologischer Solipsimus bei den Konstruktivisten).  Allein ihre Erkennbar­keit wird unterschiedlich eingeschätzt: Der epistemologische Solipsimus der Konstruktivisten besagt, daß wir nicht mehr über die Realität wissen können, als daß es sie gibt.  Unterschiedlich auch die Einschätzung der Möglichkeit von Kognition und Kommunikation, die beim Konstruktivismus eher pessimistisch ist.  Gemeinsam wieder­um ist beiden Ansätzen ihre naturwissenschaftliche Fundierung aus verschiedenen Disziplinen, die Benetele allesamt als „empirisch vielfältig und mu[l]tidisziplinär bestätigt“ sowie als „gut miteinander kompatibel“ bewertet.  Unterschiede hingegen zeigten sich in dem Verhältnis von Innen- zu Außenstruk­tur (erkennendes Subjekt zu Erkenntnisobjekt).  In diesem Zusammenhang stellt Bentele die Frage nach der unterschiedlichen Qualität (dem „Erfolg") von Kon­struktionen, die traditionell anhand von „Wahrheit“ oder „Objektivität“ gemessen werde.  Dabei ver­sucht Bentele nun die entsprechenden Termini des Konstruktivismus bzw. der „EE“ gegeneinander auszuspielen, also „Viabilität“ vs. „Passen".[66]  Trotz seiner erklärten Höherschätzung des letzteren läßt Bentele generös offen, welches „Paradigma“ sich als „überlebensfähiger“ erweisen wird.

    Im siebten Abschnitt kommt Bentele dann auf seinen bereits angekündigten Lösungsvorschlag, eine rekonstruktive Synthese.  Diese beruht auf der „EE", die in vier Annahmen vorgestellt wird: Die Realität sei „zumidest teilweise“ der Erkenntnis zugänglich (166).  Subjektive Erkenntnis wird als auf allen Ebenen (also auch der wissenschaftlichen wie der jounalistischen) perspektivisch, selektiv und konstruktivisch betrachtet.[67]  Biologische Wahrnehmungsautomatismen zur Komplexitätsreduk­ti­on werden auf systemische Ebene projiziert.  Subjektive Erkenntisstrukturen „passen“ zu objekti­ven, was zugleich „einen sehr differenzierten Repräsentationsmechanismus“ darstelle, wie ihn der Kon­struktivismus nicht biete (167).

    Ausgangspunkt für Benteles „rekonstruktiven Ansatz“ ist die Übertragung von individuell gültigen Erkenntnissen auf Systeme, was „durch das systemtheoretische Vorgehen möglich und legititmiert“ werde.  Er fomuliert dazu fünf Positionen: ¹Es gibt eine ontologisch größtenteils beobachterunabhän­gige Realität, eine Formulierung, die sowohl die Alltagsannahme einer unabhängigen Realität als auch beobachtungsgenerierte Phänomene ("Medienereignisse") umfassen soll.  ²Berichterstattung setzt ein „Wechselspiel“ zwischen objektiver Wirklichkeit und subjekitver Erkenntnis voraus.  ³Teile der Realität sind „sozial konstituiert", und davon wiederum ein Teil durch Medien.  4Nachrichten sind jedenfalls „Rekonstruktion“ von Realität; ihre Wirklichkeitsnähe ist meßbar.  5„Wahr­heits­gemäße und objektive Berichterstattung“ ist möglich.

    Auf Grundlage dieser Positionen sieht Bentele die Möglichkeit für eine Theorie öffentlicher Kom­mu­ni­kation, „die journalistische Berichterstattung als mehrstufige Realitätsrekonstruktion be­greift".  Er weist daruf hin, wie gut die vorgenannten „Erkenntinsprinzipien“ Selektivität, Per­spek­tivität und Konstruk­tivität mit kommunikationswissenschaftlichen Teilthoerien kombinierbar seien.  Auch in seinem An­satz ist von „Verzerrung“ die Rede, sowie von einem „Unschärfemechanismus".  Dieser soll die strukturelle Ver­gleichbarkeit von individueller Wahrnehmung und öffentlicher Kommunikation be­wirken.

    Unter der „Rekonstruktion“ versteht Bentele „die Fähigkeit, sich auf reale Doinge in der Umgebung des Organsimus mit einer ausreichenden Präzision beziehen zu können“ (169).  Wie „ausreichende Struktur­ähnlichkeiten“ im Gehirn aussehen sollen, weiß er jedoch auch nicht.  „Ähnlich unpräzise", so Bentele, „wie der biologische Wahrnehmungsapparat“ sei auch der des Mediensystems.  Diese Analogie würde mit unserer Alltagserfahrung korrespondieren, wonach wir uns mit Hilfe der Medien zurechtfinden können „in den Räumen und Bereichen, die uns in der Regel nicht mehr durch unmit­telbare Wahrneh­mung und Kommunikation zugänglich sind".  Unter Berufung auf die Evolutions­biologie kommt Bentele also zu einem Schluß, der sowohl optimistischen Kommunikations­wissen­schaftlern als auch dem gesunden Menschenverstand zusagt: „Mediensysteme produzieren trotz aller Unschärfe und trotz aller Unterschiede meist ein ausreichend adäquates Bild über das Geschehen in lokalen, regionalen und internationalen Räumen.  Ansonsten könnten wir uns überhaupt nicht über das politische, wirtschaftli­che, sportliche oder kulturelle Weltgeschehen informieren."

    Als Analogon zur Genese der menschlichen Sprache benennt er auf der Ebene der Mediensysteme die Entwicklung von „Berichterstattungsnormen“ zwischen Objektivität und Glaubwürdigkeit als Krite­rien (170).  Und in einer weiteren evolutionistischen Analogie deutet er „Diskrepanzerfahrungen des Publikums“ gewissermaßen als Auslöser der 'Auslese' im Mediensystem, welche ökonomisch und über Imageverlust erfolgt.

    In seinem letzten Abschnitt stellt sich Bentele die Titelfrage: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, wobei das „Wie“ nicht nach dem „Wie sehr“ fragt, sondern „In welcher Art“.  Bentele weist auf unter­schiedliche Bedeutungen des Begriffs „wirklich“ hin.  „Wirklich“ im Sinne von „real existie­rend“ sei die Medienwirklichkeit als Zeichenwirklichkeit.  Diese könne wahrge­nommen und unter­sucht werden. Wirklichkeit und Medienwirklichkeit sind unterscheidbar, und in beiden könne zwischen „richtig“ und „falsch“ erkannt werden. — Die „Repräsentation anderer Wirk­lichkeiten", d.h. von Wirklichkeiten, die für andere „wirklich“ im erstgenannten Sinne ist, müs­se „wirklich“ im Sin­ne von „genau, präzise“ sein.  Solche Übermittlung „richtiger“ Information sei „über­lebens­not­wendig“ (171).  In dieser „Repräsentation“, dem „permanente[n] Versuch der Herstel­lung adäquater (objektiver) und damit brauchbarer Medienwirklichkeiten“ sieht Bentele (neben der Produk­tion von Fiktionen) die „Hauptleistung der Medien“.  Aufgabe der PuK sei dabei zu untersu­chen, wie und wie genau „andere Wirklichkeiten repräsentiert werden bzw. verzerrt werden". — „Wirklich“ im Sinne von „wirkend“ sei Medienwirklichkeit schließlich als „realer Konstitutionsfak­tor für die gesellschaftliche Realität und für die individuellen Vorstellungen“ (und Verhalten).  Medi­en­wirklichkeiten, faßt Bentele zusammen, stünden also zwischen dem naiv-realistischem „Abbild“ und von der Wirklichkeit losgelösten Konstrukten.  Die von ihm entworfenene „Rekonstruktion rea­ler Er­eignisse“ durch Medien will Bentele nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ verstanden wissen, da ohne sie „die Abweichung von den Realitäten vermutlich größer wäre“.

     

    Mit dieser Forderung wird die eingangs von Schulz aufgeworfenen Frage nach den Konsequenzen für die journalistische Praxis wieder aufgenommen.  Daran schließt Haller (1993) hier an: Journalistisches Handeln: Vermittlung oder Konstruktion von Wirklichkeit?

     

    Seinem Aufsatz über „Journalistisches Handeln“ stellt Haller voran, daß keine kommunikations­wis­senschaftlichen, sondern naturwissenschaftliche Aussagen die Grundlage des Radikalen Konstrukti­vismus bilden. Genau diese Grundlage schickt Haller dann sich an zu unterminieren, indem er drei Aufsätze zitiert, welche die Glaubwürdigkeit Maturanas angreifen. Zudem zweifelt er die Übertrag­barkeit an: „Vollends fragwürdig ist die Ausweitung dieser Postulate auf soziologische Makrosy­steme“ (139). Sein Fazit: Die Thesen des RK könnten höchstens als Metapher dienen.

    Er reduziert den Konstruktivismus vom Status einer Theorie auf die Ebene der Thesen und Modelle (140). Derart domestiziert gesteht Haller dem Konstruktivismus einen recht eng begrenzten heuristischen Wert zu: Abgesehen von einer gesamtwissenschaftlichen Perspektive, in der sich das Autopoiesis-Konzept Prigogines „dissipiativen Strukturen“ subsumieren lasse, böte der konstruktivi­stische Wirklichkeitsbegriff die Gelegenheit zum „kritsche[n] Überdenken tradierter und leichthin ak­zeptierter Normen im Praxisfeld des journalistischen Handelns”. Konsequenz aller konstruktivist­schen Konzepte sei die Absage an den objektivistischen Wirklichkeitsbegriff, dem ein systembezoge­ner Wirklichkeitsbegriff gegenüberstehe. Dieser unterschiedlichen Betrachtungsweisen, so Haller, kennzeichnen „den Journalismus in seiner funktionalen Widersprüchlichkeit”.

    Bevor er im nächsten Abschnitt journalistisches Handeln unter „konstruktivistischen“ Aspekten be­schreibt, trifft Haller eine wesentliche Eingrenzung: Er unterscheidet bei den „Berufs­kommunikatoren“ zunächst, ob überhaupt der (evtl. hypothetisch zu unterstellende) An­spruch der „Wirklichkeits”-Vermittlung besteht. Damit fallen offensichtlich fiktionale und ludische Medieninhalte (etwa Spielfilme ud Gameshows) aus seiner Untersuchung heraus. Des weiteren trennt er bei den nicht-fiktionalen Formen solche ab, die per se subjektive Elemente enthalten (Reportagen, Glossen etc.). Haller beschränkt sich also auf den am wenigsten offensichtlich konstruktivischen Bereich des nachrichtlichen Journalismus.[68]

    Hierbei nimmt er einen vom beobachtenden Subjekt unabhängigen Geschehensprozeß der „realen Lebenswelt“ an (142). Ereignisse daraus referiere der (nachrichtliche) Journalist. Auf diesem „vermittelnden“ Funktionsverständis beruhen auch die legislativ und judikativ formulierten Ansprüche an die Medien[69]. Bei genauerer Betrachtung der damit verbundenen Forderungen wie der „Sorgfaltspflicht“ offenbart sich laut Haller, daß die für eine entsprechende Überprüfung notwendi­gen Begriffe von „Wirklichkeit“ oder „Wahrheit“ keineswegs so klar definiert sind, daß von einem Gegensatz zu den Konstruktivisten auszugehen wäre. Vielmehr konzediert Haller bereitwillig, „daß es nicht allein um wahre oder falsche Tatsachenbehauptungen, sondern oftmals auch um unter­schiedliche Versionen geht, die sich dem Kriterium wahr/falsch entziehen”. Folglich werden praktische Faustregeln wie das Anhören der anderen Seite als unzureichend betrachtet, „nicht nur, weil sie naiv die Wahrhaftigkeit der Informanten unterstellen, sondern auch, weil sie von einem ob­jektivistischen Abbildungsglauben getragen sind, der die Komplexität sozialer Wirklichkeit und die kognitive (Re)Konstruktionsarbeit des Journalisten schlicht übersieht”.

    Unter diesen Annahmen skizziert Haller im folgenden die Konsequenzen für journalistisches Recherchieren. Wenn alle Aussagen als Versionen betrachtet und diesen jeweils eigene Gültigkeit zugestanden werden müssen, dann besteht die Aufgabe des Journalisten darin, diese Gültigkeiten der Versionen miteinander zu vergleichen. Verschiedene Aussagen sind intersubjektiv zu überprüfen (werden „objektiviert”).[70] Teilaussagen, die sich in diesem „Aussagenabgleichungsverfahren“ als un­strittig erweisen, sind logisch wahr[71]. Zugleich werden damit Aussagen herausgefiltert, die nicht konsensfähig sind; diese widersprechen allgemein anerkannten Prüfkriterien. Mit dem Hinweis auf „Konventionen“ wiederum wird deutlich, „daß journalistische Prüfverfahren an Referenzräume ge­bunden sind”. Das Alltagsverständis von „Objektivität“ wird also (nur?) relativiert. Außerdem ist die Überprüfbarkeit begrenzt auf die (faktische) Beschreibung von Sachverhalten, nicht jedoch Aussagen über ihre Gründe (146). Als ein wenig zu selbstverständlich stellt Haller in diesem Zusammenhang den Charakter der Kausalität dar als „kein Natur-, sondern ein Denkgesetz, das jene Regeln beschreibt, nach denen wir das komplexe Naturgeschehen reduktiv strukturieren”.[72] Es wird daraufhin vom Journalisten gefordert, die „Sachverhaltsinformationen“ von ihrer Interpretation (die „Litanei der W-Fragen”) zu trennen.[73] Die bislang ungenügende Trennung von Aussage und Argument führt laut Haller dazu, „daß die beiden [E]benen unauflöslich ineinandergeschoben werden”. Dagegen präzisiert er diese „Wirklichkeitstypen”, indem er sie scheidet in „faktizierende“ und „interpretierende“ Beschreibungen (147).[74] Beide seien „keine Wahrheiten, sondern Versionen”, von denen allerdings die Versionen der „Argument”-Ebene an Aktanten gebunden blieben: über „Ursachen, Motive und Zwecke“ könne (auch im Falle von Naturereignissen) „immer nur im Zusammenhang mit den [beteiligten] Menschen sinnvoll gesprochen werden”. Die Aufgabe journalistischer Recherche sieht Haller dementsprechend in der Überprüfung von Aussagen und Ar­gumenten auf Unstrittigkeit bzw. Plausibilität.[75] Als Element konstruktivistisch begründeter Handwerksreglen werden dann neben den bereits dargestellten Annahmen Forderungen aufgelistet wie die nach der Nennung von Quellen und der Kenntlichmachung von Informationen als Versionen.

    Im nächsten Abschnitt bemerkt Haller, daß journalistisches Handeln über Informationsbeschaffung und -überprüfung hinausgeht bzw. sich verlagert hat auf die Auswahl und Aufbereitung von Infor­mation (was Haller (149) den Journalisten als „Textmanager“ bezeichnen läßt). Bei der Untersu­chung von Selektionsroutinen wird am ehesten auf eine Anwendbarkeit neurobiologischer bzw. wahrnehmungspsychologischer Modelle erkannt: Regelkonforme und vorhersehbare Ereignisse werden eher als redundant „ausgefiltert”, das Regelwidrige, Unerwartete wird in dieser Analogie als „Reiz“ bewertet und (unter Rückgriff auf das kybernetische Verständnis von Information als „Minderung von Ungewißheit”) in Verbindung gebracht mit dem, was wert erscheint, in den Medien berichtet zu werden. Dabei überträgt Haller (150) die Befunde der Mikro-Ebene (Selektionsroutinen im Journalisten bei der Sichtung des Inputs) auf die systemische Ebene, indem er „die Medienredak­ti­on“ gewissermaßen als Sinnesorgan der Gesellschaft darstellt — springt im nächsten Abschnitt je­doch wieder zurück auf die individuelle Ebene: Die letztinstanzliche Entscheidung darüber „[w]as re­gelhaft, was regelwidrig ist“ muß sinnvollerweise dem Empfänger der Nachtrichten zugeschrieben werden. Dies veranlaßt Haller, die Selektion der Redaktionen als die Vorwegnahme der Selektion durch das Publikum zu deuten, wenn im Zuge einer „virtuellen Rückkopplung“ das Verhalten, die Präferenzen der Rezipienten „antizipiert“ werden.[76] Mit diesem Mechanismus (dem „Raster“ der Selektivität) sei auch die „Voreingenommenheit [...] bei der Informationsvermittlung“ zu erklären: Medien und ihr Publikum gehören dem selben sozialen System an. Sie teilen die selben Werte und Normen, nur damit konforme Informationen stabilisieren das System und dürfen deshalb passieren.[77] Dies führt zu der Frage nach Funktion und Leistung des Mediensystems: Mit der Annahme der vorerwähnten Integrationsfunktion (Systemstabilisierung) seien „weder die kommunikative Prozesse des sozialen Wandels, noch das Prinzip Öffentlichkeit zu erklären”. Haller verweist demgegenüber auf die Leistung der Komplexitätsreduzierung (151).

    Abschließend vollzieht Haller unter der Frage, ob der PuK eine neue Objektivitätsdebatte bevorstehe, eine bemerkenswerte Wendung. Hatte er in der Einleitung seines Beitrages noch ungehalten gefragt, auf welches Wissen sich solche „Wahrheitssätze“ stützten wie Schmidts These, daß es keine erfahr­bare Wirklichkeit gebe, wir aber postulieren müßten, daß es sie gibt (137), so endet der Artikel in der nicht minder anmaßenden Feststellung: „Daß die Realität objektiv nicht beschreibbar, daß ihre Be­schreibung vielmehr eine Vorstellung des individuellen Bewußtseins [...] sei, gehört [...] zum Wis­sensbestand der Medien- und Kommunikationsforschung“ (151). Nachdem er die Thesen des Radika­len Konstruktivismus zunächst auf „eher metaphorische Bedeutung“ zurechtgestutzt hatte (139), taucht am Ende doch wieder der Begriff des „Paradigmas“ auf (151). Außerdem verkehrt Haller den Urspung des radikalen Konstruktivimus (”eine bis zur Wurzel menschlicher Erkenntnis reichende Theorie”; meine Hervorhebung) und polemisiert: „Großspurig [...] Das Radikalste am ‘Radikalen Konstruktivismus’ ist seine Namensgebung“ (151). Nachdem er selbst durchaus kon­struktivistisch argumentierte (etwa, daß nur „Versionen”, also Konstruktionen miteinander ver­gleichbar seien) und dies durch die Kontrastierung mit der „üblichen“ Praxis und den herkömmlichen Handwerksregeln zumindest implizit als neuartig darstellte, bemüht er sich zum Schluß, die Bedeu­tung Konstruktivis­mus doch wieder als „weder neu noch sonderlich strittig“ zu schmälern und auf einen Denkanstoß zu reduzieren.[78] Dieser solle auch dazu führen, daß „die faktengläubigen Journa­listen“ „die Ausgewo­genheitsdoktrin der politischen Parteien“ als Gängelband erkennen und sich dem entziehen.[79]

     

    Kein Schlußwort

    Es scheint fraglich, ob in der „konstruktivistischen“ Praxis überhaupt ein Unterschied bemerkbar würde: Hinter sorgfältiger Recherche kann Glaube an „Wahrheit“ stehen oder eben das Ver­gleichen von Versionen.  Am Ergebnis dürfte das kaum etwas ändern.  Daß auch in Praktiker­büchern wie Rost (1994) nicht explizit auf den Konstruktivismus eingegangen wird, ist dann nur ver­ständlich.

    Vielleicht ist das Teil-Resümé als stellvertretend für die „Gesamt-Bedeutung“ des Konstruktivismus zu be­trachten.  Auch wenn einem Fazit auf Grundlage dieser Arbeit nur sehr ein­geschränkter Wert zugebilligt werden kann, ergibt sich doch — gewissermaßen als „Zwischenstand“ — folgender Eindruck (wie er z.T. auch in den vorgestellten Aufsätzen geäußert wurde):  Die konstruktivistischen Thesen liefern wertvolle Denkanstöße, vieles der Faszination liegt m.E. jedoch in den Erkenntnissen über die Natur der menschlichen Wahrnehmung selbst und weniger in den darauf aufbauenden Schlußfolgerungen begründet.  Diese halte ich nämlich nicht nur für nachdenkenswert, sondern z.T. auch für bedenklich.  Dies weniger wegen des häufigen Miß­verständnisses, der Konstruktivismus legitimiere die Beliebigkeit, sondern vielmehr wegen der m.E. ungeklärten Übertragbarkeit der biologischen Ergebnisse auf soziale Systeme.

     

    Allgemein erweist sich meiner Ansicht nach die Neigung der Konstruktivisten als problematisch, sich durch einen eigenen Sprachgebrauch abzusondern; zentrales Beispiel dafür ist der Begriff des Konstruierens, der beim Individuum (dem Rezipienten) etwas anderes bedeuten sollte als für das System Journalismus.

    Insgesamt kann ich die neue „Epoche der Kommunikationsforschung“ (Merten 1993: 53) nicht erkennen — wenngleich viele faszinierende Beobachtungen (wie z.B. auch Kepplinger 1988 oder das Phänomen der Selbstreferentialität) eng mit dem Konstruktivismus in Verbindung zu bringen wären.  Ich neige jedoch eher dazu, die Erwartungen an den Konstruktivismus herunter­zuschrauben, wie auch Görke/Kohring (1996: 22) das nahelegen: „Eine umfassende Theorie der Medien ist jedenfalls nicht in Sicht."  Was bleibt, ist ein gesundes Mißtrauen, das auch durch die Debatte um den Konstruktivismus am Leben gehalten wird: Eine kritische Distanz gegenüber der „Medien­wirklichkeit“ — und gegenüber den Theorien, die sich damit beschäftigen.


    Literatur

     

    Bentele, Günter (1993): Wie wirklich ist die Medienwirklichkeit? In: Bentele/ Rühl (Hg.): Theorien öf­fentlicher Kommunikation. München: Ölschläger. 152-71.

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    Fußnoten

     



    [1] Schmidt (1993: 105) unterteilte die „bekannteste[n]“ der „ganz unterschiedliche[n] Denkansätze“ noch in: empir. Kognitionstheorie, Kybernetik zweiter Ordnung, Radikaler Konstruktivismus, Systemtheorie und Unterscheidungslogik.

     

    [2] Diesen Vorschlag zur Aufspaltung in Philosophie und Naturwissenschaften übernimmt er von Gerhard Roth.

     

    [3] Dies ist abzulesen an den zahlreichen Publikationen, die gerade in den letzten Jahren den Konstrukti­vis­mus behandeln. Beispielhaft sei auf die kritische Rezeption der von Merten/ Schmidt/ Weischenberg her­ausgegebenen Funkkollegs Medien und Kommunika­tion verwiesen, wodurch die Debatte um den Kon­struktivismus einen neuen Anstoß erhielt (vgl. Haller 1993: 151; Scharf 1994: 362).

     

    [4] ...die für unsere Betrachtung schon auszugrenzen sind: „von den Konstruktivismen in der Kunstgeschichte und Mathematik einmal ganz abgesehen“ (Schmidt 1994: 4).

     

    [5] Auch wenn sich schon abzeichnet, daß es „den“ Konstruktivismus nicht gibt, steht er im folgenden — der Einfachheit halber — für die „konstruktivistischen Denkrichtungen“.

     

    [6] Basierend auf den Studien von Berg/Kiefer zur “Massenkommunikation” errechnet Merten (1994: 155) fast eine Verzehnfachung innerhalb von 30 Jahren.

     

    [7] Auf die wirtschaftswissenschaftliche Frage nach Henne und Ei (Saysches Theorem etc.) soll hier nicht eingegangen werden (ob das Medienangebot auf einer gewachsenen Nachfrage resultiert oder vielmehr das Angebot erst die Nachfrage schafft).

     

    [8] Vorerwähnte Grafik in Merten (1994: 155) veranschaulicht auch die gegenüber dem wachsenden Angebot stagnatierende Nutzung.

     

    [9] Merten (1994: 159) skizziert eine Parallelentwicklung von Freizeit und dem Medienanteil daran, d.h. die prozentuale Aufteilung hat sich wenig geändert; vielmehr ließe sich eine beinahe konstante Quote errech­nen. Das bedeutet nichtsdestotrotz, daß durch die insgesamt größere Menge frei verfügbarer Zeit auch das Zeitbudget für Medien entsprechend steigt. Schulz (1986: 64) vergleicht: “Damit beansprucht die Medein­nutzung — neben Schlafen und Arbeiten — inzwischen den größten Teil unseres Zeitbudgets”.

     

    [10] Schulz (1986: 66) verschärft dies noch mit dem Hinweis, daß die Medienwelt nicht nur „sekundär“ ist, sondern sich selbst wiederum großteils auf andere Darstellungen bezieht: “Mit höheren Abeitungsstufen entfernt sich die Massenkommunikation von Tatsachen und es ensteht eine verselbständigte Medien­reali­tät”.

     

    [11] So endet denn auch Kepplinger (²1993: 55) mit der Frage: “Was geschieht eigentlich mit einer Gesell­schaft, die sich zunehmend an fiktiven Darstellungen orientiert, die sie mit tiefster Überzeugung für Reali­tätsbeschreibungen hält?”

     

    [12] Mit Plato, Vico, Berkeley, Fichte, Nietzsche, Schopenhauer und Kant sei die Menge der unterschiedlich­sten Vertreter nur angedeutet, auf welche die konstruktivistische Argumentation häufig zurückgreift. Vgl. z.B. das Vorwort von Stafford Beer zu Maturana/Varela (1980: 63).

     

    [13] Aus diesem Grund kann auch der Aufsatz von Schmidt (1994b) nur teilweise referiert werden, weil es sich über lange Strecken um eine Auslegung des Kommunikationsverständnisses von Luhmann handelt.

     

    [14] Welche Auswirkungen diese Auswahl haben kann, zeigt der Text von Kepplinger im gleichen Band: Dieser bezieht die im „konstruktivistischen Thesen“ einzig und allein aus seinem eigenen Buch (Realkultur und Medienkultur), einem Werk aus dem Jahre 1975 zudem. Daß er auf andere, aktuelle Ver­treter des Konstruktivismus keinerlei bezug nimmt, macht es natürlich einfach, Thesen wie „Es gibt kei­nen objektive Realität“ (S. 119) ad absurdum zu führen — denn wer behauptet solches schon?

     

    [15] Dabei handelt es sich um den (schlampig redigierten) Berichtsband der DGPuK zu ihrer 1991er Arbeits­tagung.

     

    [16] Kepplinger (1993) hebt an mit den „Moden", die es eben auch in der Wissenschaft gebe, Merten (1993: 52) bezeichnet den Konstruktivismus als „neues wissenschaftliches Paradigma". Diesen Anspruch zieht Schmidt (1994a: 4) selbstkritisch als „voreilig“ zurück.

     

    [17] Zur Abgrenzung Paradigma – Theorie vgl. z.B. Schreiber (³1990: 261).

     

    [18] Für die Fachgeschichte wird immer wieder auf Lippmanns Public Opinion verwiesen. Es ist kein Zufall, daß diesem Klassiker Platos „Höhlengleichnis“ vorangestellt wurde.

     

    [19] lt. Merten (1991: 64) wurde der „Reality Construction Approach“ 1976 durch Gerbner eingeführt.

     

    [20] „Wie dieses Bewußtsein funktioniert, verstehen wir nicht einmal im Ansatz.“ Hucho (1990: 15).

     

    [21] Neben dieser frequenzabhängigen Beschränkung besteht natürlich noch eine 'amplitudenabhängige': Wir haben eine Hörschwelle. Ähnlich die Schwelle beim Schmecken und Gerüchen: Wir können nicht beliebig niedrige Konzentrationen wahrnehmen; vgl. Hatt (1990).

     

    [22] „Und das meiste, was gehört oder gelesen wird, wird nicht verstanden", schließt Schneider (²1984: 11) sarkastisch den Kreis zu individuellen Wahrnehmung des Rezipienten.

     

    [23] Unter der Frage „'Konstruktionen' von Wirklichkeit(en)?“ klärt Schmidt (1994b: 595-6) ein weiteres Mal diesen Unterschied:  Mit dem Begriff „Konstruktivismus“ wird der planvolle, bewußten Akt des Konstru­ierens konnotiert.  Dies suggeriert einen aktiven (i.S.v. willkürlichen) Charakter der Wirklichkeitskon­struktion.  Da Wahrnehmung eine permanente, vorbewußte Leistung des Gehirns ist, verdeutlicht Schmidt ganz richtig: „Wirklichkeitskonstruktion widerfährt uns mehr, als daß wir über sie verfügen". — Dennoch spricht auch Früh (1992: 73) von einem „aktiven Publikum", und dem sinnsuchenden Rezipienten, der sich aus dem Informationsangebot eine eigene Welt konstruiert.

     

    [24] Die Unausweichlichkeit dieser permanenten Konstruktionsleistung faßte der Hirnforscher Detlef Linke in den Satz: „Unser Gehirn kann nicht anders, als Sinn zu suchen". Er veranschaulichte dies am Beispiel des von Chomsky sicherlich mühevoll gesuchten sinnlosen Satzes „Grüne Ideen kratzen gefährlich...", den Linke als „poetisch“ bezeichnet und damit zeigt, wie schwierig oder vielleicht unmöglich es ist, auf Sinn­gebung zu verzichten. — Watzlawick (1981: 62, 195) zitiert wiederholt Nietzsche, demzufolge das Warum für das Leben des Menschen wichtiger sei als das Wie.

     

    [25] Ob die Vorstellung, es könne evtl. keine Realität geben, allein auf Ablehnung aus wissenschaftlichen Gründen stößt oder evtl. ein existenzielles Unbehagen auslöst, sei hier dahingestellt. Beachtlich ist jeden­falls, daß den Konstruktivisten beharrlich vorgeworfen wird, sie leugneten die Existenz einer objektiven Wirklichkeit.  Dabei erklärt z.B. Schmidt (1994a: 8) unter Berufung auf Luhmann ausdrücklich, „daß die Außenwelt existiert und ein wirklicher Kontakt mit ihr möglich ist [...] Auch besteht kein Zweifel daran, daß erkennende Systeme wirkliche, beobachtbare, empirische Systeme in einer wirklichen Welt sind."

     

    [26] Vgl. dazu die „Einführung“ von Glasersfeld (1981).

     

    [27] Erst wenn diese Konstruktionen scheitern, geraten wir mit der „wirklichen“ Wirklichkeit in Konflikt. So ist auch die Bemerkung von Warren McCulloch zu verstehen, derzufolge es „der Höhepunkt des Wissens“ sei, eine „Hypothese als falsch erwiesen zu haben“ (zit. nach Glasersfeld 1981: 23).

     

    [28] Mit der Betonung, die Modelle konstruierten sich „für (nicht von)“ Umwelten, soll dem Abbildungs-Konzept entgegengetreten werden, was dem Zweck nach verständlich ist, den neurobiologischen Voraus­setzungen jedoch widerspricht: Natürlich müssen zunächst Reize „von außen“ in Erregung und schließlich Bedeutung transformiert werden, wobei sich im Individuum ein Modell ("von") der Umwelt konstruiert (d.h. Kognition= „offenes System"). Präziser wäre es also m.E. von Konstruktionen von der Umwelt und für die Umwelt zu sprechen. Interessanterweise schließt Schmidt so seine Nachbemerkung: „Wissenschaften liefern Modelle von und für Wirklichkeit“ (623).

     

    [29] Schmidt selbst stellt die Übertragbarkeit zwischen „Konstruktivismus und Neurobiologie“ in Frage (1994b: 592f). — Saxer (1993: 71) bezeichnet die vorliegende Isomorphie von explanans und explanan­dum (subjektivistische Mikroperspektive vs. Makro-Gegenstand Mediensystem) als „ungenügend", und resümiert schließlich (73), daß der Konstruktivismus unfähig sei, dem Mediensystem gerecht zu werden.

     

    [30] Medienangebote enthalten „ihre Bedeutung nicht in sich selbst [...], sondern [...] ihnen [werden] Bedeutungen von Kommunikanden attribuiert“. — Marcinkowski (1993: 110) geht in seiner „auto­poieti­schen“ Analyse des Systems Journalismus so weit, daß Information „eine rein systeminterne Behandlung von Ereignissen und Sach­ver­hal­ten“ ist. „Es gibt keine Information an sich, sondern nur die Beobachtung von Zuständen und Er­eig­nis­sen anhand eines Differenzschemas, wobei das Ergebnis der Beobachtung systemintern als Information be­han­delt wird.“

     

    [31] Damit sind meist die sog. „Massenmedien“ gemeint. Wegen der möglichen Begriffsunsicherheit ist die Dif­ferenzierung von Schmidt (1994b: 613) zu loben, der unterscheidet zwischen "Medien" als Mittel der Kom­munikation (Sprache), Angebote (Texte), Produtionstechniken (Computer) und Organisation/ Institution.

     

    [32] In diesem Zusammenhang wird z.B. untersucht, ob die häufige Darstellung von 2-Kinder-Familien in den populären telenovelas einen Einfluß auf die tatsächliche Familienstruktur Brasilien hat.

     

    [33] Man denke z.B. an die täglichen (insbes. Late-Night-) Talkshows mit ihrem gewaltigen Bedarf an Studio-Gästen als Interviewpartner, wie in der Harald-Schmidt-Show, deren Moderator — im Vorfeld auf dieses „Beschaffungs-Problem“ angesprochen — verkündete, notfalls werde man bislang allgemein unbekannte Leute eben als prominent erklären, zu Prominenten machen.

     

    [34] Zur Darstelung von Technikfolgen allg. vgl. zusammenfassend Kepplinger (²1993: 49). Spezieller z.B. das Buch von Rudi Holzberger Das sogenannte Waldsterben — Zur Karriere eines Klischees und seine Kritik durch Keßler (1995: 12).

     

    [35] Ein Phänomen, dem sich nicht nur Watzlawick (1981) widmet, sondern auch Kepplinger (²1993: 43).

     

    [36] vgl. Schenk (1987: 440f).

     

    [37] Bentele (1993: 159) bestreitet m.E. zu recht, daß dieses Charakteristikum „notwendigerweise an eine kon­struktivistische Position gekoppelt“ ist.

     

    [38] Hier wie noch öfter stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Übertragbarkeit von Theorien, wenn Schulz die gesamtgesellschaftliche Nützlichkeit von Reduktion auf semiotische und psychologische Er­kenntnisse gründet.

     

    [39] Hier klingt das Viabilitäts-Konzept durch.  Eine vergleichsweise geringe Bedeutung erkenntnis­theoreti­scher Probleme für die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis behauptet Kepplinger (1993: 122). Auf eine ähnliche Situation verweist Watzlawick (1981: 61) mit der praktischen Folgenlosigkeit neuerer Er­kenntnisse der Physik: „Es gibt keine sichere Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, sondern nur Grade der (probabilistischen) Wahrscheinlichkeit; die Zeit verläuft nicht notwendigerweise von der Ver­gangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft; der Raum ist nicht unendlich, sondern in sich zurückge­bogen.  An unserer Alltagsauffassung vom Wesen der Welt ändert dies gar nichts."

     

    [40] Synopsen von Ansätzen der Medienwirkungsforschung hat Merten (1994: 314, 326) erarbeitet.

     

    [41] Als Indiz dafür, daß es sich um keine „konstruktivistische“ Annahme handelt: Auch der „Realist“ Kepp­linger (²1993: 48) stellt das Kausalitäts-Paradigma in Frage und spricht vom „Einfluß der vorangegange­nen Berichterstattung auf die Entstehung der berichteten Ereignisse".

     

    [42] Zur Geschichte des Begriffs „Objektivität“ vgl. Streckfuss (1990), der die ursprüngliche Bedeutung als „finding the truth through the rigorous methodology of the scientist“ herausarbeitet gegen „mere neutrali­ty".

     

    [43] vgl. den Titel von Remnick (1996): Scoop. These days, when it comes to the media everyone's a critic.

     

    [44] In diesem Aufsatz eingeführt als „Ansatz“ mit „Theorieangeboten“ (127), dann Denkweise, „Modell“ und potentielles „Paradigma“ (134f).

     

    [45] Weischenberg bezeichnet dies, was „Konstruktivisten gut begründen und belegen“ könnten, als „Axiom“ — ein Satz also, der weder beweisbar ist noch eines Beweises bedarf.

     

    [46] Die Analogie basiert auf dem Wissen, daß menschliche Wahrnehmung durch die Interpretation (Bedeutungszuweisung, „Sinn-Konstruktion") elektrischer „Muster“ durch das Gehirn entsteht. Weder der auslösende Reiz noch die hervorgerufenen Erregung haben für sich genommen „Bedeutung".

     

    [47] vs. Allopoiesie; zur „poetisch“ inspirierten Genese des Begriffs vgl. Maturana (1980). — Die Selbst­referentialität des Journalismus illustriert z.B. Marcinkowski (1993: 109), der außerdem bemerkt, daß die zirkulären Veröffentlichungen nur im Extremfall wirklich autopoietisch sind.

     

    [48] Weischenberg beeilt sich, den Konstruktivismus vor dem Vorwurf eines Relativismus in Schutz zu neh­men. Vgl. dagegen die 'Rehabilitierung' (oder Relativierung?) des Relativismus durch Schmidt (1994b: 618).

     

    [49] Hier u.ö. sind zwei sprachliche Probleme erkennbar: ¹das Quasiverhalten von Organisationen ("die Medien“ tun dies und das): Der ursprünglich individuumorientierte Konstruktivismus ist mit der system­theoretischen Betrachtung schwer vereinbar (vgl. Saxer 1993). ²Außerdem wird „konstruieren“ offenbar verwendet im Sinne von „Medieninhalt anbieten, produzieren“, also nicht „Sinn“ oder „Bedeutung“ konstruieren. — Übrigens scheint bei W.s Argumentation (die unhaltbaren Angebote durch Medien in sozialistischen Ländern) jener Optimismus durch, der auch der „Libertarian Theory of the Press“ zugrundeliegt (Milton, Locke, Mill; vgl. Siebert 1959/65).

     

    [50] „Jeder ein Gatekeeper!", möchte man da zusammenfasssen. Allerdings offenbart sich an dieser Stelle, daß wir uns klammheimlich vom Ausgangspunkt entfernen: Vom Psychologischen, wonach tatsächlich jeder Einzelne (oder vielmehr das Gehirn) die „Ereignisse“ mit Be-Deutung füllt, hin zum Ereignis im journalistischen und publizitikwissenschaftlichen Sinne, welches entsprechend seines Nachrichtenwertes „bedeutend“ wird.

     

    [51] An dieser Stelle wurden wohl die Begriffe Objektivität und Realität verwechselt oder gleichgesetzt (ähnlich 133). Aus dem folgenden geht hervor, daß Objektivität als Art der Wiedergabe von Realität be­trachtet wird.

     

    [52] Weischenberg wiederholt diese Auslegung einer konstruktivismus-basierten „Verantwortlichkeit“ gegen „Absolutheitsansprüche und Wahrheitspostulate“ (132); zur Ethik vgl. Varela (1981: 309) und Watzla­wick (1981: 312); zur Ethisierung vgl. Saxer (1993: 72), der diese Neigung registriert und mahnt, daß dadurch die wissenschaftliche Gültigkeit nicht gesteigert werden könne.

     

    [53] Gegen diesen Begriff wendet sich Erbring (1993: 62), der es für irreführend hält, „Massen­kommu­ni­ka­tion überhaupt als Kommunikation begreifen oder definieren zu wollen".

     

    [54] Eine histor. Darstellung der Nachrichtenwert-Theorie findet sich in der Diss. von Staab (1990: 40-2).

     

    [55] Hier offenbart sich sprachlich mit dem o.g. Quasiverhalten (die „Wahrnehmung der Medien") eine pro­blematische Übertragung von Ergebnissen der Wahrnehmungspsycholgie (Schemabildung etc.) auf die Sy­stemtheorie im Zuge eines Analogieschlusses.

     

    [56] Was Weischenberg auch gar nicht bestreitet. Anderes pflegt z.B. Kepplinger (1993: 113 u.ö.) zu unter­stellen, vgl. FN 25.

     

    [57] Inwiefern wäre das denn unmöglich, wenn die objektive Wirklichkeit weiterhin als erkennbar angenom­men würde?

     

    [58] Weischenbergs Stichwort „Fiktionalität“ verlockt zu einem Exkurs in die Künste, in denen seit jeher das Verhältnis von Sein und Schein, von Traum und Wirklichkeit thematisiert wurde.

     

    [59] Diese Reduktion der Position auf ”Konstruktivismus vs. Realismus” scheint hier zweckmäßig und akzeptabel, auch wenn na­türlich interne Differenzierungen möglich sind und darüber hinaus alternative Journalismus-Konzepte wie der ”Expressionismus” (z.B. Kepplinger 1992; ²1993: 52f) unterschieden werden können.

     

    [60] Für Bentele folgt daraus eine ”ethische Norm”. Unklar bleibt, inwiefern der elaborierte Realismus eine Legitimation gegen Verzerrungs-Vorwürfe bildet: Gibt es keine Verzerrungen, weil Journalsiten über Medien die Welt so abbilden können, wie sie ist, oder sind die Verzerrungen Folge der als selbstverständ­lich angenommene ”Unschärfe” beim Abbilden?

     

    [61] Daß dem Konstruktivismus eine entsprechende Unterscheidung nicht eingangs zuteil wird, sondern erst als Alternative in der Zusammenfassung (159; 164), könnte den Eindruck erwecken, als wolle Bentele möglicherweise den Boden bereiten für seine eigene Synthese.

     

    [62] Dieser Vorwurf fällt tw. auf ihn selbst zurück, da es m.E. durchaus einen Unterschied macht, die Exi­stenz der Wirklichkeit zu verneinen oder lediglich ihre Unzugänglichkeit anzunehmen.

     

    [63] Diese hat sich so festgesetzt, daß sie auch in Dissertationen wie bei Karmasin (1993: 232, 234) auftaucht: „Kommunikation konstituiert, oder prägt die meisten sozialen Tatsachen — Kommunikation schafft Reali­tät [...] kondtituiert die massenmediale Kommunikation wesentlich die soziale Realität, ja die Welt als sol­che.“ — „Not All Problems are Communication Problems"!, möchte man da mit Windahl/Signitzer (1992) dazwischenrufen.

     

    [64] Mit eben dieser prinzipiellen Unterscheidbarkeit und der Tatsache, daß diese Möglichkeit im Alltag kei­neswegs ständig bewußt ist und angewendet würde, spielt z.B. René Magritte (1898-1967) in Bildern wie Ceci n'est pas une pipe.

     

    [65] Spitzfindigkeiten dieser Art sind m.E. ungeeignet, Inkonsistenzen des konstruktivistischen Ansatzes zu identifizieren. Was Bentele als Indiz für Selbstwidersprüchlichkeit hält und als „realistische“ Rechtferti­gung der Konstuktivisten darstellt, ist das legitime Bemühen, sich gegen Vorurteile wie das der Beliebig­keit zu verwahren, auf dem offenbar auch Benteles Argumentation beruht.

     

    [66] Dieser Versuch erscheint insbesondere fragwürdig, da gerade der von Bentele zitierte Konstruktivist Gla­sersfeld (1981: 18-21) auf die evolutionistischen Begriffe „Passen“ bzw. „Stimmen“ zurückgreift.

     

    [67] Vgl. Früh (1992: 73).

     

    [68] Eine dankenswerterweise offengelegte Einschränkung, die andernorts meist stillschweigend voraus­gesetzt wird.

     

    [69] Auftrag der Medien gem. BVG; GegendarstellungsR etc.

     

    [70] Den Unterschied zu dem „konventionellen“ Befragen beider Seiten sucht Haller offenbar in der Bezeich­nung als Tatsachenabgleichungsverfahren aufzuzeigen.

     

    [71] Es irritiert, wenn Haller hier die „vorläufige Gültigkeit“ dieser „als wahr identifizierten Aussagen“ be­tont, nachdem zuvor schon sämtlichen Versionen Gültigkeit zugesprochen wurde.

     

    [72] sim. Watzlawick (1981: 61).

     

    [73] Daß es sich dabei nicht um eine weitere Variation der traditionellen Forderung nach Trennung von Nachricht und Meinung handelt, wird erst in einer Fußnote der überarbeiteten Fassung des Aufsatzes deutlich, wo Haller (1994: 286) „Argumente“ definiert als „deutende Information“ und damit abgrenzt von Meinungen als „subjektiven Werturteilen". — Auch dort wird jedoch nicht hinterfragt, inwieweit die mediale Verbreitung von „Interpretation“ überhaupt zu rechtfertigen ist. Im übrigen vereint die hier aus­schließlich der „Argument"-Seite zugeordnete „Litanei der W-Fragen“ Elemente des Sachverhalts (Was?) und seiner Interpretation (Warum?). — Schließlich sei Gillesen (1981) genannt, der den „Wunsch, Tat­sachen unverfälscht kennenzulernen“ nicht erfüllbar hält durch „die Trennung der Tatsachen von den Meinungen": Bereits die Auswahl der mitzuteilenden Tatsachen beruht auf Meinung, und zweitens werden Tatsachen immer erst mittelbar mitteilbar, d.h. als „Bericht".

     

    [74] Eine solche Unterscheidung findet sich z.B. schon in dem 1800 veröffentlichten Essay des US-amerika­nischen Juristen und Schriftstellers Charles Brockden Brown über „The Difference between History and Romance"; vgl. die Darstellung von Frank (1991: 64f).

     

    [75]Diese Ziele journalistischer Recherche stellt Haller (1994: 286) noch deutlicher dar, indem er zwischen der Überprüfung von Aussagen bzw. Argumenten wie folgt unterscheidet: Bei ersteren solle die „Unstrittigkeit (= Gültigkeit) durch Konsens“ nachgewiesen, bei letzteren Plausibilität (= empirische und logische Stimmigkeit)“ erzeugt werden.

     

    [76] Haller modelliert also eine Art agenda-setting function der Medien im Sinne einer „Arbeitsteilung", bei der eine Vorverlagerung des Selektionsvorganges vom Rezipienten zum Sender postuliert wird. So ein­leuchtend die Parallele zwischen der Informationsverarbeitung des Individuums und dem „Vorverdauen“ der Nachrichtenströme durch gatekeeper auf den ersten Blick scheint, so fraglich wird sie, wenn bei der Übertragung auf die Praxis der (Massen-) Kommunikation die entscheidende Besonderheit der Botschaft konkretisiert werden muß. Dann gerät man von den abstrakten Differenzmerkmalen der Neurobiologie über anthropologische Konstanten der Wahrnehmungspsycholgie zum Nachrichtenwert, einem wesent­lich engeren Konzept also, daß auf sicherlich nicht allgemein konsensfähigen Nachrichtenfaktoren beruht. Auf welchem Wissen sollte die Fähigkeit des einzelnen Journalisten beruhen, Einstellungen und Erwar­tungen der einzelnen Rezipienten zu erahnen? Woher sollte realistischerweise die Vorstellung der Medi­en von ihrem Publikum stammen, aufgrundderen die Medien Funktionen des Publikums (nicht: für das Publikum) übernehmen könnten?

     

    [77] Dieser Erklärungsversuch ist fragwürdig: Selbst unter Annahme eines identischen Werte- und Normen­rahmens von Journalisten und Rezipienten bleibt unklar, ob Haller lediglich behauptet, daß (kulturell) „Fremdes“ vorzugsweise negativ dargestellt wird, oder ob das „Regelwidrige“ nicht passieren dürfe i.S. eines „Totschweigens“ durch die auf Stabiliserung bedachten Medien. Beides widerspräche der zuvor ge­troffenen Annahme, daß es gerade die Unterschiedlichkeit von Ereignissen sei, die ihr Berichtetwerden begünstige.

     

    [78] Zu Gast im konstruktivistischen Hause bricht Haller (1994: 290) übrigens an dieser Stelle ab, und die Überreste seiner Vorwürfe sind zudem deutlich moderater formuliert.

     

    [79] Als ein skurriles Beispiel sei auf die Vorwürfe hingewiesen, die dem Fernsehen nach der Übertragung ei­ner politischen Veranstaltung in Rheinland-Pfalz gemacht wurden: Dabei wurde gezählt, wie oft die bei­den Kandidaten im Bild zu sehen waren (vgl. Wedmann 1996).