Beiträge zum Thema "Kreativität"

Karl-Heinz Flechsig

Es gibt drei Gründe, diese Beiträge zu veröffentlichen, die ich in den Jahren 1976 und 1985 zum Thema "Kreativität" in Vortragsform dargestellt habe. Zum einen möchte ich sie überhaupt im Zusammenhang einer begrenzten Öffentlichkeit zugänglich machen. Sodann möchte ich darauf hinweisen, daß das Thema neue Aktualität zu bekommen verspricht. Und schließlich möchte ich einen persönlichen Entwicklungsprozeß dokumentieren. Vielleicht - und dies wäre dann der vierte Grund - möchte ich mir selbst Mut machen, das Thema erneut zu bearbeiten.

Öffentliche Erziehung und Kreativität

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Der Bitte, im Rahmen der Internationalen Musischen Tagung zum Thema "Öffentliche Erziehung und Kreativität" zu sprechen, bin ich vor allem aus zwei Gründen gefolgt. Zum einen habe ich vor nunmehr 10 Jahren dazu beigetragen, diesen Begriff in die deutsche Pädagogik einzubringen und fühle mich insofern gewissermaßen für sein Schicksal mitverantwortlich, dafür daß er nicht mehr Mißverständnisse erzeugt als er Aufklärung leistet. Zum anderen veranlaßt mich die derzeit in der Bundesrepublik Deutschland verbreitete Tendenz, unser Bildungswesen in ein reines Auslesesystem zu verwandeln, dazu, einen größeren Kreis von Kunsterziehern an ihre langfristige Aufgabe zu erinnern. Daß ich zudem gern in die Stadt zurückkomme, in der ich drei Jahre gearbeitet und gelebt habe, mögen Sie als weiteres Motiv ansehen.

Der Begriff "Kreativität" ist vor ungefähr 10 Jahren in die pädagogische Diskussion unseres Landes eingeführt worden. Es war dies zu Anfang einer Periode bildungsreformerischer Hoffnungen, Vorschläge und Experimente, die sich vom Vorschulbereich bis in den Hochschulbereich erstreckten - man denke an die Gründung der Universität Konstanz - und die sich nicht auf die Entwicklung neuer Organisationsformen beschränkten, sondern die auch neue Akzente bezüglich der Bildungsziele und Bildungsinhalte setzten. Diese Akzente erschienen nur denjenigen neu, die sich in der Geschichte pädagogischer Ideen nicht auskannten; für die anderen waren es teilweise wohlvertraute Prinzipien und Konzepte, die da vorgetragen wurden.

Was nämlich damals mit dem Wort "Kreativität" zum Ausdruck gebracht wurde, ließ sich erkennen als Fortführung und teilweise Wiederbelebung von erzieherischen Zielvorstellungen, die bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa ausgesprochen worden waren. Es war die Grundvorstellung, daß das Kind nicht oder nicht nur zum Bürger, sondern zum Menschen gebildet werden solle, daß nicht nur seine für die Erhaltung der Gesellschaft erforderlichen Fähigkeiten und Haltungen auszubilden seien, sondern daß seine individuelle Eigentümlichkeit, seine personale Identität der Bildung bedarf. Mehr noch: Dies sei keineswegs nur ein Anspruch der oberen Gesellschaftsschicht, sondern ein Anspruch aller Bürger, dem der Staat nachkommen solle.

Um welche Erziehungsvorstellungen ging und geht es, wenn wir im Zusammenhang von Erziehung - vor allem von Kunsterziehung - den Begriff "Kreativität" verwenden?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich einen kurzen Blick in die Geschichte tun und dabei jene erste pädagogische Bewegung zu Beginn unseres Jahrhunderts in Erinnerung rufen, in der der Zusammenhang von Gesellschaftsreform, Schulreform und Kunsterziehung zum ersten Mal entfaltet wurde.

Herman Nohl, der die Geschichte dieser pädagogischen Bewegung nachgezeichnet hat, schreibt darüber einleitend:

"Wenn man die pädagogische Bewegung in Deutschland verstehen will, wird man sie in den allgemeinen Zusammenhang der kulturellen Bewegungen sehen müssen, in dem sie mit allen ihren Einzelströmungen selbst doch wieder nur eine Welle ist, eine Bewegung neben anderen größten historischen Ausmaßes, dem Sozialismus, der Inneren Mission, der Frauenbewegung, der sozialpolitischen Bewegung, um nur die wichtigsten zu nennen, die seit der französischen Revolution und seit der Deutschen Bewegung Europa in Atem halten".
Eingebettet in diesen historischen Prozeß findet in dieser Zeit eine Umorientierung erzieherischer Zielvorstellungen und Konzeptionen statt, die in verschiedenen Bereichen ihre eigentümliche Ausbildung erfuhren: als Kunsterziehungsbewegung, Arbeitsschule, Erlebnisschule, Einheitsschule, Wohlfahrtsbewegung, Jugendbewegung, Volksbildungsbewegung.

Bei aller Vielfalt der Ansätze zeichnet sich diese erste pädagogische Reformbewegung durch zwei zentrale Erziehungsziele aus: Erziehung zum schöpferischen Ausdruck und Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit.

Was den ersten Punkt anbelangt: - Erziehung zum schöpferischen Ausdruck - so ging es darum, eine Erziehung, die vorwiegend auf Auswendiglernen und Reproduzieren begrifflichen Wissens ausgerichtet war, abzulösen durch eine solche, in deren Mittelpunkt der freie Ausdruck von Gefühlen, Wertungen und Vorstellungen steht. Die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit steht somit im Vordergrund wenigstens der ersten Phase der pädagogischen Reformbewegung.

Was den zweiten Aspekt anbelangt: - Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit - so trat dieser vor allem in der zweiten Phase der pädagogischen Reformbewegung hervor. Hier ging es darum, Erziehungsmuster abzubauen, in denen gegeneinander und auf Kosten der Mitschüler gelernt und gearbeitet wurde und neue Formen des Zusammenarbeitens und Zusammenlebens zu entwickeln.

Ich werde mich im folgenden allerdings weitgehend auf das erste Erziehungsziel beziehen, das mit Begriffen wie "Selbsttätigkeit" oder "Entwicklung der Kräfte" verbunden war. Es beruht auf der anthropologischen Grundannahme, daß jedes Kind mit der Fähigkeit zu schöpferischem Tun auf die Welt komme und erst durch eine falsche Erziehung diese Fähigkeit verliert. Alfred Lichtwark hat dies auf dem Zweiten Kunsterziehungstag in Weimar im Jahre 1903 in seinem Vortrag über die Einheit der künstlerischen Erziehung wie folgt formuliert:

"Die Ausdrucksfähigkeit ist eine natürliche Kraft und Gabe des Kindes, die es von der ersten Dämmerung des Bewußtseins an besitzt und die es unbewußt entwickelt, bis es zur Schule kommt. In der Schule ist mit dieser Kraft und Fähigkeit praktisch noch kaum gerechnet worden. Sie hat den großen Reichtum, den das Kind als sicheren und entwicklungsfähigen Besitz mitbringt, bisher nicht allein ungenutzt gelassen, sondern stets in kurzer Zeit zerstört. Sie behandelt das Kind, als käme es mit dem Eintritt ins Schulzimmer in eine neue Welt. Sie setzt nicht fort, sondern bricht ab und fängt etwas Neues von vorn an. Was dabei zugrunde geht, hat sie - selbst wenn sie es wollte - im ganzen Verlauf des Schullebens nicht die Macht zu ersetzen. In der ersten Schulzeit sollte sie gar nichts Neues vornehmen, und nur bemüht sein, die Entwicklungskeime, die das Kind mitbringt, Wurzeln schlagen zu lassen in dem neuen Boden. Geschieht es nicht oder bleibt es - wie bisher - beim Gegenteil, so wird es nicht gelingen, den Typus des freien, freudigen, aufgeweckten Menschen zu erziehen, über den Philistertum und Duckmäusertum keine Macht haben".
Wie Lichtwark, so bemühten sich zu dieser Zeit der Ersten Pädagogischen Reform eine große Zahl anderer Pädagogen, die öffentliche Erziehung nach diesem Prinzip "Erziehung zur Ausdruckfähigkeit" zu gestalten: Heinrich Wolgast für den Literaturunterricht, Martin Luserke für die darstellende Kunst, Fritz Jöde für die Musik und Rudolf Bode für die Gymnastik, um nur einige der bekannteren Namen zu erwähnen.

Auch wenn es uns heute oft schwerfällt, die teilweise pathetischen Formulierungen ohne Widerspruch zu akzeptieren, so wird uns doch die Stoßrichtung des neuen Erziehungsverständnisses deutlich: Für ein Anknüpfen an die natürliche Ausdrucksfähigkeit des Kindes und deren Weiterentwicklung. Gegen eine Schule, die in der bloßen Rezeption des Stoffes ihr höchstes Ziel sieht. Für eine allseitige Erziehung, die auch Gefühl und Willen einschließt, gegen eine einseitig ntellektuell-gedächtnisorientierte Bildung. Wenn man so will, könnte man sagen: In der Kunsterziehungsbewegung hat das Prinzip einer Erziehung zur Kreativität zum ersten Mal eine deutlichere Ausformulierung und Anwendung erfahren. Dort ist aber auch zum ersten Mal der Konflikt erkannt worden, in den dieses Prinzip gerät, wenn es im Rahmen des bestehenden Schulwesens realisiert werden soll.

Dies kommt in einem Buch zum Ausdruck, das der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt im Jahre 1905 schrieb, wo es heißt:

"Unsere Schüler lernen das hohe Glück, die Freude und den Stolz wahrer Arbeit kaum noch kennen. Den ganzen Tag, das ganze Jahr stehen sie unter dem Zwange streng begrenzter Pensenzuteilung und behalten weder das Recht noch die Zeit zu eigener Wahl und eigener Behandlung ihrer Arbeit. Es ist der außerordentlichen Widerstandskraft und Elastizität jugendlicher Geister zu verdanken, daß sie unter diesem Zwange nicht völlig verkümmern und nicht eine lebenslängliche Arbeitsscheu aus der Schule ins Leben tragen.

Ich halte es auch für einen der bedauerlichsten Mißgriffe, daß unsere öffentliche Pädagogik Spiel und Arbeit durch einen gewaltsamen Strich trennt, anstatt das Spiel anmutig zur Arbeit hinüberzuleiten, so daß die Kinder "spielend" die Arbeiten überwinden lernen. Daher kommt es denn, daß Kinder, die selbst im ernsteren Spiele ausdauernde Freudigkeit hatten, in unseren Schulen so schnell stumpf und träge werden. Wir fragen viel zu wenig, was dem Schüler Freude macht, kommen ihren Neigungen und Bedürfnissen viel zu wenig entgegen. Ja, es scheinen düstere Schultyrannen geradezu ihr Genüge darin zu finden, dem Kinde das aufzuzwingen, was es am meisten ablehnt."

Soweit Gurlitt. Es könnte scheinen, als ob das Erziehungsziel der Kreativität mit den Bedingungen der öffentlichen Erziehung, mit ihrer einseitigen Orientierung am Stoffpensum und ihrem Zwang zu fremdbestimmter Arbeit nicht vereinbar ist. Oder gilt dies nur für den Zeitraum um die Jahrhundertwende?

Um dieser Frage weiter nachzugehen, wollen wir nun einen Blick auf die Zweite Pädagogische Reformbewegung werfen, die Anfang der sechziger Jahre begann. Wie ihre Vorläuferin war auch sie eingebettet in andere gesellschaftliche und politische Bewegungen, die Anti-Vietnam-Bewegung, die Studentenbewegung und die Frauenbewegung.

Die von dieser Zweiten Pädagogischen Reformbewegung vertretenen Prinzipien werden Sie kennen. Sie sind mit den Begriffen "Antiautoritäre Erziehung", "Entschulung der Schule" und "Herstellung von Chancengleichheit" verbunden. Diese Zweite Pädagogische Reform läßt insofern ebenso wie ihre Vorgängerin eine antiautoritär-elitäre und eine demokratisch-egalitäre Richtung erkennen. Die Prinzipien richteten und richten sich im besonderen gegen eine Form der öffentlichen Erziehung, in der Selbstverwirklichung der Schüler, individuelle Interessen, soziale Beziehungen und emotionale Stabilität vom Auslese- und Leistungsdruck und vom zum Selbstzweck geratenen Fächerkanon verdrängt oder gar unmöglich gemacht werden.

Auf den Bereich der Kunsterziehung hatte die Zweite Pädagogische Reform einen deutlichen Einfluß, der ebenfalls in zwei Richtungen ging: eine antikonventionell-subjektivistische Richtung, in der die Selbstdarstellung des Individuums im Mittelpunkt stand und eine umweltorientiert-gesellschaftsbezogene Richtung, der es vor allem darum ging, künstlerisch-ästhetisches Lernen und Handeln zu integrieren mit Prozessen gesellschaftlich-politischer Bewußtseinsbildung. Daß dies nicht selten auf Kosten der handwerklich-technischen wie auch der historischen Dimension der Kunsterziehung ging, brauche ich nicht näher zu erläutern. Auch die Gefahr des Zerredens künstlerischen Ausdrucks war ein Preis für die neuen Impulse.

Die Zweite Pädagogische Reformbewegung belebte nun nicht nur Erziehungsziele wieder, die wir mit der Idee der Kreativität verbinden, sondern sie brachte auch die Übernahme des Wortes "Kreativität" aus dem Englischen mit sich. Mit dem Begriff "Kreativität" verbanden sich jedoch von Anfang an zwei unterschiedliche Sichtweisen, eine psychologische und eine pädagogische.
Die psychologische Begriffsverwendung verstand unter Kreativität ein Persönlichkeitsmerkmal, das vor allem die besondere Fähigkeit einschloß, unübliche Wort- und Ideenassoziationen herzustellen, aber auch möglichst viele Assoziationen zu bilden. Als Originalität und Flüssigkeit wurden diese Fähigkeiten bezeichnet. Sie wurden allerdings nicht als angeborene Sonderbegabungen, sondern als weitgehend schulungsfähig begriffen. Kreativitätstests schossen aus dem Boden und fanden ihren Eingang in manche Illustrierte. Daneben wurden spezielle Trainingsformen entwickelt, die wie die Methode des "brainstorming"  Kreativität fördern sollten. Vor allem Werbeleute machten davon Gebrauch, und seit dieser Zeit finden wir einen neuen Typ von Werbung vor.

Das Pädagogische Begriffsverständnis von Kreativität beschränkte sich nicht auf diesen individualpsychologischen Aspekt, sondern bezog sozialpsychologisch anthropologische, gesellschaftliche, kulturelle, ethische und natürlich auch didaktische und methodische Aspekte mit ein. Ich selbst habe damals versucht, den Begriff "Kreativität" in seiner für die Pädagogik charakteristischen Komplexität zu fassen. Leider kann ich an dieser Stelle nur eine kurze Begriffsskizze anbieten und muß diejenigen, die an einer näheren Erläuterung interessiert sind, auf einen Aufsatz verweisen, der in dem von Flitner und Scheuerl bei Piper erschienenen Sammelband mit dem Titel "Einführung in pädagogisches Sehen und Denken" erschienen ist.

Was den anthropologischen Aspekt anbelangt, so habe ich diesen mit den bereits von Schleiermacher für die Pädagogik entwickelten Begriffspaar "Rezeptivität und Spontaneität" angedeutet und darauf verwiesen, daß es zur Eigentümlichkeit der Gattung homo sapiens gehört, nicht nur von der Umwelt beeinflußbar zu sein, sondern diese auch planmäßig und bewußt beeinflussen und verändern zu können.

Bezüglich des kulturtheoretischen Aspekts habe ich darauf hingewiesen, daß für ihn sowohl das Bewahren als auch das Verändern konstitutiv ist und daß deshalb die Fähigkeit zu beidem in der Erziehung angelegt sein muß.

Hinsichtlich des sozialpsychologischen Aspekts habe ich hervorgehoben, daß Erziehung zur Kreativität in die Spannung von Konformismus und Nonkonformismus führt, von Mitläufertum und Außenseiterposition.

Auch die ethischen Prinzipien von Freiheit und Regel habe ich als Rahmenbedingungen der Erziehung zur Kreativität benannt: Gehorsam, Zucht und Pflicht auf der einen, Selbstverwirklichung, Autonomie und Entscheidung auf der anderen Seite.

Und schließlich habe ich - neben zwei individualpsychologischen Aspekten - auch die für den schulischen Bereich in besonderer Weise bedeutsamen didaktischen und methodischen Aspekte mit den Begriffspaaren "Geschlossenheit-Offenheit" und "Selbsttätigkeit-Leitung" erwähnt und dabei geschrieben:

"Zunächst zur didaktischen Dimension, die ich mit den Begriffen "Offenheit" und "Geschlossenheit" bezeichnet habe: Unterrichtsziele und -inhalte von geschlossener Charakteristik, wie die Beherrschung eines klassischen Begriffssystems, der Wiedergabe von Lehrsätzen, der Anwendung von Grammatiken, der Anwendung spezifischer Techniken auf vorgegebenes Material, zielen auf konformes Verhalten ab und können Kreativität nur mittelbar stützen. Unterrichtsziele und -inhalte mit offener Charakteristik, wie die freie Gestaltung sprachlicher, symbolischer und materieller Produkte, Modellentwürfe und Hypothesenbildung haben demgegenüber direkte Bezüge zu kreativem Verhalten".
Und zur unterrichtsmethodischen Dimension, die ich mit den Begriffen "Selbsttätigkeit" und "Leitung" gekennzeichnet habe:
"Unterrichtsverfahren, bei denen Fremdkontrolle und Fremdsteuerung im Mittelpunkt stehen, bei denen der Lehrer oder andere Instanzen über Auswahl der Themen, Abfolge der Schritte und Beurteilung der Ergebnisse allein entscheiden, lassen für die Ausbildung von Kreativität wenig Raum. Methoden, bei denen die Lernenden an diesen Funktionen beteiligt werden, wie beispielsweise entdeckenlassende Lehrverfahren, erhöhen demgegenüber die Chance der Kreativität".
Diese Zwischenbilanz, die ich bisher vorgetragen habe, könnte den Eindruck erwecken, daß ich die Zweite Pädagogische Bewegung, die in den sechziger Jahren begann, für beendet halte. Dies wäre ein Mißverständnis. Zwar bin ich der Auffassung, daß die großen ideologischen Schlachten dieser Zweiten Pädagogischen Reform geschlagen sind; hinsichtlich der Konkretisierung und Realisierung der dabei diskutierten Prinzipien stehen wir eher erst am Anfang, wenn wir auf Breitenwirkungen und weniger auf spektakuläre Einzelfälle achten.

Diese Auffassung werden manche unter Ihnen für einen unbegründeten Optimismus halten, angesichts der Situation in der Bundesrepublik, die derzeit im wesentlichen von bürokratischen Maßnahmen bestimmt werden, die allerdings eher Hilflosigkeit verraten, Hilflosigkeit vor allem angesichts quantitativer Folgen, die sich im Laufe dieser Zweiten Pädagogischen Reform eingestellt haben. Es wird noch einige Zeit dauern, bis man gelernt hat, Bildungs- und Lernwillen als Bürgerrecht zu respektieren und nicht mit der Vorstellung von der gelben Flut zu verbinden.

Meine Annahme, daß wir erst am Anfang einer Realisierung der Prinzipien der Zweiten Pädagogischen Bewegung auf breiter Front stehen, stützt sich in erster Linie auf internationale Entwicklungen, wie sie vor allem in den pädagogischen Foren von UNESCO, OECD und Europarat vorangebracht werden. Die dort vertretenen Konzepte des lebenslangen Lernens und der offenen Erziehung lassen sich durchaus als Vermittlung sowohl der antiautoritär- emanzipatorischen als auch der demokratisch-egalitären Prinzipien der Zweiten Pädagogischen Reform interpretieren.
In der von der UNESCO herausgegebenen Grundsatzschrift aus dem Jahre 1972 findet sich der Begriff "Kreativität" eingebunden in den Kanon weltweiter Erziehungsziele. Es heißt dort: "Wir sehen die allgemeingültigen Erziehungsziele in einem wissenschaftlichen Humanismus, in der Entwicklung der Vernunft, in der Kreativität, im Geist der sozialen Verantwortlichkeit, in der Suche nach Ausgewogenheit von intellektuellen, ethischen, emotionalen und physischen Seiten der Persönlichkeit und in einer positiven Wahrnehmung der historischen Aufgabe der Menschheit".

Mir scheint, daß diese Integration des Erziehungsziels der Kreativität in einen Kanon von ähnlich gewichtigen anderen Zielen uns weiter führen kann als eine Übergewichtung. Gerade wenn man - wie ich es versucht habe zu tun - die historische Entwicklung dieses Erziehungsziels betrachtet, wird man einsehen müssen, daß es in ein produktives Verhältnis gebracht werden muß mit den Erziehungszielen der Gemeinschaftsfähigkeit. Einseitiges Verfolgen des Erziehungszieles der Kreativität endet zu leicht in extravaganten Selbstdarstellungen und asozialer Selbstüberschätzung. Gerade in Deutschland ist die Verwechslung von asozialem Verhalten mit Genialität und Führungseigenschaften leider chronisch.

Für den Bereich der Kunsterziehung bedeutet dies, daß die Entwicklung und Pflege des individuellen schöpferischen Ausdrucks gebunden sein muß an sozial vermittelte Regelsysteme, die zwar weiterentwickelt, nicht aber durch private Willkürakte einfach außer Kraft gesetzt werden können. Zu diesen Regelsystemen gehören zum einen Regeln technischer Zweckmäßigkeit, die handwerklich zu beherrschen sind, zum anderen aber auch Regeln vernünftigen Diskurses, um mit anderen über den Prozeß und das Produkt künstlerischen Ausdrucks sprechen zu können. Fehlen erstere, so bleibt am Ende das ästhetische Geschwafel, fehlen letztere, bleibt es beim sprachlosen Gewerkel. Beides mögen vielleicht verbreitete Erscheinungsformen der Kunstszene sein, für die Kunsterziehung müssen sie schon deshalb unfruchtbar bleiben,  weil für diese die Wechselwirkung von Tun und sprachlicher Besinnung unabdingbar ist, wenn Lernen stattfinden soll. Das Programm dieser Tagung läßt erwarten, daß beide Aspekte zur Geltung kommen werden. Ich glaube auch nicht, daß die Verständigung von Kunsterziehern darüber schwierig ist, daß und auf welche Weise die Vermittlung von Kreativität und Gemeinschaftsfähigkeit im konkreten Fall vollzogen werden kann. Die Schwierigkeiten dürften beginnen, wenn beide Ziele - Kreativität und Gemeinschaftsfähigkeit - im Bereich unserer derzeitigen Schule realisiert werden sollen.

Das Thema meines Vortrags lautet "Öffentliche Erziehung und Kreativität". Was die Entstehung und Bedeutung des Begriffs "Kreativität" und sein relatives Gewicht als Erziehungsziel anbelangt, so hoffe ich, gewisse Orientierungspunkte gegeben zu haben. Was die Frage der Realisierbarkeit von Kreativität im System der öffentlichen Erziehung betrifft, so  habe ich bis jetzt wenig ermutigende Bemerkungen am Rande gemacht. Deshalb will ich zum Schluß noch etwas systematischer auf diesen Punkt eingehen.

Ich erwähnte vorhin bereits, daß - als Folge oder nicht sei offen - im Verlaufe der Zweiten Pädagogischen Reformbewegung ein rasches Anwachsen von Bildungsbedürfnissen festzustellen war und ist. Immer mehr Bürger möchten für sich oder für ihre Kinder von immer mehr öffentlicher Erziehung Gebrauch machen. Dies führt logischerweise auch zu einer Kostenerhöhung, d. h. ein immer größerer Anteil am Bruttosozialprodukt müßte für das Bildungswesen ausgegeben werden. Auch wenn die Bundesrepublik im internationalen Vergleich noch längst keine Spitzenstellung erreicht hat, so ist doch eine obere Grenze erkennbar. In dieser Situation gibt es mehrere Lösungen, die von verschiedenen Gruppen und Personen verfolgt werden. Eine Lösung wäre die bloße Fortschreibung des bisherigen Zustands unseres Bildungswesens verbunden mit einer Festschreibung des numerus clausus im Hochschulbereich und seiner Verlängerung in den Sekundar- und Primarbereich. Bei dieser Lösung - und sie scheint zur Zeit von unseren Bildungsbürokratien favorisiert zu werden - mißrät das Bildungssystem jedoch zum Auslesesystem, d. h. es findet eine radikale Systemveränderung statt, die vermutlich nicht mit unserer Verfassung zu vereinbaren ist, ganz abgesehen von der humanitären Seite und den hohen sozialen Folgekosten, die zu erwarten sind, wenn Millionen von Bürgern in ihren frühen Jahren zum Versager gestempelt werden. Nicht alles läßt sich mit Alkohol und Valium reparieren.

Eine andere Lösung würde darin bestehen - und diese Lösung wird im internationalen Bereich zunehmend befürwortet -, daß die Dauer der öffentlichen Erziehung im Primar- und Sekundarbereich I auf etwa 10 Pflichtschuljahre für alle ausgebaut und im Sekundarbereich die berufliche und die allgemeine Bildung integriert oder gleichberechtigt gestaltet wird. Verbunden ist dies mit dem Ausbau der Erwachsenenbildung und dem Studium neben dem Beruf. "Lebenslanges Lernen" ist hierfür das Stichwort. Dabei rechnet man damit, daß auf diese Weise das Lernangebot den speziellen Lebens- und Berufsinteressen besser angepaßt werden kann, und daß aufgrund der größeren Lebens- und Lernerfahrung ein höheres Maß an Selbsttätigkeit der Lerner vorausgesetzt werden darf, was sich kostensenkend auswirken dürfte. Ansätze hierfür gibt es bereits. Ein Beispiel ist die "Open University" in Großbritannien, an der bereits jetzt über 50.000 Studenten eingeschrieben sind, die größtenteils neben dem Beruf studieren und Grade erwerben.

Ich selbst unterstütze diese zweite Lösung als die humanere, demokratischere und wahrscheinlich auch weniger kostspielige, wenn man alle sozialen Folgekosten zusammen nimmt. Da es in der Bundesrepublik gute Voraussetzungen gibt, beispielsweise eine gut funktionierende Erwachsenenbildung, eine Fernuniversität und Versuche mit dem Fernstudium im Medienverbund sowie mit einer Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung im Sekundarbereich II, halte ich sie auch für mittelfristig realisierbar.

Dies aber sind nur die institutionellen Voraussetzungen. Über die personalen Voraussetzungen wäre noch zu sprechen, und dies sind im besonderen relativ früh anzusiedelnde Erziehungsprozesse, die darauf ausgerichtet sind, eigene Interessen entwickeln und formulieren zu können und in der Lage zu sein, den eigenen Lernprozeß weitgehend selbständig und selbsttätig zu steuern. "Erziehung und Kreativität" in diesem wiederum vom historischen Wandel gekennzeichneten Sinne wäre die Voraussetzung dafür, daß ein Wandel unseres öffentlichen Bildungswesens im Sinne der zweiten Lösung gelingt. Wir haben es also mit einem wechselseitigen Voraussetzungsverhältnis zu tun: Das System der öffentlichen Erziehung muß die Voraussetzung dafür bieten, daß Erziehung zur Kreativität möglich ist, Erziehung zur Kreativität ist die Voraussetzung dafür, daß die öffentliche Erziehung durch ein System geleistet wird, das der historischen Situation gerecht wird.

Ich will nun noch ganz kurz skizzieren, welche Perspektiven sich für eine Kunsterziehung ergeben, die im Sinne selbsttätigen Lernens und interessenspezifischer Orientierung wirken will.
Sie wird sich zunächst auf ihre besseren Traditionen besinnen und sich dem Zwang widersetzen, einseitig Auslesefunktionen zu übernehmen. Was käme heraus, wenn ein Kind, das im Musikunterricht ein Lied vorsingt, dabei nur noch daran denkt, seinen Abiturnotendurchschnitt über die für den numerus clausus kritische Grenze zu heben, wenn im Kunstunterricht nur noch solche Aufgaben gestellt werden dürfen, bei denen im Zweifelsfalle die Benotung juristisch nachprüfbar ist? Mein Rat in dieser Situation: Wenn Sie Noten geben müssen, geben Sie gute Noten, heben Sie die positiven Aspekte der Leistung hervor, formulieren sie Kritik so, daß sie ermutigend wirkt, lösen Sie Disziplinprobleme nicht durch Vergabe schlechter Noten. Auch Sie möchten nicht, daß Sie bei jeder kleinen Übertretung einer Verkehrsregel gleich in die Flensburger Kartei eingetragen und dem Verlust des Führerscheins nähergebracht werden. Nutzen Sie stattdessen die Möglichkeiten des sozialen Verhaltenstrainings, wie wir sie in der beruflichen und außerberuflichen Weiterbildung schon lange kennen, um ein positives Lern- und Arbeitsklima zu sichern.

Achten Sie weiterhin darauf, daß Ihre Aufgabenstellung die Möglichkeit bietet, daß möglichst verschiedenartige individuelle Begabungen und Neigungen zur Geltung kommen können, und achten Sie darauf, daß diese Begabungen und Neigungen zu wechselseitiger Förderung und Unterstützung, nicht aber zur wechselseitigen Verdrängung und Unterdrückung wirken.

Und schließlich: Fördern Sie alle Bemühungen zu selbsttätigem Lernen. Hausaufgaben müssen nicht zur bloßen Beschäftigungstherapie ausarten; sie können, wenn man ausführlich über Arbeits- und Informationstechniken spricht und wenn man entsprechende Fristen einräumt, um auch komplexere Probleme zu lösen, der Gewöhnung an selbsttätiges Lernen dienen. Dies gilt auch für Kleingruppenarbeit im Unterricht, die auch dann ihren guten erzieherischen Sinn hat, wenn man hinterher nicht die Einzelbeiträge auseinanderdividieren kann.

Wie dies alles in Ihren Fächern und in den Klassen, die Sie unterrichten, aussehen kann, wissen Sie besser als ich. Ich hoffe, daß Sie während dieser Tagung sich wechselseitig anregen und ermutigen, im Sinne einer Erziehung zur Kreativität weiterzuwirken, um die öffentliche Erziehung vor einer Fehlentwicklung zu bewahren.

Ich habe mir gestern schon die Ausstellung von Schülerarbeiten in der Stefanschule angesehen. Sie ist eine beeindruckende Dokumentation dessen, was Kinder lernen und wie vielfältig sie sich ausdrücken können. Ich nehme sogar an, daß sie mit Freude gearbeitet und daß sie mannigfache Formen der Zusammenarbeit gefunden haben. Ob sie besser waren als andere und welche Noten sie bekommen haben, hat sie dabei hoffentlich wenig interessiert. Kunsterziehung in diesem Sinne könnte ein Beispiel geben für öffentliche Erziehung überhaupt. Ihrer Tagung wünsche ich einen guten Verlauf.


Grundmuster schöpferischen Tuns

Als ich mich vor 20 Jahren erstmals intensiver mit dem Thema Kreativität befaßte, da geschah dies im Zusammenhang der beginnenden Bildungsreform. Eines ihrer Motive bestand nämlich darin, schulisches Lernen nach dem Vorbild industrieller Produktionsweise umzugestalten. Die Schule sollte so durch rationellere und effektivere Wissensvermittlung dem kulturellen und technologischen Wandel besser entsprechen. Dieses Motiv barg nach meiner damaligen Ansicht die Gefahr in sich, daß schulisches Lernen einseitig von Gesichtspunkten der Standardisierung, der Uniformität und des rezeptiven Verhaltens bestimmt würde. Demgegenüber wollte ich darauf verweisen, daß kultureller und technologischer Wandel immer auch Spontaneität, Originalität und schöpferische Kräfte verlangt, wenn er vom Menschen nicht nur als Schicksal, sondern als zu gestaltende Wirklichkeit aufgefaßt werden soll.

Vor allem aber habe ich mich darum bemüht, darauf hinzuweisen, daß Erziehung zur Kreativität nicht nur eine Frage der Lehr-Lerntechnik ist, sondern daß sie Vorentscheidungen in bezug auf  anthropologische, kulturelle, soziale, ethische und personale Grundannahmen beinhaltet.
Zehn Jahre später habe ich mich dann aus Anlaß einer Tagung von Kunsterziehern zum zweiten Mal ausführlicher zum Thema "Kreativität" geäußert. Es war zu einer Zeit, da die ursprünglich von Motiven der Demokratisierung und Rationalisierung getragene Bildungsreform in eine bürokratische umschlug. Es war die Zeit, in der beispielsweise die Bildungsverwaltungen mit Hilfe von Normbüchern alle schulischen Wissensinhalte in eine Form zu bringen versuchten, die in erster Linie objektive Meßbarkeit der Leistung versprach und damit Schulen einseitig in Ausleseeinrichtungen umzugestalten. In dieser Situation warb ich dafür, einen Teil der Unterrichtsfächer, nämlich die sogenannten musischen Fächer, von diesem Vorhaben freizuhalten, um wenigstens hier Inseln oder Reservate der Kreativität zu erhalten.

Offensichtlich schickt es sich so, daß ich in bezug auf das Thema Kreativität einem Zehnjahres-Rhythmus unterworfen bin. Aber wenn ich mich heute wieder dem Thema zuwende, so tue ich dies nicht mehr in der ängstlichen Besorgtheit, durch meinen Beitrag in einen geschichtlichen Prozeß eingreifen zu müssen. Vielmehr bin ich mittlerweile unbesorgt, daß es meiner Botschaft nicht bedarf, um den schöpferischen Kräften des Menschen Geltung zu verschaffen, denn sie sind ein Teil der Schöpfung selbst und verschaffen sich von selbst Geltung. Was mich dabei bewegt, ist die zunehmende Einsicht, daß zumindest in unserem Kulturkreis zwei ziemlich deutlich unterscheidbare Grundmuster des Schöpferischen verbreitet sind - sowohl als Deutungsmuster als auch als Handlungsmuster -, die eine Unterscheidung und Herausarbeitung verdienen. Deshalb habe ich die Einladung zu dieser Tagung dankbar angenommen, gibt sie mir doch Gelegenheit, diese meine Einsicht mit Ihnen zu erörtern.

Bevor ich den beiden Grundmustern einen Namen gebe, möchte ich Sie mit Hilfe eines Vergleichs in den für mich zentralen Sachverhalt einführen. Es handelt sich um den Vergleich mit dem Bereich der Stadtarchitektur, wo sich ein Wandel der Auffassungen von der tabula-rasa-Architektur hin zur Entwicklungs-Architektur vollzieht.

Nach dem zweiten Weltkrieg herrschte in der Stadtarchitektur lange Zeit deutlich die Vorstellung vor, daß es besonders günstig ist, wenn man auf der grünen Wiese oder auf einem durch Bomben zerstörten Gelände ganz von vorn anfangen kann; wenn der Architekt, ohne durch allzuviele Vorgaben gebunden zu sein, seine wie auch immer zustandegekommenen kreativen Visionen in gebaute Objekte umsetzen kann. Auf den grünen Wiesen am Stadtrand waren die Folge davon chaotische Ansammlungen addierter Einzelkunstwerke, gezügelt lediglich durch die bürokratischen Vorgaben des Bebauungsplans. In den Stadtzentren waren es die rücksichtslosen, d. h. auf ihre Umgebung keine Rücksicht nehmenden Betonklötze, die sich nur noch mit Not auf ihr vom Bauhaus entlehntes, funktionalistisches Motiv berufen konnten.

Seit einigen Jahren vollzieht sich hier nun ein Wandel, von der tabula-rasa-Architektur hin zur Entwicklungs-Architektur. Insbesondere in den Städten werden alte Gebäude restauriert und einer Umnutzung übergeben. Der Begriff der Baueinheit wird nicht mehr nur auf das einzelne Haus, sondern auf das Stadtviertel, ja auf die ganze Stadt bezogen. Und an der Planung und Gestaltung werden zunehmend diejenigen mit beteiligt, die in den Häusern und Quartieren leben werden. Schließlich werden die Baueinheiten so gestaltet, daß sie offenbleiben für Entdeckungen und Weiterentwicklungen.

Dies bedeutet natürlich auch eine Veränderung im Selbstverständnis des Architekten. Der Einzelschöpfer, der nur seinem Mäzen und dem durch ihn gesetzten Finanzrahmen verpflichtet ist, der seine Schöpfungen herstellt und sich damit selbst ein Denkmal schafft, tritt zurück. In den Vordergrund rückt der Architekt, der sich in die natürliche und gestaltete Umwelt vertieft und der das Gewordene respektiert. Aber auch der Architekt, für den die Schöpfung nicht mit dem Publikumsapplaus und der Schlüsselübergabe endet, sondern der sich der Zukunft, dem Weiterleben seines Produkts verpflichtet weiß, der deshalb mit den Menschen, die darin wohnen werden, Beziehungen aufnimmt, Vereinbarungen trifft und die Kommunikation aufrechterhält.

Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir nun, den beiden Grundmustern schöpferischen Tuns einen, wenn auch vorläufigen, Namen zu geben. Ich möchte Sie das "prometheische" und das "dialogische" nennen. Was den Namen des ersten Grundmusters anbelangt, so bin ich dazu angeregt worden durch meine Erinnerung an das Goethe-Gedicht, wo es heißt: "Hast du nicht alles selbst vollendet heilig glühend Herz und glühtest jung und gut." Die Erinnerung also an jenen Mythos vom autonomen schöpferischen Subjekt Prometheus. Bei der anderen Bezeichnung habe ich mich bislang vergeblich darum bemüht, eine geeignete mythische Gestalt ausfindig zu machen, die als Symbol für das zweite Grundmuster schöpferischen Handelns herhalten könnte. Stattdessen entlehne ich es dem Denken Martin Bubers, auf den ich später noch näher eingehen werde. Auf der Suche nach Mythen schöpferischen Handelns kommt man an der Genesis nicht vorbei und deshalb habe ich aus Anlaß dieses Vortrages diejenigen Teile des alten Testaments wieder einmal gelesen, die sich mit dem Schöpfungsgedanken befassen. Die Theologen unter Ihnen mögen mir meinen Dilettantismus bei dieser Beschäftigung verzeihen. Die Lektüre hat mir jedoch Anhaltspunkte dafür erbracht, daß auch im alten Testament zwei Grundmuster des Schöpfungshandelns zu entdecken sind. Da ist zum einen der allmächtige Gott, der Himmel und Erde, Tier und Menschen "schuf und machte", offenbar aus einem autonomen Entschluß heraus und ohne Rücksicht nehmen zu müssen auf irgendwelche Grenzen und Bedingungen seines Handelns. Allmächtig auch in dem Sinne, daß er sein Werk, wenn es ihm nicht oder nicht mehr gefällt, insbesondere dann, wenn es ein Eigenleben entfaltet, das er nicht mehr kontrollieren kann, wieder vernichtet.

Da ist aber auch das andere Schöpfungsmuster. Jener Schöpfer, der die Entwicklung seiner Schöpfung weiterverfolgt, der ihr ein Eigenleben zugesteht, damit auch das Risiko eingeht, daß sich die Schöpfung seinem Plan entgegen entwickelt. Der dann nicht zum Mittel des totalen Auslöschens greift, sondern der mit der Arche Noah Geschaffenes respektiert, aufbewahrt und weiterentwickelt. Der lernfähige Gott, der schließlich mit Mose, seinem Geschöpf, ein Bündnis schließt und sich damit in eine wechselseitige Abhängigkeit von seiner eigenen Schöpfung begibt. Ich weiß nicht, wie weit diese meine Interpretation eines "prometheischen" und eines "dialogischen" Gottes im Dialog der Theologen vorkommt.

Der große jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat in seiner Rede über das Erzieherische, die er auf der Dritten Internationalen Pädagogischen Konferenz 1925 in Heidelberg hielt, einen wichtigen Beitrag über "Die Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kinde" gehalten. Dieser Vortrag hatte Bezug zur pädagogischen Reformbewegung der zwanziger Jahre, im besonderen zu jener pädagogischen Richtung, die in der Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kinde, in der Entbindung seiner Subjektivität und in der Entfaltung seiner Autonomie die zentrale erzieherische Aufgabe sah. Buber stellt sich dieser Einseitigkeit entgegen. Insbesondere stellt er sich einer einseitig individualpsychologisch geprägten Interpretation des Prinzips "Entfaltung der schöpferischen Kräfte des Kindes" entgegen. Und zwar stellt er sich dieser Auffassung entgegen, indem er darauf verweist, daß sich das Schöpferische nicht nur aus einer Grundfunktion, nämlich dem "Urhebertrieb" ableiten lasse, sondern daß es aus der Verbindung dieses Urhebertriebs mit einer zweiten Funktion heraus, dem "Trieb nach Verbundenheit", begründet werden muß.

Über den Urhebertrieb sagt er:

"Das Menschenkind will Dinge machen. Das ist nicht bloße Schaulust an dem Entstehen einer Form aus einer eben noch formlos anmutenden Materie. Wonach das Kind verlangt,  ist der eigene Anteil an diesem Werden der Dinge. Es will das Subjekt des Produktionsvorgangs sein ..... Es ist aber auch zu beobachten, wie sogar in die scheinbar blinde Zerstörungslust des Kindes sein Urhebertrieb hineinspielt und darüber Herr wird."
Aber nicht nur diese Indifferenz dieses Urhebertriebs gegenüber erhaltenden und zerstörenden Wirkungen macht die Fragwürdigkeit seiner einseitigen Betonung aus. Für Buber hat er noch zwei weitere entscheidende Mängel:
"Zu zwei für den Bau wahren Menschenlebens unentbehrlichen Gestaltungen führt der sich selbst überlassene Urhebertrieb nicht, kann er nicht führen: zum Anteil an einer Sache und zum Einstand in der Gegenseitigkeit. Einzelwerk und Werksache sind durchaus zweierlei. Ein Ding machen ist ein Stolz des sterblichen Wesens, aber Bedingtsein in einer gemeinsamen Arbeit, die unbewußte Demut des Teilseins, der Teilhaftigkeit und Teilnahme ist die echte Speise irdischer Unsterblichkeit. Sowie der wirkende Mensch in eine Sache eintritt, wo er Werkgemeinschaft mit anderen Menschen entdeckt und übt, folgt er nicht mehr dem Urhebertrieb allein. Werkhaftes Tun ist ein einseitiger Vorgang. Da ist eine Kraft in der Mitte der Person, da geht sie aus, bildet sich den Stoff ein, da hat sich nun das Werk gegenständlich erhoben, die Bewegung ist zu Ende. Sie ist in einer Richtung vom Traum des Herzens in die Welt verlaufen und abgelaufen. Mag der Künstler seinen Verkehr mit der geschauten zur verbleibenden Idee noch so unmittelbar als Angetretenwerden, Gefordertwerden und als Wahrnehmen erfahren; solange er am Werk ist, geht ihm Seele aus und nicht ein, entgegnet er der Welt, aber begegnet ihr nicht mehr; und nicht mit dem Werk kann er der Gegenseitigkeit pflegen. Pygmalion ist schon in der Sage eine ironische Figur. Ja, der Mensch als Urheber ist einsam, ganz unverbunden steht er im hallenden Raum seiner Taten. Darüber hinaus kann ihm auch nicht viel helfen, wenn sein Werk von Menschen, von vielen Begeisterten aufgenommen wird. Ob es angenommen wurde, sein Opfer angenommen vom namenlosen Empfänger, wird ihm nicht kund. Nur wenn ihn jemand an der Hand faßt, nicht als einen Schöpfer, sondern als eine in der Welt verlorene Mitkreatur, um ihm jenseits der Künste Gefährte, Freund, Liebender zu sein, wird er der Gegenseitigkeit inne und teilhaft. Eine auf der Ausbildung des Urhebertriebs allein begründete Erziehung würde eine neue schmerzlichste Vereinsamung der Menschen bereiten."
Ich habe diesen Text von Buber so ausführlich zitiert, weil er für mich den Kerngedanken einer Kritik am prometheischen Schöpfungsmuster in einer sehr verdichteten Form enthält. Erst der Trieb der Verbundenheit, der zum Urhebertrieb hinzutritt, charakterisiert das zweite Grundmuster schöpferischen Handelns, welches ich das dialogische nenne. Und diesen Trieb der Verbundenheit reduziert Buber nicht auf die bloße Einfühlung in das, was Gegenstand schöpferischer Gestaltung ist, sondern "Umfassung" wie er es nennt. Ausdruck dieser Umfassung ist das dialogische Verhältnis. Dieses dialogische Verhältnis charakterisiert jedoch nicht nur die Beziehungen eines schöpferischen Menschen zu anderen Menschen oder zu einem anderen Menschen, es charakterisiert seine Beziehungen zu Gott und zur Welt, also auch zu den anderen Geschöpfen. Und dieses dialogische Verhältnis bezeichnet keine instrumentelle Beziehung. Es geht also nicht nur darum, das Rohmaterial, aus dem ich etwas formen will, möglichst gründlich in seiner Eigentümlichkeit zu kennen, um es gut bearbeiten zu können, es geht darum, den Schöpfungsprozeß als Dialog zwischen Schöpfer und Schöpfung zu begreifen.

Ich möchte meine bisherigen Überlegungen wie folgt zusammenfassen. Die beiden Grundmuster schöpferischen Handelns, von denen die Rede ist, das prometheische und das dialogische, haben gemeinsam, daß in ihnen handelnden Subjekten Urhebereigenschaften zugeschrieben werden, durch die über das reproduktive Handeln hinaus originelle Werke geschaffen werden. Während das prometheische Grundmuster jedoch  eine Einbindung des Schöpfers und seines Werks in den Zusammenhang der Schöpfung ausklammert, steht für das dialogische Grundmuster eben diese Einbindung im Mittelpunkt.

Ich möchte mich nun der Frage zuwenden, wie sich die bisherige Kreativitätsforschung auf die beiden Grundmuster schöpferischen Tuns beziehen läßt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung. Was die Grundlagenforschung anbelangt, so wurde diese im Rahmen der Individualpsychologie durchgeführt und weist zwei Hauptrichtungen auf.

Die eine Richtung stand im Zusammenhang der Testpsychologie und bemühte sich darum, meßbare Eigenschaften der kreativen Persönlichkeit zu erheben und zwar so, daß eine möglichst differenzierte Unterscheidung unterschiedlicher Ausprägungsgrade möglich wird. Die aus der Anwendung solcher Tests resultierenden Informationen konnten dann in verschiedenen Anwendungsbereichen genutzt werden, etwa bei der Personalrekrutierung von Firmen, bei der Auslese für Kunstakademien, bei der Zuordnung von Einzelpersonen zu besonderen Förderprogrammen, oder bei der Evaluierung von Trainingsprogrammen. Diese Forschungsrichtung konzentrierte sich ganz auf Persönlichkeitsmerkmale von Individuen, wie sie durch kurzfristige Aufgabenstellungen erhoben werden können, von deren inhaltlichen, normativen und biographischen Bezügen bewußt abstrahiert wird.

Die zweite Richtung psychologischer Kreativitätsforschung ging experimentell vor und untersuchte die Bedingungen, unter denen jene durch Kreativitätstests definierten Persönlichkeitsmerkmale verändert werden können. Sie umfaßte dabei zum einen relativ kurzfristige Interventionen wie beispielsweise brainstorming-Sitzungen, in denen die Wahrscheinlichkeit des Auftretens kreativer Äußerungen erhöht wird, wenn bestimmte Regeln des Verhaltens und der Kommunikation eingehalten werden.

Zunächst einmal fand diese Kreativitätsforschung ihre Anwendung im außerpädagogischen Raum. Die von ihr erzeugten Produkte und Prozesse stellten die kreative Einzelpersönlichkeit in den Mittelpunkt des Interesses, die, losgelöst aus dem geschichtlichen Zusammenhang, losgelöst aus ihrer Einbettung in soziokulturelle Zusammenhänge und losgelöst von ihrer eigenen biographischen Entwicklung gesehen wird. Die Produkte kreativen Verhaltens werden dabei vor allem daraufhin geprüft, in welchem Umfang und in welcher Intensität sie von durchschnittlichen oder stereotypen Produktionen abweichen, wobei der Grad des Abweichens häufig selbst als Ausdruck von Originalität gewertet wird. Dem Kreativitätstraining, das diesem Grundmuster folgt, haftet deshalb immer ein Hauch von Extravaganz, moralischer Indifferenz und ästhetischem Schnick-Schnack an. Dort, wo Kreativitätstraining ausdrücklich in den Zusammenhang ökonomischer Verwertung gestellt wurde, wie beispielsweise im Bereich der Werbung, zeigte sich das janusköpfige Gesicht des prometheischen Grundmusters ganz besonders. Ob der schöpferische Akt dazu führt, über die Zigarettenwerbung Atmungsorgane zu zerstören, über die Waschmittelwerbung die Gewässer oder über Tourismuswerbung Landschaften, bleibt bei diesem Grundmuster draußen vor.

Bei der Anwendung psychologischer Kreativitätsforschung auf pädagogisch-didaktisches Handeln ergaben sich Konsequenzen, die sich thesenartig wie folgt zusammenfassen lassen:

Akzeptiert man die Unterscheidung zweier Grundmuster schöpferischen Tuns in der oben skizzierten Weise, so lassen sich zwei Thesen formulieren:

  1. Die bisherigen Ansätze einer vorwiegend individualpsychologisch orientierten Kreativitätsforschung und der aus ihr abgeleiteten Ansätze einer Kreativitätspädagogik folgen im wesentlichen dem prometheischen Grundmuster.
  2. Die geringe Verbreitung kreativitätspädagogischer Praxis in der Schule ist nicht nur durch widrige institutionelle Rahmenbedingungen bedingt, sondern auch durch Beschränkungen und Beschränktheiten, die das prometheische Grundmuster selbst auszeichnen, insbesondere den von ihm geförderten Subjektivitätskult.
Wenn diese Thesen zutreffen, so birgt dies auch ein Stück Hoffnung. In dem Maße nämlich, in dem es gelingt, mit Unterstützung eines dialogischen Grundverständnisses von Kreativität die Beschränktheiten aufzubrechen, denen die prometheische Kreativitätspädagogik unterworfen ist, könnten sich auch für den kreativen Umgang mit Inhalten schulischen Lernens neue Perspektiven eröffnen.

Zunächst möchte ich meine Thesen von der einseitig prometheischen Ausrichtung bisheriger Kreativitätspädagogik erläutern.

Kreativitätspädagogik, wie sie sich in den 60er Jahren entwickelte, verband Vorstellungen der Pädagogischen Reformbewegung der 20er Jahre, vor allem die Forderung von der Entfaltung der schöpferischen Kräfte im Kind mit der Anwendung von Ergebnissen neuerer kreativitätspsychologischer Forschung. Sie wollte die Entwicklung kreativen Verhaltens nicht nur auf die musischen Fächer - also den Kunstunterricht, den Musikunterricht und möglicherweise die Körpererziehung - beschränken, sondern alle Fächer bis hin zur Mathematik und den Sprachunterricht durchdringen. Insofern handelte es sich um einen fächerübergreifenden Ansatz. Dabei wollte sie im besonderen dem schöpferischen Subjekt, ob Lehrer, ob Kind, mehr Raum zukommen lassen. Eine fächerübergreifende Kreativitätserziehung in diesem Sinne hatte und hat es in öffentlich-allgemeinbildenden Schulen verständlicherweise sehr schwer. Zum einen trifft sie auf institutionelle Widerstände, die aus der Aufgabenbestimmung der allgemeinbildend-öffentlichen Schule der Gegenwart resultieren. Diese ist ihrem Selbstverständnis nach auf die Vermittlung von weitgehend standardisiertem Wissen gerichtet, dessen Beherrschung sie aufgrund der ihr zugeschriebenen Auslesefunktion auch noch in möglichst objektiver Weise ermitteln soll. Wenig Raum also für Subjektivität.

Zum anderen aber - und dies scheint mir das schwerwiegendere Handicap fächerübergreifender Kreativitätserziehung zu sein -  gerät sie in der Schule in Konflikt mit ihrem allzu individualistisch-subjektivistischen Selbstverständnis. Es fällt ihr schwer, tradiertes Wissen als Teil der Schöpfung anzuerkennen, das ein Recht hat, vernommen zu werden und nicht nur den Charakter von austauschbarem Rohmaterial hat. Damit fällt es ihr auch schwer, Wissensordnungen als Produkt schöpferischer und zwar kollektiv-schöpferischer Prozesse zu akzeptieren. Und es fällt ihr schwer, sich der Erkenntnis aufzuschließen, daß individuelle Originalität auch mit Kulturverlust verbunden sein kann, dann nämlich, wenn sie mit einer Beschränkung des Kommunikationshorizonts auf das hier und heute und die kleine flüchtige Gruppe erkauft wird. Kreativitätserziehung, die diesen Namen verdient, muß sich deshalb stets mit erreichten kulturellen Standards auseinandersetzen, mit Ansprüchen,
die man erst dann hinterfragen und in schöpferischer Weise überwinden kann, wenn man sie verstanden hat, wenn man gelernt hat, ihnen zu entsprechen.

Besonders kritisch wurde jene Kreativitätspädagogik dann, wenn das prometheische Grundmuster auf das Erziehungsverhältnis selbst angewandt wurde. Dies gilt für jene autoritäre Variante, die dem Erzieher die Rolle eines Prometheus anschmeichelt, der das Rohmaterial Kind zur schönen Gestalt formen soll. Es gilt aber auch für jene antiautoritäre Variante, in der Kindern zugemutet wird, sich selbst zu verwirklichen auch auf die Gefahr hin, daß Egozentrismus für den Ausdruck einer autonomen Persönlichkeit gehalten wird.

Ich bitte Sie, diese Kritik an einer subjektivistisch verkürzten Kreativitätspädagogik nicht im reaktionären Sinne von Traditionspflege zu verstehen. Ich meine keineswegs, daß die Menschen erst einmal 30 Jahre zur Anpassung an den status quo erzogen werden sollen, bevor sie dann anschließend das Recht zum schöpferischen Tun erhalten. Kreativitätserziehung beginnt mit der Geburt, und es gibt in jeder Phase des Lebens eine Dialektik oder - um in der vorgeschlagenen Begrifflichkeit zu bleiben - "Dialogik" zwischen objektiven Ansprüchen und der Notwendigkeit ihrer schöpferischen Weiterentwicklung.

Dabei muß sich Kreativitätserziehung keineswegs darauf beschränken, mit den Pfunden der Subjektivität zu wuchern, um zu dieser schöpferischen Weiterentwicklung von Kultur im weitesten Sinne beizutragen. Sie kann vielmehr den Umstand nutzen, daß ihr Schöpfung und Kultur immer schon in Form von Widersprüchen entgegentreten, so auch die Bibel. Wenn es gelegentlich den Anschein hat, als ob es sich bei kulturellen Wissensvorräten um einheitliche und homogene Traditionsblöcke handelt, die eine schöpferische Auseinandersetzung unmöglich machen, so ist dies zumeist ein Produkt subjektiver Wahrnehmung. In aller Regel sind es nicht objektive Barrieren, die Menschen an der Grenzüberschreitung hindern, sondern Mentalitätsbarrieren. Die geschichtliche und kulturelle Wirklichkeit ernstnehmen, heißt daher im besonderen auch, die Vielfalt der Alternativen ernst nehmen, die sie bietet, heißt auch, ihre Widersprüchlichkeit als positive Chance für schöpferische Weiterentwicklung ernst zu nehmen. Oder, um es in der Begrifflichkeit Martin Bubers zu sagen: In den Dialog mit der Schöpfung einzutreten, deren Geschöpfe ihrerseits sich immer schon im Dialog befinden.

Aus dieser Kritik an einer subjektivistisch verkürzten "prometheischen" Kreativitätspädagogik möchte ich nunmehr einige Prinzipien entwickeln, die eine dialogische Kreativitätspädagogik auszeichnen, bevor ich dann zum Schluß einige Aussagen zum kreativen Umgang mit der Bibel im Religionsunterricht wage.

Zu den Prinzipien also, die das dialogische Grundmuster schöpferischen Handelns auszeichnen: Gemeinsam ist ihnen, daß das schöpferische Subjekt bzw. der Schöpfungsakt gesehen wird als Knotenpunkt eines Netzes von Verknüpfungen in Zeit und Raum. Im einzelnen bedeutet dies:

Diese sehr skizzenhafte Darstellung der Prinzipien eines dialogischen Grundmusters schöpferischen Handelns läßt bereits einige praktische Konsequenzen erkennen: Es verträgt noch weniger als das prometheische Grundmuster den Zeitdruck. Es verlangt einen höheren Kommunikationsaufwand. Es bedarf umfassenderer Allgemeinbildung. Es verträgt keine Egozentrik, und es entzieht sich über Strecken den Kategorien von Zweck und Mittel sowie von Ursache und Wirkung.

Erlauben Sie mir zum Schluß eine Anwendung meiner bisherigen Überlegungen auf den Bereich des Religionsunterrichts. Da ich weder Theologe noch Religionspädagoge bin und auch nur über relativ bescheidene eigene Anschauungen von religiöser Erziehung verfüge, da ich noch nicht einmal kontinuierlich an dieser Tagung teilnehme, mag es vermessen klingen, wenn ich dies tue. Ich bitte Sie deshalb, die folgenden Aussagen nicht als Handlungsempfehlungen zu verstehen, sondern als einen durchaus diskussions- und fragwürdigen Beitrag eines Dilettanten auf diesem Gebiet.

Wenn Bibeltexte der eigentliche Stoff sind, der schöpferisch gestaltet werden soll, so müßten sie dem dialogischen Grundmuster gemäß zunächst einmal vernommen werden. Ihre Botschaften, insbesondere auch ihre widersprüchlichen Botschaften, müßten entschlüsselt und verstanden werden, bevor sie zum Anlaß für schöpferische Gestaltung und Umformung werden können. D. h. aber auch, daß dem Kind nicht der Eindruck vermittelt wird, es sei der erste Mensch, der jemals diese Botschaft vernommen hat, sondern daß ihm Gelegenheit gegeben wird, an der Erfahrung anderer teilzuhaben, die sich vor ihm um Entschlüsselung und Rekonstruktion bemüht haben.

Unserem dialogischen Grundmuster zufolge dürfen Bibeltexte auch nicht zum bloßen Rohmaterial werden, zum Lehmkloß, dem der kleine Schöpfer erst seinen Geist einhauchen muß, damit sie zum Leben erwachen. Sie müssen vielmehr auch während des Prozesses schöpferischer Bearbeitung als etwas im Bewußtsein bleiben, das ein eigenes Leben hat, ein Leben, das vor der eigenen Lebenszeit begann und das über sie hinausreichen wird.

Aber nicht nur die Bibeltexte verdienen diesen Respekt, sondern auch die Werkzeuge des schöpferischen Umgangs mit ihnen, seien es nun Mittel der Sprache, des Bildes, der Gestik, der Pantomime, der Musik, des Videoclips, der Architektur, der Technik oder des ökologischen Biotops. Auch sie sind Teil der Schöpfung, haben ihre eigene Schöpfungsgeschichte und dürfen durch die Bibeltexte ebensowenig verzweckt werden wie diese durch sie. Gerade hier zeigt sich, daß das Prinzip der dialogischen Beziehung nicht nur auf das Verhältnis des Schöpfers zu seinem Werk, sondern auch auf das Verhältnis zwischen den in seiner Schöpfung zusammenwirkenden Elementen zu beziehen ist. Die Forderung nach der Einheit von Form und Inhalt bekommt hier eine neue Bedeutung. Schlechte ästhetische Qualität wird durch wohlmeinende Inhalte ebensowenig gerechtfertigt wie belanglose Aussagen durch hohe ästhetische Qualität.

Sodann scheint mir wichtig, daß die schöpferischen Tätigkeiten, die kreative Zugänge zur Bibel eröffnen sollen, nicht als eine Menge isolierter Akte betrachtet werden, von denen jeder einzelne sich auf seinen Schöpfer und dessen Werklein beschränkt. Vielmehr sollte die Möglichkeit geschaffen werden, bereits während des Schöpfungsprozesses untereinander und mit der Außenwelt zu kommunizieren, nicht um abzugucken und zu imitieren, auch nicht um besser sein zu können als die anderen, sondern um im Bewußtsein von Verbundenheit tätig zu sein.

Schließlich sollte gesichert sein, daß die Erzeugnisse eines kreativen Umgangs mit der Bibel respektvoll behandelt werden. Es wäre dem dialogischen Grundmuster nicht gemäß, wenn die Produkte alsbald, möglicherweise nach einer kurzen Publikumsvorstellung, ihr Leben in einer Schublade oder im Mülleimer beenden. Auch sollten sie nicht nur flüchtige Erinnerungen bleiben, sondern wenigstens solange weitergeführt werden wie es die institutionelle Form erlaubt.

Es versteht sich von selbst, daß ein in diesem Sinne dialogisches Grundmuster schöpferischen Handelns der Vorstellung widerstehen muß, daß alles machbar ist, also auch schöpferischer Umgang mit der Bibel. Daß man nur hinreichend viele technische oder unterrichtsmethodische Tricks beherrschen müsse, um zu jeder Zeit, an jedem Ort alle gewünschten  Effekte zu erreichen. Der Respekt vor der Schöpfung und vor dem Eigenleben der Geschöpfe bringt es mit sich, daß die Dinge nicht so laufen, wie sie von einem der beteiligten Schöpfer, etwa dem Lehrer, geplant sind. Dies heißt nun keineswegs, solides Handwerk und gründliche Planung geringzuschätzen. Im Gegenteil, auch künstlerische Techniken und Unterrichtsmethoden, auch Planungsverfahren und analytische Prozesse sind Teil der Schöpfung und verdienen von daher Respekt. Und improvisierende Stümper, die sich für kleine Originalgenies halten, seien es nun Kinder oder Lehrer, sind schon ein Greuel. Dennoch gilt es, sich der Grenzen der Machbarkeit gerade dann bewußt zu sein, wenn man dem dialogischen Grundmuster schöpferischen Handelns folgt. Denn hier ist es ja nicht die Tücke des Objekts, die dem schöpferischen Genie eine Falle stellt. Hier ist es die Schöpfung als Ganzes und ihre einzelnen Glieder, die dem Schöpfer mit ihrem eigenen Recht gegenübertreten und ihn an die Verbundenheit erinnern. Um es mit den Worten Martin Bubers zu sagen:

"Der Mensch, das Geschöpf, welches Geschaffenes gestaltet und umgestaltet, kann nicht schaffen, aber er kann, jeder kann sich und kann andere dem Schöpferischen öffnen und er kann den Schöpfer anrufen, daß er sein Ebenbild rette und vollende."