Die Entwicklung interkultureller Kompetenz als ein zentrales Ziel globalen Lehrens und Lernens1

1. Problemdefinition

Mit Aspekten, die wir als globales Denken bezeichnen, werden wir häufig in unserem Alltag konfrontiert. In der Stadt meiner alma mater Göttingen heißt der ehemalige "Dritte-Welt-Laden" nun "Eine-Welt-Laden". In der Zigarettenreklame von Stuyvesand treffen Menschen verschiedener Hautfarbe unter dem Motto "come together" zusammen und machen einen überglücklichen Eindruck. Wir essen in unserem Alltag Kiwis aus Neuseeland, Orangen aus Marokko, wenn wir wollten, könnten wir auch Rindfleisch aus Großbritannien essen. Wir setzen uns in ein Flugzeug und können genauso schnell oder schneller in New York sein als bei einer Bahnfahrt von Flensburg nach München. Ich selbst recherchiere vorzugsweise im Computersystem "Melvyl" der Universität von Kalifornien und muß mich - Dank eines Internetanschlusses - von meinem Arbeitsplatz um keinen Zentimeter weg bewegen. Ohne große Bewegung kann auch der Globus mittels Atomraketen vernichtet werden. Diejenigen, die die Knöpfe drücken, können die  ganze Welt von einem kleinen Bunker unter der Erde aus erreichen.

Diese Liste, die sich leicht um viele Aspekte verlängern ließe, macht deutlich: Der Bezug unseres Handelns und Erlebens außerhalb enger lokaler Grenzen ist Realität. Wir können diesem globalen Bezug  kaum ausweichen, und es kommt zu einer Vielzahl sogenannter "kultureller Überschneidungssituationen" (vgl.  Dadder 1987, S.47), in denen Mitglieder verschiedener Kulturen aufeinandertreffen. Kontexte solcher Überschneidungssituationen sind Übergangsgesellschaften, multikulturelle Gesellschaften, die vielfältigen Formen von Kulturaustausch, und der Kontext, um den es hier vor allem geht, der "globale Kontext". Dies sind die vielfachen kulturen-, staaten- und regionenübergreifenden Verflechtungen. Hierzu gehören Ökonomie, Ökologie, Medien und Massenkommunikation, Technologie und Militär. Manifestationen solcher Verflechtungen sind internationale Organisationen wie UNO oder UNESCO, regionenübergreifende Verträge wie etwa das Welthandelsabkommen der Gatt-Verträge, weltweit agierende Wirtschaftsunternehmen wie etwa IBM, aber auch internationale Organisationen wie Greenpeace oder World-Watch, die sich bemühen, drohenden globalen Umweltkatastrophen entgegenzuwirken.

Trotz dieser uns allen bekannten und schon länger existierenden Realität der "einen" Welt mit ihren "kulturellen Überschneidungssituationen" haben wir Schwierigkeiten, in dieser Welt zu leben mit dem globalen Bezug unseres Handelns umzugehen. Die Vielfalt von Daten und Nachrichten, die auf uns "niederprasseln", können wir kaum bewältigen, weder im Alltag noch in der Wissenschaft. Die Vielfalt von unterschiedlichen Werten und Einstellungen, mit denen wir konfrontiert werden, die wir teilweise erkennen oder auch nur erahnen, führt zu Konflikten, zu Schwierigkeiten beim gemeinsamen Handeln, zu Streß und zu Unzufriedenheit. Wir vereinfachen die immer komplexer werdende Welt gern durch Stereotypen wie "die Italiener sind schlampig", "die Amerikaner oberflächlich", die "Briten arrogant" und "die Deutschen überpenible 'Erbsenzähler' ". Ich selbst bin, obwohl ich mich wie viele andere auch für einen reflektierenden und selbstverständlich toleranten Intellektuellen halte, in meiner eher abwehrenden Haltung gegenüber einer europäischen Währungsunion nicht frei von solchen Stereotypen und einem dumpfen Gefühl des "Kann man den anderen wirklich trauen?".
Zusammenfassend können wir konstatieren: Die Situation, in der wir uns befinden, ist gekennzeichnet

2. Konzepte von Weltkultur als Leitbilder globalen Lehrens und Lernens

Einerseits ergeben sich aus dieser Situation vielfältige Befürchtungen, daß es zu einer Weltkultur komme oder sie sich sogar schon  entwickelt habe. Andererseits ergeben sich Forderungen, daß sich eine solche Weltkultur entwickeln möge. Man kann grob fünf Grundkonzepte unterscheiden (vgl. Flechsig 1995/96, dessen vier Konzepte hier um das transkulturelle Konzept erweitert werden):
  1. Dominanzkonzepte: Weltkultur wird hier als die Ausdehnung von Herrschaft verstanden, als Unterdrückung von Einzelkulturen. Gerade in vielen Übergangsgesellschaften, in der Traditionales auf Modernes trifft, wird gerade das Moderne als westliches Dominanzkonzept betrachtet. Und auch bei uns in Europa gibt es viele Stimmen, die sich vor einer anglophonen, US-amerikanischen Weltkultur fürchten. Es sei nur an die staatlichen Reglementierungen  in Frankreich erinnert, die Anglismen verbieten und einen bestimmten Prozentsatz französischer Filme in den Kinos und im Fernsehen vorschreiben.
  2. Konvergenzkonzepte: Konvergenzkonzepte haben als Fernziel eine Weltkultur, auf die sich andere Kulturen im Zuge der Modernisierung oder auch im Zuge einer umfassenden Antimodernisierung zwangsläufig hin entwickeln. Ein charakteristisches, wenn auch heute wenig aktuelles Konvergenzkonzept, ist der Gedanke, daß die sozialistische oder kommunistische Welt und der Kapitalismus konvergieren würden.
  3. Integrationskonzepte: Weltkultur wird hier als ein System verstanden, in dem verschiedene Einzelkulturen miteinander in Kontakt treten. Sie erscheint als eine regional nicht begrenzte multikulturelle Gesellschaft, in der Kulturen auf der Basis und Bewahrung ihrer kulturellen Eigenarten miteinander kommunizieren und interagieren.
  4. Transkulturelle Konzepte: Weltkultur erscheint in diesen Konzepten ebenfalls als ein Kommunikations- und Interaktionsideal. Allerdings ist hier die Bedingung der Möglichkeit von Interaktion und Kommunikation zunächst die Betrachtung der Gemeinsamkeiten zwischen Kulturen. Lebensformen, so die Grundannahme, sind heute zu einem erheblichen Teil nicht mehr regional und kulturell gebunden (vgl. Welsch 1995; Kluckhohn/Strodtbeck 1961, Thompson, Hofstede 1980, Hofstede 1991). So ist etwa naturwissenschaftliches Denken und die Kommunikation von Naturwissenschaftlern auf der gesamten Welt sehr ähnlich - sie haben ähnliche Lebensformen und es fällt ihnen leicht, sich über Probleme ihres Faches zu verständigen. Gleichwohl spielen einzelkulturelle Prägungen nach wie vor eine Rolle. Transkulturelle Konzepte suchen für solche Gemeinsamkeiten einerseits abstrakte kategoriale Beschreibungsmöglichkeiten. Andererseits fordern transkulturelle Konzepte zur Überschreitung der eigenen einzelkulturellen Prägung auf der Basis gemeinsamer Lebensformen heraus.
  5. Kulturökologische Konzepte: Weltkultur wird hier als Notwendigkeit verstanden, global zu kooperieren, um globale Probleme wie etwa eine Klimakatastrophe oder die Verschmutzung der Weltmeere zu lösen. Kulturökologische Konzepte sind geprägt von der Idee des Biotops, in der das eine für das andere da ist, in der Lebewesen und Gegenstände in enger, voneinander abhängiger Wechselbeziehung stehen. Weltkultur ist in diesem Sinne nicht nur eine Problemlösegemeinschaft, sondern auch ein Biotop, in dem die Einzelkulturen selbstverständlich ihre Existenzberechtigung haben. Eine so verstandene Weltkultur schafft einen einheitlichen Rahmen für die Existenz der kulturellen Vielfalt. Solche Konzepte finden sich mit verschiedenen Akzentsetzungen beim Club of Rome (vgl. Meadows/Meadows/Randers 19922), Greenpeace oder auch im Buch des amerikanischen Vizepräsidenten Al Gore mit dem Titel "Wege zum Gleichgewicht" (Gore 19925).
Will man nun über globales Lehren und Lernen nachdenken, muß man sich meines Erachtens entscheiden, welches Konzept oder welche Konzepte von Weltkultur denn Leitbild der Praxis globalen Lehrens und Lernens sein sollen. Denn wer didaktisch konstruktiv oder bewertend tätig sein will, muß wissen, mit welchem Inhalt er sich beschäftigt oder beschäftigen will und man muß wissen, welches Ziel mit diesem Inhalt verknüpft sein soll.

Dominanzkonzepte sind nicht mit meinen Vorstellungen eines humanen aufgeklärten Menschen zu vereinbaren. Sie werden regionalen Besonderheiten und Traditionen nicht gerecht. Fundamentalismen religiöser und politischer Art sind Reaktionen auf eine Furcht vor Dominanz (etwa westlicher Werte) und sind ein Musterbeispiel für die aus dem Dominanzstreben resultierende Instabilität.

Konvergenzkonzepte - zumindest im Moment - sind zu vage, um irgendwie als Ausgangsbasis didaktischen Handelns dienen zu können. Wenn man nicht weiß, wohin die Reise einer Konvergenz geht, darf man sich nicht nur nicht wundern, wo man ankommt, sondern die Reise kann auch kaum sinnvoll geplant werden.

Integrationskonzepte klingen auf den ersten Blick sehr vielversprechend. Eine multikulturelle Welt, in der Kulturen miteinander kommunizieren und interagieren,  in der die Kulturen einander respektieren und sich einander austauschen, scheint mir und wahrscheinlich vielen anderen sehr wünschenswert. Schaut man sich das "Experiment" "multikulturelle Gesellschaft" in den USA an, können einem jedoch Zweifel kommen. In der multikulturellen Stadt Los Angeles z. B. leben Menschen nach Rassen klassifiziert in Gettos, die "Chinatown", "Koreatown" oder "Little Tokyo" heißen, es gibt eher jüdische Stadtviertel und Stadtviertel, die eher "anglo-saxon-White" sind (vgl. zur Geschichte der Partikularisierung in Los Angeles Davis 1995). An der "University of California in Los Angeles" (UCLA) finden - nach einem gemeinsamen offiziellen Teil - teilweise nach Rassen getrennte Abschlußfeiern statt, weil Afro-Amerikaner auf keinen Fall mit Japanern und Koreanern feiern wollen und auch die sogenannten Hispanics wollen gern unter sich bleiben. Gerade in den USA hat der Versuch, eine multikulturelle Gesellschaft zu schaffen, und eine solche Entwicklung durch erzieherische Maßnahmen zu unterstützen, eher zu einem extremen innerstaatlichen und kulturellen Partikularismus geführt und nicht zum vielbeschworenen "melting pot of nations", der durch unsere englischen Schulbücher geistert. Es ist zwar gelungen, Emanzipation und kulturelle Identität von Einzelkulturen zu stärken, man hat damit aber gleichzeitig das Ziel einer geplanten Integration verfehlt. Der "american dream" ist zwar ein gemeinsamer Traum vom Erfolg, aber es ist nicht der Traum eines gemeinsamen Erfolgs, sondern eines individuellen Erfolgs oder allenfalls eines Erfolgs für die eigene kulturelle Gruppe (etwa die der Afro-Amerikaner).

Transkulturelle Konzepte knüpfen an die Problematik der Integrationskonzepte an, indem sie das Problem der kulturellen Identität aus zwei Perspektiven betrachten. Sie beschränken "kulturelle Identität" nicht nur auf eine Einzelkultur, sondern sehen auch eine kulturübergreifende Identität (vgl. Welsch 1995). Aus der Perspektive globalen Lehrens und Lernens ist es das Ziel transkultureller Konzepte: Unter Beibehaltung einzelkultureller Prägungen gemeinsame Lebensformen als Basis der Kommunikation und Interaktion zu nutzen. Das Gemeinsame ermöglicht kognitiv eine bessere Integration der Erfahrung mit dem Fremden in die vorhandene kognitive Struktur (im Piagetschen Sinnen Assimilation) und ermöglicht damit gleichzeitig auch ein besseres Verstehen dessen, was anders ist (im Piagetschen Sinnen Akkomodation). Das Fremde ist nicht mehr so fremd, wenn man in ihm das Eigene erkennen kann.

Kulturökologische Konzepte halte ich für ein Überleben des Globus für unabdingbar, denn die globalen Probleme können ohne gemeinsame kulturübergreifende Anstrengungen nicht gelöst werden. Gleichwohl gibt es große Widerstände gegen solche Konzepte gerade von den Ländern, die dabei sind, mit den jetzigen großen Industrienationen zu konkurrieren. Indonesien oder Malaysia z. B. lehnen eine Begrenzung der Abholzung des Regenwaldes mit dem Argument ab, auch die Industrienationen hätten ihre Wälder zum Wohle ihrer Industrialisierung vernichtet.
Meine Antwort auf die Frage, welche Konzepte denn als Leitlinien für das globale Lernen dienen können, lautet vor dem Hintergrund dieser Überlegungen:

3. Ein Modell zur Entwicklung interkultureller Kompetenz

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zu Leitbildern globalen Lernens soll nun ein Modell der Entwicklung interkultureller Kompetenz für das globale Lernen dargestellt werden. Hierzu bedarf es zunächst noch einer kurzen Charakterisierung dessen, was unter interkultureller Kompetenz zu verstehen ist. Betrachtet man die einschlägige Literatur hierzu läßt sich zusammenfassen:
Interkulturelle Kompetenz ist die Fähigkeit, sich in kulturellen Überschneidungssituationen angemessen orientieren und verhalten zu können (vgl. Dadder 1987, S. 47; Flechsig 1991, S. 1074; Kiel 1995, S. 35). Für dieses Orientieren und Verhalten in einer komplexen und häufig wenig transparenten Situation bedarf es neben der allgemeinen Bereitschaft zur Kommunikation und Interaktion folgender einzelner Kompetenzen:  

Stufen der Entwicklung interkultureller Kompetenz

1. Kulturelle Sensibilisierung

Spiele: 

Clues and Challenges 

BaFa'BaFa' 

Barnga 

Minoriten und Majoriten 
 

2. Methoden der Kulturanalyse

Spiele: 

Penta-Kultur-Spiel 

Dimensionale Analyse nach Thompson, Hofstede oder Kluckhohn/Strodtbeck 
 
 
 

3. Analyse der eigenen Kultur

Analyse von: 

Alltagssituationen insbesondere eigenen Verhaltens 

Sachtexten 

Literarische Texte 

Rollenspiele

4. Analyse einer Zielkultur

Alltagssituationen 

Literarische Texte 

Rollenspiele 
 
 

5. Entwicklung kultureller Regeln einer Zielkultur 

Alltagssituationen 

Institutionen 

Voraussage von Kulturkonflikten

6. Überprüfung der entwickelten Regeln in einer Zielkultur

Bericht mit Analyse kritischer Entscheidungssituationen 
 
 
 
 

Bevor ich die einzelnen Komponenten intensiver erläutere, zunächst einer kurzer Überblick über die einzelnen Stufen und das ihnen zugrundeliegende Prinzip:
Die sechs abgebildeten Stufen bauen aufeinander auf:

Das dieser Abfolge zugrundeliegende übergeordnete Prinzip lautet: Die Entwicklung interkultureller Kompetenz führt von der Sensibilisierung für die Problematik, über die kulturelle Selbstreflexion zur kulturellen Fremdreflexion und von dort zur Überprüfung dieser Reflexion in oder an der Realität einer Zielkultur. Ziel einer solchen Abfolge ist eine - so Hoopes - Überwindung des "natürlichen"  Ethnozentrismus (Hoopes 1981, S. 18; vgl. Sandhaas, S. 432), die zu einem "Aufmerksamwerden für Fremdes", zu einem "Verständnis", zu einem "Akzeptieren anderer Kulturen so wie sie sind", zu einer "Bewertung und Beurteilung", und schließlich zur "selektiven Aneignung" von Kultur führen soll. Ergebnis dieses idealtypischen Prozesses ist "interkulturelle Akkulturation", das ist in anderen Worten ausgedrückt die oben angesprochene Fähigkeit zur Gestaltung interkultureller Überschneidungssituationen (ebd.).
 

Hoopes Stufenmodell der Entwicklung interkultureller Kompetenz in Anlehnung an Flechsig 1994/1995

                Interkulturelle Akkulturation
              Selektive Aneignung einzelner Elemente
            Bewertung und Beurteilung einzelner Aspekte
          Akzeptieren anderer Kulturen so wie sie sind
        Verständnis
      Aufmerksamkeit für Fremdes 
       
    Ethnozentrismus 
 
 
Charakteristisch für dieses Modell ist sein Stufencharakter mit der untersten Stufe des Ethnozentrismus, der nicht "gebrandmarkt" wird, sondern als natürliche kognitive Voraussetzung erscheint, aus der sich in einer entsprechenden Lernumgebung und Lernbereitschaft eine Abfolgedynamik entwickeln kann (vgl. Haller 1994, 7).

3.1 Kulturelle Sensibilisierung

Das Grundproblem jeder kulturellen Begegnung liegt darin, daß die unterschiedlichen Organisationen und Institutionen einer Kultur sowie Werte und Einstellungen von Kulturen einen erheblichen Einfluß auf die Interaktion haben. Einerseits liegt das Schwierige für die Gestaltung solcher Begegnungen oder den ungeplanten Ablauf darin, daß Organisationen und Institutionen und die mit ihnen verknüpften Werte und Einstellungen nur zum Teil in Bräuchen, Ritualen, Begriffen oder Verhaltensweisen sichtbar sind. Man spricht deswegen auch von Oberflächenkultur (surface culture) und Tiefenkultur (deep culture) (vgl. Fowler/Steinwachs/Corbeil 1993, S. 8) oder auch von einem "Eisbergmodell" der Kultur, weil auch bei einem Eisberg nur ein Teil sichtbar an der Oberfläche des Wassers ist:
 
 

Andererseits liegt das Schwierige darin, daß wir, wie das Hoopesmodell deutlich macht, zunächst von eigenen ethnozentrischen Vorstellungen ausgehen und das Unbekannte häufig mit Kategorien des Eigenen zu verstehen suchen. Dieses Vorgehen ist aus kognitiver Sicht nicht zu vermeiden. Unreflektiert ergeben sich hieraus jedoch eine Reihe von Konflikten.

Typische Beispiele für solche Konflikte, die  auf unterschiedlichen und /oder nicht erkennbaren kulturellen Werten und Einstellungen beruhen, sind etwa der türkische Schüler, der weibliche Lehrer nicht als Autoritätspersonen akzeptiert; die koreanischen Studenten, die die Aufforderung des deutschen Dozenten ablehnen, sich selbständig in Kleingruppen aufzuteilen, weil das Ansprechen eines Individuums eine Botschaft der Mißachtung an die anderen ist; oder die deutschen Manager, die in Verhandlungen mit chinesischen Kollegen die anstehenden Probleme "auf den Tisch bringen", um sie in der Diskussion zu lösen, dabei aber scheitern, weil die chinesischen Partner Probleme lieber am Rande in kleinsten Runden besprechen, damit niemand das Gesicht verliert.

Um die Wirksamkeit solcher Phänomene bewußt zu machen, ganz besonders um das Problem der Interpretation kultureller Werte und Einstellungen selbst zu erleben, gibt es eine Reihe von Simulationsspielen, von denen eine kleine Auswahl im ersten Kasten der Grafik aufgeführt sind (vgl. die kritische Würdigung solcher Spiele bei Delkeskamp 1988). Gemeinsam ist all diesen Spielen, daß die Teilnehmer oder Teilnehmergruppen durch Vorgaben von Rollenkarten oder durch Anweisungen der Spielleiter konsistent mit bestimmten kulturellen Werten agieren sollen. Dabei ist die Spielsituation im allgemeinen so, daß die Werte einzelner Teilnehmer oder Teilnehmergruppen in Konflikt miteinander stehen oder es zumindest Kommensurabilitätsschwierigkeiten gibt.

In BafaBaFa zum Beispiel gibt es die "Alphas", die persönlichen Kontakt und Wärme innerhalb einer patriarchalischen Gesellschaft schätzen, während die "Betas" den Wert einer Person danach beurteilen, wie erfolgreich sie auf dem Marktplatz ist (vgl. Shirts 1977). In Clues and Challenges entwickeln die Teilnehmergruppen auf der Basis metaphorischer Rollenkarten (z. B. "Der Geist des Rotwilds billigt die Rotwildjäger nicht") eigene kulturelle Werte (vgl. Fowler/Steinwachs/Corbeil). Grundlage dieser auf den ersten Blick vielleicht befremdenden Rollenkarten sind in Clues and Callenges die kulturellen Dimensionen von Kluckhohn/Strodbeck (vgl. Kluckhohn/Strodbeck 1961). Ähnliche Prozeduren wie die gerade geschilderten gibt es auch in Barnga oder den Minoriten und Majoriten (Bashaikin/Bystrai/Flechsig 1993, S. 29-31).

In den folgenden Schritten müssen die Teilnehmer oder Teilnehmergruppen dann in allen der genannten Spiele jeweils in sehr unterschiedlichen Spielsituationen miteinander interagieren, was aufgrund der angelegten Konflikte zwischen den Werten oder aufgrund der Kommensurabilitätsschwierigkeiten problematisch ist. Je nach Spielanlage und Forcierung durch die Spielleiter kann es hierbei zu starken emotional geprägten Situationen kommen, die aber durchaus beabsichtigt sind. Denn ein wichtiges Erlebnis für die Teilnehmer ist, daß sie kulturelle Werte, die sie im Spiel in nur kurzer Zeit übernommen oder entwickelt haben, nach ebenso kurzer Zeit zu Konflikten führen oder zu Gefühlen der Hilflosigkeit ("Mit den andern kann man gar nichts anfangen!"). Es kann aber auch das sehr positive Gefühl eintreten, bestehende Schwierigkeiten überwunden und erfolgreich interagiert zu haben.

Wichtig für all diese Spiele  ist eine intensive Auswertung, in welcher die Teilnehmer  ihre 'üblichen' häufig nicht bewußten Handlungsmuster erkennen. Gleichzeitig bedarf es aber auch des Platzes für die Verarbeitung von Frustrationen, die bei einer Reihe von Teilnehmern auftreten.

Es muß nicht notwendigerweise auf die hier genannten Spiele zurückgegriffen werden.
Spielformen dieser Art lassen sich allein oder etwa unter studentischer Beteiligung auch im Rahmen von Projektseminaren für Fortgeschrittene entwickeln (eine gute Einführung in die Erstellung von Simulationen bieten Taylor/Walford). Denkbar sind auch Projektwochen in der Schule, in der Schüler der Oberstufe ein solches Spiel für Schüler der Unterstufe entwickeln und später ausprobieren. Anregungen für verschiedene kleinere Spiele und Spielelemente enthält das sehr lesenswerte Buch von Pike/Selby "Global Teacher. Global Learner" oder die Sammlung von Rademacher/Wilhelm "Spiele und Übungen zum Interkulturellen Lernen" (vgl. Literaturverzeichnis).

3.2 Methoden der Kulturanalyse

Das durch die Simulationen hoffentlich angeregte Aufmerksam- und Bewußtwerden für die Problematik kultureller Werte, ihrer schwierigen Interpretation und ihrer Konsequenzen auf die Interaktion soll im nächsten Schritt (Kasten 2) reflektierend bearbeitet werden, um zu einem "Verständnis" in Hoopes Sinne (vgl. S. 6) zu gelangen.

Hierzu wird ein Modell transkultureller Dimensionen zur Analyse und Interpretation eingeführt.
Von den drei in Kasten 2 aufgeführten Modellen will ich hier aus Raumgründen nur das Modell von Thompson/Ellis/Wildavsky skizzieren. Für das Modell von Thompson/Ellis/Wildavsky spricht,

Die zentralen Fragen von Kulturtheorien dieser Art und damit auch von Thompson, Ellis und  Wildavsky (TEW) lauten: Was sind kulturübergreifende Muster oder Dimensionen, die sich in verschiedenen Einzelkulturen nachweisen lassen? Wie bedingen solche Muster oder Dimensionen menschliches Verhalten? Der Lerner soll hier Selbstkompetenz entwickeln und sich Rechenschaft darüber abgeben, welche kulturellen Muster und Dimensionen sein eigenes Verhalten beeinflussen und dann ausgehend von dieser Selbsterkenntnis, das Fremde zu verstehen suchen. In Hoopes Modell wird hierdurch eine wichtige Zwischenstufe eingeführt. Der unreflektierte Ethnozentrismus soll in eine Reflexion über kulturelle Gemeinsamkeiten überführt werden. Diese Reflexion stellt auf der kognitiven Ebene ein Schema da, an das Wissen integriert werden kann und auf einer emotionalen Ebene soll es die Furcht vor dem Unbekannten mildern helfen.
TEW nennen fünf kulturelle Muster, die sie als Lebensstile ("ways of life") bezeichnen. Sie nehmen an, daß es diese Lebensstile in allen menschlichen Gemeinschaften gibt und in unterschiedlich großen Anteilen von den Menschen dieser Gemeinschaften vertreten werden (vgl. für die folgende Darstellung besonders Thompson/Ellis/Wildavsky 1990, S. 1-38).

Sie leiten diese Lebensstile, in Anlehnung an Mary Douglas, aus zwei  Grundkategorien sozialer Ordnung ab: Zusammengehörigkeit und Rangunterscheidung. Zusammengehörigkeit bezeichnet das Ausmaß, in dem ein Individuum sich an die Grenzen gebunden fühlt, die sich durch seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ergeben. Je mehr ein Individuum in eine Gruppe eingebunden ist, desto mehr macht es seine Entscheidungen abhängig von der Gruppe, wird es von der Gruppe determiniert.  Rangunterscheidung bezeichnet das Ausmaß, indem ein Individuum sich an externe Vorschriften gebunden fühlt. Je mehr ein Individuum sich an externe Vorschriften gebunden fühlt, desto weniger trifft es individuelle Entscheidungen.
Diese fünf Lebensstile werden in den folgenden Abschnitten kurz charakterisiert.

3.2.1 Hierarchische Lebensstile

Wenn ein Individuum in seiner Umgebung starke, streng geregelte Vorschriften  wahrnimmt und diesen Vorschriften genüge tun will und gleichzeitig zu einer sozialen Gruppe gehört, die strikt von anderen sozialen Gruppen getrennt ist, dann liegt eine hierarchische Orientierung vor. Die Kontrolle der Individuen findet einerseits über ihre sozialen Rollen statt und andererseits über andere Mitglieder ihrer Gruppe. Typische hierarchische Lebensstile finden wir im Kastensystem in Indien oder auch vielen bürokratischen Systemen, etwa wenn in einem deutschen Unternehmen die Stufenleiter von Sachbearbeiter, Unterabteilungsleiter, Hauptabteilungsleiter, Bereichsleiter usw. peinlich genau beachtet wird. Dabei kommt es zu spezifischen Verhaltensweisen und Kommunikationsstilen auf jeder Hierarchiestufe oder zwischen den Hierarchiestufen. Die zentralen Werte hierarchischer Lebensstile spiegeln sich in der Entwicklung strikter Ordnungsschemata wider. Dies gilt für die Präferenzen hierarchischer Ordnungen im sozialen Bereich - wie die gerade genannten Kastenordnungen oder bürokratischen Ordnungen -, aber auch in anderen Bereichen des Lebens wie Präferenzen für strikte Klassifikationen von Erkenntnisgegenständen in hierarchischen Klassifikationssystemen, z. B. in Thesauri oder Datenbanken.

Die Natur wird grundsätzlich als verletzlich betrachtet, aber innerhalb geregelter Grenzen erscheinen Interventionen in der Natur möglich. Allerdings dürfen diese Grenzen nicht überschritten werden, weil sonst eine Katastrophe erfolgt.

3.2.2 Individualistische Lebensstile

Individualistisch orientierte Personen fühlen sich weder an eine Gemeinschaft, noch an Vorschriften irgendwelcher Art gebunden. Alle Grenzen sind nur provisorisch und werden individuell ausgehandelt. Die Tatsache, daß Individualisten es ablehnen, selbst kontrolliert zu werden, schließt nicht aus, daß sie selbst Kontrolle ausüben. Zentrale Werte der Individualisten sind Eigenverantwortlichkeit, individuelle Leistungsfähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Das Idealbild des Individualisten ist der Self-Made-Millionär.

Die Natur erscheint dem Individualisten als sehr belastungsfähig. Sie kann auch größere Eingriffe oder Experimente verkraften. Typisch ist etwa die Berufung auf die starke Selbstreinigungskraft des Meers, die bisher noch jede industrielle Belastung verkraftet habe.

3.2.3 Egalitäre Lebensstile

Egalitäre Personen machen ihre Entscheidungen vorzugsweise von Gruppenentscheidungen abhängig, bevorzugen eine geringe Rollendifferenzierung in ihren Gruppen, lehnen die Kontrolle einzelner über andere ab. Zentrale Werte sind Verteilungsgerechtigkeit, Gemeinschaftszugehörigkeit, Einheitlichkeit und Gleichheit. Typische egalitäre Vorstellungen finden wir bei den Kommunarden der 68iger Generation. Ebenso spiegelt der Wunsch nach Basisdemokratie mit dem obligatorischen Rotationsprinzip der grünen Politiker zu Beginn ihres politischen Wirkens solche Präferenzen wider.

Die Natur wird als verletzliches und leicht zu störendes Gleichgewichtssystem betrachtet und zentraler Wert ist das Streben nach einem Leben im Einklang mit der Natur.

3.2.4 Fatalistische Lebensstile

Personen, die externen Vorschriften große Bedeutung beimessen und sich gleichzeitig keiner Gruppe zugehörig fühlen, werden als Fatalisten bezeichnet. Sie werden von außen kontrolliert und handeln selten autonom. Z. B. entscheiden sie selten selbst, mit wem sie soziale Beziehungen aufnehmen oder wie sie ihre Zeit verbringen usw. Zentrale Werte der Fatalisten sind Anpassungsfähigkeit an diejenigen, die sie kontrollieren, und Improvisationsfähigkeit. Ein typischer Fatalist ist nach TEW der nicht gewerkschaftlich organisierte Weber der viktorianischen Zeit, der sich ausbeuten läßt.

Die Natur ist aus fatalistischer Warte unberechenbar. Gezielte Interventionen sind aufgrund der Unberechenbarkeit sinnlos.

3.2.5 Eremitische Stile

Eremiten ziehen sich von allen Formen sozialer Kontrolle zurück und vermeiden möglichst die Interaktion mit anderen. Eremiten lassen sich nicht kontrollieren, kontrollieren aber auch keine anderen. Zentrale Wertvorstellungen sind die der geistigen Freiheit und Bescheidenheit. Nicht wenige Wissenschaftler sind in ihrem sprichwörtlichen Elfenbeinturm heutzutage Eremiten. Aber auch der Aussteiger, der sich auf einen einsamen Landbauernhof zurückzieht, gehört dazu.  Eremitentum ist somit nicht an genuin religiöse Kontexte gebunden.

3.2.6 Interdependenz der Lebensstile

Kulturen zeichnen sich nach TEW nun dadurch aus, daß Mitglieder dieser fünf Lebensstile in einem unterschiedlichen Anteil in ihnen vertreten sind und miteinander interagieren und konkurrieren. Dabei besteht eine Abhängigkeit der einzelnen Stile voneinander. Der Hierarchische kann sich entfalten und selbst definieren, in dem er sich als Gegenbild des Egalitären versteht, ebenso wie der Egalitäre sich als Gegenbild zum Hierarchischen versteht. Und auch der leistungsorientierte Individualist entfaltet seine eigene Rolle und sein eigenes Handeln mit Blick auf den Fatalisten, der - ganz anders als er - sein Leben nicht selbst gestaltet, sondern sich anpaßt. Selbst der Eremit könnte nicht Eremit sein, wenn es nicht diejenigen gäbe, von denen er sich zurückziehen kann.

3.3 Analyse der eigenen Kultur

Diese nur fünf Dimensionen sind ein mächtiges Mittel der Interpretation des eigenen Verhaltens in der Kultur, des Verhaltens anderer, oder auch der Interpretation kultureller "Verkörperungen und Produkte".

Bleiben wir zunächst beim eigenen Verhalten. Sie können sich als Leser dieser Zeilen selbst einmal fragen: In welchen Bereichen des Lebens handeln Sie eher hierarchisch, individualistisch, egalitär, fatalistisch oder eremitisch? Wird etwa im Beruf eine individualistische Präferenz verfolgt, während im privaten Bereich eher eine egalitäre Handlungsweise bevorzugt wird, oder herrscht bei individualistischer beruflicher Prägung möglicherweise im familiären Bereich eine patriarchalisch hierarchische Struktur, sind Sie aufgrund beruflicher Frustrationen in ihrem Beruf vielleicht zum Fatalisten geworden und leben Sie als Individualist privat ihre Hobbys aus? Die Beispiele sind bewußt so kraß gewählt, um die Problematik des möglichen Nebeneinanders dieser Orientierungen deutlich zu machen.

Bei solchen Überlegungen muß immer das von TEW so bezeichnete "kulturelle Mimikry" beachtet werden. Es ist eine Sache zu verkünden, man sei egalitär eingestellt und eine andere Sache, auch tatsächlich so zu handeln. Mimikry meint hier, daß es häufig opportun (vielleicht auch "politically correct") erscheint, einen bestimmten Lebensstil zumindest zu verkünden, tatsächlich wird jedoch anders gehandelt.

Das Zusammenwirken dieser Lebensstile finden wir nicht nur in  unserem individuellen Verhalten sondern auch in kulturellen Verkörperungen und Produkten wie Filmen, Literatur, Sachtexten oder auch realen Alltagssituationen. Selbst in Verfassungen finden sich solche Lebensstile wieder, denn sie zeichnen sich dadurch aus, inwiefern sie die genannten "ways of life" zulassen, verwerfen oder ihre Verwirklichung unterstützen. Sie sind in der Entstehung das Produkt aufeinandertreffender unterschiedlicher Handlungspräferenzen im gerade geschilderten Sinne. Es lohnt sich unter dieser Perspektive Verfassungen zu analysieren und zu vergleichen. Schauen Sie einmal, inwieweit in unserer Verfassung die fünf Lebensstile repräsentiert oder inwieweit unsere Verfassung diesen Lebensstilen Entwicklungsmöglichkeiten einräumt!

Vor dem Hintergrund der Analyse und Interpretation des eigenen Verhaltens und der Analyse kultureller "Produkte und Verkörperungen" ist es eine wichtige Erfahrung, sich in einem Rollenspiel einmal in andere als die eigenen Lebensstile hineinzuversetzen und konsequent gemäß einem solchen anderen Lebensstil zu handeln oder sich mit diesen anderen Stilen auseinanderzusetzen. Dies kann z. B. in einer Simulation geschehen, in der individualistisch orientierte Lerner die Aufgabe haben, für eine Änderung der eigenen Verfassung zu plädieren, die egalitäre Interessen stärkt und individualistische beschneidet. Es können Streitgespräche zu aktuellen Themen stattfinden, in denen die Vorgabe gemacht wird, streng auf der Basis eines dieser Lebensstile zu agieren - etwa in einem Streitgespräch für oder gegen die Versenkung von Ölplattformen in der Nordsee.

3.4 Analyse der Zielkultur

Dieser Schritt ist im Prinzip ein Spiegelbild des vorangehenden, nur daß es dieses Mal nicht um Phänomene des eigenen Verhaltens oder der eigenen Kultur geht, sondern eine fremde Kultur steht in diesem Fall im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses.

Die Analyse und Interpretation des eigenen kulturellen Verhaltens und der eigenen Kultur, die bei vielen Lernern zu Überraschungen führt (z. B. "Ich hätte nie gedacht, daß ich in manchen Bereichen so individualistisch sein kann!") hat auch eine wichtige emotional affektive Funktion: Der von seinem eigenen Verhalten und seiner eigenen Kultur überraschte Lerner kann nun möglicherweise leichter das Überraschende in der anderen Kultur akzeptieren und anerkennen. Zumindest kann der Lerner erkennen, daß Lebensstile, die er emotional eher ablehnt, wie etwa starke egalitäre Orientierungen, auch in seiner eigenen Kultur - möglicherweise sogar im eigenen Verhalten - vorkommen, allerdings weniger stark ausgeprägt. Dies ist ein wichtiger Aspekt, Akzeptanz und Anerkennen oder ein Beuteilen und Bewerten des Fremden zu erleichtern.

Auch hier besteht die Möglichkeit, kulturelle Situationen auf der Basis der Lebensstile spielerisch umzusetzen und zu interpretieren. Während bei der Analyse der eigenen Kultur Rollenspiele jedoch eher die Funktion haben, einmal die eigene Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen und zu erleben, besteht hier die Möglichkeit, kritische Situationen in der Zielkultur in einer sicheren simulierten Umwelt zu üben.

3.5 Entwicklung kultureller Regeln der Zielkultur

Der Kontrast von Selbstreflexion und Fremdreflexion ist die Basis dafür, kulturelle Regeln der Zielkultur selbst zu entwickeln und sie nicht aus einem vorgegeben Regelkatalog zu entnehmen. Dabei können diese Regeln durchaus interessenspezifisch erstellt werden - etwa im Hinblick auf einen universitären Kontext, in dem Lerner sich vielleicht vorwiegend aufhalten möchten.

Die Regeln können im Sinne der Überlegungen zur "critical incident technique" an kritischen Entscheidungssituationen festgemacht werden (vgl. Flanagan 1954). D.h. aufgrund der Analyse der eigenen Kultur und der Analyse der Zielkultur sollte eine Reihe von Situationen identifiziert werden, in denen es nach Meinung der Lerner zu Konflikten kommen könnte. Der erste Schritt ist die Beschreibung eines solchen Konflikts und eine Deutung seiner möglichen Ursachen. Der zweite Schritt eine Ableitung von Regeln hieraus.

Zur Illustration sei an das eingangs genannte Beispiel der Koreaner erinnert, die sich nicht selbständig in Kleingruppen aufteilen wollten, weil das Ansprechen eines Individuums eine Botschaft der Mißachtung an die anderen wäre. In diesem Fall können wir von einer strikten egalitären Orientierung der koreanischen Studenten sprechen, die verlangt, in der Interaktion mit mehreren Person keine Personen in besonderem Maße herauszuheben - in diesem Fall, indem ich sie anspreche, mit mir zusammen in eine Gruppe zu gehen. Hieraus können eine Reihe von Regeln abgeleitet werden. Diejenigen, die für koreanischen Studenten Lehrveranstaltungen organisieren, sollten gruppendynamische Situationen vermeiden, in denen das Herausheben von Individuen im oben geschilderte Sinne verlangt wird. Dozenten sollten wohl in Hinblick auf Gruppen- organisationen stärkere Vorgaben machen, als sie es vielleicht mit deutschen Studenten gewohnt sind. Lerner, die sich in den Kontext koreanischer Universitäten begeben, können aus der geschilderten Situation ableiten, daß ihr 'normales' (?) Verhalten an deutschen Universitäten, in Gruppensituationen offen Sympathie für die eine oder andere Person zu zeigen, zu Störungen im koreanischen Kontext führen kann.

3.6 Überprüfung der Regeln in oder an einer Zielkultur

Bei der Erstellung der Regeln kommt es zunächst darauf an, daß sie konsistent mit der geleisteten Selbst- und Fremdreflexion sind. Sie sind zunächst nichts weiter als Hypothesen. Idealerweise werden diese Hypothesen bestätigt oder verworfen durch einen Aufenthalt in der Zielkultur oder zumindest durch Kontakt mit Personen aus einer solchen Zielkultur. Ein wichtiges Instrument des Überprüfens ist die Analyse kritischer Entscheidungssituationen durch die Lerner (vgl. Flanagan 1954).

4. Lerntheoretische Reflexion

Das hier vorgestellte Modell der Entwicklung interkultureller Kompetenz im Kontext globalen Lernens ist einerseits durch die Anforderungen motiviert, die sich aus der eingangs geschilderten Situation eines globalen Handlungsbezugs mit seinen vielfältigen Problemen ergeben. Andrerseits spielen eine Reihe von lerntheoretischen Überlegungen eine wichtige Rolle, die bisher immer nur am Rande angesprochen wurden, und hier noch einmal zusammengefaßt werden sollen. Diese lerntheoretischen Überlegungen kreisen fast alle um die Frage: Wie kann man mit dem Problem der Komplexität im Umgang mit kulturellen Überschneidungssituationen umgehen?

Das hier vorgeschlagene Stufenmodell konzentriert sich bei der Antwort auf diese Frage vor allem auf den Aspekt der Modellbildung. Die hier vertretene These ist, daß Komplexität nur durch die Förderung der Fähigkeit zur Modellbildung bewältigt werden kann. Es ist nicht möglich, so etwas wie einen "kompletten Satz an Wissen" an Lerner zu übertragen, der ihnen hilft, alle Probleme interkultureller Überschneidungssituationen zu lösen.

Als Bedingungen der Möglichkeit von Modellbildung seien hier folgende Aspekte besonders hervorgehoben:

Wer hierin einen zu großen Schematismus oder Relativismus erblickt, sei an die gegenwärtigen Alternativen erinnert. Es gibt eine Reihe inhaltlich sehr guter Materialien, die sich mit Problemen der sogenannten "einen Welt" auseinandersetzen. Es gibt z. B. Materialien zum Problem des Hungers, zur wachsenden Weltbevölkerung (vgl. z. B. Eine Welt für alle 1994),  zur Konfliktbearbeitung (vgl. z. B. Jäger 1996) oder Reader zu einer Gesamtproblematik "eine Welt" (vgl. z. B. Gugel 1996). Sie bieten in ihren Aufgabenstellungen jedoch wenig Möglichkeiten, die vielen "Wissensinseln", die möglicherweise entwickelt werden, miteinander zu verknüpfen. Darüber haben solche Materialien häufig einen Schwerpunkt auf der Entwicklung von Sachkompetenzen im Sinne der Vermittlung von Orientierungswissen. Selbstkompetenzen, Sozialkomptenzen und auch Handlungskompetenzen werden zumindest in den gedruckten Aufgabenstellungen vernachlässigt. Erfreulich ist - zumindest bei den gerade genannten neueren Materialien, daß die eigene Situation (als Individuum in einer Kultur, als deutscher Staatsbürger und nicht als anonymes Mitglied des Westens) häufig mit berücksichtigt wird  und damit zumindest in Ansätzen Selbstreflexion geleistet wird und nicht nur das Fremde oder Globale Thema des Unterrichts ist.

Wichtig für einen sinnvollen Einsatz von Bänden, die wertvolle Materialien enthalten, wie den gerade genannten, scheint mir eine Gesamtstrategie im Unterrichtssystem. Zu solch einer Strategie gehört es, die hier geschilderten Stufen der Entwicklung interkultureller Kompetenz und den Komplex an Einzelkompetenzen, der dazu gehört, in Form eines Spiralcurriculums immer wieder aufzugreifen. Das Aufgreifen einzelner Einheiten aus diesen Materialien, etwa im Sozialkundeunterricht oder im Geschichtsunterricht (Tenor: "Wir machen jetzt einmal eine Einheit von 10 Stunden über globale Probleme!"), scheint mir ohne integrierende Perspektive zumindest für die Entwicklung interkultureller Kompetenz wenig hilfreich.

5. Zusammenfassende Thesen zur Entwicklung interkultureller Kompetenz in Kontexten globalen Lernens

  1. Eine herausragende Kompetenz, um die es beim globalen Lehren und Lernen geht, ist die Fähigkeit, kulturelle Überschneidungssituationen so zu gestalten, daß Mitglieder verschiedener Einzelkulturen sich präsentieren und austauschen können, und jeder zumindest versucht, die Positionen des anderen zu verstehen.
  2. Um die Entwicklung interkultureller Kompetenz zu gewährleisten, bedarf es zunächst der kulturellen Sensibilisierung, in der Phänomene wie Streß, Unsicherheit, Unzufriedenheit oder Ignoranz als Phänomen kultureller Berührung nicht von außen beobachtet, sondern konkret erfahren und erlebt werden.
  3. Die Entwicklung der Fähigkeit zur Kulturanalyse folgt auf die kulturelle Sensibilisierung. Die kuluranalytischen Fähigkeiten schaffen einen Interpretationsrahmen für das Verstehen des eigenen kulturbedingten Handelns und das Verstehen des Handelns von Mitgliedern anderer Kulturen. Sie ermöglichen, unterschiedlichste Erfahrungen zu integrieren.
  4. Die Entwicklung interkultureller Kompetenz vollzieht sich immer im Kontrast von Eigenkultur und Fremdkultur oder Selbstreflexion und Fremdreflexion.
  5. Die Kenntnis der Dimensionen der eigenen Kultur, die Orientierung und Verhalten beeinflussen, darf nicht vorausgesetzt, sondern muß im allgemeinen erst noch entwickelt werden.
  6. Je oberflächlicher die Kenntnisse der Dimensionen der eigenen Kultur sind, desto oberflächlicher bleiben die Ergebnisse der Fremdreflexion.
  7. Das Wechselspiel von Sensibilisierung und Analyse und von Selbstreflexion und Fremdreflexion darf im Unterricht nicht nur auf eine einzelne Stunde oder auf einen einmaligen Lehrgang etwa des Faches Sozialkunde beschränkt werden. Idealerweise werden Aspekte der Entwicklung interkultureller Kompetenz fächerübergreifend und in Form eines Spiralcurriculums vermittelt.

Verzeichnis der verwendeten Literatur

Davis, M. (1994): City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin/Göttingen.
Eine Welt für alle e. V. 1994: Ein überbevölkerter Planet. Unhterrichtsmaterialien zum thema Weltbevölkerung für Sek. I (ab Klasse 8) und Sek. II, Bielefeld.

Flanagan, J. C. (1954): The Critical Incident Technique, in: Psychological Bulletin, No. 51, S. 327-358.

Flechsig, K.-H.: Vorlesung zur Einführung in die Interkulturelle Didaktik, Wintersemester 1995/96 (Merkblättter für Studenten, unveröffentlicht).

Gugel, G. (1996): "Eine Welt" im Unterricht. Anregungen für einen handlungsorientierten Unterricht zum Themenbereich "Eine Welt" in den Sekundarstufen, Tübingen/Soest.

Haller, H.-D.: Kulturkonflikte, interkulturelle Verständigung und szenisches Lesen. Vortrag im Rahmen der öffentlichen Ringvorleseung "Friedens-Konflikt und Umweltforschung an der Universität Göttingen. Sommersemester 1995, 28. Juni. (unveröffentlichtes Manuskript).

Hammer,  M. R./Gudykunst, W. B./Wisemann, R. L. (1978): Dimensions of Intercultural Effectiveness: An Exploratory Study, in: International Journal of Intercultural Relations, Vol. 2, No. 4, S. 382-393.

Hannigan, T. P. (1990): Traits, Attitudes and Skills that are related to Intercultural Effectiveness and their Implications for Cross-Cultural Training: A Review of the Literature, in: International Journal of Intercultural Relations, Vol. 14, No. 1, S. 89-111.

Hofstede, G. (1980): Culture's Consequences. International Differences in work-related Values, London u. a.

Hofstede, G. (1991): Cultures and Organizations. Software of the Mind. Intercultural Cooperation and ist Importance for Survival, London u.a.

Hoopes, D. S. (1981): Intercultural Communication Concepts and the Psychology of Intercultural Experience, in: Pusch, M. D. (Hg.): Multicultural Education. A Cross Cultural Training Approach. Chicago, S. 9-38.

Jäger, U. (1996): Zivile Konfliktbeabeitung in der Einen Welt. ein Lern- und Arbeitsbuch für die Bildungsarbeit und den handlungsorientierten Unterricht, Tübingen/Soest.

Kiel, E. (1996): Kulturanalyse im Landeskundeunterricht als Mittel der Entwicklung interkultureller Kompetenz, in: FuH, 46, S. 82-101.

Kiel, E. (1994): Elemente einer Propädeutik des Fremdsprachenlernens, in: FuH, Nr. 42, S. 51-69.

Kiel, E. (1995): Interkulturelle Didaktik. Lernen und Lehren, wenn Kulturen sich be- gegnen, in: Trojaner, 3. Jg., Heft 1, S. 35-36.

Kluckhohn, F./Strodbeck, F.: Variations in Value Orientation, Evanston 1961.

Kroeber, A. L./ Kluckhohn, C.: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions, New York 1952.

Lange, C. (1994): Interkulturelle Orientierung am Beispiel der Trainingsmethode "Cultural Assimilator", Göttingen.

Pike, G./Selby, D. (1988): Global Teacher. Global Learner, London u.a.

Rademacher, H./Wilhelm, M. (1991): Spiele und Übungen zum Interkulturellen Lernen, Berlin.

Sandhaas, B. (1988): Interkulturelles Lernen - Zur Grundlegung eines didaktischen Prinzips interkultureller Begegnungen, in: International Review of Education, Vol. 34, No. 4, S. 415-438.

Taylor, J .L./Walford, R. (1974): Simulationsspiele im Unterricht, Ravensburg.

Thompson, M./Ellis, R./Wildavsky, A. (1990): Cultural Theory, Boulder u.a.

Treml, A. K. (1995): Eine Welt für alle? Entwicklungspädagogische Herausforderungen und Perspektiven, in: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (Hg.): Entwicklungspolitische Bildung auf dem Prüfstand. Bestandsaufnahme und Perpektiven, Soest.

Welsch, W. (1995): Transkulturalität. Zur veränderten Verfaßtheit heutiger Kulturen, in: Zeitschrift für Kulturaustausch, 45 Jg., Heft 1, S. 39-44.

Verzeichnis der zitierten Spiele/Simulationen

Bashaikin, N./Bystrai, H./Flechsig, K.-H.: Ein Trainingsprogramm zur Aus- und Weiterbildung im Breich "Interkulturelle Mediation" (Enthält das Spiel: "Minoriten und Majoriten"). Institut für Interkulturelle Didaktik. Internes Arbeitspapier 2/1993, S. 29-32.

Flechsig, K.-H. (1995): Penta-Kulturspiel, Göttingen.3

Fowler, S. M./Steinwachs, B. (mit ausführlicher Hilfe von P. Corbeil) (1987): Clues and Challenges. Hilfen und Herausforderung. Deutsches Kommitee YOUTH FOR UNDERSTANDUNG e. V., Hamburg 1993.4

Shirts, G. (1977): BaFa'BaFa'. A Cross Culture Simulation. Directors Guide, Del Mar (Kalifornien).

Thiagaran, S./Steinwachs, B. (1990): Barnga. A Simulation Game on Cultural Clashes. Intercultural Press Yarmouth.
 


1. Die Darstellung des Modells der Entwicklung interkultureller Kompetenz in Kap. 3 ist zum Teil von Kiel 1996 übernommen worden.

2. Die Dimensionen von Thompson/Ellis/Wildavsky haben große Ähnlichkeit mit den von Hofstede in großem Maßstab empirisch untersuchten Dimensionen und auch eine Reihe, wenn auch weniger deutlicher Anknüpfungspunkte an das Modell von Kluckhohn/Strodtbeck 1961.

3. Bezugsquelle: Zentrum für didaktische Studien e.V.; Über der Worth 15, 37176 Nörten-Hardenberg. E-mail: kflechs@gwdg.de

4. Bezugsquelle: Deutsches Kommitee für YOUTH FOR UNDERSTANDING, Postfach 301247, Hamburg.