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Die Legende vom heiligen Grab

In der Grabeskirche wird ein vermeintlich Auferstandener am falschen Ort verehrt

Vor genau 100 Jahren besuchte Kaiser Wilhelm II. das Heilige Land. Viele verlachten und bespöttelten damals seine Jerusalemreise, die vor allem politischen Zielen diente. Der Kaiser wollte nämlich die am Suezkanal stehenden Engländer darauf aufmerksam machen, daß mit ihm und seinem deutschen Reich auch im Nahen Osten fortan zu rechnen sei. Aber er verfolgte mit seiner Wallfahrt auch einen religiösen Zweck. Er empfahl sich nämlich dadurch als Protektor sowohl der evangelischen als auch der römisch-katholischen Kirche. Gleichzeitig wollte Wilhelm mit seiner Palästinareise Sympathie für die jüdische Bevölkerung Jerusalems bekunden. Diese revanchierte sich prompt durch den Bau eines Triumphbogens für den Monarchen, auf dem mit hebräischen und deutschen Buchstaben ein biblischer Psalmvers stand: "Gesegnet sei, der da kommt! Im Namen des Herrn grüßen wir Euch aus dem Hause des Ewigen." Der Kaiser gedachte aber auch seiner christlich-abendländischen Herkunft und stiftete zwei Kirchen: die katholische Dormitiokirche auf dem Zionsberg, die an der Stelle steht, wo die Jungfrau Maria entschlafen sein soll, und die nahe bei der Grabeskirche gelegene deutsch-lutherische Erlöserkirche, mit deren Konstruktion man bereits 1893 begonnen hatte. Ihr 45 Meter hoher neuromanischer Glockenturm war vom Kaiser selbst entworfen worden. Für eine der Glocken hatte er sogar ein Wort des Propheten Jesaja als Aufschrift ausgewählt: "Tröstet, tröstet mein Volk und redet mit Jerusalem freundlich." Die Erlöserkirche wurde am Reformationsfest 1898 feierlich eingeweiht, und Wilhelm II. ritt mit großem Pomp in Jerusalem ein. Ein seidener Kreuzrittermantel bedeckte dabei seine weiße Ulanenuniform.

800 Jahre zuvor hatten sich bereits andere politische Aspiranten als Verteidiger des Heiligen Landes empfohlen. Die Kreuzritter, an deren Beispiel Wilhelm II. erinnern wollte, unternahmen seit Ende des 11. Jahrhunderts 200 Jahre lang Kriegszüge ins Heilige Land, um dort christliche Besitzrechte wiederherzustellen. Der erste Kreuzzug wurde ausgelöst durch den Aufruf von Papst Urban II. im Jahre 1095. Er forderte den christliche Adel auf, Jerusalem von den ungläubigen Moslems zu erlösen und das Heilige Grab in Jerusalem zu befreien. Etwa 100.000 Menschen - davon ungefähr acht Prozent Adlige und Ritter, der Rest Idealisten, einfaches Volk und zum Teil Kriminelle - zogen in einem beispiellosen Akt höherer Seeräuberei in zwei Schüben ins Heilige Land. Ihr gewaltiges Aufgebot charakterisierte der berühmte englische Historiker Edward Gibbon wie folgt: "Es waren die Dümmsten und Wildesten, die ihre Andacht mit einer brutalen Zügellosigkeit von Plünderung, Prostitution und Trunksucht mischten." Jerusalem wurde wieder christlich, als das Kreuzfahrerheer es am 15. Juli 1099 eroberte. Das Gemetzel war furchtbar. Leidtragende waren die dort ansässigen Moslems und Juden. Letztere verbrannte man bei lebendigem Leibe in ihren Synagogen. Die christliche Herrschaft über Jerusalem dauerte aber nur knapp 100 Jahre: Sie fand ihr Ende durch den Sultan von Ägypten und Syrien, Saladin, im Jahre 1187. Er war toleranter als die Eroberer und ließ die christliche Bevölkerung in Frieden. Doch befahl er, alle christlichen Spuren auf dem Tempelberg zu verwischen. Fortan blieb der Platz auch nach weiteren vergeblichen Kreuzzügen in moslemischem Besitz. Seit dem Jahre 691 ziert ihn der Felsendom, das früheste und bedeutendste islamische Heiligtum in Jerusalem. Es hat die Jahrhunderte weitgehend intakt überstanden.

Die gewaltsame christliche Wiederaneignung von Orten, die von Heiden in Besitz genommen waren, hat eine lange Geschichte. 800 Jahre vor Beginn des ersten Kreuzzugs legte Kaiser Konstantin (306-337 n.Chr.), der sich auf dem Sterbebett christlich taufen ließ, unter maßgeblicher Einwirkung seiner frommen Mutter Helena die eigentliche Grundlage für die Verehrung der heiligen Stätten im Heiligen Land. Zu jener Zeit beschritt man christlicherseits den Weg, heidnische Tempel in Kirchengebäude umzuwandeln, damit der Kern der jeweiligen Städte mit Gotteshäusern angereichert werde. Wie das in Palästina vonstatten ging, schildert der Kirchenvater und Günstling Konstantins, Euseb von Cäsaraea (ca. 260-340 n.Chr.). Er erzählt in seiner Schrift "Über das Leben des seligen Kaisers Konstantin", wie im Jahre 326 n.Chr. unter einem Tempel der Venus das Grab Christi wieder aufgefunden worden sei. Er heißt dort: "Diese heilbringende Höhle hatten einige Gottlose und Verworfene bei den Menschen gänzlich in Vergessenheit bringen wollen, von dem Wahne geleitet, dadurch wohl die Wahrheit verbergen zu können ... (Aber nach der Zerstörung des Venustempels) zeigte sich wider alle Erwartung das hehre und hochheilige Denkmal der Auferstehung" (III 26-28). Daraufhin gab Konstantin unverzüglich den Befehl, "ein gotteswürdiges Bethaus rings um die Grotte des Erlösers, mit reicher, wahrhaft königlicher Pracht, zu bauen" (III 29).

Es konnte nicht ausbleiben, daß bald danach weitere Sensationsfunde folgten: Konstantins Mutter Helena entdeckte unter kräftiger Mithilfe des Jerusalemer Bischofs Kyrill das Kreuz, an dem Jesus gestorben war, in unmittelbarer Nähe seines Grabes wieder. Denn - so die Überlieferung - der Heilige Geist gab ihr ein, sich auf die Suche nach dem Kreuzesholz zu begeben. Sie habe drei Kreuze gefunden, ohne daß das echte für sie erkennbar gewesen sei. Aber der Heilige Geist habe sie natürlich nicht im Stich gelassen und ihr auf dem mittleren Kreuz die Kreuzesinschrift geoffenbart, durch die es zweifelsfrei als das Kreuz Jesu identifizierbar war.

Dies alles führte zu einer wahren Springflut von Neuentdeckungen und Wiedererkennungen derjenigen Orte, an denen Jesus während seines letzten Jerusalemaufenthaltes gewesen sein soll. Das Kreuzesholz von Jerusalem vervielfältigte sich sprunghaft, denn Splitter von ihm wurden in alle Welt zerstreut, die - addiert - das Material für Hunderte von Kreuzen liefern würden. (Hinsichtlich der stupenden Duplizierungen könnte es mit dem Kreuz allenfalls nur noch die Muttermilch der Maria aufnehmen, von der so viel - ungesäuert - in zahlreichen Kirchen aufbewahrt wurde, daß die ganze Babygeneration einer mittelgroßen Stadt davon hätte satt werden können.) Die Wiederentdeckung des Felsens Golgatha, auf dem Jesus nach den Berichten des Neuen Testaments gekreuzigt wurde, schloß sich unmittelbar an; den Felsen verlegte man, unter Bezug auf biblische Hinweise, in die direkte Nähe des Grabes Jesu, so daß er sich bald im Bereich der Grabeskirche befand. Beide Orte, das Grab Jesu und Golgatha, wurden zu Heiligtümern in orientalischem Sinne: Golgatha als Mittelpunkt der Welt, das Grab als eine seit Weltbeginn heilige Stätte, schließlich Tod und Auferstehung als Offenbarung des geheimnisvollen Sinnes beider Orte. Mit dem Bau der Grabeskirche und infolge der mit ihr verbundenen Deutungen nahm der Pilgerstrom nach Jerusalem ungeahnte Ausmaße an und wurde auch durch die moslemische Eroberung Palästinas im 7. Jahrhundert nicht wirklich beeinträchtigt.

Religiöses Bedürfnis verlangte von Anfang an danach, Orte des Heiligen Landes und die in der Bibel erzählte Geschichte miteinander in Beziehung zu setzen. Dabei spielte es keine Rolle, daß diese Identifizierungen in vielen Fällen auf tönernen Füßen stehen. So sind z.B. weder der Ort der Himmelfahrt Jesu auf dem Ölberg, wo sich sogar ein Fußabdruck Jesu erhalten haben soll, noch der Ort des Heimgangs der Maria tatsächlich identifizierbar. Der Schwindel mit Reliquien kam hinzu. Ein makabres Beispiel hierfür ist die besondere Vorliebe deutscher Adliger im 15. Jahrhundert, die Überreste derjenigen Säuglinge aufzuspüren, die König Herodes - in der Hoffnung, unter ihnen befinde sich auch das Jesuskind - dem Evangelium nach Matthäus zufolge umgebracht haben soll. Diese Säuglinge waren allerdings schon deshalb nicht auffindbar, weil Herodes den Kindermord von Bethlehem nie begangen hat. Doch boten geschäftstüchtige Händler den gierigen Pilgern Säuglingsleichen zum Kauf an, die in Ägypten einbalsamiert und dann in großen Mengen nach Jerusalem exportiert wurden.

Irgendwie haben es menschliche Sehnsucht und menschliche Forschungstätigkeit in einer seltsamen Union doch noch geschafft, die beiden wichtigsten heiligen Orte, den der Geburt und den des Begräbnisses Jesu, mit den Angaben der Bibel zu versöhnen. So soll die Geburtskirche in Bethlehem, deren Bau ebenfalls auf die fromme Helena zurückgeht, über der Höhle der Geburt Jesu errichtet worden sein. Doch ist das sicher unrichtig, da Jesus gar nicht in Bethlehem geboren wurde. Die diesbezüglichen Aussagen der Heiligen Schrift sind Postulate der biblischen Verfasser: Der Messias m u ß t e in Bethlehem geboren werden, deshalb w u r d e er dort auch geboren. Es handelt sich um Prophezeiungen aus dem Alten Testament, deren Erfüllung nachträglich einfach behauptet wurde. Man funktionierte sie also kurzerhand zu Geschichte um.

In der Grabeskirche, von orthodoxen Christen Auferstehungskirche genannt, verehren christliche Pilger aller Bildungsschichten das ursprüngliche Grab Jesu, auch wenn dieser Lokalisierung zuweilen eine gewisse Konkurrenz durch das von dem Engländer Gordon im letzten Jahrhundert entdeckte "Gartengrab" erwuchs. Denn daß Jesus in zwei verschiedenen Gräbern bestattet worden sei, das mochte wohl auch der frömmste Pilger nicht glauben. Doch muß gegenüber beiden Fundorten mit aller Klarheit eingewandt werden, daß es zur Zeit Konstantins gar keine jerusalemische Überlieferung über Golgatha und das Grab Jesu gab. Wie der oben angeführte Fundbericht aus der Feder des Kirchenvaters Euseb eindeutig zeigt, war ein Wissen um die Lokalisierung dieses Grabes im 4. Jahrhundert gar nicht mehr vorhanden. Dies ist nicht erstaunlich, wenn man sich die Zeit zwischen dem Leben Jesu und der Hinwendung Konstantins zum Christentum vergegenwärtigt.

Die älteste Quelle zum Grab Jesu, ein Brief des Apostels Paulus an die Korinther aus den fünfziger Jahren des 1. Jahrhunderts, verrät keinerlei Kenntnis seines Ortes. Paulus spricht im Anschluß an Überlieferung lapidar davon, Jesus sei nach seinem Tod begraben worden. Diese Aussage über das Begräbnis bekräftigt die Tatsächlichkeit des Todes Jesu und läßt sich keinesfalls dahingehend verwerten, daß den Christen der Ort des Begräbnisses Jesu bekannt gewesen sei. Vielmehr bestehen sogar ernsthafte Zweifel daran, daß Jesus überhaupt bestattet wurde: Der tausendfach praktizierte römische Usus war, Gekreuzigte zur Abschreckung absichtlich am Kreuz hängen zu lassen, damit diese dann von Raubvögeln und Schakalen gefressen würden. Mit anderen Worten, möglicherweise war die christliche Tradition, Jesus sei vom Kreuz abgenommen und begraben worden, bereits eine Abschwächung der Brutalität seiner Exekution und der mit ihr verbundenen Folgen.

Außerhalb der paulinischen Briefe finden sich vor dem Jahre 70, dem Datum der Zerstörung Jerusalems, überhaupt keine Hinweise auf das Grab. Der älteste Evangelist, Markus, berichtet davon, daß die Frauen, die das Grab leer fanden, von ihrer Entdeckung niemandem etwas gesagt haben. Das darf dahingehend gedeutet werden, daß Markus seinen Lesern erklärt, warum sie von einem Begräbnis oder einem leeren Grab vorher nichts erfahren haben. Erst die aus dem Ende des 1. Jahrhunderts stammenden Evangelien nach Matthäus, Lukas und Johannes, die allesamt den Bericht des Markus verarbeiten, sprechen von einer Ausbreitung der Kunde vom leeren Grab Jesu unter den Jüngern. Aber diese Berichte stehen in keinerlei historischem Zusammenhang mit dem, was nach dem Tode Jesu wirklich in Jerusalem geschehen ist.

Auch jegliche Hinweise auf eine Verehrung des Grabes oder auf Wallfahrten nach Jerusalem fehlen für die Zeit bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts. Das ist auf dem Hintergrund der Tatsache zu verstehen, daß nach dem ersten jüdischen Aufstand mit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.Chr. nicht nur der jüdischen Gemeinde, sondern auch der jungen Kirche der bisherige Mittelpunkt genommen worden war: Angesichts der Entweihung des heiligen Ortes hatte Jerusalem nunmehr wenig zu bieten. Die Situation wurde für Juden und Judenchristen noch schwieriger, als Kaiser Hadrian im Jahre 135 nach dem zweiten jüdischen Aufstand das seit 70 in Trümmern liegende Jerusalem als heidnische Kolonie namens Aelia Capitolina neu aufbaute und den beschnittenen Juden bei Todesstrafe verbot, sie zu betreten.

Ein erstes sichtbares Interesse für Jerusalem finden wir dann in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts bei dem Bischof Meliton von Sardes, der sich, auf einer Palästinareise befindlich, ein Verzeichnis der alttestamentlichen Bücher besorgte. In einer erst vor einigen Jahrzehnten wiedergefundenen Predigt über das Passahfest erwähnt er die Tötung Jesu durch "gottesmörderische Juden", geht aber an keiner Stelle auf das Grab Jesu ein. Man hat aus seiner Bemerkung, daß Jesus inmitten von Jerusalem gekreuzigt worden sei, schließen wollen, ihm sei auch das Grab gezeigt worden; die Grabestradition müsse also in der Gemeinde vorhanden gewesen sein. Aber die Aussage über die Kreuzigung Jesu in der Mitte Jerusalems darf nicht zu archäologischen Folgerungen mißbraucht werden; denn sie ist allein rhetorisch bedingt: Der Heidenchrist Melito will in seinem antisemitischen Haß zeigen, daß die Juden sich nicht einmal gescheut hätten, Jesus inmitten von Jerusalem umzubringen (und nicht außerhalb Jerusalems in der Wüste).

Trotz all dieser Erkenntnisse haben in den letzten Jahren die Pilgerreisen nach Jerusalem noch zugenommen, und die Besucherzahlen belaufen sich zur Zeit auf ca. zwei Millionen pro Jahr. Das Gros dieser Wallfahrer sind Christen. Jerusalem, eine Stadt mit rund einer halben Million Einwohnern, von denen nur 2,5% den christlichen Konfessionen angehören, hat seine Bedeutung darin, daß es nach Mekka und Medina die drittwichtigste Stadt für den Islam ist. Mohammed ist der Überlieferung zufolge von Jerusalem aus (obwohl er es nie besucht hat) mit seinem Streitroß in den Himmel gefahren. Jerusalem bleibt aber vor allem der heimliche Mittelpunkt der gesamten Christenheit, die inzwischen zwei Milliarden Menschen umfaßt. Mitglieder praktisch aller verschiedenen Christengemeinschaften sind in Jerusalem vertreten: von den Orthodoxen über die Katholiken bis hin zu den unterschiedlichen protestantischen Kirchen. In Jerusalem wird heute jede Lebens- und Leidensstation Jesu identifiziert, und jeden Freitag findet eine Prozession auf der Via Dolorosa zum angeblichen Kreuzigungsort Jesu statt, obwohl inzwischen feststeht, daß Jesus diesen Weg niemals gegangen ist. Das in der Grabeskirche zu besichtigende Grab Jesu dient den meisten Christen heute wie zur Zeit Konstantins als handfester Beweis für Jesu Auferstehung, obwohl durchschlagende Gründe endgültig erwiesen haben, daß dieser Ort als Begräbnisstätte Jesu eine reine Erfindung des 4. Jahrhunderts ist. Und nicht nur dies: Jesus ist gar nicht auferstanden, so daß man sagen muß: Hier wird ein nur vermeintlich Auferstandener am falschen Ort verehrt. Zugleich gilt: Auch der christliche Glaube braucht offenbar Magie und Nähe zum Heiligen, auch wider bessere Erkenntnis. Im Zweifelsfall siegt die religiöse Gewißheit über das nüchterne Gewissen, und das wird vermutlich auch in Zukunft so bleiben. Allerdings ist der christliche Glaube damit für den Menschen in der Moderne zu einem Aberglauben geworden, den man nur noch verstehen, aber nicht mehr akzeptieren kann.

(Die Woche Nr. 15, 9. April 1998)


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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