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Die Zeit 13, 25.03.1999: CHRISTOPH TÜRCKE VS. ROBERT LEICHT

DER MANN MUß WEG

CHRISTOPH TÜRCKE

DIE ZEIT NR. 13 VOM 25. MÄRZ 1999

Ein Konflikt spitzt sich zu. Wie berichtet (ZEIT Nr. 41/98), hat Gerd Lüdemann, Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen, sich vom christlichen Glauben losgesagt - beharrt aber darauf, Theologieprofessor zu bleiben. "Ich will an der Theologischen Fakultät nur weiter tun dürfen, was ich bei meiner Habilitation versprochen habe: der Wissenschaft dienen und die akademische Jugend im Geist der Wahrheit erziehen."

Und das heißt für ihn: das Neue Testament und andere frühchristliche Quellen auf ihren historischen Kern untersuchen, also Ernst machen mit dem, was in der Theologie unter dem Titel "historisch-kritische Methode" ja durchaus praktiziert wird. Aber eben: Ernst machen. Die Quellen vorbehaltlos untersuchen, auch auf die Gefahr hin, daß der Sühnetod Jesu, seine Gottessohnschaft, Auferstehung und rettende Wiederkunft sich allesamt als Attribute erweisen, die Jesus von Nazareth nachträglich übergestülpt wurden und mit der historischen Wirklichkeit nichts zu tun haben.

In der Tat, zu diesem Ergebnis ist Lüdemann gelangt. Dagegen schritt die evangelische Kirche ein. Der Mann muß aus der Theologischen Fakultät entfernt, sein Lehrstuhl muß neu besetzt werden, forderte sie vom niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. Und sie konnte das so offensiv fordern, weil Kirchen hierzulande Körperschaften öffentlichen Rechts sind. Durch besondere Verträge steht ihnen zu: Einzug der Kirchensteuer durch den Staat, feste Präsenz im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, konfessioneller Religionsunterricht als reguläres Schulfach und konfessionelle Theologie als reguläre universitäre Wissenschaft.

Der Staat muß bedienen, er muß seine Finanzverwaltung, Sendezeiten, Räume, Ausstattung und Gehälter zur Verfügung stellen. Aber wie die Steuer verwendet, Sendezeit und Lehre gestaltet werden, bestimmen allein die Kirchen.

Das Ministerium zeigte sich konzessionsbereit. Über Lüdemanns Verbleib war noch nicht entschieden, da war schon Geld da für eine weitere neutestamentliche Professur, C 4, jährlich etwa eine Viertelmillion Mark. Auch wenn Lüdemann noch amtiere, so die kirchlichen Argumentation, sei er ein kompletter Ausfall für die theologische Lehre.

Den sogenannten Ausfall hatte die Kirche freilich selbst produziert, indem sie Lüdemann die kirchliche Prüfungserlaubnis entzog, von ihm ausgestellte Seminarscheine nicht mehr anerkannte und seine Lehrveranstaltungen damit zum bloßen Zusatz für alle Studenten machte, die ihr Examen bei der Landeskirche ablegen, in deren Dienst sie treten möchten. Und das ist die große Mehrheit. Bei Lüdemann auch nur gesehen zu werden, empfiehlt sich für sie nicht.

Eine Kirche darf natürlich ihr Vereinsinteresse wahren. Aber einen Professor auf diese Weise die Studenten wegziehen, ihn dann als lehruntauglich hinstellen und Schadensersatz fordern, das ist stark. Und ein Ministerium, das darauf eingeht, ergreift inhaltlich Partei, statt religionsneutral nach der Rechtslage zu entscheiden, nach der Lüdemann seiner Fakultät mit voller Lehrkraft zur Verfügung steht und weiterhin tut, was er seit Jahren tut: Vorlesungen und Seminare zur neutestamentlichen Textanalyse anbieten.

Von theologischem Lehrausfall könnte da allenfalls die Rede sein, wenn die Theologische Fakultät nichts als eine Berufsschule für Pfarrer wäre. Solange sie aber noch irgend Forschungsstätte ist, und das heißt Stätte des Disputs über Bedeutung, Wahrheit und Tragweite der ihr zur Auslegung aufgegebenen Texte, so lange gilt gerade das Umgekehrte: Für jeden Lehrbetrieb, der auf Disput und selbständige studentische Urteilsbildung ernstlich Wert legt, wäre Lüdemann ein belebendes Element.

Wie weit darf die historische Kritik, die die Theologie als Methode ausdrücklich akzeptiert hat, gehen? Den lange schwelenden innertheologischen Konflikt darum facht Lüdemann lediglich neu an. Seine historisch-kritischen Ergebnisse sind nicht neu. Im großen ganzen sind sie alle schon einmal im 18. Jahrhundert vorformuliert worden, als ein paar kühne Geister begannen, die Bibel als historisches Dokument auf ihre Wahrheit zu prüfen, statt sie als Gotteswort vorauszusetzen. Anfangs verbat sich die Theologie solche Kühnheit. Da sie sich als Umgangsform mit historischen Dokumenten jedoch unaufhaltsam ausbreitete - Bibelkritik ist eine der ersten Übungen moderner Geschichtswissenschaft -, mußte die Theologie ein Jahrhundert später, wenn sie den letzten Zug in die Moderne nicht verpassen wollte, selber diese Kröte schlucken. Ohne historisch-kritische Methode kann sie nicht mehr leben. Aber wieweit mit ihr?

Lüdemann ist nur die personifizierte Unerledigtheit dieser Frage, die jeden angeht, der eine Kanzel besteigen will; sie ist genuin theologisch, im universitären Raum argumentativ zu erörtern und durch keinen kirchlichen Machtspruch zu unterdrücken. Dein Ministerium hat sich da einzumischen. Dennoch war das Ministerium sogleich mit Ersatz für Lüdemann zur Stelle.

Wo soll der nun bleiben? Der Göttinger Universitätspräsident hatte eine originelle Lösung: "In der Theologischen Fakultät mit einem Sonderstatus", nämlich im Fach Geschichte und Literatur des frühen Christentums, dessen Veranstaltungen unter der Rubrik "Außerhalb der Studiengänge zur Ausbildung des Theologischen Nachwuchses" laufen. Das wäre eine Triumph für Lüdemann, wäre mit "Theologischem Nachwuchs" nur der kirchliche gemeint. Aber das Ministerium, das die Lösung vorläufig gebilligt hat, sieht es anders: Auch für das Staatsexamen von Religionslehrern und selbst für das Fakultätsexamen, das theologische Diplom, soll Lüdemanns Lehre keine Prüfungsrelevanz mehr haben. Er soll etwas lehren, was keiner studiert haben muß.

Eine Kirche kann als Prüfer bestellen, wen sie will, und ein Kirchenkritiker muß sich nicht wundern, wenn er nicht länger zu den Bestellten gehört. Aber was geht in einem Ministerium vor, das auf Geheiß der Kirche einen Professor, der Freiheit von Forschung und Lehre genießt und dessen einziges Vergehen darin besteht, die Wissenschaft vom Neuen Testament über die Konfession zum Neuen Testament zu stellen, aus allen Staats- und Fakultätsprüfungen entfernt?

Die ganze ungelöste Frage der Trennung von Staat und Kirche wird damit wieder aufgerührt. Formalrechtlich ist diese Trennung vollzogen, real noch längst nicht. Auf der Ebene des Grundgesetzes besteht Religionsfreiheit, und Religionsgemeinschaften sind insofern alle gleichgestellt, als sie selbst für ihre Mitlieder sorgen müssen. Eine Ebene tiefer aber gilt das Gesetz aus Orwells Farm der Tiere: Alle Tiere sind gleich, doch einige sind gleicher. Die mächtigsten Religionsgemeinschaften sind Körperschaften öffentlichen Rechts, die weniger mächtigen nicht.

Zu dieser rechtlichen Schieflage hat wohl auch eine gewisse gesellschaftliche Notlage beigetragen. Daß man europäische Gesellschaften nicht begreifen kann, ohne etwas vom Christentum zu verstehen, war unabweisbar. Und wen hätte man gehabt, dieses Verständnis zu erzeugen, wenn nicht die Kirchen? Nur was heißt da "Verständnis"? Die Kirchen brachten natürlich ihr Verständnis von "Verständnis" ein: Von Grund auf verstehen könne man die christliche Botschaft nur, wenn man sie bejahe. Was umgekehrt heißt: Wo nicht voll bejaht wird, ist nicht voll verstanden. Und daraus folgt: Nur Bejahende können diese Botschaft kompetent erforschen und lehren. Und wer kompetent ist, bestimmen wir, die Kirchen.

Ein sauberes Modell von "Verstehen": Es hat das kirchliche Monopol, zu definieren, was Theologie sei, gleich mit eingebaut. Trotzdem herrscht es bis heute nicht vor. Das zuständige Ministerium hat es sich im Fall Lüdemann wie selbstverständlich zu eigen gemacht. Damit ist es freilich nur noch fraglicher geworden. Natürlich kann man mentale Gebilde nicht gründlich verstehen, ohne sich auf sie einzulassen: ihre Motive, Gründe und Gestalten nachzufühlen und nachzudenken. Die Fähigkeit dazu heißt Empathie. Ob die aber die Form von Bejahung, Irritation oder Kritik annimmt, hängt von der Sache und den Umständen ab. Für die Kirche hat dieses Verstehensmodell unschätzbare Vorteile: Es ist als Prinzip der Textauslegung, als Raster der Weltwahrnehmung und als politisches Kampfmittel gleich wirkungsvoll. Nichts kann ihm entrinnen. Wer seine Definitionsmacht bejaht, fügt sich ihm ohnehin. Wer seine Definitionsmacht bestreitet, wird hineingefügt; er bekommt in "Verstehen die Note "Mangelhaft". Das erging Lüdemann so. Das geht aber erst recht so, wo noch einiges mehr in Bewegung ist. Wir leben heute in einem derart bewegten kulturellen Schmelztiegel, daß niemandem mehr erspart bleiben sollte, über Religion, Ritual und Kult und ihre relevanten Motive und Erscheinungsformen unterrichtet zu werden. Wie soll man denn sonst in einem Land, in dem mehr als hundert Religionsgemeinschaften vertreten sind und zahlreiche Subkulturen ihre Rituale entwickeln, miteinander klarkommen? Alles spricht dafür, daß Religionsunterricht Pflichtfach wird und damit aufhört, konfessionsabhängig zu sein.

Man muß nicht lange raten; was den Initiatoren eines solchen Unterrichts, des in Brandenburg eingeführten Schulfachs LER (Lebenskunde – Ethik – Religion), entgegengehalten wird. Nichtkonfessioneller Religionsunterricht laufe faktisch auf "indifferente Information" hinaus, heißt es in einem kirchenrechtlichen Gutachten, und lassen damit das Entscheidende aus: die Erfahrungsseite von Religion. Daher müsse der Unterricht von in der Sache engagierten Lehrern gehalten werden: also konfessionell. Natürlich nicht, um zu indoktrinieren, sondern einzig, um die "Freiheit zur Religion" sicherzustellen. Weshalb auch sonst sollten die Kirchen zur Verfassungsbeschwerde gegen LER mobilisiert haben?

Es wird Zeit, den Fall Lüdemann als universitäres Gegenstück zu LER zu erkennen. Deshalb muß man Lüdemanns Position noch nicht teilen und schon gar nicht finden, LER sei bereits in Höchstform. Aber selbst wenn beide sonst in rein gar nichts verdienstvoll wären: Daß sie, von entgegengesetzten Enden aus, ans Licht bringen, welch Geistes Kind das hierzulande in Religionsdingen immer noch vorherrschende Verstehensmodell ist, ist schon Verdienst genug.

Im Kirchenraum mag dieses Modell Blüten treiben, wie es will. Überall hingegen, wo es in den öffentlichen Raum von Bildung und Wissenschaft hineinragt, muß es aufhören, die unerkannte Grundlage von Ministeriumsentscheidungen zu sein oder gar von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts. Der Karlsruher Beschluß über LER steht ja noch aus.

Der Autor ist Theologe und Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig.


GLAUBE UND TAKTIK - DER FALL LÜDEMANN - EINE ENTGEGNUNG

ROBERT LEICHT

DIE ZEIT NR 16 VOM 15. APRIL 1999

Probleme werden immer wieder an Personen deutlich. Aber immer wieder lassen auch bestimmte Personen bestimmte Probleme undeutlich werden. Das gilt nun gewiß für den Fall des Theologieprofessors Gerd Lüdemann zu Göttingen, der nun - nachdem er sich von seinem Glauben öffentlich losgesagt hat - nicht mehr als Professor für neutestamentliche Theologie lehren, sondern auf einem Sonderstatus für Geschichte und Literatur des frühen Christentums zuständig sein soll; allerdings nicht mehr für Prüfungen. Dieser Vorgang, desssen sich Christoph Türcke zum zweiten Mal angenommen hat (Der Mann muß weg, ZEIT Nr. 13/99), läßt sich freilich vollständig nur verstehen, wenn man Person und Problem, Fall und Sache klar voneinander trennt.

Zunächst – unvermeidlicherweise, aber nur im Rahmen des Nötigen – zur Person. Wenn Gerd Lüdemann, wie man früher gesagt haben würde, vom christlichen Glauben abfällt, wenn er sich, wie er es selber öffentlich tut, als "Nichtchrist" bezeichnet – so hat dies jedermann zu respektieren. Konsequent wäre es freilich, wenn er daraufhin auch aus der Kirche austräte (es gehört übrigens zu den merkwürdigen liberalen Grundzügen unseres Staatskirchenrechts, daß es einen Ausschluß aus einer Religionsgesellschaft öffentlichen Rechts nicht gibt – so heftig auch der Betreffende abschwört, kritisiert oder gar verhöhnt).

Doch diesen Austritt vollzieht Lüdemann nicht – und zwar mit folgender Begründung: "Ich spreche hier fast wie ein Gewerkschaftler, denn mein Kirchenaustritt würde nach geltendem Recht dazu führen, daß ich meinen Lehrstuhl verliere. Das aber möchte ich vermeiden" – so in einem Gespräch mit den Evangelischen Kommentaren. Ob er die Absage an seinen alten Glauben hin und wieder bereut habe? - "Nein, allerdings habe ich mich zwischenzeitlich gefragt, ob es klug war, diesen Schritt öffentlich zu machen, weil er zu erheblichen finanziellen Einbußen für meine Mitarbeiter geführt hat." Auf seine Inkonseqenz hin angesprochen: "Ja, das sage ich auch ganz offen: Mein Verbleib in der Kirche ist eine Frage der Taktik." – Wenn es in diesem Fall also ein Glaubwürdigkeitsproblem gibt, so liegt es bei Lüdemann selber, der sich jedenfalls nicht zum bedingungslosen Wahrheitssucher stilisieren läßt.

Unabhängig davon bleibt die Frage: Ist es denn richtig, daß die Kirchen an den theologischen Fakultäten der staatlichen Universitäten ein Mitspracherecht haben? Und zwar so, daß sie - in den Vereinbarungen mit der katholischen Kirche sehr stark, bei den protestantischen Landeskirchen viel schwächer, wenn überhaupt - über den Inhalt dessen, was als katholische oder evangelische Theologie gelehrt wird, wachen können. Wer für einen absolut laizistischen Staat eintritt (und auch in einem solchen Staat haben Kirchen ihren Auftrag, wie man so sagt: freudig wahrzunehmen), der kommt zu einem klaren Nein. In Deutschland ist es geschichtlich aber anders gekommen. Wer will, mag dies bedauern. Aber er sollte wenigstens erwähnen, daß dies eine vielfach bestätigte verfassungsrechtliche Grundentscheidung des demokratischen Staates (und seiner frei konstituierten Parteien) ist – und nicht etwa ein kirchlicher Oktroi.

Die letzte Bestätigung dieses historischen Kompromisses fand faktisch in der Verfassungsdebatte statt, die der deutschen Wiedervereinigung folgte. Auch 1994 wollte in der Gemeinsamen Kommission zur Verfassungsreform niemand etwas an diesen Grundstrukturen ändern. Trotzdem kann man darüber streiten – wenn man zunächst die politische, die freiheitlich-demokratische und verfassungsrechtliche Legitimation des Status quo zur Kenntnis bringt.

Gewiß, dem Kompromiß wohnen Spannungen inne. So auch hier: zwischen dem rationalistischen Wissenschaftsverständnis auf der einen Seite und der bekenntnisgebundenen Lehre auf der anderen. Aber man soll die Dinge auch nicht ins Extrem übertreiben: Auch das rationalistische Wissenschaftsverständnis würde verkrüppelt dargestellt, wollte man so tun, als gäbe es in den säkularen Wissenschaften nicht auch so etwas wie Vorverständnisse, nichtrationalistische Axiome – also die nichtwissenschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft. Voraussetzungslose Wissenschaft ist keine Wissenschaft. Jede Wissenschaft hat also ihre Hermeneutik, ihre "Professionalität" – und damit, so die wörtliche Übersetzung: ihr Bekenntnis zur Sache. Wer aber die Sache selber für einen Humbug hält, kann sie eben auch nicht professionell lehren.

Insofern ist von der wissenschaftlichen Theologie an staatlichen Fakultäten zu Recht zu erwarten, daß sie jeden noch so scharfen (und scharfsinnigen) Disput um die Sache aushält – ja geradezu sucht und herausfordert. Aber dieses "Sprachspiel" (und also: Gedankenspiel) läßt sich nur treiben, wenn man der Sache überhaupt ein Minimum – und das heißt genauer: ein Maximum – an Sinn zumißt. Kritische Wissenschaft heißt eben auch unterscheidende Wissenschaft. Und weshalb sollte es so schwer sein, zu unterscheiden zwischen einer allein vom Staat veranstalteten (vergleichenden) Religionswissenschaft, in der die Religion als reines Objekt der Betrachtung fungiert, und einer von den Kirchen mitzuverantwortenden Theologie, in der der Wissenschaftler als Subjekt in einer existentiellen Beziehung zu seinem Gegenstand steht?

Unterstellt man einmal, daß theologische Fakultäten an staatlichen Universitäten der Universität wie den Studierenden nützen können, und zwar auch den Nichtchristen – deshalb, weil sie einen Ort bieten, an dem das Ganze der menschlichen Existenz (angebotsweise) interpretiert wird –, dann halten die übrigen Spielregeln der Wissenschaft das "Sprachspiel" offener als im kirchlichen Eigenbetrieb – zum Vorteil von Universität und Kirchen. Und der Gesellschaft, die doch nach Orientierungsangeboten verlangt.

Es versteht sich von selbst, daß auch alle anderen Religionen in einem weltanschaulich neutralen Staat in dieses Sprachspiel einbezogen werden müssen, sofern sie die minimalen organisatorischen Voraussetzungen und die Loyalität zur freiheitlichen Verfassung gewährleisten. Und unter diesen Voraussetzungen ist es wiederum nicht Sache des Staates, zu entscheiden, was authentische Lehre ist, sei es des Judentums, sei es des Islam.

Eine ironische Pointe am Rande: Hätte Türcke recht (oder bekäme er politisch recht), würde man also die Theologie konsequent aus der staatlichen Universität verbannen, so wäre Gerd Lüdemann längst arbeits- und stellungslos. Denn an einer kirchlichen Hochschule, ohne (was ja mitzudenken wäre) lebenslangen Beamtenstatus, wäre Lüdemanns taktisches Verhältnis zu Kirche und Glaubwürdigkeit ein Ding ganz und gar der Unmöglichkeit. So bleibt eben doch der wenig heroische Eindruck eines Mannes, der in jene Hand beißt, die ihn ernährt – und dafür Beifall sucht. Und auch noch findet.


Anmerkung:

Robert Leicht nimmt meine Äußerungen dazu, warum ich als Nicht-mehr-Christ trotzdem nicht aus der Kirche austrete, zum Anlass, meine Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Er setzt bei seinen Ausführungen darauf, dass ein in Taktik begründetes Verhalten in jedem Fall unredlich sei. Doch gerade auf Redlichkeit und Wahrhaftigkeit lege ich großen Wert und sehe nicht, warum mein "taktisches" Verhalten an dem von Leicht genannten Punkt gegenteilig ausgelegt werden könnte. Die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche ist nämlich hierzulande immer noch die Voraussetzung dafür, Theologie lehren zu dürfen. Ich möchte das weiter tun, weil ich mir die Kompetenz dazu erworben habe und meine fachliche Arbeit nach wie vor wissenschaftlichen Standards folgt. Ich will innerhalb der theologischen Fakultät für Reformen werben und beispielsweise auch für die Abschaffung der genannten Voraussetzung Mehrheiten suchen. Um das Ethos der Wahrhaftigkeit zu wahren, habe ich offen mein Motiv für das Verbleiben in der Kirche genannt.

Noch eine Fußnote: Der Beitrag von Robert Leicht – politischer Korrespondent und ehemaliger Chefredakteur von DIE ZEIT sowie Mitglied der Synode der EKD und Präsident der Evangelischen Akademie Berlin – ist ein trauriges Beispiel dafür, wie zum wiederholten Male (vgl. auch die Antwort von Wolfgang Huber auf Türckes ersten Beitrag und den Schlusssatz von Dekan Kratz' Artikel über "Wissenschaftliche Theologie in Deutschland") Vertreter von Kirche und Theologie meinen Charakter angreifen. Ich halte das für unanständig und unangemessen aber auch für unchristlich.

Gerd Lüdemann.


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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