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Antworten, die zu neuen Fragen wurden

Die Bedeutung des Tambacher Vortrags für K. Barths eigenen Weg
Gehalten zum 75jährigen Jubiläum des Vortrags von Karl Barth "Der Christ in der Gesellschaft" in Tambach, Thüringen

1. Antworten auf Fragen | 2. Fragen zur Antwort | 3. Die Kontinuität der Perspektive

"Heutzutage haben wir schon Bücher von Büchern", klagte einst Georg Christoph Lichtenberg. Und jetzt haben wir sogar Vorträge über einen Vortrag. Nicht jedem Vortrag kann soviel Ehre widerfahren. Aber diesem schon. Sein Verfasser, der damals 33jährige Schweizer Pfarrer Karl Barth, hielt ihn für eine "nicht ganz einfache Maschine, vorwärts und rückwärts laufend, nach allen Seiten schießend, an offenen und heimlichen Scharnieren kein Mangel"1. Und sein Freund Eduard Thurneysen meinte im Voraus: "Das ist ein großer Schlag! Er wird die eifrigen und beunruhigten deutschen Freunde seltsam zurückhaltend und doch zugleich umfassend radikal anschaun und uns paar Schweizer damit."2 Die damaligen Zuhörer des Vortrags, denen der Referent ein unbeschriebenes Blatt war, bemerkten das Neue und Anstößige des da Gesagten. Einer von ihnen, Günther Dehn, schrieb: "Ich fühlte mich während des Vortrages, der die Zuhörer in mächtigen Kaskaden überflutete, stark an Kutter erinnert ... Es wirkte auf mich als eine große Befreiung. Ich sah auf einmal eine wirklich freie Kirche vor mir, darum freier, weil sie allein an Gott in seiner Offenbarung gebunden war... Auf viele hatte der Vortrag starken Eindruck gemacht. Manche hatten an ihm aber Anstoß genommen."3

Unter der Wirkung des Vortrags begann der Schweizer Gottlob Wieser auf der Heimfahrt in ununterbrochener Intensität die Bibel zu lesen und dabei mit dem Buch Prediger zu beginnen. Otto Herpel schrieb, daß ihn die Botschaft getroffen habe, "daß (der) Auferstandene sich in der Welt durchsetzt".4 Der Religiöse Sozialist Karl Mennicke protestierte energisch: "Wir wollen gar nicht die Aufhebung der gegenwärtigen Weltsituation, wie Barth sie in der Eschatologie ersehnt. Jedenfalls hätte solcher Gewaltakt Gottes für uns nicht das mindeste Interesse." "Uns gilt es das gegenwärtige Leben."5 Und in Berlin fühlte sich Paul Tillich vom bloßen Hörensagen des Vortrags herausgefordert, das gegen ihn einzuwenden, was er seither stets gegen Barth auf dem Herzen hatte: dies, "als sei Gott etwas fest Umrissenes", "aus dem gesamten Lebensprozeß" Gelöstes6 usw. Splitter der Erinnerung an die Provokation dieses Vortrags! Von ihm gilt das Gleichnis Barths7, er habe unbeabsichtigt an einer Glocke gezogen, deren Ton dann weitum gehört wurde - in Zustimmung oder Widerspruch.

Einen Vortrag über diesen Vortrag zu halten, das ist eine heikle Angelegenheit. Zum einen deshalb, weil sich dabei eine fast unvermeidliche Unangemessenheit gegenüber diesem Vortrag ein stellt. Ich meine jetzt nicht nur, daß ich mir nicht anmaßen kann, mit seiner konzentrierten Dichte und seiner drängenden Stoßkraft auch nur von Ferne Schritt zu halten. Ich meine vor allem dies, daß schon dieser Vortrag ein Dokument für Barths theologischen Stil ist: nicht über etwas zu reden, sondern ohne Umschweife aus der 'Sache' heraus zu reden. Es liegt sogar eine Pointe des Vortrags darin, daß er schon damals, aufgefordert, ein "Wort zur Lage" zu sagen, es für "besser" hielt, "jetzt gerade nicht 'zur Lage', sondern ... 'zur Sache' (zu) reden", wie er es 1933 formulierte, in der Meinung, nur so auch recht zur Lage zu reden.8 Ein Vortrag über den Vortrag steht in der Gefahr, diese Pointe zu verfehlen. Und er hat sie verfehlt, wenn er darin bestünde, "der Propheten Gräber zu schmücken", statt sich selbst in die 'Sache' verwickeln zu lassen, aus der und zu der da geredet wurde. Es ist zwar unvermeidlich, daß solche ein Vortrag über diesen Vortrag von einer anderen stilistischen Gattung ist als dieser selbst. Aber es ist nicht unvermeidlich, daß wir uns dabei seiner Pointe entziehen. In aller Indirektheit, in der hier über den Vortrag zu handeln ist, wird das doch nur dann angemessen geschehen, wenn er dazu dient, uns zu beteiligen an seinem Denken und Sprechen zur Sache und 'aus der Sache heraus'.

Die andere Schwierigkeit liegt darin, daß dieser Vortrag doch nur eine Station auf dem Wege Barths darstellt. Er hat schon nach kurzer Zeit theologische Aussagen des Vortrags nicht unerheblich korrigiert. Das bedeutet, daß wir den Vortrag nicht als ein geschlossenes System (und sei es unter dessen Beziehung auf die damalige Situation) betrachten können, ohne auch seine Revision mit in den Blick zu nehmen. Es ist nun auch das für Barths Theologie bezeichnend, daß sie sich auf eine 'Sache", die Sache Gottes, bezieht, die kein habbares Objekt, kein einnehmbarer Stand-Punkt ist, sondern Bewegung, gleich einem "Vogel im Fluge", wie der Vortrag sagt (40), eine, von der wir je ein "Augenblicksbild" bekommen, das jedoch "außer dem Zusammenhang der Bewegung ganz und gar sinnlos" ist (ebd.). Die Theologie Barths hat dem zu entsprechen gesucht, indem sie - zwar nicht immer etwas Anderes, aber dasselbe immer wieder anders zu sagen suchte. Und das "immer wieder anders" heißt, daß er er sich immer wieder auch revidiert hat, wie es gerade in seinem späteren Verhältnis zum Tambacher Vortrag deutlich ist.

Ich versuche nun, mich der doppelten Schwierigkeit so zu stellen, daß ich mich an dem Satz orientiere, mit dem Barth acht Jahre später seinen Tambacher Vortrag einschätzte: "Hier fand ich... einen Kreis und Ausblick auf weitere Kreise von Menschen, zu deren Unruhe sich meine Versuche verhielten wie Antworten zu Fragen - Antworten, die mir doch gerade in dem nun anhebenden Verkehr mit diesen Zeitgenossen unter der Hand selber wieder zu Fragen wurden."9 Die Formulierung spielt auf einen Satz in dem Vortrag an, wonach "die richtig vernommene Antwort" uns allemal "zur neuen Frage" wird (60). Ich möchte also nun die Dialektik in diesen Wendungen beleuchten, um dann nach der Beziehung in der Polarität dieser Dialektik zu fragen.

1. Antworten auf Fragen

Das ist nicht so zu verstehen, als habe Barth in seinem Vortrag bestimmten an ihn gerichteten Erwartungen direkt entsprochen. Solche Erwartungen gab es dort wohl, gehegt von einer Schar in der Tat Beunruhigter, die sich inmitten einer tiefen gesellschaftlichen und religiösen Krise für eine grundlegend neue Gesellschaft engagierten. Barth zitiert eine dieser Erwartungen, formuliert im Vorfeld der Tagung vom Verein der "Freunde des christlichen Demokraten"10: Es gehe um die Anwendung der "Gesinnungsprinzipien Jesu als Maximen einer jeden öffentlichen, völkischen, staatlichen, weltlichen Gesellschaftsgestaltung." Eine weitere Erwartung sprachen die eigentlichen Veranstalter der Tagung aus: Es gehe um die "Fühlungnahme" von "Gesinnungsgenossen", um "die religiös-soziale Gedankenwelt in größerem Maßstabe zu propagieren und öffentlich zu betätigen".11 Barth waren derlei Erwartungen an seinen Vortrag bekannt. Sie waren ja auch in der ihm vorgegebenen Themenformulierung verdichtet: "Der Christ in der Gesellschaft".

Wenn sich seine "Versuche" zur "Unruhe" seiner Hörer verhielten "wie Antworten zu Fragen", so hieß das aber zuerst, daß er diese Erwartungen enttäuschte. Auch eine Enttäuschung von Erwartungen muß nicht bedeuten, daß Menschen Steine, statt Brot, sondern kann erst recht bedeuten, daß ihnen, statt Steine, die sie irrtümlich für Brot hielten, wirkliches Brot gegeben wird. Jedenfalls bestand Barths Antwort zunächst in dem Negativen, daß er "den deutschen Religiös-Sozialen... gründlich das Konzept verdorben" hat.12
Für das Haupt der Schweizer Religiös- Sozialen, Leonhard Ragaz, der den Vortrag ursprünglich halten sollte, aber verhindert war, war das ein Unglück: daß "Viele der Deutschen", die hier "zum ersten Male" "die Hauptelemente unserer religiös-sozialen Botschaft" kennen lernen sollten, sie in ihrer "dialektischen... Entstellung" wahrnahmen, wodurch "ihre revolutionäre Wirkung paralysiert" worden sei.13

Freilich bereitete Barth seinen Hörern solche Enttäuschung nicht vom hohen Roß. Er, der doch den Religiös-Sozialen zugezählt und nur darum nach Tambach geladen war, vollzog da gegen sein eigenes Fleisch einen Abschied von einer von ihm selbst zuvor mit Eifer verfolgten Konzeption. Vielmehr er hatte diesen Abschied soeben in seiner ersten Auslegung des Römerbriefs von 1919 vollzogen, als deren systematischer Ertrag der Tambacher Vortrag anzusehen ist. Es ist die Konzeption, deren Schwäche er jetzt darin sah, daß in ihr das Reich Gottes als eine Größe gilt, die es erlaubt, sich an der Seite, wenn nicht an der Stelle Gottes gegen eine alte Welt verkehrter Verhältnisse zu stellen und dagegen eine neue, gerechte Friedenswelt heraufzuführen. Eben dagegen wendet der 1. Römerbrief ein, daß, wer so denkt und kämpft, "nicht das Reich Gottes" vertritt, sondern immer nur "in neuen Formen das alte Reich des Menschen."14 Denn seine Mittel, mit denen er ficht: die des Gegensatzes und des Kampfes der Guten gegen die Bösen, sind die Mittel der alten, verkehrten Welt und deren Anwendung kann diese Welt darum immer nur weiter verlängern. Und das ist umso ärger, als dabei der Name Gottes ideologisch verwendet wird, um das als göttlich auszugeben, was doch nur in neuen Formen das alte Menschenreich ist. Das Reich Gottes ist vielmehr das Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Freiheit, das Gott allein heraufführt. Es ist darum die neue Welt, weil es nicht aus der alten Welt und mit deren Mitteln heraufgeführt wird, sondern dieser Welt von außen her begegnet, von Gott her, vor dem die Bösen und die Guten miteinander solidarisch sind als die Nichthabenden, Bedürftigen und Unvermögenden. Es ist das Reich, das in dem von den Toten auferstandenen Christus schon in unsere Welt ohne Gewalt und Krampf hineinwächst. Und wer da mithineingenommen wird, wird bestimmt von seiner neuen Art, die anders ist als die der alten Welt: frei von Gegensatz, Überhebung, Absonderung, frei für den Frieden, für die Gemeinschaft, für die neue Solidarität der Liebe. So war es im 1. Römerbrief zu hören.

Wir verstehen von da aus die entscheidende Weichenstellung, mit der - für Barth steht das Entscheidende immer am Anfang! - der Tambacher Vortrag einsetzt: Der Christ in der Gesellschaft - " wir sind wohl einig darin, daß damit nicht die Christen gemeint sein können: weder die Masse der Getauften, noch etwa das erwählte Häuflein der Religiös-Sozialen, noch auch die feinste Auslese der edelsten frömmsten Christen... Der Christ ist der Christus" (34). Also: die Hoffnung liegt hier allein in Christus - und nicht in den Christen; aber in ihm ist ganz und gar Hoffnung für die ganze Gesellschaft, nicht bloß für einen binnenkirchlichen Bereich. Im Grunde besteht der Tambacher Vortrag in einem Durchbuchstabieren dieses einen Satzes mit seinem doppelten Akzent.

In Christus ist die Hoffnung. Also a) Er steht der Gesellschaft gegenüber und nicht die Christen als deren alles zum Guten wendende Revolutionäre. Sie sind vielmehr genauso wie alle Anderen in der Not, angewiesen wie sie auf eine Verheißung, die sie sich nicht selbst geben können; sie verderben alles nur, wenn sie das doch meinen sollten. Indem Er allen "gegenübersteht" (42), begegnet in ihm, wie es schon in Tambach heißt, "das ganz Andere", der, vor dem wir in Furcht die Schuhe von den Füßen zu ziehen haben (43). Aber in Christus ist die Hoffnung für die ganze Gesellschaft verbürgt, weil er nun b) der Gesellschaft nicht nur gegenübersteht, sondern als ihr Gegenüber "Bewegung" ist. "Damit meine ich nun freilich weder die sozialistische, noch die religiös-soziale Bewegung, noch die allgemeine, etwas fragwürdige Bewegung des sog. Christentums, sondern die Bewegung, die sozusagen senkrecht von oben her durch alle diese Bewegungen hindurchgeht, als ihr verborgener... Sinn und Motor" (40). Hier die weitere berühmte, von Friedrich Zündel übernommene (67) Formel "senkrecht von oben", die die von allen menschlichen Unternehmungen verschiedene, sie erst recht begründende Zuwendung Gottes zum Menschen bezeichnen will. "Um Gott handelt es sich, um Bewegung von Gott her" (41). Diese Zuwendung schafft in uns "Gotteserkenntnis", in der wir Anteil an jener Bewegung bekommen und die uns so mitnimmt, daß wir am selben heiligen Ort, an dem wir die Schuhe ausziehen müssen, die Botschaft hören: "Ich habe gesehen das Elend meines Volkes in Ägypten... und bin herniedergefahren, daß ich sie errette" (43). Diese Zuwendung ist das Gericht über diesem Elend, das Nein zu ihm, aber sie ist es, indem sie Auferstehung, eine neue Welt ist. "Positiv ist die Negation, die von Gott ausgeht, während alle Positionen, die nicht auf Gott gebaut sind, negativ sind" (48).So ist diese Zuwendung "die Revolution des Lebens gegen die es umklammernden Mächte des Todes" (45).

Jener eine Satz in seiner doppelten Akzentuierung bestimmt durchgehend den Vortrag. Auf der einen Seite bedeutet dies, daß Christus - als der Durchbruch der neuen Welt Gottes in die Menschenwelt - der Gesellschaft gegenübersteht, seine Fremdheit, seine Andersartigkeit ihr gegenüber und bedeutet so das kritische Urteil ihrer gänzlichen Erlösungsbedürftigkeit und bedeutet den Protest gegen ihre Unerlöstheit, den Protest gegen das Bestehende, weil es die Welt in ihrer Unerlöstheit bestehen läßt. Das Neue begegnet im Nein zum Alten, die Gnade im Gericht. Und dieses Gericht trifft namentlich auch die Gutmeinenden, die sich dieser Welt gegenüberstellen, das Bestehende anklagen und dagegen eine neue Welt herbeiführen wollen. Barth nennt ihren Versuch das "Bindestrich"-Christentum (christlich- sozial, religiös-sozial), das im Anspruch einer Mittlerstellung zwischen Gott und Mensch vermitteln zu können glaubt. In Wahrheit laufe das immer nur darauf hinaus, das Göttliche dem Menschlichen zu "amalgamieren", darauf, "Christus zum soundsovielten Male zu säkularisieren, heute z.B. der Sozialdemokratie, dem Pazifismus, dem Wandervogel zu Liebe, wie ehemals den Vaterländern, dem Schweizertum und Deutschtum, dem Liberalismus der Gebildeten zu Liebe." Denn "das Göttliche ist etwas Ganzes, in sich Geschlossenes, etwas der Art nach Neues, Verschiedenes gegenüber der Welt. Es läßt sich nicht... aufkleben und anpassen. Es läßt sich nicht teilen und austeilen... Es läßt sich nicht anwenden, es will stürzen und aufrichten" (35f.). Wo man sich aber von der bestehenden alten Welt in ihren verkehrten Verhältnissen desolidarisiert, sich also von ihrer beklagten Erlösungsbedürftigkeit ausnimmt und ihr so als ein Parteigänger Gottes und so mit dem vermeintlichen Besitz der Mittel zu ihrer Erneuerung gegenübertreten zu können meint, gerade da bietet man der ja alten Welt nichts Neues, weil deren Un-Wesen eben in Desolidarisierung besteht. Da begegnet dieser Welt nur noch einmal in neuen Formen dieselbe verkehrte Welt. Da wird eben Christus säkularisiert. Er wird paradoxerweise erst da nicht säkularisiert, wo wir von der Desolidarisierung gegenüber dem säkularen Menschen lassen, wo wir begreifen, daß der von Gott allein heraufgeführten Erneuerung nicht nur die Anderen, sondern wir selbst bedürfen. "Wir (!) müssen ganz hinein in die Erschütterung und Umkehrung, in das Gericht und in die Gnade, die die Gegenwart Gottes für die jetzige und jede uns vorstellbare Welt bedeutet. Wir (!) müssen Gott gegenüber in unsrer sichern Kreatürlichkeit einmal aus dem Gleichgewicht kommen" (6l3).

Auf der anderen Seite heißt dies, daß Christus - als der Durchbruch der neuen Welt Gottes in die Menschenwelt - in Bewegung ist und sich der menschlichen Gesellschaft zuwendet, ihre große Verheißung und darin auch ihre Bejahung als sein Eigentum und die Einklammerung ihrer Eigengesetzlichkeit. Und diese der ganzen Gesellschaft geltende Verheißung bedeutet besonders für die Christen ihre Befreiung von ihrer Neigung, sich gegenüber dieser Gesellschaft abzusondern, für sie in ihrer alltäglichen Wirklichkeit blind zu sein oder gar sie in den eigenen Zirkel einzuspannen, von der Neigung, nun umgekehrt, "die Gesellschaft zu klerikalisieren" (38). Diese Klerikalisierung besteht nach Barth wieder paradoxerweise in einer Lehre, in der man einesteils die übrige Welt im Schatten ihrer Eigengesetzlichkeit sieht, anderenteils in kirchlicher Selbstzwecklichkeit immer wieder "mit neuer Begeisterung den alten Weg" geht (38). Ja, mag diese Gesellschaft uns als "ein ... in sich geschlossenes Ganzes für sich - ohne Fenster gegen das Himmelreich" erscheinen (37), die um jenen Durchbruch der neuen Welt Gottes in die Menschenwelt wissende "Gemeinde Christi ist ein Haus, das nach allen Seiten offen ist; denn Christus ist immer auch für die Andern... gestorben" (34). Und das heißt für die Gemeinde anderes als bloß "Kirche für andere". Das heißt, daß die Erkenntnis des "Gott in der Welt... zugleich unsere Kraft (ist), uns in die Welt ohne Gott nicht zu schicken" (52). Das heißt, zu "begreifen", daß Gott in Christus schon bei denen da draußen schon wirksam ist und daß darum im Profanen und in den profanen Beunruhigungen verheißungsvolle Gleichnisse des Gottesreichs, Spiegel ihrer göttlichen Bejahung zu erkennen sind (46f., 54). Und das heißt, sich nicht "als Zuschauer neben den Lauf der Welt", sondern in einer "solidarischen Verantwortlichkeit" in ihn zu stellen (57), bereit zum "mitleidend Tragen der Beschwerden der ganzen Zeitgenossenschaft" (45), aber auch frei für eine "lächelnde, verstehende Geduld", die es sich leisten kann, "romantischer als die Romantiker", "humanistischer als die Humanisten" zu sein (53).

Also, was sollen wir nun eigentlich tun angesichts der problematischen Wirklichkeit? Das war ja die Frage der Hörer. Barth schließt seinen Vortrag mit den Sätzen: "Wir können ja doch nur eines tun... Und das eine tun wir gerade nicht. Denn was kann der Christ in der Gesellschaft anderes tun, als dem Tun Gottes aufmerksam zu folgen?" (69). Das sagt nicht, daß wir nichts tun können, aber sagt, daß es es für unser Tun entscheidend ist, daß das Entscheidende Gott tut. Dieses Entscheidende ist das Reich Gottes, das nicht die Fortsetzung unseres Tuns, sondern der Anbruch des Tuns Gottes, des neuen Himmels und der neuen Erde, so wie sie in der Auferstehung Christi von den Toten angebrochen sind. In diesem Tun Gottes ist der Protest gegen die bestehende Gesellschaft und Verheißung für sie eins. Und wo wir dessen gewärtig sind, da wird uns das, "je mehr es uns wirklich um Gott und um Gott allein zu tun ist, desto weniger stecken lassen", weder in einem verbohrten Ja noch in einem verbohrten Nein zur bestehenden Gesellschaft. "Wir werden dann... die Freiheit haben, jetzt Ja und jetzt Nein zu sagen und beides nicht nach äußerem Zufall und innerer Willkür, sondern nach dem wohlgeprüften Willen Gottes jeweilen 'das Gute, das Wohlgefällige, das Vollkommene' (Röm. 12,2)". Das war denn damals die Antwort auf die Frage jener Unruhigen. Sie war es gegenüber dem Gemisch aus Selbstüberschätzung des eigenen guten Wollens und Skepsis gegenüber einer unverbesserlichen Wirklichkeit, gegenüber dem Taumeln zwischen blindwütigem Aktivismus und müder Resignation, gegenüber solcher unbeholfenen Ambivalenz, die sich bei einem Kämpfenwollen für eine neue gegen eine alte Welt zwangsläufig einstellt. Sie war es, indem sie demgegenüber das geltend macht: daß unsere Hoffnung ganz auf Gott zu setzen ist, daß uns aber gerade so ganze Hoffnung gegeben wird, die uns eine nicht erlahmende Geduld und Ungeduld verleiht und so zu einem ebenso nüchternen wie kritischen Tun befreit.

2. Fragen zur Antwort

So wenig die Antworten in diesem Vortrag einfach den an ihn gerichteten Erwartungen entsprochen hat, so wenig sind Barth seine Antworten bald darauf einfach durch aufgeworfene Fragen in der Reaktion auf seinen Vortrag fraglich geworden. Im Vorwort zum 2. Römberbrief, den er ein Jahr nach Tambach begann und in der er seine Revision an der dortigen Theologie vollzog, bemerkt er erstaunt, "daß die eigentliche Schwäche" seiner damaligen Position von Anderen bislang gar nicht bemerkt worden sei.15 Und also, nicht das, worin Andere bisher etwa eine Schwäche sahen, bewog ihn zur Korrektur. Eher war es so, daß ihm durch die Art, in der sein Vortrag Zustimmung fand, Zweifel kamen, ob er seine Sache recht gemacht habe.

Zwei Monate nach Tambach bemerkt er angesichts des Wegs, den angeblich im Einklang mit dem Vortrag die Schlüchterner Neuwerk-Leute einschlugen: "Es kann uns ja bei unserer Klarheit über das Problematische, Zweideutige unseres Redens nicht wundern, wenn sie uns... trotz allem Hören immer noch überhören."16 Und etwas später erklärt er aus Anlaß der Marburger Nachfolgekonferenz zu Tambach: er selbst habe offenbar zu "Mißverständnissen und Irrungen Anlaß" gegeben.17

Ich deute einiges aus dem Reaktionen auf den Vortrag an: Der sozialistische Pfarrer Hans Hartmann lobte, in ihm "das Gute und Tiefe im Menschen so deutlich" gezeigt bekommen zu haben.1 Otto Herpel bekannte, dadurch zu der Erkenntnis erweckt worden zu sein: "Wo wir Menschen um Gerechtigkeit, Liebe, Freiheit und Wahrheit ringen sehen, sind wir gewiß, daß in ihnen der Auferstandene, der lebendige Gott ringt und arbeitet." Ja, Gott zerschlage Kirche und Staat "um seines Reiches willen - durch uns".19 Hans Ehrenberg, Haupt des Patmoskreises und Herausgeber von Barths Vortrag, sah sich durch ihn beflügelt zur Ineinssetzung der Wende vom Alten zum Neuen mit dem deutschen Jetzt.20 Wiederum sahen K. Mennicke und T. Tillich beim Barth des Tambacher Vortrags das Fehlen einer Einbindung Gottes in den "gesamten Lebensprozeß" und in das darin erfahrbare "Gotteserlebnis".21

Nun, es gab etwas in dem Vortrag, was die Konsequenzen zuließ, die Hartmann, Herpel, Ehrenberg daraus zogen - etwas, was die Kritik von Mennicke und Tillich übersah, obwohl es ihren Wünschen ganz entgegenkam - etwas, das im vorhin Vorgetragenen unerwähnt blieb und das nun nachzutragen ist. Der Rede vom Christus als dem Durchbruch des Reiches Gottes ins Menschliche ist nämlich die Präzisierung hinzugefügt: Es handle sich dabei um den "Christus in uns" (34). Zwar wird weiter gesagt, gemeint sei damit "keine psychische Gegebenheit", sondern eine "Voraussetzung" über, hinter, "jenseits uns". Und doch beharrt Barth auf das "in uns". Das hat einen Grund, der praktisch diese Einschränkung ihrerseits wieder einschränkt.

Denn wohl betont er, daß der Mensch von sich aus der Welt Gottes gegenüber verschlossen ist. Aber er bleibt es nicht. Indem vielmehr in Christus die Lebensbewegung in die Welt hineinströmt, bekommt er teil, ja, wird selbst Teil dieser Lebensbewegung. So daß er nun "selber ein Lebendiger" zu sein vermag (44), während umgekehrt auch Gott in dieser selben Lebensbewegung enthalten ist. Denn - das entspricht dem nur zu sehr, was Tillich wollte - "ein selbständiges Leben neben dem Leben ist nicht Leben" (45). Darum kann nun auf einmal das, was von der Gottesbewegung in Christus gesagt wird, auch von dem bewegten menschlichen Subjekt gesagt werden. Nun ist das "Erwachen" seiner Seele "die Bewegung im Leben unf aufs Leben hin" (45). Nun heißt es: "Wir stehen in der Wende der Zeiten, in der Umkehrung von der Ungerechtigkeit des Menschen zur Gerechtigkeit Gottes.. Wir stehen in der Gesellschaft als die Begreifenden, also als die Eingreifenden, also als die Angreifenden... Die großen Synthesen des Colosserbriefs... - wir selbst vollziehen sie"(50). Nun kann von daher gedacht und gekämpft werden: "Es ist etwas in uns, was sie (die Mächte des Todes) grundsätzlich in Abrede stellt" (45). Und "es ist mindestens etwas in uns uns, was hier (beim Aufstand des Lebens) mitgeht" (49). Und "es ist in uns... ein kritisches Nein und ein schöpferisches Ja gegenüber allen Inhalten unseres Bewußtseins, eine Wendung vom alten zum neuen Äon" (34).

Dergleichen Sätze sind kein Zufall. Barth geht in seinem Vortrag davon aus: "Wir möchten eine andere Gesellschaft. Aber noch möchten wir bloß" (33). Das meint: Was von uns aus zwar rechter, also mit Gottes Willen im Einklang stehender, aber bloßer Wunsch ist, wird durch die Kraft des lebendigen Christus in uns erfüllbar, so daß wir das, was wir da möchten, auch können. Was von uns aus, weil wir selbst auch Glieder des alten Äons sind, richtig erkannte, aber unerfüllte Forderung ist, wird durch die Kräfte der in unsere alte fließenden neuen Welt zur Gabe eines Vermögens und einer Kraft in uns, das zuvor bloß Geforderte selbstverständlich zu vollbringen. Im 1. Römerbrief formulierte er das so: "Die Eigenkraft der Gnade ist der freie, gute, aus Gott strömende und an Gott orientierte Wille des Menschen." Dieser Mensch hat nun "Gottes Lust und Macht des Guten. Er hat die Gabe der Aktivität des guten Willens".22 Konnte, mußte Barth von da aus nicht wie Herpel die Identität unseres Tuns - der um Gerechtigkeit, Freiheit, Wahrheit Ringenden und dabei Kirche und Staat Zertrümmernden - mit dem Tun Gottes aussagen?

Indem er diese mögliche Konsequenz seiner Tambacher Sätze im Spiegel von ihnen Zustimmenden vor Augen gehalten bekam, wurden ihm seine dort gegebenen Antworten "unter der Hand selber wieder zu Fragen." Zwar hatte er dort das "ganz Andere" des Reiches Gottes hervorgehoben, und das, gerade auch um des rechten Tuns willen, mit der Absicht, daß die Hoffnung ganz auf Gott zu setzen sei und daß erst so alles ganz kritisch, aber auch ganz hoffnungsvoll werde. Aber dieses "ganz Andere" des Reiches Gottes hat er, wie wir sahen, dann doch so ausgelegt, daß es auf die Ausstattung von bestimmten Menschen mit einem "ganz anderen", eigentlich göttlichen Vermögen hinauslief: mit einem Vermögen zur Umkehrung der Ungerechtigkeit der Menschen zur Gerechtigkeit Gottes.

Bedeutet das nicht, daß damit auf einer höheren Stufe jenes Gegenüber von gutmeinenden Kämpfern für eine neue Gesellschaft und einer erlösungsbedürftigen alten Welt wiederkehrte, obwohl doch Barth das zu beseitigen ausgezogen war? Bedeutet das nicht, daß in diesen Menschen das, was Gott will, und das, was sie wollen, so eins wird, daß sie darin der Kritik durch den Willen Gottes entzogen sind? Bedeutet das nicht, daß über den Umweg der doch allein auf Gott zu setzenden Hoffnung schließlich doch wieder auch auf Menschen die Hoffnung zu setzen ist? Bedeutet das dann nicht aber auch die Rückkehr auf jene Schaukel, die zwischen Selbstüberschätzung und Resignation hin und her wippt? Bedeutet das nicht, daß das Leben, das das alte Leben in den Tod führt und so zu neuem Leben erweckt, zusammenfällt mit unseren Unternehmungen angesichts der Schäden einer unversöhnten Welt zusammenfällt? Das sind die Fragen, die Barth im Blick auf seine in Tambach vertretene Theologie sich zu stellen begannen: die Fragen, die ihm gerade durch das positive Echo auf den Vortrag kamen.

Gut einen Monat nach Tambach schrieb er seinem Freund Thurneysen: Es weise nun, "während in Deutschland die Trompeten blasen, für uns alles auf einen Rückzug in die Stille hin."23 In dieser Stille suchte er radikal das da Drohende auszuschließen. In dieser Stille vollzog er seine Revision an seiner in Tambach vertretenen Theologie und an ihrer zuletzt sichtbar gewordenen Linie. Diese Revision fand Ausdruck in seiner zweiten Auslegung des "Römerbriefs". So wie dessen 1. Auslegung und deren Zusammenfassung in Tambach sein Abschied von seinem Religiösen Sozialismus war, so blieb im 2. Römerbrief von der 1919 vorgetragenen Konzeption "sozusagen kein Stein auf dem Andern".24 Man darf nicht übersehen, daß der nach allen Seiten so kritische 2. Römerbrief zu einem erheblichen Teil auch solche Selbstkritik ist, noch einmal ein Schneiden auch ins eigene Fleisch.

Die Revision verstärkte nur noch mehr das Anliegen, daß unsere Hoffnung ganz und allein auf Gott zu setzen ist, und verstärkte es, indem sie die Hoffnung des Menschen auch nur ein wenig auf sich selbst ausschließt, ja, indem sie die Armut, die Anspruchslosigkeit des Menschen vor Gott so herausstellt, daß nur in der Furcht Gottes unsere Hoffnung auf ihn zurecht besteht. Hoffnung ist für uns in Gott nur am Ende, im Tode aller Hoffnung, die wir uns machen. So ist uns Gott wohl die Hoffnung, so, daß er gegenüber all unseren Möglichkeiten für uns das, der Neue ist. Doch jetzt kommt erst der Schritt über die frühere Sicht hinaus: Gott ist für uns das und der Neue nicht so, daß dieses Neue in uns übergeht als eine in uns gegebene Lebenskraft, die dann durch uns weiterströmt, und nicht etwa so, daß dieses Neue in uns ein Vermögen, ein Besitz von Leben und Gerechtigkeit ist. Genau da, wo Barth zuvor von solchem durch Gott in uns gelegte Haben spricht, redet er nun von einem dadurch in uns erzeugten "Hohlraum", der uns nur erst recht auf Gott angewiesen macht. Gott ist nicht nur, Gott bleibt in seiner Freiheit gegenüber all unseren Möglichkeiten und als deren Ende das und der Neue. Darum geht dem, der dessen gewahr wird, vor allem das auf: Gott ist - Gott und nicht etwas in uns, auch kein durch Gott in uns Hineingelegtes in uns, das in Wahrheit doch immer nur und sei es in verbesserter, ja, vergöttlichter Weise ein Menschliches ist. Darum geht ihm zugleich auf: Der Mensch ist - Mensch, den Gott aus seiner angemaßten oder eingebildeten Himmelsstürmerei entläßt, damit er endlich und erst recht Mensch, human werde. Und was dieser Mensch tun kann, ist immer nur ein Menschliches, Wahl zwischen relativen Möglichkeiten und darin ein Warten darauf und ein Gleichnis dessen, daß das wirklich Heilsame Gott allein tut.
Das ist in Kürze nun die Antwort auf jene Fragen, die sich Barth im Blick auf seine Tambacher Antworten stellten. Mit dieser weiteren Antwort ist genau jenes Fragwürdige im dortigen Vortrag, das da drohende Umdeuten der neuen Welt Gottes in ein menschliches Haben von göttlichen Lebenskräften ausgeräumt. Genau da kann der Menschen nicht mehr auf sich blicken - er könnte da nur noch sein Ende sehen. Genau da kann er nur eben in der Furcht Gottes auf Gott hoffen.

3. Die Kontinuität der Perspektive

Sollen wir nun etwa sagen: Die im Tambacher Vortrag vorgetragene Theologie und schon die des 1. Römerbriefs sei darum nun zu den Akten gelegt, weil durch den 2. Römerbrief eines Irrtums überführt? Diese Theologie sei also nur eine Vorstufe zu einer eigentlichen Erkenntnis, die dann im nächsten Buch stehe? Diese Theologie sei also nur noch für historische Untersuchungen und historische Gedenktage gut, aber im übrigen für uns nichtssagend geworden? Wir müßten dann wohl sagen, wie es ein Rezensent des 2. Römerbriefs spöttisch bemerkte, daß Barth "sein Bedauern hätte ausdrücken sollen, daß er (zuvor) den Leser so falsch über Gott und Welt belehrt hat."25

Nun, Barth hätte bald erneut ein Bedauern auch über seinen 2. Römerbrief aussprechen müssen, weil er seine da vorgetragene Erkenntnis dann auch einer Revision unterzog - nicht an dem Punkt des Habens des neuen Lebens, an dem er sich nun korrigiert hatte, aber an einem anderen Punkt, der doch auch jenen kritisierten in ein neues Licht rückte. Franz Rosenzweig, der jüdische Theologe, schrieb noch im Jahr des Erscheinens dieses Buches an Martin Buber: Er lese es "mit Bewunderung für diese Fähigkeit, aus der reinen Negation so viel zu machen, daß das Buch an keiner Stelle... gleichgültig wird. Aber verstehen Sie, warum er nun eigentlich Christus und überhaupt eine Offenbarung noch anerkennt?"26 Rosenzweig traf damit den wunden Punkt in diesem Werk, den zu korrigieren Barth in der Tat sodann ansetzte. So wären dann die Fragen im Blick auf die Revision seiner früheren Erkenntnis im 2. Römerbrief auch auf diesen selbst zu übertragen?

Aber wenn wir so weiterfragen, wo ist dann der unrevidierte, maßgebliche Text bei Barth? Wir werden ihn nicht nennen können. Denn er ist auch seinen weiteren Weg in weiteren Revisionen von zuvor Gesagtem gegangen. Es wäre dann aber offenbar auch ein Unfug, solche Revisionen einfach nur als ein Beiseitelegen des zuvor Gesagten zu verstehen, einmal abgesehen davon, daß es natürlich auch ein Recht gibt, erkannte Irrtümer zurücknehmen zu dürfen. Im Vorwort zum 2. Römerbrief bemerkt er zu dem Problem: "Nur Vorarbeit ist alles menschliche Werk und ein theologisches Buch mehr als jedes andere Werk!"27 Eben weil alles Vorarbeit bleibt, darum bleibt alles, das Frühere und das Spätere, auch immer wieder auf dem Nenner von "Vorarbeit" beieinander, geht das Frühere neben dem Späteren nicht verloren und kann übrigens auch einmal das Spätere durch das Frühere revidiert werden.

Darin spiegelt sich aber nun die Erkenntnis wieder, daß eine Theologie in solchem dauernden Revisionsprozeß nicht beliebig wandlungsfähig sein kann, daß es in ihr bleibende Kontinuitäten gibt und geben muß - Kontinuitäten, die man besser nicht mit der Vorstellung von bleibendem Kern und zeitbedingtem, auswechselbarer Schale beschreibt. Barth fügt in jenem Vorwort dem zitierten Satz hinzu: "Für die Kontinuität zwischen hier und dort hat die Einheit des historischen Gegenstandes (die Heilige Schrift) und der Sache selbst (das in ihr Bezeugte) gesorgt und wird auch bei den Lesern dafür sorgen ..."28 Ähnlich erklärte Barth 1947: "Wenn ich fortgefahren hätte,... immer wieder dasselbe zu sagen, wie ich es einmal getan habe: ich wäre dann wohl, wie man sagt, 'meiner Sache', meinem System, treu geblieben. Es handelt sich aber nicht darum, 'seiner' Sache..., sondern dem Worte Gottes treu zu bleiben, das ein lebendiges Wort ist."29

Ich greife das jetzt so auf: Die rechte Bewegungsfähigkeit einer Theologie, ihre Bereitschaft, sich, statt immer zu wiederholen, revidieren zu können, gründet in der durch das Wort Gottes eröffneten und gebotenen Treue gegenüber diesem Wort. Weil es ein lebendiges Wort ist, schließt gerade die Treue gegenüber Gottes Wort solche Bewegungsfähigkeit nicht aus. Aber sie schließt eine Bewegungsfähigkeit aus, die in Treulosigkeit gegenüber diesem Wort bestünde. Darum müssen in aller theologischen Bewegungsfähigkeit auch Strukturen der Treue gegenüber dem Wort Gottes erkennbar sein. Ein Text, dem solche Strukturen definitiv fehlen würden, wäre, und mag man in noch so historisch würdigen, für die Kirche Christi ein verlorenes Wort. Auch der Tambacher Vortrag ist für uns heute von sachlichem Interesse nur, wenn wir in ihm solche Strukturen versuchter Treue gegenüber dem Wort Gottes erkennen können. Ich möchte einige Punkte nennen, worin ich in ihm solche Strukturen erkenne. Natürlich kann es dabei nur um eine Erkenntnis gehen, so wie sie sich mir darstellt.

  1. Ich weise zuerst auf eine bestimmte Form von Barths Theologie hin: die der Rückfrage. Man kann sich das an Klaus Scholders Satz über Barths Kritik am politischen Urteil der Deutschen Christen 1933 klar machen: Es ging "nicht um die Frage, ob die Theologie denn überhaupt politisch urteilen könne, sondern ganz allein darum, ob dieses politische Urteil auf eine theologisch richtige Weise zustandegekommen war."30 Mit anderen Worten in einer Situation, in der bestimmte Christen sich im Namen Christi so und so gesellschaftlich engagieren wollen, fragt er nicht, ob er sich beteiligen will oder auch nicht, sondern fragt zurück, was denn sich auf den Namen Christi berufen heißt, und er stellt damit die vorausgesetzte Selbstverständlichkeit in Frage, daß man natürlich im Namen Christi dies oder das tun wolle und solle. Nach E. Jüngel entwickelt sich "Barths eigene Theologie... aus solchen Rückfragen, die dem als selbstverständlich Vorausgesetzten gelten und diesem seine Selbstverständlichkeit nehmen."31
    Diese Rückfragen sind der erkenntnismäßige Versuch, der dauernd lauernden Gefahr zu widerstehen, den Namen Christi zur Sanktionierung der von uns ohnehin gefaßten Absichten zu mißbrauchen. Die berühmte Wendung im Tambacher Vortrag ist also nicht bloß eine geistreiche Pointe: Der Christ in der Gesellschaft ist der Christus. Diese Wendung hat den Charakter einer solchen Rückfrage: Bestimmt denn wirklich Jesus Christus das, was die Christen reden und tun? Oder verhält es sich faktisch umgekehrt? Diese Art Rückfrage ist sachgemäß; und nur indem Christen sich ihr stellen und ihr Denken so umkehren lassen, daß sie die Frage in der ersteren Weise stellen, wird ihr Denken sachgemäß.

  2. Barths Theologie sieht den christlichen Glauben eigentlich immer nur in einer Gefahr, und die droht ihm von innen her. Alle seine Bestreitung von seinen Gegnern außerhalb ist nichts gegen seine Bedrohung durch seine eigenen Vertreter. Das christliche Erkennen und Handeln hat ja sein Gegenüber, worauf es sich gründet, seinen 'Gegenstand', der nicht von den Christen ausgesucht, sondern ihnen vorgegeben ist, den nicht sie sich, sondern der sie gewählt hat. Niemand kann ihn ihnen rauben, außer daß sie ihn rauben, d.h. zu ihrem Besitz an sich reißen, was schlimmer ist, als ihn wegzuwerfen. Später nannte Barth diese Gefahr die "Nostrifikation Gottes"32 . Das ist das Unternehmen, Gott in den Griff zu nehmen und seiner eigenen Sache einzuordnen. Schon in Tambach ist diese Gefahr im Visier, wenn es dort heißt: "Um Gott handelt es sich..., nicht um Religion", nicht um religiöses "Erlebnis" (41). Eine Abgrenzung, die in der Diskussion nach Tambach besonders übel vermerkt wurde!33 Dabei bestritt sie an sich nicht das religiöse Erlebnis, sondern ließ es als "Hinweis" auf Gott gelten. Wenn aber seine Theologie seither Religionskritik in sich schloß, so richtet sich das - nicht gegen eine der Religionen, doch gegen den im Christentum selbst manifesten, ja, eigentlich nur in ihm möglichen Versuch solcher Nostrifikation, gegen die Verkennung, daß wir Gott, sobald wir ihn in unseren Besitz nehmen, um mit ihm dies und das anzufangen, es nicht mehr mit ihm zu tun haben. "Allzu klein ist der Schritt vom Jahwe-Erlebnis zum Baal-Erlebnis" (42). Und es stellt sich nochmals gegen den Versuch solcher Nostrifikation der andere berühmte Satz in Tambach: "Das Reich Gottes... ist eine Revolution, die vor allen Revolutionen ist, wie sie vor allem Bestehenden ist" (51). Gemeint ist, daß der Abbruch der alten verkehrten und der Anbruch der neuen, erlösten Welt Gottes Sache ist, die wir weder durch Verbesserung noch durch Bekämpfung der vorhandenen, alten Welt in Betrieb nehmen können. Es hängt dies, daß wir es wirklich mit Gott zu tun haben, wie dies, daß mit ihm Hoffnung in die Welt kommt, daran, daß wir von dem Versuch solcher Nostrifikation lassen. Wie könnten wir von ihm lassen, wenn nicht in der Erkenntnis, daß nicht er uns gehört, aber daß wir und darum nicht nur wir ihm gehören?

  3. Schon der Tambacher Vortrag stimmt den Ton an, der in Barths Theologie charakteristisch geblieben ist - nicht bloß dies, daß sie sich auf Christus ausrichtet, sondern daß sie Christus wesentlich begreift als "Verheißung". Als Verheißung und nicht als gesetzliche Forderung, nicht als Bestätigung einer bürgerlichen oder antibürgerlichen Moral, die wir nun allererst zu verwirklichen hätten, damit es in der Welt gut werde! Weil diese Verheißung allem unserem Tun vorangeht, darum kann sie auch durch alle Widersprüche nicht außer Kraft gesetzt werden. "Gottesgeschichte ist a priori Siegesgeschichte" (49). Darum bringt sie uns auch nicht nur etwas Gutes, sondern das Gute, bringt einen neuen Himmel und eine neue Erde zum Vorschein. Darum kommt sie allerdings auch - nicht in der Gestalt einer Beschwichtigung des Bösen, sondern in der Gestalt des Gerichts über uns, in der Gestalt des Nein zu dem, was wir böse zu tun gedachten, in der Gestalt eines zum Tode-Verurteilens einer verkehrten Welt. Darum ist aber auch dieses Gericht unablösbar von der Gnade, ist eine Gestalt der Güte Gottes, die Aufrichtung der Gerechtigkeit. Darum schließlich ist diese Verheißung in dem Sinn nicht vernichtend, daß sie den Menschen ausschaltet, unterdrückt oder zur Unmündigkeit verdammt. "Der lebendige Gott ist es, der uns, indem er uns begegnet, nötigt, auch an unser Leben zu glauben" (43f.).

  4. Damit zusammenhängend liegt die Stärke des Vortrags darin, daß er Christus als die Verheißung der Gesellschaft versteht. Es blitzt schon hier die fundamentale Erkenntnis auf, daß Gott in Christus - nicht ein Christ, sondern Mensch wurde und sich des Menschen, der menschlichen Gesellschaft annahm. Der Zahn zwischen Christen und Nichtchristen ist im Licht dieser Verheißung so niedergerissen, daß zunächst nicht deutlich wird, warum dann noch Kirche. "Doch was geht uns die Kirche an?" (64), sagt Barth etwas salopp. Und was die Kirche auch ist, sie ist jedenfalls nicht nicht mehr die Mittlerin zwischen Christus und der Gesellschaft. Das unmittelbare Gegenüber in der kritischen Zuwendung Gottes zum Menschen ist eben "der Christus und die Gesellschaft". Nicht wie bei Harnack "Gott und die Seele"! Sondern die Gesellschaft in ihrer alltäglichen Bedürfnissen, in ihrem Hunger nach Brot, in ihren mit gewaltigem Schein gegebenen Zwangsläufigkeiten, in ihren fragenden Beunruhigungen, aber auch in ihren das ägyptische Elend wiederholenden Ausweglosigkeiten. Gerade die Christen verstehen Christus ganz und gar nicht, wenn sie nicht in ihm und in seiner leiblichen Auferstehung ganz und gar die Verheißung für diese von ihm nicht sich selbst überlassene, von ihm gerade in ihrer Leiblichkeit ernstgenommene Gesellschaft verstehen. Und darum verstehen sie Christus nicht, wenn nicht in der Solidarität mit den Menschen dieser Gesellschaft.

  5. Von daher bestimmt sich nachträglich doch auch der Sinn der Kirche, der ein doppelseitiger ist. Ob sie sich als Kirche Christi bewährt, hängt daran, daß diese beiden Seiten gleichzeitig in ihr gegeben sind. Die beiden Seiten lassen sich mit den Begriffen "Identität und Solidarität" bezeichnen. Die Kirche hat einen Grund und Auftrag, den ihr die sie umgebende Gesellschaft nicht geben und darum auch nicht nehmen kann, den sie nun freilich auch nicht einfach "hat", um ihn gegen andere offensiv oder defensiv zu wahren, weil er ihr vielmehr allein in und durch Christus gegeben wird - das ist ihre Identität. Und sie hat zugleich einen Grund und Auftrag, der sie mitten in die Gesellschaft stellt und in ihr zu jenem nach allen Seiten offenen Haus macht. Denn "das letzte Wort über Gott" lautet: "Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingeborenen Sohn gab" (49). Das reißt den Zaun zwischen "den sogenannten Christen und den sogenannten Nicht-Christen" nieder und treibt die einen in die Solidarität mit den Anderen. Von daher leuchtet es als die doppelte Gefahr der Kirche ein, entweder Christus zu säkularisieren - unter Verlust ihrer Identität, oder Christus zu klerikalisieren - unter Verlust ihrer Solidarität mit den Anderen. Dabei hängen beide Gefahren im tiefsten zusammen: Eine Kirche, die sich klerikal absondert, wird zum Verein neben anderen Vereinen, und eine Kirche, die die Welt sich selbst überlassen sieht, leugnet Christus. In beidem säkularisiert sie sich. Und eine Kirche, die sich säkular anpaßt, tut das, wenn sie sich damit nicht überhaupt selbst auflösen will, mit dem Anspruch, gleichsam in Wiederholung der "Fleischwerdung des Wortes", Mittlerin zwischen Gott und Mensch zu sein, und tut es wohl auch im stillen Wunsch, die Menschen so für die Kirche einzufangen, und denkt so klerikal. Noch der alte Barth34 sieht die Kirche in der gleichen Doppelgefahr der Fremdhörigkeit und der Selbstverherrlichung. Was die Kirche aus dieser Doppelgefahr holen kann, ist ihre Ausrichtung auf Christus, durch den sie zugleich auf die von Gott geliebte Gesellschaft ausgerichtet und in die Solidarität mit den Menschen in ihr eingewiesen wird.

Soweit einige Punkte, die verdeutlichen sollen, wie die Erkenntnis des Tambacher Vortrags heute noch redet. Sie redet, nicht weil sie zufällig gerade heute aktuell oder weil sie an sich zeitlos ist. Ich habe sie hervorgehoben, weil ich darin Momente der Treue gegen das lebendige Wort Gottes erkenne. Und sofern sie das sind, sind sie auch heute aktuell. Im Begreifen dieser ihrer spezifischen Aktualität gedenken wir des Tambacher Vortrags vor 75 Jahren nicht umsonst.

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Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Seitenzahlen des Buches, in dem der Vortrag von Karl Barth abgedruckt ist: Das Wort Gottes und die Theologie, München 1924, S. 33-69.

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1 Karl Barth - Eduard Thurneysen, Briefwechsel 1, Zürich 1973, 344.
2 AaO, 345.
3 G. Dehn, Die alte Zeit - die vorigen Jahre. Lebenserinnerungen, München, 220-222.
4 In: Vertrauliche Mitteilungen des Neuen Werks, nach: F.-W. Marquardt, Der Christ in der Gesellschaft: 1919-1979. Geschichte, Analysen und aktuelle Bedeutung von Karl Barths Tambacher Vortrag, TEH 206, München 1980, 25.
5 Aa0, 37, 36.
6 Aa0, 32f.
7 K. Barth, Die Christliche Dogmatik im Entwurf, München 1927, IX.
8 Barth, Theologische Existenz heute! (1), München 1933, 3f.
9 Karl Barth - Rudolf Bultmann, Briefwechsel 1922 - 1966, Zürich 1971, 308.
10 Marquardt, 9.
11 AaO 10.
12 K. Barth, Abschied, ZZ 10 (1933), 542.
13 Markus Mattmüller, Leonhard Ragaz und der religiöse Sozialismus. Eine Biographie, Bd. 2, Zürich 1968, 255f.
14 K. Barth,Der Römerbrief, Bern 1919, 24.
15 K. Barth, Der Römerbrief (2), München 1922, 3. Aufl. 1923, VII.
16 Barth - Thurneysen, Briefwechsel, 1, 356f.
17 AaO, 436.
18 AaO 355.
19 Marquardt, 25f.
20 Barth - Thurneysen, Briefwechsel 1, 421.
21 Marquardt, 32-35.
22 K. Barth, Der Römerbrief 1, 169.
23 Barth - Thurneysen, Briefwechsel 1, 350.
24 Barth, Der Römerbrief 2, VII.
25 G. Heinzelmann, Rez. zum Römerbrief Karl Barths, in: Neue kirchliche Zeitschrift 35, 539f.
26 F. Rosenzweig, Ges. Schr. I. Briefe und Tagebücher, Bd. 2 1918-1929, hg. von R. Rosenzweig/ E. Rosenzweig-Scheinmann, Haag 1979, S. 875f.
27 K. Barth, Der Römerbrief 2, VII.
28 Ebd.
29 K. Barth, "Der Götze wackelt". Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930 bis 1960, hg. v. K. Kupisch, Berlin 1961, 113.
30 K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, Frankfurt/M 1977, 547.
31 E. Jüngel, Barth-Studien, Gütersloh u.a. 1982, 114.
32 K. Barth, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV,4. Fragmente aus dem Nachlaß, Vorlesungen 1959-1961, Zürich 1976, 214-7.
33 Vgl. Marquardt, 26ff.
34 KD IV/2, 754

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Dieser Vortrag wurde veröffentlicht in: Der Christ in der Gesellschaft. Tambach 1919-1994, Reinhardsbrunn 1994, S. 9-21

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© Eberhard Busch 1994


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