GLIEDERUNG
1. Einleitung
2.1. Das Camouflage-Konzept
2.2. Möglichkeiten der Analyse lesbischer Literatur
2.3. Weitere Vorgehensweise
3. Inhalt und Struktur von "Lyrische Novelle"
4. Der biographische Kontext
5. Rezensionen
6. Resümee und Würdigung
7. Literaturverzeichnis
8. Anmerkungen
1.) Einleitung
Die "Lyrische Novelle" von Annemarie Schwarzenbach (AS) erschien 1933
- dem Jahr der Machtübergabe an die Nationalsozialisten. Die Zeit
war denkbar schlecht für das Erscheinen einer deutschsprachigen Liebesgeschichte,
die in Bars und anderen `zweifelhaften' Milieus angesiedelt ist.
Fast 60 Jahre später ist AS besonders mit "Das glückliche
Tal" und "Lyrische Novelle" wieder im Gespräch. Verleger und Rezensent/innen
bemühen sich darum, AS bekannter zu machen. Sie ist Gegenstand heftiger
Diskussionen, in denen ihr Werk hochgelobt, versuchsweise eingeordnet und
nicht selten verrissen wird.
Auch dieser Aufsatz versucht eine Annäherung an ihre "Lyrische
Novelle". Im Mittelpunkt steht dabei die These, dass die "Lyrische Novelle"
nur analysierbar ist, wenn ASs lesbische Identität, ihr Kontext sowie
Prätexte aus dem Umfeld der Novelle mitbedacht werden. Struktur und
Inhalt des Textes werden dadurch bestimmt, dass die Autorin eine Lesbe
war, als Lesbe schrieb und der Protagonist in "Lyrische Novelle" eben kein
"Jüngling, sondern ein Mädchen" ist, die eine andere Frau liebt,
begehrt und verliert.
Die Rezensenten ASs vernachlässigen diesen Blickwinkel bis heute
(siehe Anmerkungen). Dabei hat Wolfgang Koeppen bereits 1933 versteckt,
aber deutlich auf den homoerotischen Subtext hingewiesen:
"So lieben wenige, wie in dem Buch geliebt wird, aber für diese
wenigen könnte die Novelle von der Gültigkeit des Tonio Kröger
sein, und das ist viel. Die "Lyrische Novelle" ist eine Schrift für
junge Menschen, reizvoll auch dann noch, wenn sie etwas von der gläsernen
Atmosphäre der Bars getrübt wird, in denen junge Mädchen
Pernod trinken." (W. Koeppen)
Trotz des spöttischen Untertones stellt er die relativ unbekannte
AS in eine Reihe mit dem Thomas Mann. Er hat das homoerotische Thema der
Novelle erkannt und deutet dieses in seiner Rezension an. Weiter unten
werde ich auf heutige Rezensenten eingehen, die dies bis heute nicht leisten,
obwohl diese Interpretation durch ASs eigene Aussage in einem Brief an
den Literaturkritiker Charles Clerc vom 15.Juni 1933 gestützt wird:
"Der zwanzigjährige Held ist kein Held, kein Jüngling,
sondern ein Mädchen - das hätte man eingestehen müssen,
um die Gefährlichkeit der Verwirrung und die mühsame Erkenntnis
menschlicher, richtiger, glaubhafter zu machen". (AS am 15.06.33 an
Charles Clerc, zitiert nach Roger Perret 1989, S. 100)
Ich versuche, diesen Sachverhalt am Text aufzuzeigen.In "Lyrische Novelle" wird die Geschichte eines jungen Mannes erzählt, der eine Diplomatenkarriere machen soll, sich statt dessen in die Sängerin Sibylle verliebt und sich durch diese Liebesgeschichte fast völlig ruiniert. Er flieht schliesslich aufs Land und verlässt damit Sibylle. Es geht mir im folgenden darum, aufzuzeigen, dass diese Story nur den Oberflächentext der "Lyrischen Novelle" bildet, von dem aus auf den homoerotischen Subtext verwiesen wird. Dem Text "Lyrische Novelle" nähere ich mich mit Hilfe von Textanalyse, der Berücksichtigung von Prätexten und Rezensionen. Ich stütze mich hierbei auf die Ansätze von Marita Keilson-Lauritz und Heinrich Detering sowie auf Diskussionen um lesbisches Schreiben, die ich kurz skizzieren werde.
2.1. Das Camouflage-Konzept
Die Forderung, die Autorin und ihren Kontext bei der Textanalyse zu
berücksichtigen, soll keineswegs einem psychologischen Biographismus
erneut die Türen öffnen. In Anlehnung an Foucault ist von diesem
mit Recht Abstand genommen worden. Methodisch stütze ich mich dabei
auf Ausführungen von Marita Keilson-Lauritz und Heinrich Detering
zum Verhältnis von Fiktion und Erfahrung. Detering fasst seine Auffassung
davon, wie der "Zusammenhang zwischen Autor-Biographie und Text postuliert,
beschrieben und analysiert werden kann" , unter den Begriff "Fiktionalisierung".
Detering schliesst sich der These vom "Verschwinden des Autors" (Foucault)
und der Auflösung der Geschlossenheit des Textes grundsätzlich
an. Weiterführend definiert er, in Anlehnung an Schöne , "Autor"
als:
"personal fassbarer Schnittpunkt der - mit Schönes Katalog - "lebensgeschichtlichen,
wirtschafts- und sozialgeschichtlichen, geistes- und kulturgeschichtlichen"
Verhältnisse und Diskurse" (A. Schöne, S. 9 ff.).
und Werk dementsprechend als endgültig "textuell fixiertes Objekt",
das keine geschlossene Totalität, aber eben eine feste, endgültige
Fassung hat. Ein Autor bzw. eine Autorin wird damit zugleich als Rezipient/in
der Diskurse der Zeit und als Produzent/in von Texten begriffen. Ziel philologischer
Analyse ist damit sehr wohl auch die "Rekonstruktion des aktiven und zielgerichteten
`Filterungsprozesses', dessen Ergebnis der Text ist."
Ausgehend von dieser philologischen Basis verweist er auf die besonderen
"Tabuisierungsvorschriften und Sanktionsdrohungen" und die (mindestens
solange Homoerotik als pathologisch behandelt wird) spezifische homoerotische
Identität, die zu einer spezifischen, homoerotischen Textgestalt führen
können/müssen. Er stützt sich dabei auf theoretische Arbeiten
von Hans Mayer, Jacob Stockinger, Marita Keilson-Lauritz und andere, auf
die ich hier nicht im einzelnen eingehe. Entscheidend für meinen Zusammenhang
ist, zu welchem Schluss er damit kommt, und wie er das Camouflage-Konzept
darauf aufbaut. Er kommt zu dem Ergebnis:
"dass poetische Texte dort, wo ihr Gegenstand homoerotische Empfindungen
und Erfahrungen sind, eine andere Gestalt zeigen können, als dort,
wo es sich um heteroerotische Empfindungen und Erfahrungen handelt und
dass es für die Analyse solcher Texte unerlässlich sein kann,
`die Frage nach den Subjekten hinter den Diskursen' (Busch) zu stellen."
(H. Detering)
Er weist darauf hin, dass es für homoerotische Autoren in Reaktion
auf gesellschaftliche Tabuierung, Abwertung und Bestrafung von Homoerotik
nur drei Lösungstypen gibt: "Verstoss durch Tabubruch, Verschweigen
oder Verstellung". Letzteres wird im Text durch Camouflage geleistet, die
als "intentionale Differenz zwischen Oberflächentext und Subtext",
als "die Kunst sich gewissermassen zugleich zu verkleiden und auszuziehen"
definiert wird. Die Camouflage macht defensives Verstecken der homoerotischen
Botschaft unter einem nicht anstössigen Oberflächentext möglich.
Zugleich liegen im Oberflächentext Signale auf den homoerotischen
Subtext angelegt. Die Autorin/ der Autor will oder muss sich zugleich verbergen
und doch signalisieren, dass im Text homoerotische Erfahrung umgesetzt
wird.
Neben der defensiven/signalisierenden Wirkung der Camouflage kommen
ihr produktive Potenzen zu. Die Autorin/ der Autor versteckt nicht nur
sicherheitshalber die verarbeitete homoerotische Erfahrung und signalisiert
sie dabei zugleich . Der "primäre produktive Effekt" entsteht in der
Spracherweiterung gerade aufgrund des Verbotes, homoerotische Belange offen
auszusprechen. Aus dem Zwang zu Tarnung und Signal entstehen neue, differenzierte
Ausdrucksformen. Der "sekundäre produktive Effekt" entsteht durch
die Wahl des Oberflächentextes. Häufig werden als dessen Protagonisten
andere Minderheiten/Aussenseiter/Abgewertete gewählt. Durch das Verstecken
der homoerotischen Figur des Subtextes entsteht eine eigenartige Einfühlung
in Auseinandersetzung mit der im Oberflächentext beschriebenen, ebenfalls
misshandelten Gruppe oder Person. Besonders deutlich wird dies z.B. in
Hermann Bangs "Am Wege", wo im Oberflächentext das Leiden und Dahinsterben
einer Frau so emphatisch geschildert, wie es nur für eine Person mit
einer vergleichbaren Erfahrungen - hier dem homoerotischen Autor - möglich
ist.
Zum Erkennen der Camouflage, des signalisierten Subtextes und der damit
verbundenen produktiven Effekte ist es unabdingbar, den homoerotischen
Kontext mitzudenken. Die im Text angelegten Signale können auf diese
Weise analytisch fruchtbar gemacht werden:
"Es geht nicht lediglich um den Nachweis, dass dieses oder jenes
Detail der erzählten Welt einen biographischen Sachverhalt spiegelt,
sondern um ein angemessenes Verständnis des Textes - darum also, eine
ihm eingeschriebene und ihn als Text massgeblich bestimmende Struktur zu
rekonstruieren." (Heinrich Detering)
Zur Entschlüsselung der Camouflage ist es hierbei notwendig, auf
"fiktionsexterne Texte" - hier Prätexte genannt - zurückzugreifen,
um nicht bei Mutmassungen über den Text stehen zu bleiben. Für
die "Lyrische Novelle" wird sowohl auf die Biographie ASs, auf Texte von
Erika und Klaus Mann, auf die Rezension ihrer Novelle, sowie auf andere
Texte ASs zurückgegriffen. Es wird aber zunächst um die Frage
gehen, in welchen Grenzen das Camouflage-Konzept auf die "Lyrische Novelle"
anwendbar ist.
2.2. Möglichkeiten der Analyse lesbischer Literatur
Deterings Konzept betrachtet ausschliesslich Texte schwuler Männer.
Die Frage ist, ob das an diesen entwickelte Modell ohne weiteres auf Texte
lesbischer Autorinnen übertragen werden kann. Dieser Zweifel beruht
nicht nur darauf, dass Schwule und Lesben jeweils andere Erfahrungen machen,
je andersgearteter Diskriminierung ausgesetzt sind und - in der Logik des
Konzeptes - auch zu anderen literarischen Formen, Inhalten, Masken, Signalen
kommen. Eine Lesbe ist zudem immer auch Frau und gehört damit doppelt
diskriminierten Gruppen an. Das methodische Gerüst dieser Arbeit wird
also durch das Camouflage-Konzept und zudem durch die feministisch begründete
Frage nach dem "Lesbisch-Schreiben" gebildet.
Eine Frau wird bis heute zum Sozialcharakter ("emotional, unterlegen,
fürsorglich, schwach") degradiert ; Lesbisch-Sein haftet bis heute
etwas mangel- und krankhaftes an. Der Verzicht auf den Mann und damit "ein
direkter oder indirekter Angriff gegen das männliche Anrecht auf Frauen"
(A. Rich: "Zwangsheterosexualität und lesbische Existenz". zitiert
nach M. Marti 1989, S. 31) wird mindestens mit Verschweigen, Verhöhnung
und/oder Aggression geahndet. Der heterosexuelle Mann (als Sozialcharakter)
wird absolut gesetzt als `Krone der Schöpfung', als Herrscher und
Kontrolleur der Frauen. Ihm liegt die Definitionsmacht inne, sein (bürgerlich-patriarchales)
Sein bildet den Mittelpunkt und die Richtschnur.
Ein Selbstbewusstsein, gar ein Selbst-Wert von Frauen, eine weibliche
Autonomie wird in einer patriarchal dominierten Gesellschaft nicht angestrebt,
sondern muss von einzelnen Frauen erkämpft werden. Dabei handelt es
sich um den "Aufbruch in den dunklen Kontinent" (im Sinne von Rohde-Dachser,
in Abgrenzung zu Freud). Nach jahrtausendelangem Patriarchat und 200 Jahren
entwickelten bürgerlichen Projektionen von `Frausein' ist offen, was
Frau ist bzw. sein könnte. Feministinnen haben sich aufgemacht, um
diese Lücke mit Leben zu füllen. Männliche Projektionen
sollten überwunden, männliches Instrumentarium auf seine Tauglichkeit
hin untersucht werden zur Erschliessung der Welt und der eigenen Person
durch die Frauen selbst. Die Lesbenbewegung ist ein radikaler Teil dieses
Diskurses, weil Lesben von der "Sprach- und Geschichtslosigkeit" doppelt
betroffen waren und sind.
"Sie (die Lesbe B.R.) ist Gegen-Täterin, indem sie sich emotional
und erotisch, das heisst mit ihrer Liebe auf Frauen bezieht und hierdurch
gegen die grundlegende patriarchale Norm der weiblichen Liebe zum Mann
handelt/lebt. Sie ist jedoch zugleich Mit-Täterin, weil sie ihr widerständiges
Handeln nur zu oft verschweigt und verdeckt, (...)" (U. Hänsch:
Zum Schweigen des Lesben. zitiert nach Hölscher und Wyrisch. In: Hagazussa,
S. 53)
Lesbisch-Sein wurde in den 1920er und strukturell seit den 1960er Jahren
von einer biologischen, individuellen zu einer "politischen Angelegenheit"
. Eine lesbische Autorin konnte - unter Sanktionen - lesbisch leben und
ihre Erfahrungen mehr oder weniger offen, in mehr oder weniger "dunklen
Codes" , z.B. durch Änderung des Geschlechtes ihrer Figuren, literarisch
umsetzen.
Es geht mir hier zum einen um einen Literatur- und Analyseansatz, der
annimmt,
"dass physische und soziale Erfahrungen der lesbischen Liebe notwendigerweise,
in welcher Art auch immer, im Schreiben ausgedrückt werden (...).
Die lesbische Erzählform wird (...) entweder eine Erzählform
der Verbannung oder eine der ermöglichenden Flucht sein (...). Das
Problem der `closet Texts' ist nicht so sehr die Dunkelheit als vielmehr
die Doppeldeutigkeit." (P. Dunker, S. 24)
Zum anderen geht es mir um die Frage nach Möglichkeiten der Entwicklung
von autonomer, weiblicher und lesbischer Identität. Identitätsbildung
geschieht über "Vergesellschaftung" (Habermas, Döbert, Nunner-Winkler),
also in Auseinandersetzung eines Subjekts mit den es umgebenden sozialen
Normen und Strukturen.(- ein Ansatz, den ich so heute, Februar 2000, nicht
mehr vertreten würde, siehe Dekonstruktion
von Geschlecht!)
Lesben werden meistens nicht benannt, oft nicht mal bekämpft,
da Frauen bis heute nur eine geringe, eigenständige Sexualität
(im weiten Sinne des Wortes) zugestanden wird - umso mehr wenn kein Mann
in dieser vorkommt. Dieses Nicht-Sein-Dürfen zwischen Diffamierung
und Verleugnung ist keine produktive Ausgangsbasis für die Ausbildung
einer autonomen, unverletzten Identität - also der Fähigkeit/Struktur,
"die es einem Persönlichkeitssystem erlaubt, im Wechsel der biographischen
Zustände, über die verschiedenen Positionen im sozialen Raum
hinweg Kontinuität und Konsistenz zu sichern." (P. Dunker, S. 26).
Diese Ich-Identität, dieses Subjekt-Sein - und hier beginnt der literaturwissenschaftlich
interessante Teil - steht jedoch in einer wechselseitigen Beziehung mit
der Fähigkeit zu schreiben. Im Schreiben selbst wird Identität
formiert, in Frage gestellt und umstrukturiert. Ein Mindestmass an Ich-Identität
und Raum für die Weiterentwicklung dieser ist auf der anderen Seite
eine Voraussetzung produktiven, bewussten Schreibens. "Um zu schreiben,
muss ich zunächst meine Zugehörigkeit bestimmen" - als "kolonisierte"
Frau und als Lesbe. Bewusstwerdung, Einordnung und produktive Verarbeitung
der einzigartigen Erfahrungen sind also Ergebnis und Voraussetzung produktiven
Schreibens. Diese Blickrichtung auf den Zusammenhang zwischen Identität/Leben
und Schreiben/Fiktion begründet einen weiteren Grund für die
Berücksichtigung der persönlichen Geschichte und des Kontextes
von AS bei der Besprechung von "Lyrische Novelle". Damit ist zugleich ein
- zu diskutierendes - Wertungsschema angedeutet, das danach fragt, ob in
der Novelle geleistet wird, was Nicole Brossard von lesbischer Literatur
fordert:
"Für eine Lesbe zu schreiben, das heisst, die patriarchalen
Poster aus dem Zimmer zu entfernen. Das heisst zu lernen, eine gewisse
Zeit mit weissen Wänden zu leben. (...) Es heisst alles für alles
zwischen den Wörtern zu wagen, die tote Worte bleiben würden
ohne diese Leidenschaft, die wir für eine andere Frau haben.
Ich glaube, dass die wahnsinnige Liebe zwischen zwei Frauen so unbegreiflich
für den Geist ist, dass wir, um darüber zu sprechen, oder zu
schreiben, die Welt neu denken müssen, um zu verstehen, was mit uns
geschieht. (...): eine Lesbe, die nicht die Welt neu erfindet, ist eine
Lesbe auf dem Weg des Verschwindens." (N. Brossard: Lesbisches Schreiben.
In: Haguzussa, S. 70/71)
2.3. Zur weiteren Vorgehensweise
Es ist mir wichtig, die Grenzen, in denen mein so formuliertes Unterfangen
gelingen kann, zu verdeutlichen. Ich möchte diese Arbeit als Annäherungsversuch
an "Lyrische Novelle" verstanden wissen. Diese Arbeit ist nicht nur deshalb
nicht mehr als Versuch, weil mir viele Quellen nicht zugänglich geworden
sind, entweder da die Mutter von AS viele Dokumente vernichtet hat (z.B.
die Briefe von Erika Mann an AS) oder da viele der Text nicht oder nur
in Bern zugänglich sind und nicht so schnell aus Archiven und Nachlässen
besorgt werden konnten (siehe die Ergänzung zum Literaturverzeichnis).
Zweitens bleibt es beim Versuch, weil eine Diskussion über die Verknüpfung
des Camouflage-Konzeptes und schwulen Selbst-Bewusstseinsdiskurses mit
feministischer, lesbischer Forschung und Analyse meines Wissens erst im
Gange ist. Ausgestaltung und Nutzbarkeit des Instrumentariums sind meiner
Meinung nach noch unklar. Diese Arbeit hat das Idealziel, ein Mosaikstein
bei dieser Suche zu sein. Meine Arbeit wäre für mich selbst gelungen,
wenn Menschen von ihr (trotz der akademischen Form und Sprache) mehr gebrauchen
könnten als das Literaturverzeichnis.
3. Inhalt und Struktur der "Lyrischen Novelle":
Die Geschichte wird vom Ich-Erzähler nicht chronologisch erzählt.
Er befindet sich zum Zeitpunkt des Erzählens bereits in einer kleinen
Stadt auf dem Land. Die Flucht hat also bereits stattgefunden. Der Erzähler
reflektiert seine jetzige Situation und kämpft mit den emotionalen
und körperlichen Folgen seiner hoffnungslosen Liebe zu Sibylle. Zusätzlich
zu diesem Teil der Ich-Erzählung werden drei weitere Zeitebenen aufgebaut,
die zum Teil verwoben mit der Gegenwarts/Land-Erzählung vorgeführt
werden. Der Erzähler reflektiert nicht rückblickend, selbst etwa
im Landgasthof sitzend, seine Geschichte. Statt dessen werden die vergangenen
Ereignisse, häufig in getrennten Kapiteln, in Rückblenden neben
die Gegenwartserzählung gestellt. Auf diese Weise laufen vier Erzählstränge
nebeneinander und ineinander. Diese sind in sich chronologisch, beschreiben
parallel verlaufend die selbstauflösende bzw. die rettende Entwicklung
des Ich-Erzählers und fügen sich am Ende im Aufbruch zusammen.
In der Liebeserzählung weiss der Protagonist "keinen Ausweg" und "muss
fort" ; parallel hat er in der Gegenwarterzählung "Lust, von hier
wegzufahren" ... (alle Zitate ohne Angabe im folgenden aus "Lyrische Novelle")
Die Novelle als solche bildet also eine Einheit, ohne geschlossen zu
sein. Reflexionen, Erinnerungen an die Zeit mit und vor Sibylle werden
angedeutet. Die Leser/innen bekommen getrennte Sequenzen angeboten, aus
denen gesucht werden kann, wer der Protagonist gewesen ist, geworden ist
und in der Gegenwart ist und sein wird. Mit der Aussage, dass Informationen
über den Protagonisten gesucht werden müssen, meine ich auch,
dass die Leser/innen `Lücken' selber füllen müssen. Es wird
kein literarisch oder psychologisch geschlossenes Bild vermittelt. Diese
`Lücken' entstehen zum einen durch die beschriebene Technik, verschiedene
Erzählstränge sentenziös nebeneinander zu stellen. Die Verbindung
muss von den Leser/innen selbst hergestellt werden. Zum anderen entstehen
sie aus der Ich-Erzählsituation. Die Leser/innen erfahren alles nur
aus der Perspektive des Protagonisten. Sie bekommen keinerlei andersweitige
Informationen, z.B. darüber, inwieweit Sibylle seine Liebe erwidert.
Schilderungen, Reflexionen, Wiedergabe von Begegnungen mit Sibylle und
Gespräche mit Freunden werden nur aus der Perspektive des Ich-Erzählers
wiedergegeben. Die Figuren im Text werden nur soweit eingeführt, wie
es zur Beschreibung der Befindlichkeit des Erzählers notwendig ist.
Die Leser/innen müssen darüber hinaus über vieles mutmassen,
z.B. darüber, was Sibylle tut, wenn sie nicht singt, warum ausgerechnet
Erik (ein Freund von Sibylle) damit droht, den Vater des Protagonisten
zu verständigen, und warum die Flucht aufs Land gerade in dem Augenblick
erfolgt, da der Erzähler die Wahrheit über Sibylles Kind erfährt.
Diese `Lücken' sollen nicht nur das Mitempfinden der Leser/innen anregen
und die verzweifelte, ausgelieferte Situation des Protagonisten widerspiegeln.
Sie sind in vielen Fällen auch Leerstellen mit Signalfunktion, die
auf das hinweisen, was mit dem Protagonisten `nicht stimmt', auf das was
unerläutert bleibt und auf den eigentlichen Grund warum Fragen offen
bleiben (müssen). Der Protagonist wird nicht nur nicht ausreichend
als Mann eingeführt (z.B. über eindeutig männliche Attribute
oder über einen männlichen Eigennamen), sondern `sein' eigentliches
Geschlecht und damit der homoerotische Subtext werden gezielt im Oberflächentext
angedeutet.
Beispielhaft möchte ich das Motiv des `Schlafens' (einschliesslich
Krankheit und Fieber), die Figurenkonstellation, die Beschreibung der Beziehung
zu Sibylle (vor allem den Schluss des Textes), Hinweise auf homoerotische
Kontexte und einige explizite Rückgriffe vom Erzähler auf die
Biographie ASs herausgreifen.
Das Motiv des `Schlafens' bzw. des dringenden Wunsches danach zieht
sich durch den ganzen Text. Die ständige Übermüdung ist
Teil des Leidens, des Erzählens und der Empfindung eigener Schwäche.
Die Klage, nicht stark genug zu sein, lässt sich als körperliche
und emotionale Auszehrung des Erzählers lesen, der es nicht aushält,
jede Nacht bei Sibylle zu sein statt zu schlafen. Ich glaube jedoch, dass
das Motiv sich nicht nur so lesen lässt - dazu kommt es zu oft und
zum Teil in doppeldeutiger Verwendung vor. Der Schmerz über den Schlafentzug
und die daraus resultierende Krankheit ist Symbol für den Zustand
des Erzählers. In Berlin wird er "so plötzlich von Mutlosigkeit
befallen, als hätte mich jemand aus übermüdetem Schlaf geweckt.
(...) Ich kann nicht mehr." Über Krankheit und Schlaf entzieht er
sich zum ersten Mal Sibylle . Er geht auf Land, um sich wieder an "gesunden
Schlaf" zu gewöhnen; er kann endlich so "viel schlafen, wie ich will"
und ist zum Schluss "nicht mehr müde. Ich gewöhne mich daran,
allein zu sein" . Hier fällt die Kombination des Bedürfnisses
nach Schlaf und der Sehnsucht nach der Verbindung mit der Geliebten auf.
Der ungeheure Entzug von Schlaf verliefe analog dem Entzug eindeutiger
Liebeserwiderungen durch Sibylle. Diese Lesart würde auch besser verstehbar
machen, warum der Erzähler derart verzweifelt unter dem Fehlen von
Schlaf leidet. Noch deutlicher wird diese zweite Bedeutungsebene, wenn
zwei Textstellen miteinander verbunden werden, in denen `schlafen' diese
zweite Bedeutung eindeutig trägt:
"Fahren wir doch', sagte Sibylle. Sie bat mich beinahe darum. Ich
schlug mit der Faust auf mein Steuerrad.
`Aber was hat es denn für einen Zweck' sagte ich. `Warum sollen
wir nicht endlich einmal schlafen? Ich kann es nicht mehr aushalten.'"
(Lyrische Novelle, S. 69)
und im Gespräch mit Erik:
"Ich weiss nicht', sagte ich, und plötzlich als ich Erik ansah,
begriff ich etwas und sagte: `Du bist weitergekommen als ich. Du kennst
sie länger und dich hat sie geliebt. Mich liebt sie nicht.'
`Das weisst du also', sagte er beinah streng.
`Wenn es nötig für mich wäre, würde sie auch
mit mir schlafen', sagte ich und war sehr verletzt. Wir waren ganz verfeindet.
`Du lügst ja', sagte Erik." (Lyrische Novelle, S. 78)
In diesen Textstellen wird das vielfach verwendete `schlafen' als Verbindung
mit Sibylle (körperlich oder nicht) dekodiert. Der Erzähler leidet
unter dem Fehlen dieser Liebesverbindung - genau aus diesem Grund reagiert
er derartig heftig auf die seltenen Zärtlichkeiten von Seiten Sibylles.
Die interessante Frage ist, warum dieses Leiden nicht direkt ausgesprochen
wird. Nur weil ein angehender Diplomat besser kein Verhältnis mit
einer Sängerin haben sollte? Die sozialen Schranken reichen wohl kaum
als hinreichende Erklärung. Vollkommen einleuchtend wird die Notwendigkeit
des nicht-exakten-Aussprechens jedoch, wenn der Erzähler als getarnte
Frau gesehen wird, die eine Frau begehrt - ein Aussprechen dieser Tatsache
war 1933 nicht offen möglich.
Diese Sichtweise würde auch auf die Figurenkonstellation ein erhellendes
Licht werfen. Vor allem Erik erscheint dann eindeutiger als bewunderter
und gehasster Konkurrent. Die explosive Mischung des Verhältnisses
der Erzählerin zu Erik aus Bewunderung und Feindschaft begründet
sich daraus, dass er nicht nur der Vertreter der Vernunft und damit der
Trennung von Sibylle , sondern vor allem auch ein `richtiger Mann' ist
- eindeutig und klar wie ein Mann zu sein habe, mit einem männlichen
Eigennamen ausgestattet, stark genug für Sibylle und von dieser geliebt.
Die Rivalität zwischen Erzählerin und Erik wird nicht als Konkurrenz
zweier sozial gleichberechtigter Männer plausibel, sondern als Rivalität
zwischen sozial akzeptierter, sprich heteroerotischer und sozial unakzeptierter,
also homoerotischer Liebe. Die Erzählerin, die als Frau um die Liebe
von Sibylle wirbt, kämpft dabei nicht nur gegen den Konkurrenten,
sondern zugleich gegen das gesellschaftliche und internalisierte Tabu.
(Im folgenden wird vom Erzähler als dem Helden des Oberflächentextes
und von der Erzählerin als Heldin des Subtextes gesprochen.)
Erik ist es schliesslich, der ihr androht, ihren Vater zu benachrichtigen
und der über die Existenz von "Gesetzen" predigt:
"Er sagte mir, dass man gewisse Lebensnotwendigkeiten einsehen müsse.
Mit gesellschaftlichen Vorurteilen habe das nicht das geringste zu tun,
sagte er, sondern es habe mit unserer Seele zu tun, mit unserer Bezogenheit
auf Gott. Ich war bereit, es einzusehen, und ich fühlte mich sehr
schuldig. (...) `Du musst glauben, dass Gott dich liebt', sagte Erik. `Du
wirst dann nichts tun, was dir nicht entspricht.'" (Lyrische Novelle,
S. 85/86)
Auch hier fragt sich, wovon eigentlich die Rede ist - nur davon, dass
der/die Erzählende zu jung ist, aus der Oberschicht stammt und dabei
ist, die eigene Karriere zu ruinieren? Das würde ein derartiges Gottesgericht
nicht völlig rechtfertigen. Von Karriere ist zudem hier in keinem
Wort die Rede. Es wird auf gottgegebene, naturgemässe Bestimmung angespielt
- die Zeit der starren, ontologisch begründeten Klassenschranken (etwa
zwischen Diplomat und Sängerin) war jedoch in dieser krassen Form
1933 vorbei; während die Ablehnung ernsthafter, lesbischer Bindung
ungebrochen, gegenüber den 20er Jahren sogar restauriert war.
Der Erzähler kann/darf nicht mit Sibylle leben, weil sie eine
Erzählerin ist. Dieses Problem bildet das Thema des Subtextes,
dass durch `Unstimmigkeiten' und direkte Anspielungen im Oberflächentext
signalisiert wird.
Der Subtext wird ausser durch das bereits genannte auch durch Anspielungen
signalisiert, die für mich fast 60 Jahre später zum Teil schwer
zu entziffern sind. Zum Teil finden sich Verweise, wie sie auch in männlich
homoerotischer Literatur auffindbar sind. So spielt das Milieu von Bars
mit Matrosen, zwielichtigen Chauffeuren und Tänzern eine grosse Rolle.
Zudem taucht in Begleitung eines Mannes auch eine Frau auf, die laut Sibylle
"ein verkleideter Mann sei" . Es wäre sicherlich interessant, zu untersuchen,
inwiefern eine Parallelität von schwulen und lesbischen Anspielungen,
Codes und Einbettungen in bestimmte Milieus in homoerotischer Literatur
existiert.
Von nicht zu unterschätzender Signalwirkung ist auch der Umgang
der Erzählerin mit einer anderen weiblichen Figur namens Frau von
Niehoff. Diese lädt die Erzählerin ein, bei ihr zu übernachten.
Die ebenfalls anwesende Freundin Frau von Niehoffs reagiert auf diese Einladung
"unzufrieden". Diese Vokabel erschiene jedoch völlig unzutreffend,
wenn sie die Freundin darüber sorgen oder erregen würde, dass
der Nachtbesuch eines Mannes (des Erzählers) die verheiratete Frau
von Niehoff kompromittieren kann. Vollständig sinnvoll erscheint die
Vokabel jedoch, wenn die Freundin tatsächlich unzufrieden darüber
dargestellt werden soll, dass ihre Freundin einer anderen Frau gegenüber
diese Einladung ausspricht und ganz offensichtlich mindestens Fürsorge
für die Erzählerin empfindet!
Auf der Ebene des Oberflächentextes wird das Leiden der Hauptfigur
an der Liebe zu der kalten, manchmal zärtlichen und meist unnahbaren
Sibylle beschrieben. Tritt die Leserin jedoch einen Schritt vom Text zurück,
bleiben auch in Bezug auf diese Beziehung Fragen offen, die auf die Ebene
des Subtextes verweisen. Warum stellt der Erzähler nicht Fragen über
Sibylles Geheimnis und über Sibylles Verhältnis zu ihm? Warum
setzt er sich so bis zum Schluss der Gefahr aus, doch nur "betrogen und
verlacht" worden zu sein? Warum verlässt er sie genau in dem Moment,
in dem er ihr Geheimnis, nämlich die Tatsache, dass Sibylle ein Kind
hat, endlich erfährt und er ihr seine Liebe beweisen könnte,
da sie seine Hilfe braucht? Warum lässt er sich von Erik überreden,
dass er nicht mit Sibylle leben dürfe, und lässt sich von dessen
Drohung, den Vater zu benachrichtigen, in die Flucht schlagen? Warum kommt
er, der vorher keinen Grauen mehr vor dem Sterben hatte, nun zu der Sorge,
sich "lächerlich" zu machen, wenn er seinen Vater bitten würde,
ihn "mit Sibylle fortreisen zu lassen" ?
Die Zeichnung der Hauptfigur im Text lässt eine banale Interpretation
nicht zu, die etwa darauf hinauslaufen würde, dass der Held sich als
tragische Gestalt gefallen und beinah ruiniert hat, sich aber bei Sibylles
konkreter Bitte um seine Hilfe zu entziehen sucht. Die Beschreibung des
Ich-Erzählers (!) deutet eine solche Interpretation in keiner Weise
an. Seine Reaktion wird jedoch auch nicht gänzlich aus Schwäche
und Sorge um seinen sozialen Rang verständlich. Die Geschichte kann
so gelesen werden, lässt sich aber auf diese Weise nicht ganz erhellen.
Ist der Erzähler jedoch eine Frau, wird vollkommen klar, warum sie
das Kind nicht adoptieren kann und warum sie vor dem enormen Risiko einer,
durch die Übernahme der Verantwortung für das Kind, offen gelebten
lesbischen Beziehung zurückschreckt. In diesem Fall gibt es nur die
Wahl zwischen totalem Risiko, inkl.Bruch mit Familie, sozialer Herkunft,
Karriere oder eben Flucht.
Ausmass von Panik und Verwirrung werden auf der Ebene des homoerotischen
Subtextes ganz verständlich - ebenso wie die trauernd erleichterte
Auffassung zu der die `Genesene' am Schluss kommt:
"Ich bin nicht mehr müde. Ich gewöhne mich daran allein
zu sein. (...) Ich möchte von etwas befreit sein, aber ich habe Angst
tief zu atmen. (...) Man kann also alleine leben? Man kann sich den gewöhnlichen
Daseinsformen entziehen? Man hat mich angelogen: ich hätte doch mit
Sibylle leben können. Gut, die Welt wäre mit mir nicht einverstanden
gewesen, und ich wäre bestraft worden.
Es gibt Gesetze, sagte Erik." (Lyrische Novelle, S. 85)
und ganz am Ende:
"Und jetzt ist mir alles gleichgültig, ich möchte mich
auf die Erde legen und an nichts mehr denken. Alles könnte zu Ende
sein, denn Sibylle ist nicht mehr da. Es ist gleichgültig, wenn die
Leute mit mir zufrieden sind und wenn ich Erfolg haben werde. Das ist alles
nichts, denn man hat mir Sibylle genommen, und nichts wird sie mir jemals
ersetzen. Das also ist Verzicht und Gerechtigkeit. Oh, ich verstehe nichts
davon, ich bin blind vor Schmerzen." (Lyrische Novelle, S. 97)
4. Der biographische Kontext:
Im folgenden wird es darum gehen, die in "Lyrische Novelle" verarbeiteten
biographischen Informationen umzusetzen. Dabei geht es, wie in Kapitel
1 beschrieben, nicht um eine Ineinssetzung von Fiktion und Biographie.
Grundlage ist vielmehr die Annahme, dass homoerotische Erfahrung die Fiktion
beeinflusst. Die vorgelegte Gestalt des Textes kann also nur ganz entschlüsselt
werden, wenn ein Blick auf die Erfahrungswelt geworfen wird, aus der sie
hervorging.
Diese Vorgehensweise bietet sich bei AS doppelt an, da die "autobiographische
Komponente des Textes unübersehbar" und angestrebt ist. Ähnlich
wie Klaus Mann scheint sich AS schreibend des Lebens vergewissert zu haben.
Im November 1931 reiste sie, nach Informationen von Roger Perret, "wegen
einer unglücklichen Liebesgeschichte mit einer Frau nach Rheinsberg
bei Berlin, wo ich alsbald 14 Stunden geschlafen, dazwischen ein wenig
über meine Einsamkeit geweint habe" (zitiert nach Roger Perret, S.
125 f.). Die Parallele ist offensichtlich, ohne dass der Protagonist des
Textes und/oder Sibylle verflachend mit AS gleichgesetzt werden soll. Interessant
ist, dass AS den autobiographischen Bezug selbst gewollt und im Text angelegt
hat. Sie verarbeitete diverse Details, für die sie selbst bekannt
war: ihre sehnsüchtige Verbundenheit mit der Natur, ihre fast abgöttische
Liebe zu ihrem Auto , die Herkunft aus einer Offiziersfamilie , der Drang
zu Flucht und exessivem Leben , der Hinweis auf Diskurse ihrer Generation.
Die Bedeutung des Schreibens wird im Text immer wieder reflektiert.
Der/die Erzähler/in tritt also als Person und fiktionale/r Autor/in
hervor und stellt damit eine (Pseudo-)Verbindung zu realen Autorin her,
indem deutlich wird, dass im Text jemand als Person lebt, liebt, leidet
schreibt und indem dieser Verarbeitungsprozess des Schreibens auf einer
Metaebene selbst reflektiert wird. Der Erzähler sinnt darüber,
warum er dieses Buch schreibt: um seine Schwäche später einmal
der Kritik zu unterziehen, an der mir einzig gelegen ist (nämlich
Sibylles). Die Trauer über den letztlichen Verzicht auf Sibylle ist
u.a. durchsetzt von der Trauer, dass genau dieses Unterfangen misslingt,
da Sibylle den Text niemals lesen wird: "Ich werde Sibylle diese Blätter
nicht geben. Wenn ich zurückkomme, wird sie nicht mehr da sein." sind
die beiden Schlusssätze des Textes.
AS schrieb die "Lyrische Novelle 1931 (Veröffentlichung 1933).
Da die besonders enge Verbindung zwischen Text und Biographie offensichtlich
ist, steht zu fragen, welche Erfahrungen sie zu diesem Zeitpunkt ins Schreiben
einbrachte. Wie war ihr Kontext? Dies soll im folgenden skizziert werden.
AS wurde 1908 in einer der reichsten Schweizer Familien geboren. Ihre
Eltern waren konservativ, traditions- und standesbewusst und taktierten
später zumindest zeitweilig mit den deutschen Nazis (z.B. während
des Pfeffermühle-Skandals ). Von zentraler Bedeutung scheint die Mutter,
Renée Schwarzenbach, geb. Wille (Tochter eben jenes Generals!),
gewesen zu sein. Roger Perret geht leider so weit, zu unterstellen, dass
Renée Schwarzenbach die Homosexualität ihrer Tochter "im Grunde
vorbereitet" habe (Roger Perret, S. 106 f.), indem sie diese in maskulinen
Posen als verhätschelten Pagen, Rosenkavalier, Soldaten, Matrosen,
usw. zur Schau stellte. Die Mutter scheint allerdings die eigentliche Herrin
des Clans gewesen zu sein und vor allem auf AS einen untilgbaren Einfluss
gehabt zu haben, wie ihn sonst nur noch Erika Mann erlangte . AS wächst
zunächst im Zürcher Familienwohnsitz, ab 1912 auf dem Landgut
der Eltern, Bocken, auf. Nach diesem märchenhaften Schloss und vor
allem nach der weitläufigen Natur der Umgebung scheint sie sich ihr
Leben lang zurückgesehnt zu haben - ohne freilich aufgrund der folgenden
Konflikte mit der Familie und der eigenen Unrast dorthin zurückkehren
zu können.
Die Familie investiert Sorgfalt und Geld für Hauslehrer in ihre
Ausbildung. Man erwartet offensichtlich von ihr, etwas besonderes zu sein:
musikalisch, intellektuell und in ihrer Ausstrahlung. Intellektuell genügt
sie diesen Ansprüchen ohne Probleme, unter anderem schreibt sie bereits
1931 (23jährig) ihre Doktorarbeit , die sie mit einer Widmung an ihre
Eltern versieht. Sowohl ihr "melancholischer Ernst" als auch ihre androgyne
Ausstrahlung, die später von so vielen bewundert wurde, findet sich
bereits auf frühen Photos von AS. Zu ihren späteren Bewunder/innen
zählten Andr‚ Maulraux, Jean Giradoux, Therese Giehse, Ella Maillart,
Carson McCullers , Barbara Hamilton-Wright, ihr späterer Ehemann Claude
Clarac, sowie Thomas, Erika und Klaus Mann. Klaus Mann berichtet von der
Auffassung seines Vaters, der "sie mit einer Mischung aus Besorgnis und
Wohlgefallen" ansah und feststellte: "merkwürdig, wenn sie ein Junge
wären, dann müssten sie doch als ungewöhnlich hübsch
gelten" (woraufhin Klaus Mann sie "auch als Mädchen" für schön
erklärt).
AS entwickelt sich keineswegs so wie es die Familie von ihr erwartet
- sie begnügt sich nicht mit melancholisch-denkerischer und androgyner
Pose. Sie macht Ernst: "Ich bin nicht genügsam, will jeden Tag das
Einzige und Letzte." Sie sucht sich keinen standesgemässen Gatten,
sondern unstandesgemässe, meist weibliche Geliebte, allen voran Erika
Mann. Sie wächst zunehmend in antifaschistische und sozialkritische
Arbeit hinein (vor allem als Fotoreporterin ). Sie lebt leidenschaftlich
Kult (unter dem Einfluss des "Wandervogels" und Ernst Merz) und Leiden
ihrer Jugendgeneration - die dazugehörige Verzweiflung und Radikalität
eingeschlossen. Klaus Mann fasst ihr Leiden nach einem Selbstmordversuch
ASs wie folgt zusammen:
"Annemaries Selbstmordversuch, (...) was für eine jammervolle
Verwirrung! Die Schuld der Eltern. Das Übermass an seelisch-geistigen
Komplikationen. Die Entwöhnung. - Dieses `bittere Jungsein' --"
AS trägt schwer am `Schicksal´ ihrer Generation zwischen
den Weltkriegen, am Anwachsen des Faschismus, am sozialen Unrecht . Sie
trägt zugleich schwer am ewigen Konflikt mit der Familie, der ständigen
Suche nach eigener Identität und der Liebe, die sie letztlich nie
findet. Sie sucht und flieht und empfindet schliesslich "Reisen als einzige
mir zuträgliche Existenzform" .
Ein erster Schritt ihres Aufbruchs ist ihre seit 1930 bestehende Verbindung
mit der "faszinierenden Gegenwelt" im Umkreis von Klaus und Erika Mann.
Sie erhält Zugang zur intellektuellen, künstlerischen und leidenschaftlichen
Bohéme ihrer Zeit. Sie erlebt noch den Rest der lebendigen, intensiven
Homosexuellen-(Sub)-Kultur Berlins, in der (meines Wissens zum ersten Mal)
in den 1920er Jahren auch Lesben offen, selbstbewusst und unübersehbar
lebten, liebten und sich zu Schau stellten. Unter anderem der Film "Mädchen
in Uniform" lief im November 1931 im Berliner Kino. AS lebt in diesem offenen
Milieu, das sie teilweise im Text verarbeitet hat. Sie lebt mit verschiedenen
Frauen und liebt besonders Erika Mann leidenschaftlich. Diese scheint ihre
Liebe nicht in ähnlicher Weise erwidert zu haben (was wir nicht genau
wissen, da Renée Schwarzenbach neben einem Teil des literarischen
Werkes auch ASs Briefe von Erika Mann vermutlich vernichtet hat). In den
Briefen von Erika Mann an andere sind zärtliche, eindeutige Äusserungen
in Bezug auf AS (unabhängig vom Geld, das sie zur "Sammlung" beisteuerte)
nicht zu finden. Dort wird sie als "störrischer Unschuldsengel", "der
uns durch höhere Unvernunft viel Ärger bereitet" , deren "Unverstand
keine Grenzen kennt " bezeichnet. Dies wird jedoch 1936 formuliert und
spielt auf ASs seit 1931 bestehende Drogensucht an. All zu grosse Achtung
kann Erika Mann AS jedoch nicht entgegen gebracht hatten. Sonst würde
ihr die Ironie 1934 wohl nicht so leicht über die Feder gehen, mit
der sie feststellt, dass ihr als Eheanwärter ASs Rudolf Henne, Landesführer
der Schweizer "Nationalen Front" lieber gewesen wäre als Claude Clarac,
weil: "Er (Rudolf Henne) ist der sogenannte Führer und die Schweiz
wäre gerettet, nähme Prinzesschen ihn in ihre Arme." - Prinzesschen!
Zu Klaus Mann bestand im Gegensatz dazu ein achtungsvolles, freundschaftliches
Verhältnis - er bemühte sich z.B. um das Erscheinen eines ihrer
Bücher bei Stefan Zweig und dachte zeitweilig auch über eine
Heirat mit ihr nach.
ASs Leben in `linken', antifaschistischen Kreisen, ihre offene Homosexualität,
ihre beginnende Drogensucht, ihr Umgang mit der Avantgarde gefielen den
Eltern, die den Nationalsozialisten nahe standen, überhaupt nicht.
Bereits 1930 stellte AS fest: "Sie sind im tiefsten Herzen nicht einverstanden
mit mir und werden es nie sein."
Sie verarbeitet die Ablehnung der Eltern (von denen sie sich eben noch
nicht gelöst hat) gegenüber ihrer Lebensweise, besonders gegenüber
homoerotischen Skandalen, schon 1929 in der unveröffentlichten "Pariser
Novelle II". Die Familienkonstellation, Rücksicht und emotionale Bindung
können neben dem historisch-gesellschaftlichen Untergang der Freiheit
im Faschismus, weitere Gründe dafür gewesen sein, aus "Lyrische
Novelle" keine offen lesbische Liebesgeschichte zu machen, sondern eine
getarnte wie in Kapitel 2 beschrieben. AS blieb seit 1930 ausser im "Tod
in Persien", in "Ruth" und in "Das gelobte Land" dabei, die "leichte Identifizierbarkeit
ihrer Figuren mit der eigenen Person dadurch" zu vermeiden, "dass sie männliche
Ich-Erzähler bzw. Protagonisten einführte."
5. Rezensionen
Eine weitere Annäherung an den Text ist über die Rezension
möglich und nötig. Auf die Rezension Wolfgang Koeppens wurde
schon eingegangen, der die "Lyrische Novelle" als homoerotischen Text erkannte
und lobte.
Die Entwicklung Europas im Erscheinungsjahr beeinflusste die Aufnahme
des Buches natürlich alles andere als positiv. Eduard Korrodi von
der "Neuen Zürcher Zeitung" konnte demzufolge eine "Notwendigkeit
(...) in solchen Federgewichten erzählerischen Bemühens nicht
erblicken". Klaus Mann kritisierte die "soziale Sorglosigkeit" der Novelle
und fand "die pagenhafte Begeisterung für die `Frau' als Symbol -
merkwürdig naiv".
Charles Linsmayer wertet die "Lyrische Novelle" selbst 1989 noch als
Darstellung von "Künstlerbohéme", die AS zudem mit mehr "Charme
als literarischem Können gelungen sei" , obwohl er von ASs Homosexualität
weiss (vgl. sein Nachwort zu "Das glückliche Tal"). Er stellt ausgerechnet
in diesem Punkt keine Verbindung zwischen Texten und Biographie her und
kommt daher auch nicht zu einer Entschlüsselung homoerotischer Anspielungen,
Strukturen und Erzählverläufen. Insofern kann es nicht verwundern,
dass ihm "Das glückliche Tal" als "einzigartiger Glücksfall"
im Werk ASs erscheint. Seine einen (vielleicht den) entscheidenden Punkt
in der Interpretation der Texte missachtende Wertung liest sich dann so:
"Ein unvoreingenommener heutiger Leser, der sich wie der Schreibende
die Mühe nimmt, nicht nur die wenigen publizierten, sondern auch die
zahlreichen im Nachlass befindlichen Arbeiten Annemarie Schwarzenbachs
zu lesen und zu studieren, der wird nun allerdings eher zu der Einsicht
gelangen, dass ihre Selbstzweifel nicht ganz unberechtigt waren. (...)
Sieht man vom unmittelbarsten Ausdruck ihrer Trauerarbeit dem Roman "Das
glückliche Tal", der einem bei der Lektüre des Nachlasses immer
deutlicher als einzigartiger Glücksfall erscheint, einmal ab, so dokumentieren
ihre Arbeiten insgesamt weit eher ein Scheitern als ein Gelingen, wird
an ihnen mehr Bemühen als Können sichtbar und tauchen immer wieder
die Merkmale eines forcierten, durch die gestellte Aufgabe überforderten
Talentes auf." (Charles Linsmayer 1991b, S. 149 f.)
So viel Missachtung der Signale im Text und der autobiographischen
Bezüge sind leider nicht nur einfach peinlich für Charles Linsmayer,
da seine unzureichende Interpretation im Anhang des einzigen in Deutschland
und als Taschenbuch erschienenen Textes von AS den Leser/innen zugemutet
wird und in seine ansonsten detailreiche, informative Biographieinterpretation
verpackt wird .
Roger Perret geht auf die Homosexualität ASs, sowie die Tatsache,
dass es sich bei "Lyrische Novelle" um "eine frühe literarische Darstellung
lesbischer Liebe handelt" ein. In wohltuendem Kontrast gibt Perret folgende
umsichtigere und kritische Skizze:
"eine frühe Darstellung lesbischer Liebe. Diese ist im Buch
zwar maskiert, offenbart sich aber dem aufmerksamen Leser durch ihre durchsichtige
Verschleierung. Ob diese `Tatsache' den - allesamt männlichen - Kritikern
aufgefallen ist und ihre moralische Entrüstung darüber die negative
Wertung des Buches beeinflusste - darüber kann nur spekuliert werden.
Sicher ist, dass A.S. die Verwandlung einer lesbischen in eine heterosexuelle
Liebe schon früher in ihren Texten praktizierte. Der Grund dafür
ist einerseits in der Biographie der Autorin, andererseits in der literarischen
Tradition zu suchen. In dieser konnte A.S. damals für die Darstellung
ihres Themas noch fast keine weiblichen Vorbilder finden. (...) Eine offen
deklarierte lesbische Liebesgeschichte wäre vom Rowohlt Verlag wohl
auch nicht veröffentlicht worden." (Roger Perret, S. 100)
Perret setzt sich mit der schwierigen Situation ASs, mit auf sie wirkenden
Einflüssen (z.B. Ernst Merz) und der Verbindung zwischen Schreiben
und Sein auseinander. Das führt u.a. dazu, einen Blick auf die Symbolik
des Textes und die Verweise zwischen Biographie und Text zu werden, ohne
dass er in Biographismus verfallen würde. Er stellt zudem einen Zusammenhang
zu anderen Texten ASs her. AS erscheint bei ihm erheblich weniger als blosses
Opfer der tyrannischen Familie, weil er ihren Kontext umsichtig berücksichtigt.
Sehr blass bleibt für mich jedoch auch bei ihm die hohe Bedeutung
der Schriften ASs für die homoerotisch/lesbische Literatur und Kulturgeschichte.
Madeleine Marti betont demgegenüber gerade diese Bedeutung, wenn
sie darauf hinweist, dass kein deutschsprachiger Text vor 1971 bekannt
ist, "in dem eine weibliche Ich-Erzählerin Frauenliebe thematisiert,
wie dies in Schwarzenbachs unpublizierten Texten "Gespräch" (1928),
"Pariser Novelle" (1929) und "Ruth" der Fall ist."
Marti reiht AS unter die anderen Schriftstellerinnen ein, die lesbische
Liebe immer oder teilweise durch eine heterosexuelle Handlung maskiert
haben - meistens indem sie männliche Ich-Erzähler wählten,
so z.B. Ingeborg Bachmann, Johanna Moosdorf und Christa Reinig. Sie weist
darauf hin, dass diese genau wie AS an eine doppelte Grenze stiessen, die
sie hinderte, offen eine homoerotische Handlung aufzubauen: die Grenze
der Gattung Literatur, die die Entwicklung einer starken, tiefen und weiblichen
Ich-Erzählerin unmöglich machte und an die des gesellschaftlichen
Tabus lesbischer Liebe. Marti kommt, da sie den Kontext und die aus diesem
resultierende Camouflage im Text erkennt, auch zu einer völlig anderen
Wertung von "Lyrische Novelle". Sie lobt:
Die "einseitige, hoffnungslose Liebe zu Sibylle und der Kampf um
die eigene Identität ist konkreter, mehr in gesellschaftliche Verhältnisse
eingebunden, dargestellt. Die Motive von Flucht, selbstgewählter Einsamkeit,
Trostlosigkeit und `fürchterlicher Freiheit' sind damit verknüpft.
Im späteren Text ("Das glückliche Tal" B.R.) erscheinen diese
abstrakter als existentielle Erfahrung der Welt." (Madeleine Marti
1989, S. 16)
Marti bringt die Camouflage-Technik ASs in "Lyrische Novelle" inhaltlich
auf den Punkt:
"Die heterosexuelle Maskierung in "Lyrische Novelle" ist so angelegt,
dass der Erzähler als junger Student in seiner Liebe zu einer älteren
Sängerin an gesellschaftliche Grenzen stösst. Auf diese Weise
wird trotz der Maskierung die Sanktionierung einer lesbischen Liebe in
"Lyrische Novelle" ablesbar:
"Man kann sich den gewöhnlichen Daseinsformen entziehen? Man
hat mich angelogen: ich hätte doch mit Sibylle leben können.
Gut, die Welt wäre mit mir nicht einverstanden gewesen und ich wäre
bestraft worden. Es gibt Gesetze, sagte Erik. Ich hasste ihn, weil er stärker
war als ich. (...) Er sagte mir, dass man gewisse Lebensnotwendigkeiten
einsehen müsse. Mit gesellschaftlichen Vorurteilen habe das nicht
das geringste zu tun, sondern mit unserer Bezogenheit auf Gott. Ich war
bereit es einzusehen, und ich fühlte mich sehr schuldig. Aber ich
bin nur ein Mensch, und er hatte gut reden.' " (Madeleine Marti 1989,
S. 17)
6. Resümee und Würdigung
Diese Textstelle ist bereits bei der Textanalyse als zentral aufgetaucht.
Ich will im folgenden wieder direkt zur Novelle zurückkehren und versuchen,
zusammenzufassen, inwiefern es sich bei "Lyrische Novelle" um einen lesbischen
Camouflagetext handelt. AS hat selbstkritisch auf die negative Resonanz
der Leser/innen und Kritiker in Bezug auf "Lyrische Novelle" reagiert.
Sie kritisierte diese rückblickend auf mehreren Ebenen
a) politisch-sozial in einer Antwort an den Kritiker Charles Clerc
am 15.6.1933 :
"Ich glaube, dass man jetzt schwerer schreiben wird, die Zeit ist
zu schwer, als dass man es noch wagen würde, oder auch nur Spass daran
hätte, sich leichtfertig zu äussern. So hoffe ich auch, dass
meine nächste Arbeit abgerückter und unpersönlicher, aber
auch kräftiger und sicherer die Abseitsstehenden vertreten wird."
(AS zitiert nach Roger Perret, S. 224)
b) literarisch
in einem Brief an den Verlag Rascher am 7.7.1934, in dem sie ihre veränderte
Schreibweise in "Winter in Vorderasien" als
"das Resultat meiner `Lyrischen Novelle', die zu bekenntnishaft
ausgefallen war, was besonders das Schweizer Publikum mir übel nahm.
Nun hatte ich die Absicht, etwas Unanfechtbares zu schreiben." (AS
zitiert nach Roger Perret, S. 224)
AS sah sich also gezwungen, mutmasslich aus Rücksicht auf Kritiker
und ihre einflussreiche Familie, in Zukunft überpersönlicher
und abstrahierender zu schreiben - was Marti zutreffend bemerkt und bedauert
hat.
Dabei hatte sie doch bereits in "Lyrische Novelle" den homoerotischen
Konflikt nur getarnt beschrieben und insbesondere die Protagonistin als
Jüngling maskiert, auch wenn sie dessen Enttarnung im Text vorstrukturiert
hat. Tarnung und Signal sind im Text wie gezeigt auf mehreren Ebenen zu
finden. Inhaltlich geschieht die Camouflage über zwei Analogien. Die
erste ist in der Einbettung des Textes in den Kontext `Jugend' und deren
`fruchtlosen Freiheit' zu sehen. Hier wird der gesellschaftlich bedingte
und die Einzelnen zur Verzweiflung treibende Konflikt einer Generation
angedeutet. Dies lässt sich als Zeitbezug und als Betonung der verzweifelten
Lage des Protagonisten lesen. Zugleich weist die Verzweiflung der `verlorenen
Generation' Parallelen zur Situation der Lesben auf - Lesben für die
in der Gesellschaft kein Platz ist, die als einzelne unter den gesellschaftlich
bedingten Nicht-Möglichkeiten leiden.
Noch deutlicher wird die zweite Analogie in der Schilderung der Liebesbeziehung
zwischen dem Sohn aus gutem Hause und der Tänzerin. Diese Beziehung
war gesellschaftlich unmöglich, ein Skandal. Im Text verweist diese
Konstellation auf den lesbischen Subtext. Eine lesbische Beziehung war
ähnlich und um ein vielfaches skandalös. Schmerz und Verwirrung
im Text sind letztlich nur entschlüsselbar, wenn dieser Subtext erkannt
wird - deshalb wäre es in der Tat einleuchtender gewesen, die Protagonistin
offen als Frau zu kennzeichnen, die eine Frau liebt, um "die Gefährlichkeit
der Verwirrung und die mühsame Erkenntnis", vor allem also den Schluss,
"menschlicher und glaubhafter zu machen" . Der Oberflächentext (Student
und Tänzerin) tarnt und verweist zwar auf den Subtext, die Camouflage
erscheint mir aber nicht ganz gelungen, weil der Oberflächentext nicht
in sich stimmig ist - also eben nicht nur über Leerstellen auf den
Subtext verweist, sondern Brüche enthält, die aus dem Zwang der
Tarnung entstanden und nicht gänzlich produktiv verarbeitet worden
sind. Dies betrifft z.B. die unbegründet im Laufe des Textes fallengelassene
"Tiernest"-Symbolik, die reichlich unverbundene Episode mit "Frau von Niehoff"
und die mangelnde Legitimation des Schlusses. Der Oberflächentext
erschliesst sich zum Teil nur über den Subtext (es wäre zu überlegen,
ob dieser Mangel nicht damit zusammenhängen könnte, dass der
Text in seiner durchsichtigen Tarnung vielleicht an eine primäre Adressatin,
also die verlassene Geliebte, gerichtet war, die den Text mühelos
hätte entschlüsseln können und für die es vor allem
auf den Subtext angekommen wäre.)
Dieser Mangel dürfte einer der Gründe sein für teilweise
schlechte Kritiken, die "Lyrische Novelle" erhalten hat: der Oberflächtentext
wird nicht zu einem in sich geschlossenen literarischen Genuss. Die Ursachen
der `Schwächen' wurden bei der Rezension leider meist nicht beachtet:
weder die intentional gesetzten, verweisenden Leerstellen, noch die literarischen
und gesellschaftlichen Ursachen für die tatsächlichen Schwächen
im Oberflächentext. Die eigentliche Qualität des Textes - die
sehr frühe, positive (die Liebende scheitert ja nicht an ihrer Homoerotik,
sondern an der Existenz von Gesetzen) Schilderung lesbischer Liebe - fiel
bei dieser Missachtung (wissentlich oder nicht) unter den Tisch.
Neben den Leerstellen, die als Signal dienen, sind als weitere Camouflage-Ebenen
zu benennen:
- die Erzählstruktur (Brechung in vier Zeitebenen, Mosaiktechnik,
die Leerstellen offen lässt)
- die Erzählperspektive (Ich-Erzählung, die Emotionalität,
Identifikation, Subjektivität und Nicht-Erläutern, gerade dessen
möglich macht, das auf den Subtext verweist).
Es sollte deutlich geworden sein, dass der Text ohne den homoerotischen
Kontext nicht angemessen zu würdigen ist (gerade auch weil der Oberflächentext
Schwächen aufweist).
Abschliessend möchte ich eine Würdigung des Textes versuchen.
Zunächst einmal ist der (Oberflächen-)Text inhaltlich, strukturell
und sprachlich, trotz der skizzierten Schwächen, eine intensive, suggestive
Novelle, die mich als solche begeistert. Ihre hohe Bedeutung erhält
die Novelle jedoch durch die Camouflage. Zum einen durch die Technik und
Durchführung der Camouflage selbst. Zum anderen durch Zeitpunkt und
Kontext des Entstehens. AS war durch diesen gehindert, eine offene, positiv
wertende lesbische Liebesgeschichte zu veröffentlichen. Die Bindung
an und damit Rücksicht gegenüber dem Elternhaus mögen sie
dabei ebenso gehindert haben wie die patriarchale Definition von Literatur.
Letztere schliesst faktisch aus, dass ein ernstzunehmender, handelnder
Held auch eine Heldin sein kann und hindert bis heute Autorinnen (z.B.
Patricia Highsmith in ihren "Ripley"-Romanen ) häufig, weibliche Handlungsträger
zu entwerfen. Hinzu kommt die gravierende Tabuierung und Verfolgung von
lesbischer Liebe, die als lächerlich, krankhaft und abartig angesehen
wurde und zum Teil wird. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung der
Bedrohung durch den Faschismus 1931, die AS im Brief an Clerc auch thematisiert.
Die Zeiten waren schwer, und es ging für die Antifaschistin nicht
an, sich "leichtfertig zu äussern". Die ins Persönliche/Vereinzelte
individualisierte, eigentlich gesellschaftlich bedingte Unmöglichkeit
lesbischer Freiheit erschien als leichtfertiges, egoistisches, egozentrisches
Thema.
Darin liegt der eigentliche Trugschluss. Liebe als Teil menschlicher
Identität war (ist) als Kategorie politischer Befreiung noch nicht
anerkannt. Die Freiheit zur Homoerotik erschien als Problem der/des Einzelnen
und deswegen verschwindend unwichtig in all dem faschistischen Wahnsinn.
Dieser Trugschluss wurde von der Neuen Frauenbewegung zum Teil aufgearbeitet.
Seine Aufhebung, sprich die Anerkennung der Sexualität (im weitesten
Sinne des Wortes) und erotisch-sinnlicher Identität als politische
Kategorie, ist jedoch bis heute nicht etabliert - was sich nicht zuletzt
im perversen Vergessen der Homosexuellen bei der Aufarbeitung des Nazi-Faschismus
immer wieder zeigt.
Aus diesen Gründen ist es verständlich, dass AS die Tarnung
ihrer Heldin betreibt. Ebenso erscheint es als verständlich, dass
ihr die Camouflage nicht brillant gelingt, da ihr als Frau und Lesbe die
`Vorbilder' fehlen, sie sich also des ungenügenden, patriarchalen
Instrumentariums bedienen muss, das sie auch bei der Konstruktion des Oberflächentextes
nicht vergessen lässt, dass sie eigentlich etwas ganz anderes, nämlich
den lesbischen Subtext, schreiben will - der mit der vorhandenen Sprachordnung
nicht ausdrückbar war/ist - so dass der Oberflächentext nicht
nur Signale/Leerstellen, sondern auch Risse enthält.
Aus ihrer persönlichen Situation und aus dem Stand des politischen
(inkl. des feministischen) Diskurses konnte der Text vielleicht tatsächlich
nicht anders und nicht offen als lesbisch veröffentlicht werden. Bedauerlich
bleibt dies dennoch, weil sie sich damit zu einer der "Mittäterinnen"
macht, indem sie nicht die passenden Worte findet, um lesbische Identität
auszudrücken und das patriarchale Verschweigen von Frauenliebe zu
durchbrechen. Wenn mir dabei vergegenwärtige welche grossen Schwierigkeiten
AS gemacht wurden auf dem Weg, ein Subjekt zu werden und eine eigenständige
lesbische Identität zu entwickeln, verwundert mich, wie weit und radikal
sie sich in Richtung Offenheit bewegt hat, und ich bedaure zugleich, dass
sie als Person und als Dichterin nicht weiter ging - nach 1968 wäre
sie sehr wahrscheinlich eine der Radikalen gewesen und hätte den Schritt
zu in sich ruhender, lesbischer Identität und zu offen lesbischem
Schreiben/Veröffentlichen getan.
Auch insofern ist es unduldbar, dass ihr ein Verschweigen nachträglich
nochmals angetan wird, indem die homoerotische Komponente ihres Schreibens
verschwiegen oder vernachlässigt wird. Charles Linsmayer und zum Teil
auch Roger Perret benutzen ihre Homoerotik vor allem als Pseudo-Begründung
dafür, dass AS ein tragisches, häufig leidendes Leben hatte (wobei
die gesellschaftliche Sanktionierung und daraus folgende Kompliziertheit
von homoerotischen Beziehung natürlich eine der Ursachen war). Dass
in ihrer Homoerotik im Schreiben auch eine ihrer Stärken und eine
der auch produktiven Bedingungen ihres Schreibens lag, fällt dabei
nicht zufällig unter den Tisch. Es wäre von daher auch interessant,
ob den bis heute unveröffentlichten offen homoerotischen Texten ASs
tatsächlich (unter Berücksichtigung des zeitlichen und homoerotischen
Kontext!) keine literarische Bedeutung zukommt.
7.) Literaturverzeichnis
a) Texte:
b) Forschungsliteratur
c) Nicht veröffentlicht bzw. nur im Nachlass Annemarie Schwarzenbachs der Schweizerischen Landesbibliothek zugänglich:
8.) Anmerkungen:
Leider mussten für die Homepage die Fussnoten und Textnachweise
entfallen - sie sind im Typoskrypt vorhanden. Der Text geht zurück
auf eine Hausarbeit (überarbeitete Fassung) zum Hauptseminar "Von
Platen zu Hans Henny Jahn: Homosexualität und Literatur" bei Dr. Heinrich
Detering im Wintersemester 1990/91. Leider wurde er nicht veröffentlicht
und bräuchte heute Überarbeitung und Aktualisierung.
Zur Begriffsklärung: in dieser Arbeit benutze ich den Begriff "homoerotisch"
im weiten Sinne des Wortes für Menschen, die Personen ihres eigenen
Geschlechtes lieben - in ihren Wünschen und Phantasien, physisch oder
nicht, offen in ihrer gesamten Lebenswelt und/oder in Schutzräumen
oder gar nicht im Handeln. Der Begriff "homosexuell" ist zu sehr mit der
Konnotation des nur/primär Physischen verbunden, während "Homoerotik"
eine breitere Schattierung homoerotischen Lebens und Liebens umfasst. Als
homoerotische Literatur fasse ich, auch im weiten Sinne, Literatur von
Autor/innen, deren homoerotische Erfahrungen zwingend in den Text mit eingeflossen
sind, auch wenn nicht explizit homoerotische Lebensverhältnisse beschrieben
werden.