Religion und Corona – evangelisch

Perspektiven aus der EKD und einer
lutherischen Gemeinde der
EVLKA Hannover

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Max Dieter Israel



Vorbemerkung

Die Corona-Pandemie hat die evangelische Kirche in Deutschland 2020/21 insgesamt, sowie darunter auch die evangelisch-lutherischen Kirchen deutschlandweit vor vielseitige Herausforderungen gestellt. Zum einem war das sogenannte ‚kirchliche Leben‘ von Gemeinden betroffen, worunter u.a. Gottesdienste, Gesprächskreise und Ausflüge zu verstehen sind. Viele Angebote konnten nicht stattfinden, und es brauchte daher Lösungsansätze, die das religiöse Miteinander ermöglichten und gleichermaßen veränderten. Um diese Dimension der Pandemie exemplarisch einzufangen, wurde eine lutherisch evangelische Gemeinde aus Niedersachsen über Monate beobachtet. – Zum anderen bestand – vielen Stimmen in der Bevölkerung zufolge – die Herausforderung zu einer explizit theologischen Deutung der Corona-Pandemie: Hierfür wurden im Folgenden stellvertretend exemplarische Stellungnahmen aus dem Kontext der EKD hinsichtlich einer möglichen Deutung der Pandemie untersucht.

Verlinkte Statements aus dem Kontext der EKD

Bei Betrachtung der Internetseite der EKD fällt auf (Ende 2020/Anfang 2021), dass unter dem Reiter ‚Corona‘ ein Link zum Thema Digitalisierung und ein Link zur Themenseite ‚Aktiv gegen sexualisierte Gewalt‘ zu finden sind. — Unter dem Reiter ‚Veröffentlichungen zur Corona-Krise‘ finden sich vier Texte. Auf zwei Texte soll genauer eingegangen werden. Das erste Statement wurde mit katholischen und orthodoxen Vertretern verfasst und ist auf den 20. März 2020 datiert ("Gemeinsames Wort der Kirchen zur Corona-Krise"). Inhaltlich wird zunächst dem Staat die Unterstützung zur Bekämpfung der Pandemie zugesagt und Dank an alle helfenden Kräfte geäußert. In der Mitte des Textes findet sich dann folgender Satz:

    

„Als Christen sind wir der festen Überzeugung: Krankheit ist keine Strafe Gottes – weder für Einzelne, noch für ganze Gesellschaften, Nationen, Kontinente oder gar die ganze Menschheit.“

Aus dem Zitat geht hervor, dass ein Bewusstsein für das theologische Problem vorhanden war und – da es bis Mitte 2021 noch immer direkt auf der Seite anzutreffen war – auch nach wie vor ist. Die Antwort nimmt allerdings die eine im Text nicht formulierte Frage vorweg: Ist Krankheit/Corona eine Strafe Gottes? Begründet wird die Antwort auf diese Frage wiederum damit, dass Gott kein Unheil wolle. Theologisch bleibt dies eine Negativbestimmung: Weil es nicht mit ‚dem christlichen Gottesbild‘ vereinbar ist, kann Gott nicht verantwortlich sein. Ein Deutungsangebot ist diese Bestimmung daher nicht und somit auch keine konkrete Positionierung zur Corona-Pandemie. Vielmehr wird ein Zugang zur Deutung der Krise verneint, ohne eine theologische Gegenposition zu der nicht gestellten Frage zu formulieren. Deswegen kann dieses Statement nicht dem Anspruch einer Deutung gerecht werden. Allerdings handelt es sich dabei um eine ökumenische Verlautbarung; deshalb ist die darin bezogene Position mit Einschränkung als Äußerung für die EKD zu betrachten.

Die FEST-Studie (B.Held u.a.) „Corona als Riss: Perspektiven für Kirche, Politik und Ökonomie“ (PDF download) beschäftig sich auch mehr auf den Umgang und den Auswirkungen der Pandemie. Allerdings liegt dies auch in der Absicht der Autor:innen der Texte. Eine Deutung gehört also nicht zum Anliegen der Publikation, und es wurden auch keine Anhaltspunkte für eine solche gefunden. Gleiches gilt für die Publikation „Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise“. In diesem wird anhand von Statistiken ausgewertet, wie das Online-Angebot in der evangelischen Kirche bisher angenommen wurde.

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Der vierte Text, „Warum lässt Gott Leid zu?“ (Verf.: Johann Hinrich Claussen), widmet sich der Theodizee-Frage, die auf die Corona-Pandemie bezogen wird. Ein Verständnis, nach dem die Pandemie eine Strafe Gottes sein könnte, tritt im Titel in den Horizont einer Deutungsmöglichkeit. Erwähnt wird diese Deutung allerdings nicht. Als Ergebnis wird festgehalten, dass es keine endgültige Antwort auf die Theodizee-Frage gäbe, allerdings hätte die Frage nach einem ‚Warum‘ auch die Möglichkeit, einen Umgang mit der gegenwärtigen Situation zu finden. Die Frage nach einer Deutung wird in diesem Artikel durchaus aufgenommen und auf das Gottesbild bezogen. Jedoch wird die Frage als solche nicht beantwortet, sondern auf einen Umgang mit der Frage verwiesen. Eine theologische Position zur Corona-Pandemie ist auch in diesem Artikel nicht zu finden. Interessant ist aber, dass dieser Text zur Rubrik ‚Religion für Einsteiger‘ des Chrismon Magazins gehört, aber als eine der drei Stellungnahmen auf der Seite der EKD verlinkt ist. Eine offizielle Stellungnahme der EKD ist dies also auch nicht und es entsteht der Eindruck, dass sich die EKD schwer damit tut, eine Position zu dem Thema zu artikulieren. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, dass das Problem eines für diejenigen wäre, die sich als ‚religiöse Einsteiger‘ verstehen.

Weitere Angebote für den Umgang mit der Corona-Pandemie sind auf der Internetseite der EKD verlinkt (und weiter angewachsen; Anm. Febr. 2022). Unter dem Reiter ‚Kirche von zu Hause‘ finden sich 2020/21 diverse Links zu Podcasts, Gebetsvorlangen, Seelsorgeangeboten. Ein Angebot für spirituelles Leben stellt die Internetseite also zur Verfügung. — Eine inhaltliche, systematische Auseinandersetzung mit der Deutung der Corona-Pandemie findet seitens der EKD nicht statt – zumindest bisher.

Untersuchung einer evangelisch-lutherischen Beispielgemeinde

Bei der ausgewählten Gemeinde (anonymisiert) handelt es sich um eine Stadtteilgemeinde einer mittelgroßen Ortschaft in Niedersachsen. Die Gegend wurde von einem:er Pastor:in als nicht sonderlich fromm beschrieben. Die Beobachtungen der Gemeinde konzentrierten sich auf das Onlineangebot und drei Interviews mit einem Gemeindemitglied und einem:er Pastor:in.

   Das Onlineangebot wurde und wird auf der Homepage der Gemeinde bereitgestellt. Soziale Medien, wie Facebook oder Instagram, werden nicht genutzt. Auf der Homepage werden verschiedene Angebote der Gemeinde präsentiert, wie beispielsweise eine wöchentlich erscheinende ‚Telefonandacht‘, in der ein meistens ein biblischer Text ausgelegt wird oder in Präsenz stattfindende Gottesdienste, die dort beworben werden. Das Thema Corona kommt auf der Homepage nicht als Schwerpunkt vor. Ein Gemeindebrief wird im entsprechenden Gemeindegebiet verteilt.

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   Im Interview mit dem:der Pastor:in sollte erfasst werden, wie sich die Pandemiesituation im beruflichen Alltag und im geistlichen Leben auswirkt. Im Interview mit einem Gemeindemitglied sollten die Eindrücke aus dem Gemeindeleben erfasst werden.

Bei Gottesdiensten, so wurde es in den Interviews beschrieben, stünde beispielsweise die Pfarrperson stärker als zuvor im Mittelpunkt, da die Organisation eines auflagenkonformen Gottesdienstes über diese Person läuft. Abendmahl findet nicht statt, gemeinsames Singen ist ebenfalls nicht möglich und wird nicht praktiziert. Auch das normalerweise angebotene Kirchen-Café nach einem Gottesdienst kann nicht stattfinden. Damit fallen viele Elemente eines Gottesdienstes weg. Die Atmosphäre wurde zunächst als ‚komisch‘ beschrieben. In späteren Interviews klangen wurde sie jedoch mit Worten wie ‚freudig‘ beschrieben. Das spirituelle Miteinander scheint stark beeinflusst zu sein und so haben sich neue Formen gebildet. Beispielsweise werden die draußen stattfindenden Gottesdienste nicht mit einem zentralen Altar und hintereinander gereihten Bänken, sondern in einem Kreis ohne Altar. Diese neue Form, so der Eindruck, würde das gottesdienstliche Geschehen positiv beeinflussen und das Gemeinschaftsgefühl der Gemeinde werde gestärkt. Die Zahl der Gottesdienstbesucher:innen sei über das Jahr mit der Pandemie hinweg gestiegen und die ‚Kerngemeinde‘ sei gewachsen.´

Im Blick auf die Zukunft wäre es allerdings schwierig zu prognostizieren, ob diese neuen Formen weiterbestehen würden oder in veränderter Art und Weise auch nach der Pandemie praktiziert werden. Jedoch scheint es so, als würde die Gemeinde samt Pastor:in die Corona-Pandemie durchaus auch als Anlass nehmen, neue Praktiken und Handlungsformate zu erproben. Der Ausblick auf die langfristigen Auswirkungen wurde für die Gemeinde als gemeinschaftsstärkend beschreiben, während andere Gemeinden in derselben Ortschaft genau gegenteilige Erfahrungen machten.

Die Frage nach einer Deutung der Corona-Pandemie habe im gottesdienstlichen Geschehen bisher kaum eine Rolle gespielt. Thematisiert werde dies jedoch in Einzelgesprächen und sei oftmals kein Anliegen der Kerngemeinde. Untereinander würde über dieses Thema nicht gesprochen. In Predigten wurde das Thema Corona immer wieder erwähnt. Die darin geäußerten Deutungen beziehen sich jedoch nicht auf eine Ursache für Corona (beispielsweise Strafe Gottes). Das Bedürfnis nach theologischen Inhalten sei jedoch im Laufe der Pandemie gestiegen. Als Beispiel wird an dieser Stelle die Osterpredigt zu den Texten Ex 14 und Mk 16 vorgestellt.

   Beide Texte wurden in der Predigt paraphrasiert und die darin beschriebenen Gefühle werden als ‚Niemansland‘ beschrieben. Dieses Gefühl wird aufgegriffen und auf die derzeitige Corona-Pandemie übertragen. Die Wut des Volkes in Ex 14 wird mit der Wut auf Minister:innen verglichen; die Geschichte der Auferstehung wird als ein Entkommen aus dem Niemandsland identifiziert: ‚Das ist kein einfacher Trost. Und es ist keine billige Vertröstung. Wir werden alle nie in das Funktionieren von Vor-Corona zurückgebeamt.‘ Die Welt nach Corona wäre eine andere und als Christ:innen könne man den Frust im Niemandsland lassen. Deshalb sollen Christ:innen nach Galiläa gehen. ‚Ostern 2021 … geht nach Galiläa, dahin, wo alles begann. Dort werden wir herausfinden aus dem Niemandsland und ahnen können, was das ist: Ewiges Leben. Amen‘. — Die Predigt hat positive Resonanz gefunden. Corona wird darin als ein Übel der Welt geschildert, das nicht mit dem Gottesbild in Konflikt gerät. Konflikte und Gefühle aus den Texten werden auf die Gegenwart übertragen und die soteriologische Ausrichtung des Christentums am Schluss in den Vordergrund gestellt. Die Schilderungen der Personen, dass ein Deutungsangebot nach einer Ursache nicht das Anliegen der ‚Kern-Gemeindemitglieder‘ sei, deckt sich mit der Aussage der Predigt. Die Schilderung des gemeindlichen Miteinanders lässt erkennen, dass das Bedürfnis nach einem Miteinander vorhanden ist, das trotz Pandemie stattfinden kann; und dieses Miteinander wird in der Predigt soteriologisch gedeutet, da man als Christ:innen die Wut im ‚Niemandsland‘ lassen könnte. Aber auch der Wunsch nach theologischen Innhalten lässt erkennen, dass ein Bedürfnis nach einem religiös/theologischen Umgang mit der Pandemie herrscht.

Erwähnenswert sind die neuen Mitglieder, die der Gemeinde beigetreten sind, aber nicht an regelmäßigen Veranstaltungen teilnehmen. Die neuen Mitglieder deuten Corona als einen der apokalyptischen Reiter. Ähnliches habe es jedoch auch vor der Pandemie gegeben, jedoch wurde es nicht als Grund genommen, um der Gemeinschaft beizutreten. Sonstige Auswirkungen sind deutlich gestiegene Beerdigungen und erhöhte Austrittszahlen, die auch in der Gemeinde spürbar würden.

Im Umfeld der Gemeinde gäbe es jedoch viele andere Religionsgruppierungen, die wiederum eine Affinität zur Q-Anon-Diskursen hätten. Diese Gruppierungen stünden jedoch nicht im direkten Kontakt zur Gemeinde. Es scheint eine Distanz vorzuliegen, die durch die Deutung der Pandemie vergrößert wurde.

lautes_Schweigen

   Auf die Frage, was in der Gemeinde an Positionen der EKD vernommen wurde, bekam ich vom Gemeindemitglied folgende Antwort: „Es kam wieder überraschend wenig […]. Am lautesten war das laute Schweigen“. Eine Erwartungshaltung gegenüber der EKD ist in dem Zitat erkennbar. Das ‚laute Schweigen‘ verdeutlicht wiederrum, dass auch ein Eindruck herrscht, dass die EKD nicht präsent ist. So kann festgehalten werden, dass durchaus ein inhaltliches Statement gewünscht war, jedoch keine theologischen Stellungnahmen zu hören waren.

Auswertung

In einem ersten Zwischenfazit hatte ich den Eindruck, dass Deutungen nach einer Ursache individuell getätigt werden, weil es kein Deutungsangebot der EKD, aber auch der Landeskirche Hannovers gab, das in der Gemeinde besprochen wurde. Von diesem Fazit nehme ich Abstand. Die gemeinschaftsstärkenden Aspekte der Pandemie, die ein Teilergebnis der Betrachtung der Gemeinde waren, sprechen gegen eine Individualisierung der Religiosität.

    

„Was sofort im Umlauf war […], war der mit weitem Abstand dümmste Spruch im kirchlichen Kontext; nämlich die Behauptung, dass die Pandemie vieles sei, aber jedenfalls keine Strafe Gottes.“

Dieses Urteil trifft der Professor für systematische Theologie der HU zu Berlin Notger Slenczka in einem auf Youtube dokumentierten Vortrag am 4.3.2021 (Minute 2:15). Die Youtube-Fassung des Vortrags kann unten, am Ende der Seite, direkt angesehen werden. Das Problem sei, so Slenczka weiter, dass Corona theologisch nicht gedeutet werde und dieser Satz aber davon ausgehe, dass diese Deutung mit Gott als Versursacher der Pandemie eine gängige wäre, der man sofort Einhalt gebieten müsse. Sein Eindruck kann geteilt werden.

   Das erste Statement auf der Seite der EKD stellt sich gegen diese Deutung, andere Deutungen werden nicht entfaltet. Der zweite Text lässt diese Frage zwar zu, richtet den Blick aber auf den Umgang mit der Pandemie. Dies offenbart ein Grundproblem. Der EKD fällt es schwer in religiöser/theologischer Art und Weise über Corona Aussagen zu treffen. Zwar hat sie als Verband keine theologische Autorität, kann aber theologisch Stellung beziehen und tat dies auch oft. Die getroffenen Aussagen zu Corona wurden jedoch nicht vernommen und blieben damit im Kern wirkungslos.

   In der ‚Kern-Gemeinde‘ war eine solche Deutung nach der Ursache kein Anliegen. Es gab, wie sich an den neuen Mitgliedern erkennen lässt, vereinzelt Bedürfnisse nach Deutungen, welche individuell gemacht werden. Diese haben jedoch keinen Einfluss auf das Miteinander der Kern-Gemeinde gehabt. Erst später kam in ihr das Bedürfnis nach einer Deutung auf und wurde beispielsweise in der Osterpredigt erwähnt. Auf Seiten der EKD gab es in einem letzten Statement lediglich eine Art Handhabung mit dem Umgang der Corona-Pandemie und welche Kraft im Glauben liege, dies zu ertragen. Die Aussage aus der Osterpredigt war eine andere, denn in ihr wurde die eine soteriologische Perspektive in den Blick genommen – und damit eine auf die Zukunft ausgerichtete. An dieser Stelle laufen die Deutungen, die sich erst im Frühjahr 2021 gebildet haben, auseinander. Während die EKD keine einheitliche Haltung entwickelt hat, kam das Bedürfnis nach einer Deutung in der Gemeinde auf, und dieses Bedürfnis, so wie es sich in der Osterpredigt zeigte, ist ein theologisches. Diesem Bedürfnis kommt die EKD nach Ansicht des zitierten Gemeindemitglieds nicht nach – übrig bleibt ein ‚lautes Schweigen‘.



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