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Eine überarbeitete Fassung wurde publiziert als:
"Was heißt Fundamentalismus? – Zur Eingrenzung
des Phänomens aus religionswissenschaftlicher
Sicht“, in: Tim Unger (Hg), Fundamentalismus
und Toleranz.
Hannover 2009, 163–195.


Was heißt "Fundamentalismus"?

Zur Eingrenzung des Phänomens aus
religionswissenschaftlicher Sicht [1]

Andreas Grünschloß

 

Einleitung

Zunächst möchte ich den Organisatoren dieses Symposions ganz herzlich für die freundliche Einladung danken, etwas zu unserem Tagungsthema aus vergleichend-religionswissenschaftlicher Perspektive beisteuern zu dürfen. Da mein Beitrag am Anfang steht, sehe ich meine Aufgabe nicht darin, verschiedene historische bzw. empirische Beispiele für Fundamentalismen vorzustellen -- das wird im Verlauf der Tagung in Einzelbeiträgen viel ausführlicher möglich sein --, sondern ich möchte vielmehr etwas zur systematisch-religionswissenschaftlichen Klärung des hier zugrundeliegenden Begriffs "Fundamentalismus" beisteuern.

Nun entspäche es dem wissensschaftstheoretischen Selbstverständnis der Vergleichenden Religionswissenschaft viel eher, derartige formale Klärungen phänomenologischer Grundbegriffe -- und um einen solchen handelt es sich ja hier: um eine distinkte religiöse Erscheinungsform, die sich an unterschiedliche religiöse Traditionen anschließen kann -- erst im Anschluß an detaillierte empirische, historisch und sozialwissenschaftlich erschlossene Einzelstudien verantwortet vorzulegen. [2] Mein Beitrag sollte daher eigentlich induktiv vorbereitet und abgesichert am Ende unserer Tagung stehen. Da aber die Diskussion um den sogenannten "Fundamentalismus" ja nicht erst hier in Mainz beginnt, läßt sich mein Aufschwung in die formale Begrifflichkeit nun doch wieder verantworten: eben als ein einleitender Versuch, die metasprachliche Benutzung des Konzepts "Fundamentalismus" zu präzisieren, mögliche Ausweitungen zu bedenken, sowie eigentliche und uneigentliche Verwendungsweisen voneinander abzugrenzen. In diesem Sinne verstehe ich meine Aufgabe als einen orientierenden Versuch, unsere -- vielleicht sehr unterschiedlichen(!) -- Verständnisse von Fundamentalismus vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Forschungsstandes ein wenig zu hinterfragen und aus dieser religionswissenschaftlichen Perspektive nach gemeinsamen Charakteristika und Kriterien für die Benutzung dieses Begriffs zu suchen. Diese terminologischen Eingrenzungsversuche könnten für unsere Diskussion die Funktion einer heuristischen Arbeitshypothese darstellen, denn letztlich sind derartige Eingrenzungsversuche im Formalen der erneuten empirischen Prüfung durch die folgenden Beiträge über konkrete, real existierende Fundamentalismen zu unterziehen: Unter welchen Bedingungen taugt das Konstrukt "Fundamentalismus" als Beschreibungskategorie -- unter welchen nicht? -- Und: Welche negativen Implikationen verbergen sich unter Umständen hinter diesem Konzept?

Eine solche einleitende Vergewisserung im Umgang mit dem Fundamentalismus-Begriff erscheint um so notwendiger, da bereits ein flüchtiger Blick in die nahezu uferlose Literatur zu diesem Thema zeigt, daß dieser Begriff ungeachtet seiner gegenwärtigen Prominenz einer klaren, allgemein geteilten Definition ermangelt [3]. Meist sind es sehr unterschiedliche Phänomenbereiche, die unter diesem Stichwort anvisiert oder gar stigmatisiert werden, und unter Umständen sagt eine bestimmte kritische Stellungnahme über sog. "Fundamentalismen" oder sog. "fundamentalistische Erscheinungen" ebensoviel über den Autor/die Autorin aus wie über die damit angesprochenen Personen oder Gruppen. Dem Begriff eignet nämlich in der Regel eine deutliche selbstreferentielle Struktur , denn er ist -- obwohl ursprünglich objektsprachliche Konzeption und Selbstbezeichnung einer christlich-konservativen Bewegung in den USA -- mittlerweile in vielen seiner Verwendungskontexte zu einem hochgradig "polemischen" Konzept avanciert, und dieser apologetisch-polemische Verwendungszusammenhang erschwert seine saubere Etablierung als metasprachliches Konzept im Rahmen der akademischen Religionsforschung. Er teilt insofern das Schicksal ähnlich problematischer Begriffe wie "Synkretismus", "Magie" oder "Sekte", die ebenfalls einem religiös-polemischen (meist christlichen) Ursprungs- oder Verwendungsmilieu entstammen, das diesen Konzepten trotz begrifflicher Definitions- und Reinigungsversuche wie ein schlechtes konnotatives Karma anzuhaften scheint und mitunter ganz unkontrolliert wieder an die Oberfläche treten kann. Wenn ich also im folgenden versuche, einige religionswissenschaftliche Präzisierungsversuche vorzustellen, dann geschieht dies bereits eingedenk dieses grundlegenden Problems, daß der Begriff "Fundamentalismus" selten eine objektiv feststellbare Größe bezeichnet, sondern sich letztlich als ein "selbstreferentielles" und daher auch meist als hochgradig "interpretationsimprägniertes" [4] Konzept erweist: Fundamentalismus wird zum pauschalen Stigma einer aufklärungs-, vernunft- und fortschrittsfeindlichen Haltung.

Zur Illustration verweise ich auf eine Fundamentalismus-Definition, die mir kürzlich bei Internet-Recherchen zum Thema aufgefallen ist. Im Rahmen eines philosophischen "Online"-Lexikons für Ästhetik wird folgende Definition entfaltet, die unter Fundamentalismus vor allem die "Ausdifferenzierung einer Weltanschauung mit programmatischem Ausschließlichkeitscharakter" versteht:

Fundamentalismus

Denkhaltung und Tathandlung, die ihre Einsicht aus höherer, nicht weiter ableitbarer Offenbarung bezieht und die prinzipielle Nichtidentität von intra-und extrapsychischen Vorgängen leugnet. Der typische Fundamentalist setzt die Anfangsbedingungen seines Handelns als Wahrheitswert und von dort aus leitet er konsequent ab. Dabei kann der Wahrheitswert religiöser, ethisch-moralischer, politischer, wissenschaftlicher oder ästhetischer Natur sein, die Folge ist immer gleich: Ausdifferenzierung einer Weltanschauung mit programmatischem Ausschließlichkeitscharakter.
Der Fundamentalist ist nicht mehr in der Lage, die eigene Vorgehensweise grundsätzlich zu relativieren, weil er die Relevanz von alternativen Bezugssystemen leugnet. (vgl. Logik der Dummheit )
Was für den modernen und aufgeklärten Zeitgenossen eine verhandelbare Position darstellt, ist für den Fundamentalisten eine Frage ums Ganze und das bedeutet: sie ist eben nicht verhandelbar.
Ende der Argumentation.

©Lehrstuhl für Ästhetik (Asmus 1996)

Quelle: www.uni-wuppertal.de/FB5-Hofaue/Brock/Projekte/Lexikon/Fundamen.html

Ich halte eine derartige Definition in unserem Zusammenhang für ungenügend, weil sie Fundamentalismus ausschließlich von der logischen Argumentationsebene her zu definieren versucht. Zwar wird man nicht leugnen, daß religiöse Fundamentalismen in der Tat als "Ausdifferenzierung einer [religiösen] Weltanschauung mit programmatischem Ausschließlichkeitscharakter" beschrieben werden können, aber das reicht sozialwissenschaftlich und religionswissenschaftlich nicht aus. Außerdem wird an diesem Beispiel deutlich, daß hier bereits eine implizite Frontstellung gegenüber dem Fundamentalismus erfolgt. Wie sich noch zeigen wird, sind Fundamentalismen als "Reaktionen" auf bestimmte Ausprägungen der Moderne zu charakterisieren, und in dem o.a. Beispiel liegt nun bereits eine erneute "Reaktion" auf einen Fundamentalismus vor, der selbstreferentiell als Gegner aufgeklärter dialogischer Wahrheitserschließung anvisiert wird.

Was heißt also "Fundamentalismus"? -- Und wie läßt sich dieses schillernde Phänomen aus religionswissenschaftlicher Sicht näher bestimmen und eingrenzen?

 

1. Erste Annäherungen an das Phänomen "Fundamentalismus"

Der objektsprachliche Ursprungskontext des Begriffs liegt bekanntermaßen in den USA, und zwar in jener von Laien und konservativen Theologen getragenen zwölfbändigen Schriftenreihe The Fundamentals. A Testimony to the Truth (Chicago 1910--1915) und der daran anschließenden Gründung der sog. "World's Christian Fundamentals Association" (1919). In den zwanziger Jahren fand der von diesen religiös konservativ bzw. restaurativ orientierten protestantischen Kreisen beschlossene Kampf gegen bestimmte Erscheinungen und Auswirkungen des "Modernismus" seinen Höhepunkt: Neben der historischen Bibelkritik und der damit verbundenen Aufweichung religiöser "Grund"-Verbindlichkeiten war es vor allem die moderne Evolutionslehre, die als Gegner angegriffen und mit dem biblischen Kreationismus und Literalismus scharf konfrontiert wurde. Derartige Frontstellungen wurden von der Erweckungsbewegung und einer chiliastisch-evangelistischen Frömmigkeit mitgeprägt, die das moderne Christentum von einem dämonischen endzeitlichen Abfall bedroht sah. Sie gehen damit aber auch in vieler Hinsicht auf ältere Traditionen zurück, wie sich z.B. anhand eines Ausschnitts aus dem 1878 formulierten Glaubensbekenntnis "Niagara Creed" zeigen läßt, in dem die Verbalinspiration der Bibel -- gleichsam das "Fundamentaldogma" dieses christlichen Fundamentalismus -- bereits ganz plakativ, nämlich bis in jede einzelne grammatikalische Endung hinein, festgestellt wird (zit. n. JOEST 1983, 735):

We believe
"that all Scripture is given by inspiration of God",
by which we understand the whole of the book called the Bible;
nor do we take the statement in the sense that the Holy Ghost gave the very words of the sacred writings to holy men of old; and that His Divine inspiration is not in different degrees,
but extends equally and fully in all parts of these writings, historical, poetical, doctrinal and prophetical, and to the smallest word, and inflection of a word, provided such a word is found in the original manuscript.

Niagara Creed (1878), Art. 1



Neben dem Grundartikel (1) Verbalinspiration und Literalismus (d.h. unmittelbare göttliche Herkunft und Irrtumslosigkeit der Bibel, sowie Authentizität der biblischen Wunder) sind es noch vier weitere fundamentals, die für die religiöse Dogmatik des christlichen Fundamentalismus in den USA charakteristisch waren: der Glaube an (2) die Jungfräulichkeit Marias bzw. jungfräuliche Geburt Jesu, (3) die leibliche Auferstehung Jesu, (4) das stellvertretende Sühneopfer Jesu (substitutionary atonement) und (5) die physische Wiederkehr Christi am Ende der Zeit. Dies impliziert zugleich die Nichtigkeit aller modernen Theologie, sofern sie dazu in Widerspruch steht; wer von der fundamentalistischen Doktrin abweicht, ist bestenfalls ein "Namenschrist". Auch katholischerseits lassen sich vergleichbare "antimodernistische" Reaktionen heranziehen, z.B. das Dekret Lamentabili und die Enzyklika Pascendi von Papst Pius X. (1907; vgl. den förmlichen "Antimodernisteneid" 1910)

Es sind also die traditionszersetzenden Auswirkungen von Modernisierung und Säkularisierung im Bereich des Religiösen, gegen die hier Stellung bezogen wird -- nicht die Moderne als solche (moderne Kommunikationsmittel, Technologien, etc. werden befürwortet und benutzt). Diese Feststellung ist durchaus verallgemeinerungsfähig: Religiöse Fundamentalisten zielen in der Regel "weniger auf die Moderne an sich, sondern auf den durch sie mitverursachten Religionsverfall" [5]. Dies ist gegenüber solchen Autoren festzuhalten, die Fundamentalismus rundweg als antimoderne Protestbewegung etikettieren und eine entsprechend offensive "Marschrichtung im antifundamentalistischen Kampf" nahelegen. In Deutschland haben die Publikationen von THOMAS MEYER vermutlich mit dazu beigetragen, Fundamentalismus als durchweg antimoderne und unvernünftige Lebensformen anzusehen, wie die Untertitel seiner 1989 erschienenen Bücher suggerieren ("Aufstand gegen die Moderne", "Internationale der Unvernunft"). Dies erklärt sich v.a. daraus, daß der religions- und sozialwissenschaftlichen Analyse ein eher philosophisch geprägter Fundamentalismus-Begriff vorangestellt wird, der die Darstellung rationalistisch wertend färbt. Hierzu ein Beispiel aus einem jüngeren Handbuchartikel von MEYER, der Fundamentalismus weiterhin in Umkehrung der berühmten Kantschen Definition von "Aufklärung" als radikale Gegenbewegung zur Aufklärung der Moderne beschreibt (Hervorhebungen im Text von mir):

"Fundamentalismus ist der selbstverschuldete Ausgang aus den Zumutungen des Selberdenkens , der Eigenverantwortung, der Begründungspflicht, der Unsicherheit und Offenheit aller Geltungsansprüche, Herrschaftslegitimationen und Lebensformen, denen Denken und Leben durch Aufklärung und Moderne unumkehrbar ausgesetzt sind, in die Sicherheit und Geschlossenheit selbsterkorener absoluter Fundamente . Vor ihnen soll das Fragen Halt machen, damit sie absoluten Halt geben können. Vor ihnen soll alles andere relativ werden -- die Menschenrechte zumal --, damit sie der Relativierung entzogen bleiben. Wer sich nicht auf ihren Boden stellt, soll keine Rücksicht verdienen für seine abweichenden Argumente, Zweifel, Interessen, Rechte.
Fundamentalismus ist in kommunikationstheoretischer Sicht eine Form systematisch verzerrter Kommunikation. [...] Der Fundamentalismus denunziert Konflikte als Verrat und macht den Gegner zum Feind von Heil und Wahrheit." (MEYER 1994, 94)
"Fundamentalismus bietet sich in vielen Formen als Lösung der Widersprüche an, die im Prozeß der Modernisierung aufbrechen. Er ist eine Anschließungshaltung, die Geborgenheit, Gewißheit und allem Zweifel entrückte Orientierung an die Stelle der unvermeidlichen Ambivalenzen und Unsicherheiten der modernen Existenz zu setzen verspricht.
So gut wie jede Idee kann in diesem Sinne fundamentalistisch gehandhabt werden, so gut wie keine muß es. Fundamentalismus ist daher nicht das Kennzeichen bestimmter Religionen oder Weltanschauungen, sondern eine sozialpsychologisch bedingte Weise ihrer Handhabung." (MEYER 1994, 96)

An diesem Beispiel wird der selbstreferentielle Bezug auf das moderne Selbstverständnis des Autors besonders deutlich. Auch die akademische Religionswissenschaft wird dem schwer entrinnen können -- versteht sie sich mit ihrer Konzentration auf eine historisch-empirische und möglichst "unparteiische" Religionsbetrachtung doch selbst als ein Kind der Aufklärung (und nimmt damit bereits eine Position ein). Obwohl die verschiedenen sozialpsychologischen, politischen, anthropologischen oder kulturellen Erklärungsmuster, die MEYER des weiteren anführt, auch nahezu ausschließlich auf die "Unfähigkeiten" fundamentalistischer Reaktionen abheben, verweist er mit Recht auf bestimmte "Entstehungsbedingungen", die für die Attraktivität fundamentalistischer Bewegungen und einen entsprechenden Massenzulauf zu ihnen nötig sind: "das plötzliches Brüchigwerden eingelebter soziokultureller Identitäten und Orientierungen", die "Erfahrung oder Drohung sozialer Unsicherheit" und ein kontextuell "glaubwürdiges Angebot fundamentalistischer Organisation, Rhetorik und Führung" (95).

Diese Hinweise lenken den Blick auf die notwendige empirische Analyse kontextueller Bedingungen und die Identifizierung soziokultureller Milieus, die für das Enstehen von "Fundamentalismen" vielleicht als charakteristisch gelten könnten. Auch wenn die konnotative Polemik im Begriff "Fundamentalismus" wahrscheinlich nur schwer zu überwinden sein wird: Je stärker man das damit angesprochene Phänomen deskriptiven Analysekriterien unterwirft, desto eher läßt sich der Begriff als metasprachlicher Begriff (und nicht bloß als "Schlagstock") verantworten, und aus dem angeblich rein "pathologischen Symptom" wird unter Umständen ein beobachtbares "soziales Phänomen" (vgl. H. G. KIPPENBERG 1996, 231).

 

2. Wie weit darf der Begriff gefaßt werden?

Auch ohne die konnotative Problematik des Begriffs bleibt die Frage, wie eng oder wie weit er gehandhabt werden soll. Seine Eindeutigkeit und Präzision würde weiter leiden, wenn er, wie häufig im akademischen und alltäglichen Sprachgebrauch, zur Pauschalbezeichnung verschiedenster traditionsbeflissener oder standpunktbewußter Personen, Gruppen oder sogar ganzer Religionen herhalten muß (vgl. daher die begründete Skepsis bei P. ANTES). Darf er zudem, gleichsam avant la lettre , auch für Phänomene benutzt werden, die historisch weit zurückliegen?

Der vor kurzem verstorbene Göttinger Religionswissenschaftler GERNOT WIEßNER hat eine äußerst weite Verwendung des Fundamentalismus-Begriffs befürwortet, die ihn für verschiedenste Epochen der Religionsgeschichte anwendbar macht. Grundlegend für Fundamentalismus sei "die Enttabuisierung des Lebens als Folge einer extrem offenbarungsgläubigen Fassung des Wahrheitsbegriffs" (WIEßNER 1996, 58ff). In solchen fundamentalistischen Reinterpretationen von Religion werde nämlich die "grundsätzliche Heiligkeit" und "Unverletzlichkeit menschlichen Lebens", um die nahezu alle Religionen wissen, außer Kraft gesetzt. Verunsichernde Begegnungen mit Andersdenkenden und -handelnden können zu einer manichäischen Teilung der Welt führen: "Von der manichäischen Teilung der Welt in die Welt des Guten, der Reinen und in die Welt des Bösen, der Unreinen bis hin zum Kampf gegen das Unreine, das Böse, ist augenscheinlich nur ein kleiner Schritt" (55). Aus den Akten "geistiger Tötung" folge aber erst dann eine entsprechend militant-tätliche Penetration der Umwelt, wenn eine zusätzliche Enttabuisierung des Lebens vorgenommen werde (der Rückzug aus der "bösen" Welt in eine "reine" friedliche Neben-Welt der "Erwählten" wäre ja ebenso möglich und wurde in der Religionsgeschichte von "Sekten" und Sondergemeinschaften vielfach vorgezogen). Doch im Rahmen einer unbedingten Parteinahme auf der Seite Gottes, der zusammen mit den Gläubigen in den Kampf gegen das Böse zieht, wird die Teilnahme am Kampf zur heiligen Pflicht und zum Glaubenserweis (vgl. 1. Makkabäerbuch oder die Grabenschlacht in der islamischen Tradition). WIEßNER zieht für die Verwendung des Fundamentalismus-Begriffs daher die Folgerung,


Der Fundamentalismus dürfe jedenfalls nicht auf politische Instrumentalisierung des Religiösen reduziert werden: Religionen, religiöse Menschen haben zur Durchsetzung ihrer Ordnungsziele immer auch politische Gewalt benutzt -- und: "Diese Gewalt aber legitimiert sich selbst, wenn wenn sie sich für die heilige Ordnung entschieden hat" (62), denn weder die europäische Trennung von Politik und Religion, noch das humanistische, der Aufklärung verpflichtete (und insofern wesentlich nicht-religiös begründete) Ideal der Unverletzlichkeit menschlichen Lebens haben in dieser Form eine genaue Entsprechung in anderen Kulturen. Das bedeutet: "Religiöser Fundamentalismus in der hier definierten Art ist für den Religionshistoriker eine Manifestation eines Typs von Religion" (64) -- einer Religion allerdings, in der "die Offenbarung uneingeschränkte Geltung hat und in dieser Geltung nicht dem Urteil einer kritischen Vernunft unterliegt. Der religiöse Fundamentalist lebt aus der Offenbarung seiner Religion" (63). -- Ein konstruktiv-kritischer Umgang mit religiösen Fundamentalismen stehe daher vor der utopisch anmutenden Aufgabe, der "absoluten Tabuisierung des Lebens" im Dialog wieder zu ihrem vorrangigen Recht zu verhelfen: Dann bestünde "vielleicht die Möglichkeit, daß der religiöse Fundamentalismus im Abgrund der Religionsgeschichte verschwindet" (64).

WIEßNERs Plädoyer für eine breite und allgemeine Anwendung des Fundamentalismus-Begriffs sollte hier nur als stellvertretendes Beispiel für eine Anwendungsweise dienen, die zwar begründet vertreten werden kann, der ich aber nicht folgen möchte, weil der Begriff ohnehin schon viel zu unscharf und zu allgemein benutzt wird. Im folgenden werde ich mich daher bemühen, das Konzept durch die Konfrontation mit analogen Begriffen etwas eindeutiger einzugrenzen.

 

3. Präzisierung des Fundamentalismus-Begriffs durch einzelne Charakteristika und systematische Abgrenzung von analogen Begriffen

 

Traditionalismus bzw. Orthodoxie

Religiöser Fundamentalismus erscheint als eine Art übersteigerter, jedoch selektiv anknüpfender Traditionalismus, denn es werden nur einzelne, ausgewählte Traditionselemente in den Rang "fundamentaler" und somit alles entscheidender Orthodoxiekriterien erhoben (vgl. unten den Beitrag von BÜTTNER, der ebenfalls betont, daß unterschiedliche Traditionselemente selektiert und ideologisiert werden). Ein Traditionalismus kann sich gegebenenfalls auch mit Gelassenheit oder Toleranz auf alternative Traditionen beziehen, d.h. er ist nicht notwendig mit jener dualistischen Penetration der Umwelt verbunden, die dem Fundamentalismus eignet.

In seiner vergleichenden Fallstudie zum Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung charakterisiert RIESEBRODT den Fundamentalismus daher als einen radikal(isiert)en Traditionalismus (215 u.ö.). In den USA wurde der Traditionalismus offenbar fundamentalistisch, um zu überleben. Fundamentalismus beinhaltet keine schlichte Wiederholung des Kanons traditioneller Glaubensinhalte, Werte, Normen oder Sitten, er ist vielmehr, wie MAKRIDES in seinem Überblicksartikel zum "Fundamentalismus aus religionswissenschaftlicher Sicht" betont,

Programm des Fundamentalismus ist nämlich die "Ent-Differenzierung": es geht darum, die Religion "aus ihrer Randstellung erneut in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit bzw. der Gesellschaft und der politischen Entscheidungen zu rücken" und wieder "kollektive Verbindlichkeiten" zu schaffen (MAKRIDES 21). Dies läßt sich ohne neue Unübersichtlichkeit am besten dadurch bewerkstelligen, daß je nach Kontext nur bestimmte elementar(isiert)e Traditionselemente selektiv zitiert und plakativ in den Vordergrund gestellt werden (Komplexitätsreduktion).

Betrachtet man Religionen systemtheoretisch als Sinnsysteme, die selbstreferentiell mit ihrer Umwelt in Interaktion stehen, dann läßt sich dieser Zusammenhang wie folgt veranschaulichen (vgl. nachstehende Übersicht ).[6] Im Verlauf religiös-kultureller Entwicklungsprozesse kann sich eine religiöse (Sub-)Tradition einerseits (a) selektiv auf das Eigene beziehen, indem eigene Elemente oder Teilsysteme entweder durch Intensivierung besonders akzentuiert oder durch Extinktion ausgeschlossen werden. Durch (b) Extensivierung wird dagegen ein Bezug auf religiös Fremdes hergestellt, indem einerseits durch Relationierung eine konkrete (z.B. religionstheologische) Verhältnisbestimmung zum Gegenüber formuliert wird (z.B. Inklusivismus, ablehnende Polemik o.ä.) oder/und indem durch Synkretismus eine direkte materiale Inkorporation und Anverwandlung fremden religiösen Materials geschieht (es kann allerdings auch zur völligen Konversion kommen). Diese Beziehungen können sich auf der Ebene ganzer (Teil-) Systeme oder nur auf der Ebene von einzelnen Elementen konstituieren (oder auf beiden Ebenen zugleich).

Modell: Intensivierung/Extensivierung

Für den religiösen Fundamentalismus läßt sich folglich ein Zusammenspiel zwischen einer selektiven Intensivierung von bestimmten, binnenperspektivisch für "fundamental" und "ursprünglich" erachteten Traditionselementen und einer (ebenfalls selektiven) distanzierenden Relationierung gegenüber einer als "feindlich" erachteten Umwelt rekonstruieren (in diese Gegen-Welt können allerdings auch andersdenkende eigene Traditionsgruppen ausgegrenzt werden). Wie sich in der Gegenüberstellung zum "Nativismus" zeigen wird, sind die sogenannten fundamentals religionsgeschichtlich nicht immer nur als unverfälschte Repristinationen altehrwürdiger Konstruktionsprinzipien der Gesamttradition anzusehen: sie können durchaus innovative (und sogar "synkretistische") Elemente enthalten.

 

Nativismus

Der Fundamentalismus steht in besonders großer Nähe zum Nativismus, denn unter Nativismus versteht man religions- und kuturwissenschaftlich denjenigen "bewußten, organisierten Versuch seitens der Mitglieder einer Gesellschaft, ausgewählte Aspekte ihrer Kultur wiederzubeleben oder zu verewigen" (R. LINTON)[7]. Allerdings betont MÜHLMANN in seiner einschlägigen Studie über Chiliasmus und Nativismus , daß es sich dabei nicht um die Kultur als reale Gegebenheit handelt, sondern um "ausgewählte Aspekte" der Kultur, "so wie die betreffenden Menschen diese verstehen" -- häufig ein "verarbeiteter Synkretismus von alt-eigenen und fremd-übernommenen" Elementen (MÜHLMANN, 10). Die für altehrwürdig erachteten Kultur- oder Religionsgüter müssen also nicht wirklich indigen oder historisch alt sein. Die große Ähnlichkeit zum Fundamentalismus besteht also neben der Tatsache, daß die fundamentals eben nicht wirklich die traditionellen fundamentals sein müssen, sondern auch kontextuelle "Erfindungen" sein können, in der umweltkritischen Reaktionsform, die der Angst vor Überfremdung durch "Neues" mit selektivem Rückgriff auf Elemente der Tradition begegnet -- und zwar durch Anwendung des Senioritätsaxioms: "Das Alte ist das Bessere". Auch in der Zielsetzung ergibt sich eine weitgehende Überschneidung, denn "[d]urch die Ausrichtung auf bestimmte Elemente der eigenen Tradition, die den dominanten politischen, wirtschaftlichen, geistigen und religiösen Formen entgegengestellt werden, glauben die Anhänger solcher [nativistischen] Bewegungen, einen neuen, besseren Zustand herbeiführen zu können" (LUCHESI 220). Zwar kann der Fundamentalismus auch als binnenkulturelle "Erneuerung" auftreten; er ist nicht notwendig an Überfremdung durch real Fremdes gebunden, aber er exteriorisiert meist bestimmte kulturell-religiöse Erscheinungen als negativ und bekämpft sie dann. D.h., die "Überfremdung" selbst kann eine fiktiv konstruierte sein (fundamentalistische Reaktionen als komplexitätsreduzierende Chiffren für schwer differenzierbare Gemengelagen). Auch "der Impetus, mit einem eigenen Beitrage hervorzutreten" (MÜHLMANN 11) und in die gesellschaftliche Entwicklung kämpferisch engagiert einzugreifen, gepaart mit "fremdenfeindlichen Tendenzen" und der soteriologischen Hoffnung auf eine soziale und geistige "Erneuerung der Gesellschaft", ferner das Auftreten von "Propheten" als verbindlichen Vermittlern zwischen Altem und Neuem, sowie die "Erwartung eines messianischen Reich des Friedens und der Gerechtigkeit" (LUCHESI 221), zeigen große Überschneidungen mit religiösen Fundamentalismen.

Der exklusiv-kämpferische Geltungsanspruch des Nativismus bezieht sich auf einen realen Kulturkonflikt zwischen tatsächlich fremder und traditionell-eigener Kultur (so wie sie vom gläubigen Selbstbewußtsein ideal rekonstruiert wird). Dies muß im Fundamentalismus so nicht gegeben sein: Hier handelt es sich vielfach um eine kulturimmanente Protestbewegung. Fundamentalistische Reaktionsbildungen können aber auch in einem Kulturkonflikt angesiedelt sein; z.B. islamische Fundamentalismen, die sich gleichsam als islamisch-nativistische Reaktion auf eine (Identitäts-) Krise konstituieren, die (u.a.) durch eine modern-westliche Überfremdung eingeleitet wurde. Hier gibt es offensichtlich fließende Übergänge zwischen den beiden Phänomenen.

Eine klarere Unterscheidung ließe sich vielleicht auch dahingehend vornehmen, daß Fundamentalismen in ihrer logischen Position einen grundsätzlichen theoretischen und soteriologischen Exklusivismus postulieren, während Nativismen zunächst nur einen ethnischen oder regionalen Geltungsanspruch für ihre Botschaft formulieren -- im Gegenüber zu einem wiederum ganz konkreten fremden System. Fundamentalistische Dogmatik versteht sich dagegen als Supertheorie mit einem unbedingten, programmatischen Ausschließlichkeitscharakter. In dieselbe Richtung läuft die Argumentation bei RIESEBRODT, wenn er betont, daß "Fundamentalismus als religiöser Nativismus mit universalem Geltungsanspruch " zu verstehen sei, der sich dann in einem geradezu dualistischen Manichäismus ausdrücke:

 

Exklusivismus und Aggressivität

Wie bereits mehrfach angesprochen, stellt sich der Fundamentalismus in logischer Hinsicht als Exklusivismus mit universaler Geltungsbehauptung dar. Aus der unhintergehbaren Alleingeltung eines fundamentalistisch reinterpretierten Offenbarungsdepositums resultieren die entsprechend schroff distanzierenden Relationierungen gegenüber allem Anderen und Fremden. Aus dieser typischen fundamentalistischen Rhetorik folgt jedoch noch nicht zwangsläufig die tatsächliche (physische) Ausschaltung des Anderen mit Gewalt, bzw. eine entsprechende Tathaltung (z.B. latente Gewaltbereitschaft). Für die Umsetzung der Abgrenzungs- und Alleingeltungsrhetorik in tatsächliche Aktionen militanter Umwelt-Penetration sind zusätzliche kontextuale Mobilisierungsursachen erforderlich, denn es gibt offensichtlich viele Fundamentalismen, die trotz ihres exklusiv-aggressiven Pathos beispielsweise die friedliche Schaffung einer alternativen Gegenwelt zur verderbten "Welt" vorziehen (Enklave) und sich gerade nicht durch manifeste Gewaltbereitschaft auszeichnen (vgl. unten im Schlußabschnitt [5] zum "Weltbezug").

 

Gesetzesethischer Monismus und religiöser Republikanismus

Ein weiteres Kenzeichen fundamentalistischer Bewegungen, das unmittelbar aus der exklusiven Offenbarungstheologie resultiert, ist ihre exklusiv-deontologische Ethik . RIESEBRODT hat diese -- von ihm auch als "totale religiöse Gesetzesethik" bezeichnete -- Einstellung wie folgt charakterisiert :

Aus dieser Haltung folgt die charakteristische Ablehnung jeglichen kulturellen und religiösen Pluralismus (z.B. Ethiken anderer Gesellschaftsgruppen oder fremder Kulturen, Sonderethiken für bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche; vgl. RIESEBRODT, 220f). Aus der radikalen Exklusivität des Eigenen folgt geradezu zwangsläufig das Ziel einer umfassenden Missionierung und Konversion der anderen.

In politischer Hinsicht ergeben sich daraus unmittelbare Konsequenzen: Die ideale Staatsform für einen gesetzesethischen Monismus wäre folglich "der Republikanismus, als Verkörperung und Versuch der Verwirklichung des göttlichen Gesetzes" (RIESEBRODT 221). Selbst in denjenigen fundamentalistischen Bewegungen, die sich politisch im Kontext einer Demokratie bewegen (z.B. USA), würde ein Spannungsverhältnis zur Demokratie entstehen, wenn Mehrheitsentscheidungen dem einen göttlichen Gebot zuwiderlaufen (grundsätzlich müßte nämlich die Überordnung des republikanischen über das demokratische Ideal gelten).

 

Apokalyptik, Messianismus, Millenarismus

Fundamentalismus zeichnet sich wie der Nativismus häufig -- wenn auch nicht notwendig(!) -- durch apokalyptische bzw. millenaristische Zeitdeutungen aus. Typisch ist hierbei die Vorstellung von einer endzeitlichen "Zuspitzung" der Geschichte, also ein zeitlicher Druck, der zu einer Sichtverengung unter apokalyptischen Vorzeichen führen kann und der Vorstellung "Jetzt geht es ums Ganze" zusätzlichen Ausdruck verleiht. Wie gesagt, nicht jeder Fundamentalismus muß eschatologisch motiviert sein, aber es kann je nach religiöser Tradition naheliegend und plausibel sein, die Zuspitzung der (für jeden Fundamentalismus grundlegenden) Krise auch in der Anschauungsform der Zeit plakativ auszudrücken bzw. temporal zu radikalisieren (Krisenzeit = Endzeit; eschatologische Prüfung, Entrückung des heiligen Restes, baldiges Endgericht, Reich der Gerechtigkeit, Erwartung einer messianischen Rettergestalt, etc.; vgl. analog MÜHLMANN 291ff).

Je nach konkreter Deutung der "Zeichen der Zeit" lassen sich damit einerseits weltflüchtig-quietistische Handlungsmuster zusätzlich legitimieren, wie etwa in typisch prämillenaristischen christlichen Bewegungen: Passivität und Duldungsbereitschaft während der Zeit der "großen Drangsal" und Hoffen auf die baldige "Entrückung" der 144.000 Gerechten. Andererseits können, gleichsam am anderen Ende der Zeitachse, postmillenaristische Zeitdeutungen zusätzliches Aktionspotential für eine militante Penetration der Umwelt mobilisieren helfen, weil es hier um den "Endkampf", die letzte entscheidende Schlacht gegen den Satan, den endgültigen Sieg über das Dämonische geht, den die Gläubigen an der Seite Gottes auszutragen haben. Inkohärente Mischformen sind hier ebenso zu beobachten (vgl. RIESEBRODT 223f) wie sogar gegenseitige Stabilisierungen der beiden Deutungsmuster innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes, in dem sich duldungsbereite "Opfer" und militante "Täter" antagonistisch gegenüberstehen (vgl. die Forschungen von H. SCHÄFER zum Fundamentalismus in Zentralamerika).

Da die gegenwärtige Zeit aber ohnehin als Krisenzeit wahrgenommen wird, liegt es für fundamentalistische Bewegungen sehr nahe, auf apokalyptisch-millenaristische Deutungsmuster der (Mutter-)Tradition zurückzugreifen und sich als "Künder vom nahen Millen[n]ium" oder als "Vorhut des erwarteten Messias bzw. Imam Mahdi" zu verstehen (RIESEBRODT 223).

 

Grundlegende Mobilisierungsursachen für Fundamentalismus

Die Plausibilität fundamentalistischer Bewegungen und Deutungsangebote ist von bestimmten Mobilisierungsursachen abhängig. Zentral sind hierbei milieuspezifische gesellschaftliche Anomieerfahrungen, die zu einer Politisierung der Theodizeefrage führen und in Protest dazu die eigene (Neu-) Legitimation durch religiösen Nativismus und Manichäismus attraktiv machen. Eine zusätzliche Dramatisierung kann durch heilsgeschichtliche Interpretationsmuster aus dem Millenarismus und Messianismus erfolgen. Häufig zu beobachtende Mobilisierungsursachen sind hierbei Urbanisierung, kultureller Privilegentzug, kulturelle Reproduktionsprobleme, Generationenkonflikte, enttäuschte Aufstiegserwartungen, ökonomische Marginalisierung (usw.), die in ganz bestimmten "sozialmoralischen Milieus" entstanden sind und eine Bereitschaft zu kollektiven Reaktionsbildungen nahelegen. Unter sozialmoralischen Milieus versteht RIESEBRODT solche gesellschaftliche Größen, in denen Religion, wirtschaftliche Lage, regionale Tradition, schichtspezifische Zusammensetzung, Ethnizität, Generationszugehörigkeit und kulturelle Orientierung weitestgehend zusammenfallen. Eine fundamentalistisch reinterpretierte Religion bzw. religiöse Bewegung kann in einem solchen Kontext neue Sicherheit, Geborgenheit und Bestätigung liefern, indem sie ihren innovativen Komplexitätsreduktionen im ideologisch-dogmatischen Bereich einen überzeugenden, durch Kultus und Ritus auch dramatisch erfahrbaren Ausdruck verleiht und auf diese Weise die kollektiven und individuellen Motivationen für eine Mobilisierung dauerhaft zu stärken vermag [8] (z.B. exstatische Frömmigkeit, Zungenreden, Heilungen als zeichenhafte Vorwegnahme der nahenden Endzeit bzw. als deutlicher Erweis der Erwählung der frommen Enklave oder ihrer Führerpersönlichkeiten). Obwohl Riesebrodts vergleichende Fallstudie den erfahrenen Wandel v.a. im Bereich Familie und Sexualmoral festmachen konnte (daher formierten sich die von ihm analysierten fundamentalistischen Reaktionen in den USA und im Iran als "patriarchalische" Protestbewegungen), hat er sich jedoch ausdrücklich davor gehütet, dieses sehr spezifische Ergebnis verallgemeinern zu wollen.

Im folgenden möchte ich nun die wichtigsten systematischen Ergebnisse jenes umfassenden Studienprojekts über Fundamentalismus skizzieren, das im Auftrag der US-amerikanischen Academy of Arts and Sciences in der ersten Hälfte der Neunziger Jahre auf einer beeindruckend breiten empirischen Basis durchgeführt und mittlerweile auch in insgesamt fünf Bänden publiziert wurde. Ich beziehe mich dabei v.a. auf den auswertenden Abschlußband V, Fundamentalisms Comprehended (Chicago 1995).

 

4. Die analytischen Ergebnisse aus dem "Fundamentalism-Project" (FP)

Die religions- und kulturübergreifend breite empirische Basis sichert den systematischen Ergebnissen des FP eine große Relevanz für alles weitere Nachdenken über den Fundamentalismus-Begriff. So kommen die Autoren ALMOND, SIVAN, APPLEBY in ihrem Essay über "Fundamentalism: Genus and Species" (FP V, §16) zu dem grundlegenden Ergebnis, daß Fundamentalismus weder einfach als eine neue religiöse Bewegung, noch als traditionelle bzw. orthodoxe Religionsform angesehen werden kann; es handelt sich beim Fundamentalismus vielmehr um "a hybrid form of religious modes, and it belongs in a category by itself" (402). Meist läßt sich eine (nativistische) Inklusion neuer Elemente beobachten, ohne daß diese Neuheit positiv eingestanden wird; andererseits findet sich nach Maßgabe des betonten Traditionsbezugs eine negative Bezugnahme auf etwaige Neuoffenbarungen:

Im FP wurde der auszuwählende Phänomenbereich zeitlich auf das 20. Jahrhundert beschränkt. Dadurch kam Fundamentalismus als Reaktion auf die säkular-moderne "Kontamination" traditioneller Religion und auf negative "Nebeneffekte" der Moderne (Unmoral, Zusammenbruch von Familie und Gemeinschaft, Umweltzerstörung, etc.) in den Blick. Hinsichtlich einer eventuell möglichen allgemeineren Anwendung des Fundamentalismus-Begriffs wird daher betont, daß dann völlig verschiedene endogene (religionsimmanente) und exogene (kontextuelle) Bedingungsgefüge zu beachten sind (404).

Gemeinsamkeiten in den endogenen Ursachengefügen lassen sich über die Zeit hinweg in verschiedenen religiösen Traditionen feststellen, aber sie dürfen nicht mit dem Phänomen "Fundamentalismus" gleichgesetzt werden. Nicht jede religiöse Bewegung oder Tradition, die ein autoritatives Schriftverständnis propagiert, ist per se "fundamentalistisch". Dafür müssen spezifische exogene Mobilisierungsursachen aus dem gesellschaftlichen Kontext hinzutreten. Jede ablehnende Reaktion auf kritische hermeneutische Exegese -- im Sinne eines biblischen (oder koranischen) Schriftprinzips sollte zum Beispiel nicht einfach in die Kategorie "biblischer Fundamentalismus" eingeordnet werden: "Dies würde die Projektion eines zeitgenössischen Phänomens in die Vergangenheit darstellen" (MAKRIDES, 14)

Die Grundbedeutung des Fundamentalismus-Konzepts sollte m.E. ausschließlich anhand der Phänomene des 20. Jahrhunderts gewonnen werden -- Phänomene also, die sich tatsächlich auf die Auswirkungen der Aufklärung der Moderne beziehen. Außerdem muß für eine reflektierte religionswissenschaftliche Anwendung des Fundamentalismus-Begriffs die religionssoziologische Grundregel gelten, daß von einem religiösen System als real existierender Größe erst dann zu sprechen ist, wenn es sowohl im Bereich der religiösen Theorie (Dogmatik, Mythos, religiöse Lehre), als auch in kultisch-ritueller Hinsicht (Gottesdienst) und im Bereich der religiösen Gruppenbildung (Gemeinschaftsbildung, Vergesellschaftung) eine beobachtbare Ausformung erhalten hat. [9] Nur wenn in allen diesen drei Bereichen -- Dogmatik, Kultus/Ritus und Sozialgestalt -- eine Ausdifferenzierung stattgefunden hat, kann von "Religion" im Vollsinn des Wortes gesprochen werden -- dies gilt auch für die Sonderform "Fundamentalismus". Alle anderen Redeweisen sind uneigentlich und dürften den Begriff allenfalls in Anführungszeichen benutzen.

 

4.1. Charakteristische Eigenschaften des Fundamentalismus

Das FP hat auf der Basis seiner empirischen Forschungen eine Tafel von neun grundlegenden Eigenschaften entwickelt, die jeweils in (fast) allen fundamentalistischen Erscheinungsformen anzutreffen sind. Es handelt sich, wie die Überblickstabelle "Fundamentalistische Eigenschaften" zeigt, um fünf "ideologische" und vier "organisatorische" Charakteristika. (Trotz Überschneidungen mit den von mir bereits angeführten Charakteristika halte ich es wegen der wissenschaftlichen Bedeutung des FP für sinnvoll, alle diese spezifischen Eigenschaften kurz im Zusammenhang darzustellen.) Die Autoren des Projekts weisen darauf hin, daß diese Charakteristika nicht isoliert zu betrachten sind, sondern miteinander in einer komplexen Wechselwirkung stehen (dazu unten mehr).

Tabelle: Fundamentalistische Eigenschaften

 

-- Ideologische Charakteristika --

 

(1) Reaktivität (reactivity)

Fundamentalismen sind Reaktionen auf die Marginalisierung von Religion, die durch verschiedene Gründe (mit-) verursacht sein können ("die" Moderne, ethnische Konflilkte, Säkularer Staat, Konfrontation mit anderen Religionen). Daraus ergibt sich folgende definitorische Grundregel :
"Um als genuiner Fundamentalismus in unserem Sinne gelten zu können, muß sich eine Bewegung in erster Linie mit religiöser Erosion und der eigentlich notwendigen Rolle von Religion in der Gesellschaft befassen. Sie muß folglich einen bestimmten religiösen Inhalt zu schützen suchen, oder eine Anzahl traditioneller kosmologischer Vorstellungen und der damit verbundenen Verhaltensnormen" (405).

Diese "Reaktivität" hat zwei gegenläufige Aspekte : Fundamentalistische Bewegungen "reagieren auf den Prozeß der Säkularisierung, indem sie sich ihm entgegenstellen und ihn zugleich für ihre eigenen Zwecke benutzen" (405). Dies beinhaltet die Akzeptanz moderner Kommunikations- und Werbemittel, den Wettstreit auf dem Marktplatz der Ideen und die Imitation der spätmodernen selektiven Bezugnahme auf Geschichte und Tradition.
 

(2) Selektivität (selectivity)

Tabelle: 'Feinde' des Fundamentalismus

Der für fundamentalistische Komplexitätsreduktionen charakteristische Gesichtspunkt der Selektivität läßt sich anhand der Übersichtstafel zu den jeweils wahrgenommenen "Feinden des Fundamentalismus" beispielhaft veranschaulichen. Die Relationierungen des Fundamentalismus erweisen sich bei näherem Hinsehen aber in dreifacher Hinsicht als selektiv (systemintern wie -extern):
 
Diese drei Formen der "Selektivität" sind miteinander verzahnt: Es werden ganz bestimmte Texte oder Techniken der Moderne gegen andere ausgespielt, um auf dem Hintergrund der nativistisch reformulierten Traditionselemente ein anvisiertes Ziel zu erreichen (z.B. "Die Bibel hat doch recht"-Archäologie im Dienst des Literalismus).
 

(3) Moralischer Manichäismus und Dualismus

Wie bereits oben erwähnt, ist für fundamentalistische Bewegungen die schroffe Gegenüberstellung von Innen und Außen charakteristisch, die durch dualistische Metaphern wie Licht--Dunkel, Geist--Materie, Gut--Böse, göttlich--satanisch, etc. bewerkstelligt wird. Der Innenbereich wird mit "Reinheit" und "Heiligkeit" assoziiert, der Außenbereich unterliegt dagegen schlimmster "Kontamination". Im Laufe einer allmählichen gesellschaftlichen Etablierung fundamentalistischer Bewegungen können diese schroffen Distanzierungsmuster jedoch in Modelle konzentrischer Kreise bzw. gradueller Abstufung differenziert und abgeschwächt werden.

 

(4) Absolutismus und Unfehlbarkeit von Schrift und Tradition

Auch dieser Punkt wurde bereits angesprochen: Die jeweilige "heilige Schrift" ist göttlichen Ursprungs (Inspiration); sie ist wahr und in allen Einzelheiten genau zutreffend (Literalismus). Diese Grundeinstellung kann zwar unter Umständen weiter differenziert werden, wenn etwa ein bestimmter "sakraler Code" oder "Kanon im Kanon" (bzw. in der Tradition) als der eigentlich verbindliche Urgrund angesehen wird, aus dem die fundamentals gewonnen werden. Dennoch teilen alle fundamentalistischen Bewegungen einen gemeinsamen "approach to religious sources": sie stehen (a) in strikter Opposition gegen moderne, historisch-kritische "hermeneutische" Methoden und bedienen sich (b) einer traditionalistischen Auslegung (hardened, updated) , die den absolutistischen Charakter des Textes bzw. der Tradition erhalten und verfestigen soll.

 

(5) Millenarismus und Messianismus

Ein weiteres bereits erwähntes Kennzeichen ist die häufig (wenn auch nicht immer) anzutreffende Vorstellung von einem wunderhaften Kulminationspunkt der Geschichte : Gott wird endgültig über das Böse siegen. Typisch sind hierbei die Versprechen einer baldigen Erlösung oder Entrückung durch Modelle des Millenarismus (Kompensation für erlittenes Unrecht und Leiden) oder durch Modelle des Messianismus (allmächtiger Heilsbringer).

 

-- Organisatorische Charakteristika --


(6) Gemeinschaft der Erwählten

Die fundamentalistische Gruppe versteht sich als Gemeinschaft der "Erwählten", "Gerufenen", "wahrhaft Gläubigen", als "heiliger Rest", Gemeinschaft der "Zeugen" (etc.), womit sie sich in schroffen Gegensatz zur Außenwelt setzt. Unter Umständen kann innerhalb der Gemeinschaft wieder zwischen einem innersten und einem äußeren Kreis differenziert werden. -- Dieses starke Erwählungs- und Sendungsbewußtsein korrespondiert unmittelbar mit dem folgenden Charakteristikum.

 

(7) Scharfe Grenzziehung

Starke räumliche Metaphern zur Grenzziehung zwischen Geretteten und Sündern führen zur scharf betonten Abgrenzung gegenüber der stigmatisierten Außenwelt. Gegebenenfalls kann eine zusätzliche raumzeitliche Zentrierung um ein bestimmtes (mythologisch aufgeladenes) Zentrum stattfinden.

 

(8) Autoritäre Organisationsstruktur

Da die Mitgliedschaft in einer fundamentalistischen Gruppe in der Regel unbürokratisch geregelt ist und auf Freiwilligkeit basiert, folgt daraus meist ein egalitärer Status der einzelnen Mitglieder. Aber die typische Organisationsform ist das charismatische Führerprinzip . Der Führerpersönlichkeit werden außergewöhnliche Fähigkeiten und ein besonderes Schrift- und Traditionsverständnis zugeschrieben, zwischen Führer(in) und Anhängern wird eine Distanz hergestellt und durch Körpersprache und -rituale dramatisiert. Da es im Kontext derartiger charismatischer Autoritäten keinen richtigen Raum für eine "loyale Opposition" gibt, sind die Gruppen letztlich sehr zerbrechlich und neigen zur Zersplitterung.

 

(9) Strikte Verhaltensvorschriften

Das Individuum tritt in seiner Bedeutung zurück: Zeit, Raum und Aktivität sind vorrangig Ressourcen der Gruppe, keine individuellen. Ein Kodex elaborierter Verhaltensvorschriften sorgt für starke affektive Bindungen, regelt Kleidung, Konsum, zwischengeschlechtliche Beziehungen, mögliche Zensur, etc.

 

4.2. Wechselbeziehungen zwischen diesen neun Eigenschaften

Zentral und grundlegend für jeden Fundamentalismus ist das Merkmal "Reaktivität" (reactivity): Fundamentalistische Bewegungen sind im wesentlichen religiöse Reaktionen -- genauer: es handelt sich um "militante, mobilisierte und defensive Reaktionen auf die Moderne" bzw. auf bestimmte modernistische Auswirkungen (409). Die selektive Reduktion des komplexen Problemgemenges auf wenige "grundlegende" Variablen soll einen einfachen, klaren und verbindlichen Weg aus der Unübersichtlichkeit einer beängstigenden Krise weisen . Durch die Restitution des (vermeintlich) "Ursprünglichen" wird die unerträgliche Verunsicherung nicht nur in "tragbare" Unsicherheit, sondern v.a. in die Absolutheit eines allein rettenden, sicheren Wissens überführt.

Der Faktor Millenarismus/Messianismus ist, wie die empirische Analyse ergeben hat, für Fundamentalismen nicht notwendig konstitutiv, aber er dient unter Umständen als ein "starker Katalysator" für die Mobilisierung. -- Die restlichen Charakteristika lassen sich unter die drei Gesichtspunkte Selektivität, Grenzen und Erwählung gruppieren. -- Die aus der Krisensituation resultierende Selektivität ermöglicht eine Komplexitätsreduktion mit klaren Fronten (Grenzziehung, sichtbar auch im Blick auf die Verhaltensvorschriften), die mit nunmehr unbezweifelbaren fundamentals (Unfehlbarkeit) begründet werden. -- Die klaren Grenzen schaffen eine Gruppenkohäsion, die den Status der Mitglieder durch Erwählungsbewußtsein und manichäischen Dualismus erhöht. -- Das Bewußtsein der eigenen Erwählung wird durch möglichst egalitäre Mitgliedschaft und eine entsprechend "kleine Hierarchie" befestigt -- idealerweise eine charismatische Führungspersönlichkeit, die als Autorität für die Selektionsprozesse fungiert. Die allmähliche Etablierung und Bürokratisierung einer Bewegung kann hier (neben dem Wegfall mancher Mobilisierungsursachen) aufweichende Tendenzen bewirken, auch wenn die fundamentalistische Rhetorik noch weiter beibehalten wird.

 

5. Zusammenfassung des Ertrags und abschließende Folgerung aus dem FP: Was ist Fundamentalismus?

Ich will nun versuchen, den Ertrag des umfangreichen Fundamentalism Project in begrifflicher Hinsicht noch einmal abschließend zu rekapitulieren. Zu diesem Zweck folgen nachstehend zwei Übersichten:

(1) Die erste Übersicht ("Was ist Fundamentalismus?") formuliert eine zusammenfassende Definition, die sich ausdrücklich auf die im vorhergehenden Abschnitt aufgeführten charakteristischen (ideologischen und organisatorischen) Eigenschaften bezieht.

(2) Die zweite Übersicht enthält jene grundlegenden "vier patterns des fundamentalistischen Weltbezugs", die im 17. Kapitel von Fundamentalisms Comprehended aus den empirischen Untersuchungen herausdestilliert wurden. Alle vier Formen der Bezugnahme auf die Umwelt können von unterschiedlichen Bewegungen (je nach endo- und exogenen Kontexten), aber auch von derselben Bewegung zu verschiedenen Phasen ihrer Geschichte (Entwicklungsaspekt) aufgewiesen werden. Der Horizont Außenwelt kann dabei global, regional oder lokal definiert sein und mit Konzeptionen einer "bösen" Gegen-Welt korrespondieren (z.B. der "Satan USA"). -- Der Vorrang bzw. die Plausibilität der einen oder anderen Form des Weltbezugs ist jeweils bedingt durch:

Fundamentalismus-Definition

Das konkrete Profil, die Form des Weltbezugs und die Plausibilität fundamentalistischer Reinterpretationen von Religion(en) verdanken sich der jeweiligen Kombination endogener und exogener Faktoren.

(z.B. depositäres Wahrheitsverständnis für-alle-Zeit / Mobilisierungsmilieu)

 

Vier typische "patterns" im fundamentalistischen Weltbezug
weltzugewandt

  • WELTEROBERUNG drängt auf die Eliminierung des Feindes: "Die primäre Strategie des Welteroberers ist es, Kontrolle über diejenigen Strukturen der Gesellschaft zu erringen, die dem Feind das Leben ermöglicht haben". Rhetorisch tendieren zwar viele fundamentalistische Bewegungen zur Welteroberung, sie machen in der Realität aber durchaus viele (pragmatische) Kompromisse.

  • WELTVERÄNDERUNG bekämpft den "Feind", "indem die Strukturen, Institutionen, Gesetze und Praktiken einer Gesellschaft reinterpretiert und beeinflußt" werden, um die fundamentalistische Option in einem missionarischen Kulturkampf allmählich durchzusetzen und die Opposition mehr und mehr zu marginalisieren.
  • WELTSCHAFFUNG beruht auf Rückzug von der Außenwelt und konzentriert sich auf die Bildung einer alternativen ("neu-geborenen", "reinen") Enklave, die sich intentional zwar im Wettstreit mit der äußeren "gefallenen" Welt befindet. Die Strategie beruht jedoch auf der "Schaffung alternativer und umfassender sozialer Strukturen und Institutionen". Mission dient hierbei der Rekrutierung neuer Mitglieder für die Enklave, aber nicht der Veränderung der Außenwelt. Jedem Fundamentalismus liegt diese Haltung des 'Weltschaffens' primär zugrunde.

  • WELTVERZICHT stellt eine eher seltene fundamentalistische Option dar, die ihre Energie auf Reinheit und Selbsterhaltung abstellt, statt auf Herrschaft über 'gefallene' Außenseiter. Die Beziehung zur Außenwelt gestaltet sich hierbei "in einer komplexen Struktur von Abhängigkeit und Ablehnung". Trotz rigider fundamentalistischer Doktrin wird keine soziale Gegenwelt geschaffen, sondern (zunächst) ein stiller Rückzug in häusliches Leben, Erziehung und religiöses Ritual vorgezogen.

  • weltabgewandt

     

    Ich hoffe, daß mein Referat der Problemanzeigen und konzeptionellen Präzisierungsversuche im Blick auf den unserer Tagung zugrundeliegenden Begriff etwas zur Vorstrukturierung unseres Themas beitragen konnte. Am auffälligsten erscheint mir gegenüber dem alltagssprachlichen Gebrauch des Fundamentalismus-Begriffs, daß die empirisch breit abgestütze Untersuchung des FP die Gewaltbereitschaft nicht als konstitutives Kriterium verifizieren konnte. Manifeste Gewaltbereitschaft eignet vielmehr nur einer bestimmten Form des "welterobernden" Fundamentalismus, der für die Durchsetzung und Vollstreckung seines absoluten Wissens auf entsprechend militant mobilisierbare sozialmoralische Milieus angewiesen ist. Diese Erkenntnis deckt sich bereits mit den Ergebnissen der RIESEBRODT-Studie, die sich auf diesen besonderen Typus konzentriert hatte.

    Im Anschluß an die Ergebnisse des FP plädiere ich daher für eine möglichst enge und differenzierte Verwendung des Fundamentalismus-Begriffs im akademischen Sprachgebrauch . Wie man aus der weiter oben angeführten Übersichtstafel über "Fundamentalistische Eigenschaften" in der rechten Spalte ersehen kann, sind die Autoren des FP zu dem nachvollziehbaren Ergebnis gelangt, zwischen fundamentalistischen Bewegungen im Vollsinn (Abrahamic Fundamentalism) und lediglich "fundamentalismusartigen" Gruppen (Fundamentalistlike Movements) zu unterscheiden (FP V, 416--423): Kriterium ist hierbei das größtmögliche Vorhandensein der bereits erwähnten ideologischen und organisatorischen Charakteristika (und ihre genauere Interpretation) . Anhand dieser Kriterien wird die spezifische Differenz des Fundamentalismus-Begriffs als religionswissenschaftlicher Gattungsbegriff wesentlich präzisiert. Außerdem wird dadurch sichergestellt, daß der Begriff nicht notwendig zu einer schlichten polemischen Vokabel verkommen muß, sondern tatsächlich als deskriptives Konzept eingesetzt und heuristisch plausibel begründet werden kann. Hinter diese empirisch verantworteten und analytisch ausgesprochen differenzierten Ergebnisse des FP sollte daher nicht mehr ohne Grund zurückgegangen werden.




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