Riga, Montag, 20. September
Viktorija zeigt uns die Moskauer Vorstadt
(protokolliert von David Sittler und Ronald Pokoyski)
Nach dem Seminar am Vormittag wurden wir von Viktorija durch die Moskauer Vorstadt geführt. Wir wollten diesen Stadtteil, in dem wir wohnten und in dem die Altgläubigen zum größten Teil lebten und leben, auch einmal gemeinsam zu Fuß erkunden. Bisher kannten wir die Moskauer Vorstadt vor allem von den täglichen Busfahrten in die Stadt. Bisher fiel uns neben den Kondukteuren aber vor allem der immer gleiche, fröhliche Klang der Ansage der Haltestellen auf („nakama pietura Maskavas iela“ – „nächste Haltestelle Moskauer Straße“). Ende des 19. Jahrhunderts hatte Julius Eckardt, ein deutscher Zeitgenosse und Sekretär des Gouvernement-Magistrats, über die Moskauer Vorstadt gesagt, hier böte sich „das Bild nationalrussischen Lebens“ dar.
Wir wollten sehen, ob man ähnliches heute auch feststellen kann. Der Spaziergang begann hinter dem Bahnhof, der deutlich spürbaren Grenze zur Moskauer Vorstadt. Wir liefen über den Markt an den Zeppelin-Hallen vorbei (links, 1). Es war ein Markt, auf dem man so gut wie alles für den täglichen Bedarf kaufen kann – und das zu äußerst günstigen Preisen, wie man als Westeuropäer meint. Überrascht war ich [Ronald] dann aber schon, als ich hörte, dass sich selbst diese Preise manche Rigenser nicht immer leisten können.
Auf diesem Markt kommen die verschiedensten Leute zusammen. Auch im 19. Jahrhundert kamen „die russischen Kleinbürger in Riga [...] mit den anderen Nationalitäten meist nur geschäftlich in Verbindung, dagegen waren manche der Großkaufleute und Industriellen, deren Firmen zum Teil schon mehrere Generationen bestanden, mit der deutschen Kultur in nähere Berührung gekommen.“ (Lenz: 1954, S.78)
Außerdem waren die Straßenschilder seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dreisprachig – deutsch, russisch, lettisch. Heute sind sie nur noch lettisch; 1913 war in der Moskauer Vorstadt allerdings auch nur jeder neunte Rigenser Lette. (Oberländer, Wohlfahrt: 2004) Ein Historiker aus Riga V. Volkovs spricht daher für die Zeit der „beschleunigten Modernisierung“ von einem „Mosaik aus lokalen und sprachlichen, religiösen, nationalen und sogar landschaftlichen Räumen. Der ’russische Raum’ fiel mit der Moskauer Vorstadt zusammen.“ (Volkovs in: Oberländer, Wohlfahrt: 2004, S.117) Und was für uns natürlich wichtig ist: Hier spielten wiederum trotz aller Repressalien die Altgläubigen „eine bedeutende Rolle.“ (Volkovs in: Oberländer, Wohlfahrt: 2004, S.124)
Die Akademie der Wissenschaften (rechts, 2), die mit ihrem stalinbarocken Hochhausturm – ähnlich wie in Warschau der Kulturpalast – den kulturellen Anspruch des Sowjetimperiums monumental bezeugt und hoch über die restliche Bebauung der Moskauer Vorstadt ragt, ließen wir hinter uns und liefen die Pragas-Elijas-iela hinunter in Richtung Jezus-Kirche, die komplett aus Holz gebaut ist (3). Selbst die Fassaden und die dicken Säulen bestehen aus hölzernen Teilen. An dieser Stelle stand bereits im 18. Jahrhundert eine Kirche, in der J. G. Herder seine Predigten hielt. Am beeindruckendsten an diesem klassizistischen Zentralbau war für uns der Halleffekt, den man auslöste, sobald man sich dem Zentrum des Raumes näherte.
In einer Seitenstraße ließen sich ehemalige Lagerhäuser erkennen, die an die Bedeutung des Rigaer Hafens auch für diesen Stadtteil erinnern. Wir kamen an einigen typischen, nur zweistöckigen 19.-Jahrhundert-Holzhäusern vorbei (5), die man hier häufiger findet als in der Innenstadt. Die oft anzutreffenden abgebrannten Häuser, die nicht wieder renoviert werden und als Ruinen stehen bleiben, verdeutlichen die eher von Armut geprägte Situation der Moskauer Vorstadt.
An einem sehr schönen Jugendstilhaus blieb ich (David) stehen, machte ein Foto und wurde von einem gut gekleideten Herrn auf Deutsch angesprochen, wieso ich dieses Motiv wählte (unten, 6). Es stellte sich heraus, dass er Architekt ist, für die nationale Baudenkmalpflege arbeitet, das Gebäude selbst bewohnt und gerade zu einem Treffen aufbrach, wo 14 Millionen Lati (etwa 20 Mio. €) für den Erhalt der Bausubstanz Rigas organisiert werden sollten. Die im Unterschied zu den anderen Stadtteilen chaotischere oder schlicht lockere Struktur der Häuser ist Überbleibsel des 19. Jahrhundert und war damals typisches Kennzeichen urbanen Wildwuchses an den Rändern der Metropolen.
An anderen Stellen der Moskauer Vorstadt wurden wir Zeugen der Bemühungen, die unternommen werden um die Gebäude zu renovieren.(4) In einer Seitenstraße ließen sich ehemalige Lagerhäuser er-kennen, die an die Bedeutung des Rigaer Hafens auch für diesen Stadtteil erinnern.
Wir kamen an einigen typischen, nur zweistöckigen 19.-Jahrhundert-Holzhäusern vorbei (5), die man hier häufiger findet als in der Innenstadt. Die oft anzutreffenden abgebrannten Häuser, die nicht wieder renoviert werden und als Ruinen stehen bleiben, verdeutlichen die eher von Armut geprägte Situation der Moskauer Vorstadt.
An einem sehr schönen Jugendstilhaus blieb ich (David) stehen, machte ein Foto und wurde von einem gut gekleideten Herrn auf Deutsch angesprochen, wieso ich dieses Motiv wählte (6). Es stellte sich heraus, dass er Architekt ist, für die nationale Baudenkmalpflege arbeitet, das Gebäude selbst bewohnt und gerade zu einem Treffen aufbrach, wo 14 Millionen Lati (etwa 20 Mio. €) für den Erhalt der Bausubstanz Rigas organisiert werden sollten. Die im Unterschied zu den anderen Stadtteilen chaotischere oder schlicht lockere Struktur der Häuser ist Überbleibsel des 19. Jahrhundert und war damals typisches Kennzeichen urbanen Wildwuchses an den Rändern der Metropolen.
Ähnliche Überreste dieser dörflich-städtischen Mischform waren an den Holzzäunen und den vielen unregelmäßigen Grünflächen zu erkennen(7).
Der hier anzutreffende Vorstadtjugendstil fällt schlichter aus. Natürlich müsste man dies auch auf die Wohnverhältnisse übertragen. „Trotz dieser intensiven Bautätigkeit (bis zu 100 vier- bis sechsgeschossige Gebäude im Jahr Mitte der 1890er Jahre und zwischen 1907-13) blieben die Wohn- und Lebensverhältnisse insbesondere in den Arbeitervierteln in den äußeren Quartieren der St. Petersburger Vorstadt, in der Moskauer Vorstadt sowie in der jenseits der Daugava gelegenen Mitauer Vorstadt prekär bis katastrophal. Oft hausten zehn bis zwölf Personen in einem Raum.“ (Oberländer in: Oberländer, Wohlfahrt: 2004, S. 22) Charakteristisch für die neu errichteten größeren Wohn- und Mietshäuser der Innen- wie auch der Vorstadt sind außerdem die Hinterhöfe, in denen sich ein Großteil des ärmlichen Alltagslebens abspielte.
Nun bogen wir in die Katolu (Katholiken) iela ein und besichtigten die orthodoxe Visu Sveto- (Aller Heiligen) Kirche (rechts oben, 8). Vor einem Eckhaus blieben wir stehen und Viktorija erzählte uns, dass, als sie hier gewohnt hat, die Hausbewohner sich immer gegenseitig über den Innenhof hinweg beim Essen zugesehen hätten. Diese zwangsläufig geringere „Privatheit“ des Häuserblocks entspricht nicht nur den beengten Verhältnissen und hebt sich daher vom Wohngefühl in „besseren Gegenden“ ab. Neben dem voyeuristischen Vergnügen an einer Ablenkung vom monotonen eigenen Alltag kann auch die soziale Kontrolle der Nachbarn untereinander eine Rolle gespielt haben, die so über das Geschehen in ihrem Block / Viertel auf dem Laufenden blieben.
Im Unterschied zu den bisherigen Straßen wirkte diese ein wenig lebendiger, weil zwei Jugendliche auf der Straße mit einem Fahrrad spielten, das sie sich teilten. Wie der Straßenname bereits angekündigt hatte (Katholiken-Straße), kamen wir jetzt zur katholischen Sv. Franciska-Kirche (des Heiligen Franziskus) (rechts, 9). Im Inneren entdeckten wir eine auffällige Marmorplakette, die an einen Besuch des Papstes erinnert. Überhaupt erlebten wir die Moskauer Vorstadt auch heute nicht nur als multikonfessionell, sondern es schien auch entsprechend aktive Gemeinden zu geben.
Viktorija versuchte uns auch dies zu veranschaulichen, indem sie uns in der nächsten Kirche, die wir besichtigten, auf die Feierlichkeiten zur Geburt Marias hinwies, die dort gerade im Gange waren, was ihr auch persönlich wichtig zu sein schien.

Doch zunächst gingen wir durch das Parkgelände hinter der katholischen Kirche und Viktorija erzählte uns, dass einige der Parks vor ein paar Jahren vor allem nachts oft ziemlich gefährlich sein konnten, da sie von Drogenabhängigen genutzt wurden, die Passanten mit ihren verunreinigten Spritzen und der Drohung sie mit Aids anzustecken, erschreckten .

Heute aber sind die Parks sicherer, was wohl auch an der mittlerweile installierten Beleuchtung entlang der Wege liegt. Auch Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine solche Erleuchtung im Zuge der ersten Elektrifizierung, wovon ein alter Strommast zeugt, an dem wir vorbeikamen, der auf Grund seiner Konstruktion (wie sonst Eisenbahn-Hochleitungsmasten) in diese Zeit gehört. Solche Masten sind in der Moskauer Vorstadt häufig anzutreffen und werden teilweise sogar nur noch funktionslos stehen gelassen.
Dann gingen wir zum großen Ivana-Friedhof (oben, 11). Auf ihm befinden sich die orthodoxe Ioana-Kirche (12) sowie direkt nebenan die katholische Sv. Antona- (St. Anton) Kirche (13).
Um einer weiteren ethnisch-religiösen Facette der Vorstadt gerecht zu werden liefen wir in Richtung des ehemaligen alten jüdischen Friedhofs (15).
Dabei kamen wir an weiteren Jugendstilhäusern vorbei, die zwischen den Holzhäusern und Chrušcevki immer wieder auftauchen. Auch unser Hotel gehört dazu. Bei den Chrušcevki handelt es sich um staatlichen Wohnungsbau der 1950er/60er Jahre. Es sind meistens aus Betonziegeln bestehende, mehrstöckige Wohnblocks, die während der Chrušcev-Ära errichtet wurden, als sich der Staat wieder mehr dem Konsum und der Hebung des Lebensstandards als der militärrelevanten Wirtschaft zuwandte. Bei einer Jugendstil-Fassade fiel mir [David] die Verwendung von Glasscherben als Dekorelement auf, die ich so noch nie gesehen hatte. An einer sehr lädierten Wand eines der niedrigen Holzhäuser kann man den einfachen Verputz aus einer Kombination von Lehm und Flechtwerk erkennen (14). Außerdem kamen wir an einer jüdischen Schule vorbei. Schließlich stießen wir wieder auf die Maskavas iela, die noch ihr altes Kopfsteinpflaster hat. Straßenbahnschienen verbinden Vorstadt und Zentrum (Altstadt).

Die Straße hat ihre Funktion als erschließende Lebensader nicht eingebüßt. Dann gelangten wir zum ehemaligen alten jüdischen Friedhof (15). Hier fanden im Zweiten Weltkrieg Erschießungen statt. Aus dem Boden ragen die zerschlagenen Grabsteine hervor. Bei unserem Gang über das Gelände sahen wir zwei junge Mädchen, die unbekümmert zwischen einigen halb versunkenen Grabsteinen mit einem Hündchen spielten. (Die Gräber wurden wahrscheinlich nicht umgebettet.) Der manchmal befremdlich abstrakte und selektive Charakter sowjetischen Erinnerns wurde uns an dieser Stelle dadurch deutlich, dass Viktorija erzählte, sie habe während ihrer Schulzeit hier noch Sportunterricht gehabt. Der Gedenkstein, der an diesem Ort zu sehen ist (15), ist hier auch erst nach der Wende aufgestellt worden. Er stand zunächst in der Gogol-Straße zur Erinnerung an die Hauptsynagoge von Riga, die im Sommer 1941 von den lettischen Faschisten in Brand gesetzt und zerstört wurde.

Kurz vor dem Ende unseres Spaziergangs kamen wir zur Sv. Mihaila- (St. Michaels) Kirche (oben rechts, 16). Sie gehört zur Gemeinschaft der Edinoverzen (Glaubensvereinten) und liegt direkt an der Maskavas iela. Für unser Thema ist sie insofern interessant, als es Mitte des 19. Jahrhunderts zeitweise nur eine einzige Schule gab, die auch von altgläubigen Kindern besucht wurde und zwar die St. Michaelsschule. „Da sie [die Mitglieder der St. Michaelsgemeinde] zum großen Teil Sectirer waren, welche zum Uebertritt gewaltsam gezwungen worden und innerlich ihren früheren Anschauungen treu geblieben waren, hielten die Rigaer Edinoverzen sich von der orthodoxen Kirche (zu welcher sie gezählt wurden) möglichst fern und sie besaßen eine eigene Schule, welche auch von Kindern der eigentlichen Sectirer ausnahmsweise besucht wurde. An der Spitze dieser Anstalt stand […] Gutkow, der früher Lektor der lettischen Sprache an dem Rigaer griechischen Seminar war, den die Sectirer und Edinowerzen aber zu ihren Leuten (svoi celovek) zählten und der in den Häusern der reichen als Privatlehrer sehr beliebt war.“ (Eckardt: 1870, S.247) Entscheidend bessern sollte sich die Situation für altgläubige Schüler aber erst nach 1905.

Bevor wir uns von Viktorija verabschiedeten, entdeckte ich [David] ein Graffito, zu dem sie sogar etwas erzählen konnte, da sie gegenüber wohnt. Es handelte sich um eine Liebeserklärung an ihre ehemalige Nachbarin, die mittlerweile in St. Petersburg Kunst studiert. Das Graffito ist auf Russisch, aber in lateinischen Buchstaben – eine interessante Vermischung der beiden Sprachen und ethnischen Herkünfte (links, 17). Mir [David] war sowieso schon aufgefallen, dass die Mauern in der Moskauer Vorstadt

mehr als im Zentrum der Stadt mit Graffiti verziert sind. Einerseits mag es das urbane Selbstver-ständnis der weniger wohlhabenden jüngeren Leute sein, die hier wohnen, andererseits deutet es auch auf die konfliktreiche Situation des Viertels hin (z.B. eine Hakenkreuz-Schmiererei), das uns mehrfach als (abends) gefährlich geschildert wurde. Nach unserem sehr abwechslungsreichen Spaziergang entdeckten wir in der Prušu (Pruzzen) iela, wo sich unser Hotel befindet, zwar auch ein solches „love-graffito“ (unten, 18). Hier war es allerdings kyrillisch geschrieben. Insofern ist zumindest an dieser Stelle der von Volkovs zitierte Eindruck eines Vorstädters von 1872 zu erahnen:„Da werden keine Geschäfte oder Zugeständnisse auf Kosten der russischen Sprache geduldet […]

Und wenn irgendein Karlis Karlowitsch erst einmal zehn Jahre in der Moskauer Vorstadt verbracht hat, ist er so tief von den Sitten und Gebräuchen der ’Moskauer’ durchdrungen, dass er die dort geltenden Feste und Namenstage feiert, und selbst wenn er die Fasten nicht einhält, weiß er doch sehr genau, was Begriffe wie molennaja (geweihte Speise), blagoslovenka (gesegneter Kelch) und cerkovnie (Kirchenfeste) bedeuten.“ (Volkovs in: Oberländer, Wohlfahrt: 2004, S.117)
Insofern scheint der Kontakt, die Vermischung oder zumindest die gegenseitige Registrierung des gewissen religiösen Eifers der Mitbürger eine längere Tradition zu haben als man vielleicht geglaubt haben mag.
Was mir [Ronald] in der Moskauer Vorstadt besonders auffiel, waren die vielen westlichen Wagen der Luxusklasse, die des Nachts ihren Platz auf gesicherten Parkplätzen fanden. Hinter vorgehaltener Hand wird viel von Mafiabeziehungen gesprochen. Inwieweit die Vorurteile der Letten gegenüber den Russen dabei eine Rolle spielen, blieb uns verschlossen. Ob man wirklich von einem von Russen oder dem Russischen dominierten Viertel sprechen kann, ist nicht genau zu sagen. Zumindest hört man in der Kneipe in der Nähe des Hotels und im Bus vor allem Russisch und fühlt sich vom optischen Eindruck her von vielen Russen umgeben, zumal z. B. Kleidervorlieben wie bestimmte Lederjacken etc. an Russen in Deutschland erinnern.