Riga, Sonntag, 19. September
Lebendiges Kerzenlicht und prachtvolle Ikonen
Der Besuch der Grebenšcikov-Gemeinde

(protokolliert von Diana Krastina)
Der Tag fing für uns alle sehr früh an, vor allem nach dem Reisetag, der mit zwei Referaten und langen Debatten bis in die späten Abendstunden angedauert hatte. Der Gottesdienst in der Grebenšcikov-Gemeinde beginnt sonntags um acht Uhr. Da unser kleines Hotel in der Moskauer Vorstadt liegt, befanden wir uns nicht weit von dem Bethaus entfernt. Wir hatten jedoch eine halbe Stunde zur Straßenbahn zu laufen und dann noch etwa zwanzig Minuten zu fahren. Wir waren alle sehr aufgeregt und deshalb schon früh aufgestanden. Es war uns seit längerem bekannt, dass Frauen ohne Kopfbedeckung und langen Rock nicht in das Bethaus hereingelassen werden. Der Sonntagmorgen war ein wunderschöner, kühler Herbstmorgen
mit einem herrlichen wolken-losen Himmel. Die kühle Luft stieß uns ins Gesicht, und wir, ungewöhnlich angezogen, liefen über die noch nicht erwachten Straßen der Moskauer Vorstadt, durch Höfe der fünfstöckigen Plattenbauten und wären bestimmt dem „normalen“ Auge eines Moskauer Vorstädters unseren Aussehens und Verhaltens wegen sofort aufgefallen, wobei noch zusätzlich eine Fremdsprache gesprochen wurde, die man gewöhnlich im Zentrum, in der Altstadt hören könnte, nicht hier…

Unterwegs stellte sich unsere Gruppe auf den Gottesdienst ein: Es wurde noch mal erwähnt, dass wir auf keinen Fall das Kreuzschlagen oder das Beugen nachahmen sollten, auch wenn sich der eine oder der andere von uns aufgrund christlicher Überzeugung vor Gott vorbeugen würde…
In Opposition zur orthodoxen Kirche nannten die Altgläubigen ihre Sakralbauten chram (Tempel) und nicht cerkov’ (Kirche). Während sie nach dem Toleranzedikt von 1905 in den Städten steinerne Sakralbauten hatten, überwog auf dem Lande der Bau hölzerner Kapellen oder Bethäuser (molennye), häufig im Stil der izba (Bauernhütte).

Das physische Gebäude ist Symbol und Brennpunkt des rituellen – sozialen wie religiösen – Lebens. Es gibt dem Erleben der Gemeinschaftlichkeit, ihren Idealen und Bestrebungen Raum. (Robson: 1995) Um halb acht wurden wir vor dem Bethaus der Grebenšcikov-Gemeinde von Illarions Ivanovs, dem Vorsitzenden der Gesellschaft der Altgläubigen Lettlands, erwartet. Er hat uns herzlich begrüßt und dann noch einmal angedeutet, dass wir auch aus Respekt keine Bewegungen nachahmen sollten. Manchmal sei es so, dass man sich beim Anschauen der Ikonen beugen möchte, aber das sollten wir nicht. Nun durften wir den Hof des Bethauses betreten, wo wir von Trifons Kustikovs, dem nastavnik der Gemeinde, empfangen wurden. Der nastavnik ist der Leiter der Gemeinde und des kliros. Die Altgläubigen in Riga gehören zu der Richtung bezpopovcy. Sie erkennen keine Hierarchie in ihrer Gemeinde an, es gibt keine ordinierten Priester.
Der nastavnik jedoch, der nun schwarz gekleidet, mit mittellangem Bart und sehr starkem, misstrauisch wirkendem Blick vor uns stand, stieß nach der kurzen Begrüßung die Worte aus dem Mund: „So, haben nun alle Weiber einen Rock an?“ Ja, also durften wir das Bethaus betreten. Er musste zum Gottesdienst eilen, wir wurden von I. Ivanovs hoch zur Empore geleitet, und von da aus durften wir den Gottesdienst beobachten. Oben zeigte uns I. Ivanovs noch kurz die podrušcniki und erläuterte deren Bedeutung. Podrušcniki sind kleine eckige, kissenartige Stoffdeckchen, die man beim Beten immer vor sich hat. Nach dem Bekreuzigen macht man Beugungen bis zum Boden, also braucht man etwas unter den Händen, damit sie nicht schmutzig werden.
Daher auch die Bezeichnung: pod – unter, ruki – die Hände = podrušcnik. (Wobei I. Ivanovs noch die Besonderheiten der Sprache, die Altgläubige nutzen, betonte: nicht podrucnik, wie das in der modernen russischen Sprache wäre, sondern pod-rušcnik und nicht sveci [Kerzen], sondern svešca.) Zunächst ließen wir uns von der Stimmung beeinflussen, die in dem Bethaus herrschte. Im Lichte der Morgendämmerung glänzten die Ikonen und erweckten, verstärkt durch die brennenden Kerzen, in uns eine mystische Stimmung.
Der Gottesdienst fing bald an, obwohl wir feststellen mussten, dass gar nicht so viele gekommen waren. Dann fiel uns auf: Die Frauen standen alle links, die Männer auf der rechten Seite des Bethauses. Jedoch waren viel mehr Frauen vertreten als Männer. Männer stehen also im Süden, Frauen im Norden und das Bethaus ist daher von West nach Ost ausgerichtet. Wir beobachteten, dass einige während des Gottesdienstes gingen, andere dazukamen. Später erfuhren wir, dass, wenn man erst während des laufenden Gottesdienstes eintrifft, man vorher den Segen eines Vertreters des kliros bekommen muss. Jeder Gottesdienstbesucher hatte einen podrušcnik vor sich, die meisten auf dem Boden, die älteren hatten ihre podrušcniki auf die Bank vor sich gelegt. Alle Frauen hatten riesige Kopftücher,
die unter dem Kinn festgemacht waren und von der Länge her fast bis zu den Ellbogen reichten. Viele Kopftücher waren schwarz, einige hatten aber auch hellere Muster, woran besonders die jüngeren Frauen zu erkennen waren. Deren Kopftücher waren kleiner, bunter und modern um den Hals gewickelt. Wir konnten zwar die Gesichter der Betenden nicht sehen, aber wir sahen die langen Röcke und auch die kürzeren der jüngeren Frauen. Einige Frauen waren ganz in Schwarz gekleidet und haben während des ganzen Gottesdienstes an den Ikonen Kerzen angezündet. Auf der Männerseite hatten die Kerzenanzünder ein typisch russisches Hemd an – ein nach oben stehender Kragen geht rund um den Hals. Die Knopfreihe befindet sich auf der linken Seite der Brust und endet in der Mitte des Bauches. Das Hemd ist etwas länger und wird mit einer Kordel um den unteren Teil des Bauches gebunden. Der Kragen, die Knopfreihe, die Ärmel und der unterste Rand des Hemdes sind mit verschiedenen Ornamenten geschmückt.
Die Frauenseite ist von der Männerseite durch eine Wand abgetrennt, an allen Wänden – auch an dieser Trennwand – hängen Ikonen, die Heiligtümer der Altgläubigen (siehe nächste Seite). Vor jeder Ikone gibt es kleine Kerzenhalter, in die immer neue lange, dünne Kerzen hin-eingesteckt werden. Die Ikonen an den Seitenwänden des Bethauses bilden mehrere Reihen. Um die höchste zu erreichen, bedient man sich der Leitern, die an allen Wänden stehen. Von der Empore blickten wir direkt auf die prächtigsten Ikonen. Dort, wo der kliros den Gottes-dienst leitete, befindet sich eine Art Bühne, die etwas erhöht ist und soleja genannt wird.

Die hintere Wand schmückt ein einzigartiger ikonostas in sieben Reihen (siehe unten). Die Ikonen sind alle mit einem prachtvollen Beschlag (cekanka) versehen.
Der Ablauf des Gottesdienstes ist für unsere Augen sehr interessant gewesen, denn vorne steht kein Priester, der die Menschen anspricht. Stattdessen wird der Gottesdienst von etwa dreizehn Menschen geleitet, die alle in dem so genannte kliros sind, davon sahen wir zwei Frauen. Er ist in den linken und in den rechten kliros eingeteilt.
Die Mitglieder des kliros stehen an ihren Seiten hinter einer kleinen Wand, die sie von Blicken der Betenden trennt und an der ebenso viele Ikonen hängen. Zunächst betete ein Mann, schwarz gekleidet, auf der linken Seite laut und las und sang wahrscheinlich aus der Heiligen Schrift Gebete vor. Er stand mit dem Rücken zur Gemeinde. Die Arme der Betenden sind ständig verschränkt bis auf die Zeitpunkte der Bekreuzigung, wie um unnötige Armbewegungen zu vermeiden. Dieselbe Haltung nehmen die nastavniki in schwarzen langen Liturgiemänteln (welche scheinbar so geschnitten und genäht sind, dass der Saum in zwei Falten fällt) auch auf den Fotos ein. An bestimmten Stellen bekreuzigten und beugten sich alle dreimal tief bis zum Boden. Vielmals bekreuzigten sie sich in Richtung der Ikonen.
Man kann hier eine „einzigartige“ Verbindung von religiöser und sozialer Erfahrung beobachten: Die religiöse Praxis der Altgläubigen schrieb ihnen Zeichen für das Verhalten als Gläubige vor. Diese Zeichen sind zum einen die gemein-samen, einheitlichen und gleichzeitigen Verbeugungen und Gebete: Die Verbeugungen des nastavnik als Zeichen der Bitte um Vergebung der Sünden als Signal der Bereitschaft zur Umkehr werden von der Gemeinde wiederholt und so beantwortet. Zum Zweiten segnet der nastavnik die Ikonen genauso wie die Gemeinde. Die Wechselbeziehungen zwischen dem nastavnik und der Gemeinde ist der Ausdruck der Gemeinschaftlichkeit des rituellen Prozesses. (Robson: 1995) Später sang eine schwarz gekleidete Frau auf der linken Seite der soleja. Zwischendurch fing ein älterer Mann an, alle Gemeindemitglieder und alle Ikonen mit Weihrauch zu segnen. Alle stellen sich vor ihm auf und öffnen ihre Hände um den Segen zu bekommen.
Dann sahen wir sämtliche Vertreter des kliros aus ihren Seiten hervortreten. Sie stellten sich in die Mitte der soleja und sangen gemeinsam aus einer alten Heiligen Schrift. Es war ungewöhnlich, dass zwischen der Gemeinde und dem kliros während des Gottesdienstes kein direkter Kontakt besteht. Im Bethaus, im Raum für die Gottesdienstbesucher, ganz vorne, direkt vor der soleja: Die erste Bank ist durchgehend besetzt von älteren Frauen mit schwarzen Kopftüchern, ein Privileg für die Dienerinnen Gottes, für die über sechzigjährigen Frauen, welche unter den Laien durch ein beständig reines Leben mehr vor den unreinen und ablenkenden Mächten gefeit sind als die anderen Laien.

Sie werden von den nastavniki mit als Erste mit Weihrauch gesegnet. Der kliros, stehend in der soleja, singt monodisch den Zeichengesang (znamennyj raspev) als symbolischen Aus-druck für Einstimmigkeit und Einheitlichkeit der Gemeinde bzw. für Einklang des Gemein-wohls. Die Polyphonie des orthodoxen Kirchenchors wird als deren Verlust angesehen. Die Chorabteilung ist physisch nah zur soleja – nach der alten russischen Kirchenbauarchitek-tur und anders als in den modernen russisch-orthodoxen Kirchen.

Die molennaja gilt als das Zentrum der Gemeinde. Darin sind alle Gläubigen gleich, ungeachtet ihrer sozialen Stellung außerhalb der Betgemeinschaft. (Robson: 1995)

In der molennaja der bezpopovcy gibt es kein Sanktuarium. Der ikonostas an der Ostwand stellt zugleich die Außenwand dar. Häufig stehen die Ikonen in den Bethäusern der bezpopovcy auf Regalen und hängen nicht direkt an der Wand. Dafür gibt es verschiedene Erklärungen: Einmal könnte es die Blasphemie sein die Ikonen an der Wand zu befestigen. Aber auch aus pragmatischen Gründen hängen die Ikonen nicht fest an der Wand, weil sie dadurch leichter zu transportieren und auf der Flucht vor Verfolgungen eher zu retten sind. Außerdem steht anstelle des Altars vor der Ostwand ein Tisch, vor dem nastavnik und kliros die Liturgie zelebrieren, die Gebete singen, das Evangelium verkünden. (Robson: 1995) Nach dem Gottesdienst setzten sich alle (nachdem sie zwei Stunden vor Gott gestanden haben!) und bekamen von einem Vertreter des kliros eine Predigt vorgelesen, die mit wichtigen Hinweisen und Ratschlägen endete.
Das Bethaus ist viel mehr als nur ein großer Raum, wo der Gottesdienst stattfindet. Es gibt mehrere Räume – eine Bibliothek, eine Kanzlei, ein Raum, wo getauft wird, und weitere. In einem Raum führten wir ein Gespräch mit dem nastavnik Trifons Kustikovs, Illarions Ivanovs und dem Geschäftsführer der Grebenšcikov-Gemeinde N. E. Antonovs. Da durften wir Fragen stellen, außerdem bekamen wir kleine Aufmerksamkeiten – einmal die Zeitschrift der Altgläubigen „Pomorskij Vestnik“ und einen kleinen Festtagskalender.

Nachdem Charlotte gesagt hatte, es sei für sie ungewöhnlich, dass man während des ganzen Gottesdienstes zu stehen und damit den altgläubigen Gottesdienst mit dem protestantischen verglichen hatte, bekamen wir die strenge Antwort des nastavnik, wir seien nicht würdig, vor Gott zu sitzen, und ob wir überhaupt würdig seien… Dann erzählte der nastavnik etwas über die Gemeinde und den Gottesdienst. Den kliros bilden dreißig Personen,

unter denen inzwischen zwei Frauen sind. Dazu war sein Kommentar: Er wisse nicht, wer den Fehler gemacht und das zum ersten Mal zugelassen habe, aber jetzt sei es nun mal so. Zum kliros gehören nur unverheiratete Männer. Damit gehört die Gemeinde der Altgläubigen in Riga zu den fedosejevcy. Die Vertreter des kliros bekommen eine besondere Ausbildung und müssen dabei Kirchenslawisch lesen und den Zeichengesang (znamennyj raspev) beherrschen lernen. Der Zeichengesang (znamennyj raspev) ist eine alte Tradition der Altgläubigen. Das Besondere daran ist, dass er sich nicht in Form von Noten ausdrücken lässt, sondern mündlich beigebracht und weitergegeben wird. Unter den Mitgliedern des kliros werden bestimmte Aufgaben aufgeteilt: Der golovšcik ist der Hauptsänger, der ustavšcik ist für die Ordnung verantwortlich und der kanonarch liest die Choräle und Psalmen.

Die Gemeinde hat 250 Mitglieder, die einen geringen „symbolischen“ Mitgliederbeitrag bezahlen. Ansonsten gibt es in Riga etwa 20 000 Altgläubige. Was die Finanzen der Gemeinde betrifft, erfuhren wir, dass die Gemeinde Immobilien besitzt und sie vermietet, daneben machen die Spenden einen bedeutenden Anteil der Einnahmen aus. Auf die Frage nach der Unterstützung seitens der Stadt oder des Staates wurde erst mal mit einem Nein geantwortet, dann aber noch hinzugefügt, dass die Gemeinde schon kleine Steuervergünstigungen genießt und vor kurzem nach längerem „Kampf“ die Grundsteuer um 25 % heruntergesetzt bekam. Die Gemeinde hat zwei Sonntagsschulen: eine für junge Leute, die andere für Erwachsene.
Auf ein paar Fragen bekamen wir vom nastavnik aber keine Antwort. Zum Beispiel, warum sein Vorgänger so plötzlich verschwunden sei. Illarions Ivanovs erklärte uns später den Weg-gang von Ioanns Miroljubovs mit den Schwierigkeiten der Umbruchsituation. Nach dem Gespräch machten wir einen kleinen Rundgang. Zunächst gingen wir wieder in das Bethaus.
Wir bewunderten die Ikonen, von denen einige sogar noch aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammen. Die Bibliothek der Gemeinde haben wir auch kurz besucht, wo ich von einer älteren Dame angesprochen wurde, die mir ganz viele Sachen auf einmal erzählte. Zum Beispiel: Lettland und Russland sollten wie Schwestern nebeneinander bestehen und Russland sei ein gutes Land, das teuer mit eigenem Blut für sein Entstehen gezahlt habe.

Sie hat uns allen ein rührendes geistliches Gedicht aufgesagt und ein Infoblatt mitgegeben. In dem Gedicht ging es um das russische Volk und in der „kleinen Zeitung“ konnte man kurze Artikel über aktuelle Debatten der Gemeinde lesen. In der Kanzlei kann man Kerzen, Bücher und viele andere Devotionalien kaufen.
Interessant fanden wir auch den Raum, wo getauft wird. Auch da sahen wir eine mit Ikonen geschmückte Wand. Uns wurden einige Taufbecken in verschiedenen Größen gezeigt. Um getauft zu werden, muss man sich ganz ausziehen und so „wie die Mutter einen geboren hat“ in das Taufbecken hineinsteigen. Bei der Taufe wird man dreimal untergetaucht. Der nastavnik versicherte uns, dass er, während erwachsene Frauen sich vor der Taufe ausziehen, hinter die Wand gehe und abwarte, bis die Frau das Taufbecken bestiegen habe. Dafür gibt es eine Trittleiter. Außerdem erwähnte er, dass sich in der letzten Zeit viele Erwachsene taufen lassen. Das Kind wird gewöhnlich vierzig Tage nach der Geburt getauft. Wenn das Kind aber zu sterben droht, wird es ausnahmsweise auch vorher getauft.Nach den eindrucksvollen Stunden in der Grebenšcikov-Gemeinde gingen wir auf den Hof, wo uns warme und angenehme Luft erwartete. Aus dem kühlen Herbstmorgen war ein sonniger Septembertag geworden. Bei dem wunderschönen Wetter machten wir ein großes Gruppenfoto für die Zeitschrift „Pomorskij Vestnik“. Die Redaktion der Zeitschrift befindet sich ein paar Schritte von dem Gemeindehaus entfernt in dem Gebäude, wo sich im 19. Jahrhundert das Grebenšcikov-Institut befand. Da haben wir dann auf dem Weg zum Mittagessen auch noch kurz vorbeigeschaut.