Riga, Sonntag, 26. September
Ein Blick auf Rigas Fassaden: eine Stadtführung mit Nadežda Pazuchina
(protokolliert von David Sittler)

Wir fuhren zum Bahnhof, dessen Bau in den 1960er Jahren errichtet und in den 1990er Jahren grundsaniert wurde. Über den Umbau des Bahnhofs gab es heftige Diskussionen. Unter Anderem sprechen die Kritiker von einer „chinesischen Mauer“ die das innenstädtische Riga von der Moskauer Vorstadt trenne – ein nachvollziehbarer Eindruck, wie ihn Abbildung (unten, 1) verdeutlicht.

Es wird auch von einer sozialen Grenze gesprochen. Trotzdem ist das Innere des Bahnhofs bequem und beliebt. An den Gebäudekomplex grenzt auf der anderen Seite das riesige Kino-Center mit fünfzehn Vorführsälen, das zu den neuesten Bauten Rigas gehört. Da ich versuchte, möglichst viel Information mitzuschreiben, betraute ich Juliane mit der wichtigen Aufgabe, während der Führung die Gebäude und Straßen zu fotografieren, damit ich parallel dazu Nadežda viele Fragen stellen konnte. Beim Anblick dieses Teils von Riga, in dem wir
bisher nicht gewesen waren, kam mir sofort die Ringstraße in Wien in den Sinn. Wie man hier auch sehen kann, strahlte das Wiener Stadtumbaukonzept nach ganz Europa aus.

Da ich am Tag zuvor noch mal in der Altstadt gewesen war, hatte ich den völlig falschen Eindruck eines müden Touristen bekommen, ich würde die Innenstadt Rigas jetzt doch schon gut kennen und würde keine großen Überraschungen mehr erleben.
Die Führung und die Geballtheit des Ensembles von Jahrhundertwendebauten faszinierte mich daher umso mehr und weckte Erinnerungen an Exkursionen bzw. Reisen nach Wien, Budapest, Paris und St. Petersburg. Hinzu kam mein urbanistisches Interesse gerade für den hier behandelten Zeitraum. Riga wurde nämlich in den 1860er bis 90er Jahren nach dem Vorbild Wiens modernisiert. Hierbei dominiert der weit verbreitete historistische Ekklektizismus, (vor allem Barock und Renaissance werden zitiert), den wir hier in der Marijas iela vor Augen hatten (rechts, 2). Wir liefen die Straße entlang, die in die Aleksandra Caka iela übergeht. Ansonsten spielen an den Gebäuden Riga-typische Merkmale eine große Rolle

z. B. Ecktürmchen an Kreuzungen (rechts). Sie spielen auf die mittelalterlichen Türme (vor allem Kirchtürme) an bzw. korrelieren mit diesen. Die Fassaden des „neuen Riga“ zeigen ganz zeittypisch außen eine andere Struktur als innen. Diese Häuser aus der Zeit um 1900 waren vor allem „Mietskasernen“, die von russischen und lettischen Arbeitern und Angestellten bewohnt wurden. Nadežda zeigte uns eine Rigaer Spielerei, auf die man erst hinge-wiesen werden muss: einen falschen Erker. Es handelt sich nur um ein Stück dickere Wand. Im Erdgeschoss der Häuser befinden sich Geschäfte, darüber Wohnungen und Büros. Das erst vor wenigen Jahren gebaute Moskauer Haus (zweites Abb. rechts, 4) versucht sich – im Unterschied zu den Bauten der Sowjetzeit – behutsam ins Ensemble zu fügen und zitiert gleichzeitig Moskauer Formen. (z. B. die edle Steinfassade und die pompös gerafften Tüll- und Spitzengardinen.)
Im Inneren befinden sich eine Konferenzhalle und ein Kino. Der Architekt stammt aus Moskau. An der Aufwendigkeit der Fassaden ist noch heute zu erahnen, dass Riga von der wirtschaftlichen Bedeutung her im Russischen Reich nach Odessa und Petersburg an dritter Stelle stand. Außerdem kann man an den Häusern das Selbstverständnis lettischer und nichtlettischer wohlhabender Bürger Rigas ablesen. „In diesem Stadtteil lebte die gutsituierte Bürgerschaft, die es sich leisten konnte, Geld für ästhetische und komfortable Häuser mit Prestige auszugeben. Ein beachtlicher Teil dieser Gebäude gehörte Letten. […] Die bestsituierten lettischen Bürger veranstalteten sogar besondere Wettbewerbe um die Entwürfe ihrer Häuser.“ (Wohlfahrt in: Oberländer-Wohlfahrt: 2004, S.63) In der A. Caka iela Nr. 16 befindet sich die Upiša pasaža – Passage des lettischen Unternehmers Upitis (dritte Abb. rechts, 5) – Innen befinden sich, laut Nadežda, Luxusgeschäfte.
Leider sehen wir die Passage nicht genauer an. Auch dieses Stadtelement ruft Erinnerungen – in dem Fall insbesondere an Paris – hervor. Das Gebäude zitiert nicht reine klassische Formen sondern hat auch Jugendstilelemente. Die roh behauenen Steine in der Fassade sind Zeichen der nationalen Romantik. In Verzierungen am oberen Ende kann man auch Zitate aus der deutschen Architektur erkennen. Im lettischen Jugendstil gab es drei Richtungen: den dekorativen, den Lotrecht- und den national-romantischen Stil. Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es nur Holzhäuser. Nach dem Stadtbrand 1812 während des Napoleonischen Krieges wurde auch in Stein gebaut. Mir gefiel an Riga der „Rigaer Rhythmus“ des abrupten Wechsels von kleinen Holz- zu großen Steingebäuden und umgekehrt, was zu interessanten, bewegten „skylines“ der Straßenzüge führt (unten, 6).
Wie wir erfuhren, kümmert sich die Organisation „Europa nostra“, Gott sei Dank, um den Erhalt der Holzhäuser, führt Sanierungen und Restaurierungen durch, so dass dieser Kontrast erhalten bleiben wird und die Zeitschichten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die geometrischen Formen an einigen der Häuser stammen aus dem nordischen Stil. Das liegt nahe, zumal es direkte Kontakte zu finnischen Architekten gab, die dort viele Gebäude errichteten.
Ein Architekt, Eižens Laube (1880-1967), hatte, wie Nadežda erwähnte, eine Frau aus Finnland und kam dadurch persönlich mit der finnischen Kultur und Architektur in Berührung. Er absolvierte das berühmte Rigaer Polytechnikum, war von 1909 bis 1914 offizieller Sachverständiger der Rigaer Stadtbauverwaltung für baukünstlerische Aspekte und engagierte sich 1919 als Mitbegründer der Universität Lettlands.

Laut J. Krastinš war er nicht nur ein Pionier des Jugendstils sondern auch ein „Propagandist der Nationalen Romantik“. Dass man sich aber auch an der westeuropäischen Moderne orientierte, wird an der Fassade des Hauses in der A. Caka iela 26 deutlich, das 1905 nach Plänen des Architekten K. Pekšens errichtet wurde und „eins der ersten Bauwerke der nationalen Romantik“ (Krastinš) ist. (links)

An ihr findet sich das englische Sprichwort „My home is my castle“ lettisch „Mans nams mana pils“. Ansonsten fallen die Asymmetrie und die nationalen Symbole Sonne und Junis [lettischer Gott] auf (siehe links oben, 6, 8).
Seit den 1930er Jahren (Ulmanis-Zeit) baute man funktionaler (links Bildmitte, 9), aber der Bauhaus-Stil ist dennoch selten zu finden. Die UNESCO hat daher das ganze Ensemble und nicht einzelne Häuser unter Schutz gestellt.
In der Lacpleša iela (Bärenreißer-Str.), in der wir uns mittlerweile befanden, sind eine originale Holztür (rechts, 10) und die Fliesen in den Hauseingängen zum Teil noch erhalten (Haus - Nr.18). Lettisch-national orientierte Bürger wollten ohne Backstein (nichtdeutsch) bauen. Nur Baltendeutsche verwendeten offen sichtbar Backstein (unten, 11). Wir kamen an Lettlands avantgardistischem Theater vorbei und mir fiel auf, wieviel es an aktueller Kunst und Kultur noch zu entdecken gäbe.
In Rigas Jaunais Teatris wird Experimentelles gezeigt. Die Truppe kommt häufiger nach Deutschland. Sie führt auch russische Stücke auf, u. a. Sorokin. Die Straßennamen haben sich im Zug der Nationalisierung in der Ersten Republik geändert, um das Lettische zu unterstreichen. Aus der Romanov-Straße wurde in den 1920ern die Lacpleša iela aus der Alexander-Str. die Brivibas iela. (Freiheits-Str.) Die Greifen und die Sonne, die sich hier immer wieder als Fassadenelemente finden, sind weitere nationale Elemente.

Dann kamen wir zur orthodoxen Aleksandr Nevskij Kirche (oben rechts). Sie wurde 1816 erbaut und hat – dem Empire-Stil in St. Petersburg entsprechend – die einzige klassizistische Rotunde in Riga. Der Glockenturm steht getrennt. Die Freiheits-Straße (Brivibas iela) ging es nun hinunter. Das Haus Nr. 58 weist verschiedene Materialien auf und ist farblich zurückhaltend.

Nadežda erwähnte daher Michael Eisensteins Kritik an einer zu grellen Farbigkeit. Zunächst wurde es vom Architekten A. Schmaeling 1903 im Auftrag der damaligen Besitzerin des Grundstücks G. Jakovleva im sog. neurussischen Stil entworfen, der in der Moskauer und St. Petersburger Architektur zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit verbreitet war, in Riga aber nicht vorhanden gewesen sei. 1906 ging das Grundstück in den Besitz von J. Brigaders über. In seinem Auftrag wurde das Gebäude dann nach einem Neuentwurf
A. Vanags im Stil der lettischen nationalen Romantik errichtet (oben, 13) (Krastinš: 1996). Nach einer Stärkung im Restaurant kamen wir an der Skolas iela (Schul-Straße) vorbei, in der sich das jüdische Museum befindet. Im Museumsgebäude war vor dem Zweiten Weltkrieg das Jüdische Theater. Leiter des Museums ist der Historiker Margers Vestermanis, der auch einen Führer durch das jüdische Riga verfasst hat, und so bogen wir in die Dzirnava iela ein. Hier ist ein ganzer Jugenstil-Häuserkomplex wieder aufgebaut worden.

Das zeigt die Wertschätzung, die dieser Baustil heute erfährt. Dann erreichten wir die Alberta iela und sahen das Haus Nr.2, in dem der Philosoph Sir Isaac Berlin von 1909-1915 aufwuchs, worauf eine noch relativ neue Gedenktafel an der Fassade hinweist, und das Wohnhaus des Rigaer Architekten Michail Eisenstein, in dem auch der berühmte Sohn und frühsowjetische Avantgarde- und Propaganda-filmer Sergej Eisenstein aufgewachsen war (rechts, 14).
Es wird in seinen Erinnerungen erwähnt, und er bemerkt auch, dass die Löwen am Dachende der Fassade in seine Filme Eingang gefunden haben.

Typisch für Michail Eisenstein, der auch dieses Haus errichtete, ist die blau-weiße Farbigkeit. Seinen Stil betreffend sprach man auch von „Bühnendekoration“ zumal die von ihm entworfenen Gebäude innen sehr funktional sind.


In diesen Jahrhundertwende-gebäuden wurden wie in allen sowjetischen Städten später kommunalki eingerichtet. Die Fassade des Hauses Nr.4 erinnert deutlich an die berühmte, von Joseph Hoffmann entworfene Fassade des Hauses am Wiener Naschmarkt.Auf diese Weise bewies man als Rigaer Architekt hier die Kenntnis der europäischen Architektur-Avantgarde. Die Fassade des Hauses Nr.11 weist wieder nationale Elemente auf. Beim Haus Nr.13 dominieren dagegen Barockzitate. In diesem Gebäude, das frisch renoviert ist, befindet sich eine Privathoch-
schule für Rechtswissenschaften, zur Sowjetzeit residierten hier Militärs. Außen hat man keine modernen Eingriffe vorgenommen, aber im Innenhof angebaut, um Platz für Hörsäle zu schaffen. Nadežda erwähnte außerdem, dass im Haus Nr.12 die Künstler R. Baumanis und Janis Rozentals wohnten. Letzterer hatte, wie Pekšens, eine finnische Ehefrau. Diese räumliche Zusammenballung von interessanten Persönlichkeiten und Architekturhighlights, die mich manchmal in einen für andere nicht ganz nachvollziehbaren Enthusiasmus versetzte, hatte spätestens jetzt voll Besitz von mir ergriffen, und ich nahm Riga in die Reihe meiner Lieblingshauptstädte auf. In der Strelnieku iela 4a, die von der Alberta abgeht, befindet sich noch ein weiterer Eisensteinbau. In der Nr.1 fielen mir Holzelemente in der Fassade auf.

Direkt daneben (Nr.3) steht ein schlichter funktionaler Bau der Ulmaniszeit. An der nächsten Kreuzung stießen wir auf die Finnische Botschaft, die sich in einer großzügigen Stadtvilla befindet, wie sie in Riga ebenfalls häufig anzutreffen sind. Daneben befindet sich die Botschaft Weißrusslands. In der Elizabetes iela 25 ist die Holzfassade korrekt restauriert worden und verfällt nicht wie viele andere Holzhäuser der Innenstadt (oben, 15). Ein paar Häuser weiter befindet sich die Tschechische Botschaft, deren Tor und Metallzaun auf amüsante Weise versuchen, mit simplen Formen klassische Verzierungen zu imitieren und sich damit architektonisch-stilistisch in die Umgebung einfügen. Wir kamen an einem weiteren Haus mit einer Gedenktafel für den Rigaer Architekten Felsko vorbei.
Es ist auch neugotisch-ekklektizistisch gestaltet. In der Elizabetes Nr.10 stießen wir auf ein blau-weißes Eisensteinhaus, das mit Masken dekoriert ist und mit der Bühnenhaftigkeit der Fassade bewusst spielt (rechts, 16).

Die Fenster zitieren auch wieder den österreichischen Jugendstil. Hier wohnen mittlerweile reiche Leute und im Erdgeschoss befinden sich Büros.

Die Miete einer Wohnung in einem solchen Objekt liegt etwa bei 500 Lati (weit über 600 €).
Dass es sich bei diesem Stadtteil auch im Wortsinn um ein „Riga der Rigenser“ handelt, wird daran deutlich, dass z. B. der Rigaer Architekt Janis Alksnis allein 130 Häuser für die Stadt entwarf und Eisenstein immerhin zwölf errichtete. In der Kongresshalle (links, 17), an der wir nun vorbeikamen, fand zur Zeit gerade ein Kinofestival zum georgischen Film statt. An der Kreuzung Elizabetes / Valdemara iela fällt ein neogotisches großes Backsteingebäude auf. Es ist
ehemalige Börsenschule und seit 1920 die Kunstakademie Lettlands, an der zunächst vor allem Künstler aus St. Petersburg lehrten. Direkt daneben liegt das Staatskunst-museum, das vor allem lettische und russische Kunstbestände hat. Nach 1905 wurde wieder klassizistischer gebaut. Das entsprach der politischen Stimmung. Bevor wir uns von Nadežda trennten, kamen wir noch am Nationaltheater vorbei, das sich seit 1920 im 1903 errichteten Russischen Theater an der Ecke Kronvalda bulvaris und Valdemara iela befindet. (links, Stadtplan links unterhalb 17)

Hier wurde die Unabhängigkeit Lettlands 1918 proklamiert. An der Fassade ist ein Wappen Rigas zu erkennen, das je nach politischer Situation verändert wurde. Der Schlüssel verweist auf Petrus, das Kreuz auf den Livländischen Orden.

Im 17. Jahrhundert wurde die Krone als die schwedische angesehen, im 18. Jahrhundert als die russische. Vom Theater aus erkennt man schon die Hängebrücke. In der Nähe der Jacobikirche verabschiedete sich Nadežda dann von uns. (links ist der Basteiberg bei Tag zu sehen)

Am Parlamentsgebäude und den „Drei Brüdern“ (den drei ältesten Häusern Rigas) vorbei, liefen wir durch die Klostera iela und die Maza pils iela zum Stadtschloss und einige stießen noch bis zur Daugava zum Standbild „Lielais Kristaps“ (der Heilige Christophorus) vor. Dort zog die Abendsonne einen hellen Lichtschweif über des Wasser, was mich an die N. Leskov-Erzählung vom Vorabend denken ließ. Als kleiner moderner Kontrast dazu stach mir außerdem mal wieder ein Graffito ins Auge: A [narchie] = Herz (als Symbol).
Auf dem Weg in die Innenstadt zurück liefen wir noch über den Basteja kalns (Basteiberg, links oben) an den Gedenksteinen für die Toten der Revolution 1991 vorbei, (ein weiteres, sehr interessantes Thema, das ausgespart bleiben musste). Die schlichte Art des Gedenkens beeindruckte mich und gefiel mir sehr. Bevor wir in einer Kneipe bei lettischem Essen und Bier entspannten, warfen wir vom Hotel „Latvija“ einen Blick auf das nächtliche Riga (links, 18), von dem wir heute viele weitere Seiten kennengelernt hatten.