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Interview: Was weiß Europa über uns?
Die russische Frage in Lettland aus der Sicht der Dozentin Verena Dohrn, Universität Göttingen

Interviewerinnen: Larisa und Nika Persikova
(übersetzt und zusammengefasst von Diana Krastina)

„Vesti. Meždunarodnyj eženedel’nik“ [Nachrichten. Internationale Wochenzeitung] Nr.19 vom 13.-19. Mai 2004.

Die internationale Konferenz „Der Alte Glaube Lettlands: historische Erfahrung, Kultur und aktuelle Prozesse in der Gesellschaft“ wurde unter den Altgläubigen als „die letzte Konferenz“ im freien Lettland bezeichnet, denn sie fand, kurz vor dem EU-Beitritt Lettlands vom 29. bis zum 30. April 2004, statt. Diese Konferenz war nicht nur aus dem Grund eine besondere, sie war außerdem die 15. Konferenz der Altgläubigen. Die Teilnehmer dieser Konferenz waren Wissenschaftler, die sich mit der Forschung zum Alten Glauben beschäftigen, unter ihnen Vertreter aus Frankreich und Deutschland. Verena Dohrn (Expertin für die Geschichte der Juden in Osteuropa) lernte vor einigen Jahren zufällig den Vorsitzenden der Altgläubigengemeinde in Rezekne Vladimirs Nikonovs kennen. Nun berichtete sie auf der internationalen Konferenz über Tret’jakovy und Morozovy – die Mäzene, welche die russische Kultur aufrecht zu erhalten versuchten. Sie versprach außerdem, ihre Studenten nach Riga zu bringen um ihnen das russische Baltikum zu zeigen.

Frage: Warum ist das Altgläubigentum Lettlands für eine Expertin der jüdischen Geschichte so interessant?

Antwort: Interessant ist der Faktor Religion. Sie bildet die Basis jeder nationalen Gemein-schaft. Die Aufrechterhaltung einer nationalen Minderheit ist ohne Religion unmöglich. Die Juden haben mit den Altgläubigen gemein, dass die Religion ein starkes Bindeglied darstellt, was durch den Status als Minderheit in einem fremden Staat eine besondere Bedeutung be-kommt. Auch in den säkularisierten Gemeinschaften spielt Religion eine wichtige Rolle, al-lerdings in Form von Ethik, Tradition und Konventionen.
Die Altgläubigen Lettlands denken wahrscheinlich, dass sie sich in einer einzigartigen Situa-tion befinden. Aber in der Geschichte der nationalen Minderheiten Europas gab es vergleich-bare Situationen. So lebten zum Beispiel vor dem Ersten Weltkrieg in Litauen und in der Bu-kovina Juden und russische Altgläubige in Nachbarschaft. Bis heute gibt es dort Gemeinden. Gerade in den Grenzgebieten, wo die Imperien um Einfluss kämpften, entwickelten sich na-tionale Minderheiten. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die geopolitische Lage.

Frage: Wir sehen, dass sich bei den Altgläubigen, die Russland verlassen haben, im Unter-schied zu den Russen, die in Russland geblieben sind, neue Qualitäten und Eigenschaften ent-faltet haben. Kann man so was auch in der jüdischen Geschichte feststellen?

Antwort: Das ist eine schwierige Frage. Russland war und ist ein großes Land und das beein-flusst Kultur und Mentalität seiner Bevölkerung. Israel dagegen ist ein junger Staat und ein kleines Land. Außerdem gibt es Unterschiede zwischen der Mentalität der Israelis und der der russischen Juden. Allgemein lässt sich feststellen, dass zwischen den Menschen, die als He-gemonialnation in einem Nationalstaat leben, und denen, die als nationale Minderheit in der Diaspora leben, große Unterschiede, verschiedene Mentalitäten bestehen. Menschen in der Diaspora spüren die Grenzen der eigenen Kultur und berücksichtigen andere Kulturen und Traditionen, wobei sie oftmals toleranter sind als ihre Landsleute im eigenen Staat. Allerdings sollte man die nationalen Minderheiten nicht idealisieren, denn ihr starkes nationales Selbst-bewusstsein in der Fremde kann genauso gut die gesellschaftliche Integration verhindern.

Frage: Werden in Europa solche Gemeinschaften gebraucht?

Antwort: Europa braucht solche Gemeinschaften. Die Vereinigung Europas ist ein Prozess der Globalisierung und Unifizierung der Menschen, der Gemeinschaften, der Kulturen und der Völker. Dieser Prozess braucht Gegengewichte. Durch die EU bekommen die nationalen Minderheiten die Möglichkeit, sich Staaten übergreifend miteinander zu verbinden.

Frage: Als in Lettland das Referendum über den EU-Beitritt stattfand, stimmten Russen in einigen Orten dagegen. Droht Europa den nationalen Minderheiten mit Nivellierung?

Antwort: Der Prozess der Unifizierung hat schon lange begonnen und hat auch Lettland schon erreicht. Das ist ein Gesetz der Moderne, das weder dem einzelnen Menschen noch den Minderheiten gut bekommt. Deswegen sollten die nationalen Minderheiten für die Aufrecht-erhaltung ihrer Kultur und für ihre Existenzrechte kämpfen. Die EU bedeutet nicht nur Uni-fizierung. Von der EU kann man Mittel für die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft der
russischen Minderheit bekommen, zum Beispiel um Konferenzen in Riga zu veranstalten und um Europa die Eigenart der Diasporakultur zu zeigen. Wer weiß denn im Westen, dass in Lettland eine große russische Gemeinschaft mit unterschiedlichen Richtungen und verschie-denen Problemen besteht? Nur die Experten…

Frage: In Lettland befürchten die beiden großen nationalen Gemeinschaften diametral entge-gen-gesetzte Dinge: die Russen die Assimilation, und die Letten, dass sich die russische Ge-meinschaft nicht integriert und nach Selbständigkeit strebt. Welche Befürchtungen werden in der EU für Lettland realer?

Antwort: Man sollte nicht von Befürchtungen ausgehen, sondern Empfehlungen geben: Die Russen sollten von den Altgläubigen lernen, in der Diaspora zu leben. Das größte Problem der Russen in Lettland ist, dass sie es nicht gewohnt sind, sich als Gemeinschaft und als nationale Minderheit zu sehen. Für die Altgläubigen ist das bereits eine Erfahrung und Tradition. Für die anderen Russen ist es dagegen ein Novum, denn noch vor zehn, dreizehn Jahren waren sie Bürger eines großen Staates, Vertreter einer Großmacht. Nun müssen sie für sich ein neues kulturelles Selbstbewusstsein als nationale Minderheit entwickeln.

Frage: Die lettische Regierung betont immer, dass Russen hier keine nationale Minderheit bilden, sondern Kolonisten sind. Sind Russen mit den Arabern in Frankreich vergleichbar oder sind Russen eine klassische nationale Minderheit?

Antwort: Während die Araber in Frankreich Kolonisierte im Land der ehemaligen Kolonial-macht darstellen, sind die Russen im allgemeinen Vertreter der ehemaligen Okkupations-macht. Aber sowohl die Letten als auch die Russen sollten nicht zurück, sondern nach vorn schauen. Sie müssen ja schließlich zusammenleben. Die Russen sollten einsehen, dass sie eine Minderheit in Staat und Gesellschaft sind und dass sie deren Anforderungen nachkommen müssen. Russisch sollte man natürlich nicht vergessen, aber Lettischlernen ist sehr wichtig.

Frage: Glaubt man in Europa, dass die Russen kein Lettisch lernen wollen?

Antwort: Es gibt so ein Stereotyp. In Lettland sollte es weiterhin russische Schulen geben. Angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der Bevölkerung Lettlands Russisch spricht, sollte ein neues Schulsystem errichtet werden, dass dieser Situation Rechnung trägt. Russisch gilt bis heute als lingua franca im östlichen Europa. Es ist nicht nur die Sprache des russischen Volkes, sondern auch das Idiom der internationalen Kommunikation. Auch die Letten, die Litauer und die Esten sollten Russisch beherrschen. Die Letten und die Russen in Lettland sollten Kompromisse miteinander schließen und gegenseitig ihre Kulturen und Traditionen achten.

Frage: Glauben Sie, dass Europa Russen braucht, die in Lettland eine so große Diaspora bil-den?

Antwort: Die russische Diaspora in Lettland ist gerade erst dabei sich zu entwickeln. Sie stellt eine bedeutsame nationale Minderheit dar und ist für Europa eine neue Erscheinung. Wenn Europa aus der Perspektive des russischen Lettland auch als ein neues Imperium ange-sehen wird, so muss man doch zugestehen, dass dieses Imperium demokratisch ist und auf Rechtsstaatlichkeit beruht. Und ein demokratisches Europa sollte doch die Rechte der russi-schen Minderheit in Lettland bewahren.