Didaktische Prinzipien

Karl-Heinz Flechsig

Inhalt:


Vorüberlegungen zu Begriffen und Funktionen didaktischer Prinzipien

  1. Der Begriff "Prinzip" wird sowohl in der Umgangssprache als auch in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verwendet. Im besonderen hat er in der Geschichte der Philosophie eine lange Geschichte. Im vorliegenden Rahmen ist an eine breite Aufarbeitung des Begriffs über die Pädagogik hinaus jedoch nicht zu denken.
  2. In der Pädagogik ("Erziehungsprinzipien") und in der Didaktik tritt der Begriff in unterschiedlichem sprachlichen Gewand auf: als "Grundsatz", "Unterrichtsprinzip" oder "didaktisches Prinzip", gelegentlich auch als "Zweck", "Sinn" oder "Grund". Eine Beschäftigung mit dem Begriff "didaktisches Prinzip" wird daher das  sprachliche Umfeld der - vermuteten oder tatsächlichen - Synonyma mit einzubeziehen haben.
  3. Die Frage, ob man in der Didaktik prinzipienpluralistisch oder prinzipienmonistisch vorgehen sollte, ist zu verschiedenen Zeiten und von verschiedenen Autoren unterschiedlich beantwortet worden.
KOMENSKY (Große Didaktik) leitet aus einem obersten Prinzip der "Naturgemäßheit" neun "Grundsätze zu sicherem Lehren und Lernen" ab, nämlich Auch SCHLEIERMACHER (Schriften I, 266 ff.) versucht, ein allgemeines Prinzip des Unterrichts zu formulieren, von dem er auf systematische Weise und durch Hinzunahme neuer Elemente spezielle Prinzipien ableitet. Es lautet:
"Die ganze Reihe von Tätigkeiten ist so einzurichten, daß alles, was die Zeit erfüllt und als Aufgabe gestellt wird, seine Befriedigung in sich selbst und in dem Zusammenhang mit dem Vorhergegangenen trage. Die Kautel ist diese, daß der Jugend nicht gegeben werde, was bloß für die Zukunft seinen Wert habe" (268).
KLINGENBERG (Einführung in die allgemeine Didaktik) entscheidet sich demgegenüber für eine Liste von 9 (sicl) didaktischen Prinzipien: Allerdings räumt KLINGENBERG ein, daß diese Prinzipien in einem systematischen Zusammenhang stehen.

DERBOLAV (Versuch einer wissenschaftstheoretischen Grundlegung der Didaktik) schließlich versteht didaktische Prinzipien als "Sinnprinzipien", d. h. als Grundsätze, die den Prozeß der Identitätsbildung durch geistige Aneignung von Kultur ("Im-andern-zu-sich-selber-kommen") regulieren:

HEIMANN spricht an einer Stelle (Didaktik als Unterrichtswissenschaft 160) von einem "Prinzipien-Kanon (Anschaulichkeit, Selbsttätigkeit), der sich um ständige Neubildungen zu erweitern scheint".

HIMMERICH, der die "Lehrerdidaktik" des 19. Jahrhunderts kritisiert, weist darauf hin, daß in ihr didaktische Prinzipien als Handlungsregeln für den Lehrer verstanden wurden: "Die (Unterrichts-)Theorie wird unversehens zur Unterrichtsmethodik, zur Handlungsanweisung für den Lehrenden, zum Regulativ nach didaktisch kanonisierten Prinzipien, in abgeschwächter Form zum "Guten Ratgeber" für die Praxis" (29).

Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um zu illustrieren, daß nicht nur didaktische Prinzipien historische Gebilde sind, sondern daß auch der Begriff des "didaktischen Prinzips" dem historischen Wandel unterworfen ist und von gleichzeitig existierenden Richtungen der Didaktik wie auch von einzelnen Autoren unterschiedlich verstanden wird. Dies sollte nun kein Anlaß zur Resignation sein, sondern als Herausforderung empfunden werden, den "Dschungel zu durchdringen". Die folgenden Fragestellungen seien als Strukturierungshilfen hierfür angeboten. Wenn dabei von einem "Autor" die Rede ist, so steht dies ebenso für Autorengruppen und "Schulen"

Indem man an ausgewählten Fällen in eine solche Analyse eintritt, kann man - hoffentlich - folgende Erkenntnisse gewinnen: Nicht erreichbar dürfte im vorliegenden Rahmen eine historische und systematische Analyse der historisch am langfristigsten und/oder derzeit am weitesten verbreitet erörterten didaktischen Prinzipien (z. B. Anschaulichkeit, Selbsttätigkeit, Entwicklungsgemäßheit, Lebensbezug, Individualisierung etc.) sein.

Aussagen über didaktische Prinzipien

Aussagen über didaktische Prinzipien sind Aussagen normativen Charakters; sie haben zum Inhalt allgemeine Handlungsregeln zur Gestaltung von Unterricht, wobei der Allgemeinheitsgrad größer ist als der von konkreten Handlungsempfehlungen oder Handlungsanweisungen und nicht so groß wie der von sozialen Normen bzw. Handlungsanweisungen zum "rechten Leben".

Ihrer sprachlichen Form nach sind sie zumeist auf einen oder zwei Begriffe reduziert "Selbsttätigkeit", "Anschaulichkeit", "Lebensnähe"), müssen daher logischerweise um ihren didaktischen Bezug als auch um ihren Adressaten zu Aussagen ergänzt werden (z. B. "Lehrer sollen Unterricht so planen, durchführen und bewerten, daß Ihre Handlungen mit dem Prinzip der Anschaulichkeit übereinstimmen").

Didaktische Prinzipien sind historische Gebilde, d. h. sie lassen sich in aller Regel auf den in einer bestimmten historischen Situation vorhandenen und durch einen "klassischen" Autor in dieser Formel verdichteten Stand an Erkenntnissen und Wertvorstellungen zurückführen, und sie waren in aller Regel dem historischen Wandel unterworfen, so daß sie im Laufe der Zeit modifiziert wurden, mehrere "Schichten" angelagert haben und insofern interpretationsbedürftig sind.

Ebenso wie bei politisch-gesellschaftlichen oder ethisch-moralischen Prinzipien läßt sich bei didaktischen Prinzipien Pluralismus erkennen, d. h. daß (unbeschadet der Tatsache, daß in früheren Zeiten in unserem Kultursystem monistische Ansätze auszumachen sind) gegenwärtig eine Vielzahl didaktischer Prinzipien bekannt und/oder anerkannt ist, die untereinander in mehr oder weniger deutlicher Verbindung stehen. Somit ist weder eine generelle Deduzierbarkeit des Kanons didaktischer Prinzipien aus einem "obersten" didaktischen Prinzip anzunehmen, noch eine vollkommene Trennschärfe.

Für die Unterrichtsforschung haben didaktische Prinzipien eine systematische Funktion, besonders bei der Strukturierung von Begründungen von Unterrichtspraxis: Mit ihrer Hilfe lassen sich die jeweils zur Begründung einer didaktischen Praxis herangezogenen empirischen Prämissen und normativen Prämissen aufeinander beziehen und einander zuordnen, so daß die Begründung von Praxis nicht angewiesen ist auf eine (logisch unhaltbare) Deduktion didaktischer Handlungen aus Einzelbefunden der (Lern-, Sozialisations-, Lehrerverhaltens- etc.)Forschung einerseits oder auf die Deduktion aus normativen Prämissen (moralischer, religiöser, politischer Art etc.) andererseits im didaktischen Prinzip sind - sofern es diesen Anspruch erhebt - ausgewählte empirische und normative Prämissen dem historischen Stand von Forschung und moralischen Bewußtsein entsprechend integriert. Durch entsprechende Interpretation und Explikation müssen sie daher aufweisbar sein, genauer: derjenige, der sich bei der Begründung von Unterrichtspraxis auf ein didaktisches Prinzip beruft, muß in der Lage sein, die damit gemeinten empirischen und normativen Prämissen zu explizieren; nur dann darf er das Prinzip - sozusagen als Kürzel - als Begründungselement anführen.

Gütekriterien zur Beurteilung einzelner didaktischer Prinzipien

  1. Historische Gültigkeit: Hat das betreffende didaktische Prinzip eine Geschichte, wenn ja, welche?
  2. Empirischer Gehalt: Welcher Tatsachenbereich (Lehrplan, Lehrmethode, Medien- auswahl etc.) wird von dem didaktischen Prinzip erfaßt?
  3. Normativer Gehalt: Welchen sozialen Normen, ethischen Maximen, religiösen Werten entspricht das didaktische Prinzip?
  4. Quantität und Qualität praktischer Belege: Wie groß ist der Umfang dokumentierter Unterrichtspraxis, der sich auf dieses didaktische Prinzip beruft und wie ist die Qualität dieser Praxis einzuschätzen?
  5. Allgemein-didaktische Bedeutsamkeit: Handelt es sich um ein didaktisches Prinzip, das nur für einen speziellen Fachbereich formuliert wird oder für Unterricht ganz allgemein?
  6. Spezifisch "didaktischer" Gehalt: Handelt es sich um ein primär auf Unterricht bezogenes Prinzip oder hat es übergreifende Bedeutung für verschiedene andere Lebensbereiche?
  7. Trennschärfe: Unterscheidet sich das didaktische Prinzip deutlich von anderen bekannten didaktischen Prinzipien, oder ist es eher eine Variante eines didaktischen Prinzips?
  8. Ausgewiesenheit der Bezugsinstanz: An welche Person, Gruppe, oder Institution richtet sich das didaktische Prinzip als Handlungsregel?
  9. Erfaßt das didaktische Prinzip eine oder mehrere didaktische Handlungsebenen?