Für Didaktiker waren solche Argumentationen eher ärgerlich, denn Didaktiker verfolgen - sofern sie unterrichtspraktische oder unterrichtswissenschaftliche Interessen haben - andere Fragestellungen wie etwa diese: "Hier ist eine spezifische didaktische Aufgabe. Welchen besonderen Beitrag können welche Medien zu ihrer Lösung leisten ? Und welche Geräte sind unter gegebenen Bedingungen geeignet, diese Medien zu erzeugen?"
Zwei wichtige Unterschiede lassen sich dabei erkennen. Der erste Unterschied
betrifft den Ausgangspunkt: hier neue Mittel, dort bekannte Zwecke.
Der zweite Unterschied betrifft den Medienbegriff: Im einen Fall werden
Medien mit Geräten gleichgesetzt. Im anderen Fall wird zwischen Medien
und Geräten zu ihrer Erzeugung unterschieden.
Da ich in diesem Beitrag das Thema "Multimedialität" als Didaktiker
behandle und somit einen für didaktisches Handeln und didaktisches
Design sinnvollen Medienbegriff den folgenden Überlegungen zugrunde
legen möchte, habe ich mit dieser Unterscheidung zwischen "Medien"
und "Geräten zur Medienerzeugung" eine erste Begriffsbestimmung vorgenommen.
Was für Medien des Typs "Bild" gilt, gilt entsprechend auch für Medien des Typs "Ton", des Typs "Symbol", des Typs "Modell" oder des Typs "Simulation". Und es gilt für alle Kombinationen von Medien wie Tonfilme, Cartoons oder Simulationsspiele. Ein interessantes Beispiel dafür, wie man ein- und dieselbe komplexe Medienkombination mit zwei verschiedenen Geräten erzeugen kann, liefert das von Frederic VESTER entwickelte Simulationsspiel "Ökolopoly", das sowohl als Brettspiel als auch als Computerspiel verfügbar ist.
Es war vor allem Jerome BRUNER, der darauf hingewiesen hat, daß diese Abfolge - von der Tätigkeit in der Realsituation über bildhafte Anschaulichkeit hin zu kognitiven Operationen - auch im späteren Alter immer wieder vollzogen wird, wenn sich jemand ein neues Tätigkeits- und Wissensgebiet erschließt. Dabei kann dann die Realität durch Medien ersetzt werden, die über Simulationen und Abbildungen bis hin zu schriftlichen Texten und mathematischen Symbolen reichen.
Es war Edgar DALE, der für die Mediendidaktik ein Modell entwickelt hat, das diese Abfolge von der konkreten Tätigkeit in der Realität hin zur medienvermittelten kognitiven Operation in einem Modell veranschaulicht hat, das er als "Erfahrungskegel" (cone of experience) bezeichnet.
Betrachtet man Erfahrungen in wirklichen Situationen und mit realen Tätigkeiten, also Interaktionen mit realen Umgebungen, als Basis dieses Kegels, dann handelt es sich bereits bei der zweituntersten Stufe um ein Medium - nämlich um die artifiziell zugerichtete Erfahrung in einer artifiziellen Umgebung, etwa in einem didaktisch gestalteten Labor. BRUNER & OLSON bezeichnen diese Stufe, zu der auch Simulationen gehören, als "enaktiv", die auf dieser Stufe angesiedelten Medien entsprechend als "enaktive Medien". Auf der nächsten Stufe sind dann die ikonischen Medien angesiedelt, während die oberste Stufe von den symbolischen Medien besetzt wird.
Bei enaktiver, d. h. handlungsbezogener Stellvertretung von Wirklichkeit
werden reale Handlungen von Menschen in realen Umwelten durch stellvertretende
Handlungen in stellvertretenden Umwelten ersetzt wie z.B. bei Experimenten
oder Simulationen.
Bei ikonisch, d. h. abbildenden Repräsentationen werden Handlungen
von Menschen und Elemente von Umwelten durch Abbildungen von "Originalen"
im weitesten Sinne ersetzt, wobei nicht nur visuell wahrnehmbare Abbildungen
gemeint sind, sondern auch akustisch wahrnehmbare (z. B. Aufzeichnungen
von Vogelstimmen) und taktil wahrnehmbare (z. B. Reliefbilder für
Blinde) Abbildungen. Hierbei können auch "Umschaltungen" auf andere
Sinnesorgane erfolgen, indem z. B. akustische Signale "visualisiert" (z.
B. Stimmaufzeichnungen) oder Helligkeitsgrade hörbar gemacht werden.
Symbolische Repräsentationen von Wirklichkeit bedienen sich bestimmter Zeichensysteme mit vereinbarten Bedeutungszuordnungen. Dies gilt für die gesprochene und geschriebene Umgangssprache ebenso wie für Fachsprachen und für mathematische, logische oder kryptische Symbole.
Diese Klassifikation ist aus mehreren Gründen nicht ganz trennscharf. Zum einen sind gerade im multimedialen Bereich Kombinationen verbreitet, Man denke an illustrierte Bücher, Tonbildschauen oder komplexe Computersimulationen. Zum anderen lassen sich bestimmte Repräsentationen bzw. Rekonstruktionen wie z.B. Ikone und Logos nicht eindeutig zuordnen.
Multimediale Lernumgebungen in diesem Sinne haben für effektives Lernen aus mehreren Gründen besondere Bedeutung:
Daß Medien für die gesellschaftliche Rekonstruktion der Wirklichkeit wichtig sind, gilt sowohl für enaktive als auch für ikonische und symbolische Medien. Letztere spielen vor allem in Schriftkulturen eine hervorragende Rolle bei der Wissensrepräsentation. Aber schon Steinzeitmenschen verwendeten neben enaktiven Medien in ihren rituellen Handlungen und neben ikonischen Medien in ihren Höhlenzeichnungen auch bereits symbolische Medien in ihren mündlich überlieferten Mythen und Märchen.
In modernen Kulturen hat sich nicht nur der Wissensbestand dramatisch vermehrt; es haben sich auch die Speichermöglichkeiten und die Ordnungen vervielfacht. Man denke einmal daran, wieviele Gemeinschaften sich mit der Erzeugung, Anwendung und Vermittlung von Wissen auf dem Gebiet der Hygiene befassen, wieviele wissenschaftliche Fächer, wieviele Firmen, wieviele Berufsgruppen, in wievielen Ländern. Man denke daran, in welchen Sprachen und Ordnungen sie dieses Wissen repräsentieren, angefangen von alphabetischen Ordnungen über die systematischen Ordnungen verschiedener Fächer bis hin zu den problembezogenen Ordnungen der verschiedenen Praktiker.
In unserem Zusammenhang interessiert dabei besonders der Aspekt der Wissensrepräsentation, nämlich die Art und Weise, wie Erfahrung von Wissensgemeinschaften gespeichert und geordnet wird. Es sind nämlich Medien, die bei der Wissensrepräsentation als Speicher und Ordnungen zugleich funktionieren. So repräsentieren z. B. auf Papier gedruckte Prosatexte in der Regel auch lineare Ordnungen, stehende Bilder topologische Ordnungen und bewegte Bilder chronologische Ordnungen.
Wissensrepräsentation ist jedoch immer auch eine Frage der Medien, in denen Wissen gespeichert wird. Da sind zunächst die Gehirne der Menschen, die ihrerseits Speichermedien eigener Art sind und mit externen Speichermedien interagieren. Diese externen Speichermedien lassen sich nicht nur nach ihrer materiellen Charakteristik unterscheiden: chemische Substanzen wie bedrucktes Papier, belichtete Filme oder elektronische Aufzeichnungen etwa. Sie lassen sich vor allem nach den Ordnungen unterscheiden, in denen Wissen gespeichert ist.
Was nun bringen diese Überlegungen für eine vom Interesse des Didaktikers geleitete Begriffsbestimmung von "Multimedialität" ? Zunächst die Erkenntnis, daß mit der Vielzahl der zur Gestaltung von Lernumgebungen herangezogenen Medien zugleich eine Vielfalt von Rekonstruktionen der Wirklichkeit, von Ordnungsvorstellungen, und von alternativen Speichermöglichkeiten zur Verfügung gestellt wird.
Multimedialität als Vielfalt der Wissensrepräsentation, bringt jedoch nicht nur die Chance von Erfahrungsvielfalt mit sich, sondern zugleich auch die Gefahr von Informationschaos. Gutes didaktisches Design von Lernumgebungen muß deshalb auch stets mit sorgfältigem Wissendesign verbunden sein. Dies heißt nicht, daß nur eine Wissensordnung von nur einer Wissensgemeinschaft zur Geltung kommen darf. Es wäre absurd, wenn wir Wissen über Hygiene nur als Wissensrepräsentationen von Ärzten, Chemikern oder Entertainern zur Verfügung gestellt bekämen. Mündige Lerner können schon Vielfalt und Pluralismus vertragen. Aber die Bezugssysteme müssen klar erkennbar, die Repräsentationen durchsichtig gestaltet werden. Der Unterhaltungs- und Informationsmüll, der uns tagtäglich über manche Sender und manche Sendungen frei Haus geliefert wird, sollte uns zu denken geben. Soviel zu unserem zweiten Aspekt: Multimedialität als Vielfalt der Wissensrepräsentation.
Aber jeder dieser Kontexte, d. h. jedes der genannten didaktischen Modelle und jede dieser Lehr-Lernkulturen kennt auch modellspezifische Verwendungen von Medien. So kennen wir alle die im Kontext von Vorlesungen an Hochschulen verbreiteten Formen der Medienverwendung, angefangen von Wandtafel-Beschriftungen und Wandtafel-Zeichnungen, über Texte und Bilder auf Folien oder Dias, die auf eine Leinwand projiziert werden, bis hin zu den Tonfilmsequenzen des wissenschaftlichen Films.
Auch das didaktische Modell des individualisierten programmierten Unterrichts bildet einen Kontext vielseitiger Medienverwendung, angefangen vom programmierten Lehrbuch über einfachere Lernsoftware bis hin zum interaktiven Text-Ton-Bild-Programm auf CD ROM.
Ebenso ist Multimedialität auch im Kontext des didaktischen Modells "Fernunterricht" geläufig, wenn er über die Monomedialität des geschriebenen Textes hinausgeht und nicht nur ikonische (audiovisuelle) Elemente in die Gestaltung von Lernumgebungen einbezieht, sondern auch enaktive Elemente wie Experimente und Erkundungen.
Und schließlich finden wir im Rahmen des didaktischen Modells "Simulation" umfangreiche Medienverwendung, angefangen vom einfachen Rollenspiel, bei dem die Lernumgebung vom enaktiven Medium "Laienschauspieler" gebildet wird, bis hin zur Computersimulation mit audio-visuellen Komponenten.
Neben diesen vier didaktischen Modellen bzw. Grundformen didaktischen Handelns gibt es jedoch noch viele andere, in denen Medien als Elemente Verwendung finden können. Im Rahmen eines langjährigen Forschungprojekts habe ich mit meinen Mitarbeitern insgesamt 20 solcher Grundformen rekonstruiert, von denen jede in der Regel in mehreren Varianten vorkommt (FLECHSIG 1991). Das Ergebnis dieser Rekonstruktion, der "Göttinger Katalog Didaktischer Modelle" enthält so folgende Grundformen:
1. Arbeitsunterricht | 11. Lernausstellung |
2. Disputation | 12. Lerndialog |
3. Erkundung | 13. Lernkabinett |
4. Fallmethode | 14. Lernkonferenz |
5. Famulatur | 15. Lernnetzwerk |
6. Fernunterricht | 16. Lernprojekt |
7. Frontalunterricht | 17. Simulation |
8. Individualisierter programmierter Unterricht | 18. Tutorium |
9. Individueller Lerplatz | 19. Vorlesung |
10. Kleingruppen-Lerngespräch | 20. Werkstattseminar |
Im Interesse didaktischer Vielfalt und damit im Interesse effektiveren, humaneren und nachhaltigeren Lernens wird es darauf ankommen, multimediale Repräsentationen von Wissen in den Kontext auch dieser Modelle zu bringen.
Maddux, C. D.: User-Developed Computer-Assisted Instruction: Alternatives in Autoring Software. In: Educational Technology, April 1992, Vol. 32, No. 4, S. 7-14.
Olson, D. R. and Bruner, J. S.: Learning Through Experience and Learning
Through Media. In: Olson, D. R. (ed.), Media and Symbols. The 73rd
Yearbook of the NSSE, I, Chicago 1974, pp. 120-150.