Was ist Multimedialität ?

Kürzlich fand ich in einem Beitrag von MADDUX in der Zeitschrift EDUCATIONAL TECHNOLOGY (9/94) folgendes Zitat: "Zu viele Lehrer sind offensichtlich darum bemüht, Internet Schülern zugänglich zu machen, zu wenige aber kümmern sich darum, daß Lehrer und Schüler es in didaktisch sinnvoller Weise nutzen". Diese aktuelle Klage über Internet läßt sich auf die meisten Innovationen im Medienbereich  während der vergangenen 30 Jahre verallgemeinern. Wer nämlich die Diskussion um neue Medien im Bildungswesen in diesem Zeitraum verfolgt hat, begegnete sehr häufig dem folgenden Argumentationsmuster: "Hier ist ein neues technisches Gerät. Es läßt sich auf folgende Weise auch für Bildungszwecke verwenden. Dies hat aus folgenden Gründen folgende Vorteile". Hintergrund dieser Argumentation waren häufig Verkaufs- oder Karriereinteressen, die ja durchaus legitim sind, sofern sie sich nicht als Menschheitsbeglückung präsentieren.

Für Didaktiker waren solche Argumentationen eher ärgerlich, denn Didaktiker verfolgen - sofern sie unterrichtspraktische oder unterrichtswissenschaftliche Interessen haben - andere Fragestellungen wie etwa diese: "Hier ist eine spezifische didaktische Aufgabe. Welchen besonderen Beitrag  können welche Medien zu ihrer Lösung leisten ? Und welche Geräte sind unter gegebenen Bedingungen geeignet, diese Medien zu erzeugen?"

Zwei wichtige Unterschiede lassen sich dabei erkennen. Der erste Unterschied betrifft den Ausgangspunkt:  hier neue Mittel, dort bekannte Zwecke. Der zweite Unterschied betrifft den Medienbegriff: Im einen Fall werden Medien mit Geräten gleichgesetzt. Im anderen Fall wird zwischen Medien und Geräten zu ihrer Erzeugung unterschieden.
Da ich in diesem Beitrag das Thema "Multimedialität" als Didaktiker behandle und somit einen für didaktisches Handeln und didaktisches Design sinnvollen Medienbegriff den folgenden Überlegungen zugrunde legen möchte, habe ich mit dieser Unterscheidung zwischen "Medien" und "Geräten zur Medienerzeugung" eine erste Begriffsbestimmung vorgenommen.

MEDIEN UND GERÄTE  ZUR MEDIENERZEUGUNG

Was die Unterscheidung zwischen Medien und Geräten zur Medienerzeugung anbelangt, so ist diese für den Didaktiker allein schon deshalb wichtig, weil die Verwendung von Medien für didaktische Zwecke eine lange Geschichte hat, die einen entsprechend großen Erfahrungsschatz lieferte, wobei die Geräte zu ihrer Erzeugung dem technischen Wandel unterworfen waren und sind. So wurden und werden Bilder als Einzelanfertigungen in Form von Wandbemalungen oder Tafelzeichnungen erzeugt, mit Hilfe von Drucktechniken in Form von illustrierten Büchern oder Postern, mit Hilfe von Projektoren, Folien, Filmen, Magnetbändern oder CD ROMs auf Leinwänden, Mattscheiben oder Bildschirmen, ja sogar mit Hilfe von Holographie im dreidimensionalen Raum. Für den Didaktiker sind diese Unterschiede in bezug auf die Geräte, die zur Erzeugung von Bildern verwendet werden, weniger wichtig als die Gestaltung des Mediums vom Typ "Bild" selbst (z. B. eine abstrakte Zeichnung, eine Photographie oder eine Bildsequenz) und seine - des Mediums - Einbettung in didaktische Kontexte.

Was für Medien des Typs "Bild" gilt, gilt entsprechend auch für Medien des Typs "Ton", des Typs "Symbol", des Typs "Modell" oder des Typs "Simulation". Und es gilt für alle Kombinationen von Medien wie Tonfilme, Cartoons oder Simulationsspiele. Ein interessantes Beispiel dafür, wie man ein- und dieselbe komplexe Medienkombination mit zwei verschiedenen Geräten erzeugen kann, liefert das von Frederic VESTER entwickelte Simulationsspiel "Ökolopoly", das sowohl als Brettspiel als auch als Computerspiel verfügbar ist.

MEDIEN ALS STELLVERTRETER DER REALITÄT

Beim zweiten Schritt zur Bestimmung des von mir verwendeten Medienbegriffs beziehe ich mich auf OLSON & BRUNER. Beide Autoren haben bereits früh (1974) vorgeschlagen, Medien im Zusammenhang von Lehren und Lernen als "Stellvertreter der Realität" zu betrachten. Unter Rückgriff auf die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse Jean PIAGETS gehen OLSON & BRUNER von der Annahme aus, daß sich die Entwicklung des Kindes und seine Erfahrungsbildung in definierbaren Phasen vollzieht, die von konkreten Handlungen und anschaulicher Begriffsbildung zu abstrakten Operationen übergeht. In diesem Prozeß ist zu Beginn einer neuen Lerntätigkeit jeweils die Begegnung mit der konkreten  Wirklichkeit und die Ausführung konkreter Tätigkeiten erforderlich. Im weiteren Verlaufe der Entwicklung können dann konkrete Tätigkeiten durch gedankliche  "innere" Operationen von zunehmender Abstraktheit - bis hin zu mathematischen Operationen - abgelöst werden.

Es war vor allem Jerome  BRUNER, der darauf hingewiesen hat, daß diese Abfolge - von der Tätigkeit in der Realsituation über bildhafte Anschaulichkeit hin zu kognitiven Operationen - auch im späteren Alter immer wieder vollzogen wird, wenn sich jemand ein neues Tätigkeits- und Wissensgebiet erschließt. Dabei kann dann die Realität durch Medien ersetzt werden, die über Simulationen und Abbildungen bis hin zu schriftlichen Texten und mathematischen Symbolen reichen.

Es war Edgar DALE, der für die Mediendidaktik ein Modell entwickelt hat, das diese Abfolge von der konkreten Tätigkeit in der Realität hin zur medienvermittelten kognitiven Operation in einem Modell veranschaulicht hat, das er als "Erfahrungskegel" (cone of experience) bezeichnet.

DER "ERFAHRUNGSKEGEL" NACH EDGAR DALE (1969)

 

Betrachtet man Erfahrungen in wirklichen Situationen und mit realen Tätigkeiten, also Interaktionen mit realen Umgebungen, als Basis dieses Kegels, dann handelt es sich bereits bei der zweituntersten Stufe um ein Medium - nämlich um die artifiziell zugerichtete Erfahrung in einer artifiziellen Umgebung, etwa in einem didaktisch gestalteten Labor. BRUNER & OLSON bezeichnen diese Stufe, zu der auch Simulationen gehören, als "enaktiv", die auf dieser Stufe angesiedelten Medien entsprechend als "enaktive Medien". Auf der nächsten Stufe sind dann die ikonischen Medien angesiedelt, während die oberste Stufe von den symbolischen Medien besetzt wird.

Bei enaktiver, d. h. handlungsbezogener Stellvertretung von Wirklichkeit werden reale Handlungen von Menschen in realen Umwelten durch stellvertretende Handlungen in stellvertretenden Umwelten ersetzt wie z.B. bei Experimenten oder Simulationen.
Bei ikonisch, d. h. abbildenden Repräsentationen werden Handlungen von Menschen und Elemente von Umwelten durch Abbildungen von "Originalen" im weitesten Sinne ersetzt, wobei nicht nur visuell wahrnehmbare Abbildungen gemeint sind, sondern auch akustisch wahrnehmbare (z. B. Aufzeichnungen von Vogelstimmen) und taktil wahrnehmbare (z. B. Reliefbilder für Blinde) Abbildungen. Hierbei können auch "Umschaltungen" auf andere Sinnesorgane erfolgen, indem z. B. akustische Signale "visualisiert" (z. B. Stimmaufzeichnungen) oder Helligkeitsgrade hörbar gemacht werden.

Symbolische Repräsentationen von Wirklichkeit bedienen sich bestimmter Zeichensysteme mit vereinbarten Bedeutungszuordnungen. Dies gilt für die gesprochene und geschriebene Umgangssprache ebenso wie für Fachsprachen und für mathematische, logische oder kryptische Symbole.

Diese Klassifikation ist aus mehreren Gründen nicht ganz trennscharf.  Zum einen sind gerade im multimedialen Bereich Kombinationen verbreitet, Man denke an illustrierte Bücher, Tonbildschauen oder komplexe Computersimulationen. Zum anderen lassen sich bestimmte Repräsentationen bzw. Rekonstruktionen wie z.B. Ikone und Logos nicht eindeutig zuordnen.

MULTIMEDIALITÄT ALS SPANNWEITE DES ERFAHRUNGSKEGELS

Mit dieser Bezugnahme auf die Ansätze von BRUNER, OLSON und DALE möchte ich meine erste für die Didaktik wichtige Bestimmung von "Multimedialität" vornehmen: Multimedial ist eine Lernumgebung, wenn in ihr das ganze Spektrum (oder wenigstens ein breites Spektrum) des Erfahrungskegels abgedeckt wird. Multimediale Lernumgebungen sind deshalb solche, die eine Vielzahl enaktiver, ikonischer und symbolischer Komponenten umfassen.

Multimediale Lernumgebungen in diesem Sinne haben für effektives Lernen aus mehreren Gründen besondere Bedeutung:

MULTIMEDIALITÄT ALS VIELFALT DER WISSENSREPRÄSENTATION

Damit komme ich zum zweiten Aspekt einer Begriffsbestimmung von Multimedialität, der an Konzepte neuerer Wissenstheorien anknüpft. In diesen Wissenstheorien wird Wissen als "gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit" verstanden, d .h. Wissen wird nicht als Ansammlung von objektiv und universell erfahrbaren Sachverhalten betrachtet, sondern als die von Kulturen, Gesellschaften und Gemeinschaften der verschiedensten Art als bedeutsam erachtete Erfahrung, die in geordneter Form gespeichert wird, so daß sie überliefert, angewendet und weiterentwickelt werden kann.

Daß Medien für die gesellschaftliche Rekonstruktion der Wirklichkeit wichtig sind, gilt sowohl für enaktive als auch für ikonische und symbolische Medien. Letztere spielen vor allem in Schriftkulturen eine hervorragende Rolle bei der Wissensrepräsentation. Aber schon Steinzeitmenschen verwendeten neben enaktiven Medien in ihren rituellen Handlungen und neben ikonischen Medien in ihren Höhlenzeichnungen auch bereits symbolische Medien in ihren mündlich überlieferten Mythen und Märchen.

In modernen Kulturen hat sich nicht nur der Wissensbestand dramatisch vermehrt; es haben sich auch die Speichermöglichkeiten und die Ordnungen vervielfacht. Man denke einmal daran, wieviele Gemeinschaften sich mit der Erzeugung, Anwendung und Vermittlung von Wissen auf dem Gebiet der Hygiene befassen, wieviele wissenschaftliche Fächer, wieviele Firmen, wieviele Berufsgruppen, in wievielen Ländern. Man denke daran, in welchen Sprachen und Ordnungen sie dieses Wissen repräsentieren, angefangen von alphabetischen Ordnungen über die systematischen Ordnungen verschiedener Fächer bis hin zu den problembezogenen Ordnungen der verschiedenen Praktiker.

In unserem Zusammenhang interessiert dabei besonders der Aspekt der Wissensrepräsentation, nämlich die Art und Weise, wie Erfahrung von Wissensgemeinschaften gespeichert und geordnet wird. Es sind nämlich Medien, die bei der Wissensrepräsentation als Speicher und Ordnungen zugleich funktionieren. So repräsentieren z. B. auf Papier gedruckte Prosatexte in der Regel auch lineare Ordnungen, stehende Bilder topologische Ordnungen und bewegte Bilder chronologische Ordnungen.

Wissensrepräsentation ist jedoch immer auch eine Frage der Medien, in denen Wissen gespeichert wird. Da sind zunächst die Gehirne der Menschen, die ihrerseits Speichermedien eigener Art sind und mit externen Speichermedien interagieren. Diese externen Speichermedien lassen sich nicht nur nach ihrer materiellen Charakteristik unterscheiden: chemische Substanzen wie bedrucktes Papier, belichtete Filme oder elektronische Aufzeichnungen etwa. Sie lassen sich vor allem nach den Ordnungen unterscheiden, in denen Wissen gespeichert ist.

Was nun bringen diese Überlegungen für eine vom Interesse des Didaktikers geleitete Begriffsbestimmung von "Multimedialität" ? Zunächst die Erkenntnis, daß mit der Vielzahl der zur Gestaltung von Lernumgebungen herangezogenen Medien zugleich eine Vielfalt von Rekonstruktionen der Wirklichkeit, von Ordnungsvorstellungen, und von alternativen Speichermöglichkeiten zur Verfügung gestellt wird.

Multimedialität als Vielfalt der Wissensrepräsentation, bringt jedoch nicht nur die Chance von Erfahrungsvielfalt mit sich, sondern zugleich auch die Gefahr von Informationschaos. Gutes didaktisches Design von Lernumgebungen muß deshalb auch stets mit  sorgfältigem Wissendesign verbunden sein. Dies heißt nicht, daß nur eine Wissensordnung von nur einer Wissensgemeinschaft zur Geltung kommen darf. Es wäre absurd, wenn wir Wissen über Hygiene nur als Wissensrepräsentationen von Ärzten, Chemikern oder Entertainern zur Verfügung gestellt bekämen. Mündige Lerner können schon Vielfalt und Pluralismus vertragen. Aber die Bezugssysteme müssen klar erkennbar, die Repräsentationen durchsichtig gestaltet werden. Der Unterhaltungs- und Informationsmüll, der uns tagtäglich über manche Sender und manche Sendungen frei Haus geliefert wird, sollte uns zu denken geben. Soviel zu unserem  zweiten Aspekt: Multimedialität als Vielfalt der Wissensrepräsentation.

MULTIMEDIALITÄT ALS MULTIDIDAKTISCHE KONTEXTUALITÄT

Nun zum dritten und letzten Punkt meines Versuchs, einen für didaktisches Handeln und didaktisches Design sinnvollen Begriff von "Multimedialität" zu entwickeln. Ich verwende hierfür den Begriff "Multimedialität als Vielfalt der didaktischen Modelle und der Lehr-Lernkulturen". Dieses Merkmal einer Begriffsbestimmung geht aus von der Erfahrung, daß Medien in der Regel in enger Beziehung zu den verschiedenen Unterrichtsformen bzw. didaktischen Modellen stehen. Man kann sogar noch weitergehen und von unterschiedlichen Lehr-Lernkulturen sprechen, die von unterschiedlichen Bildungsträgern und unterschiedlichen Bildungsinstitutionen bevorzugt werden so etwa der Frontalunterricht in allgemeinbildenden Schulen, das Planspiel im Management-Training und in der militärischen Ausbildung, die Vorlesung und das Referateseminar in Hochschulen und das Werkstattseminar in professionellen Weiterbildungsveranstaltungen. Jede dieser spezifischen Lehr-Lernkultur kennt ihre bevorzugte Medienverwendung.

Aber jeder dieser Kontexte, d. h. jedes der genannten didaktischen Modelle und jede dieser Lehr-Lernkulturen kennt auch modellspezifische Verwendungen von Medien. So kennen wir alle die im Kontext von Vorlesungen an Hochschulen verbreiteten Formen der Medienverwendung, angefangen von Wandtafel-Beschriftungen und Wandtafel-Zeichnungen, über Texte und Bilder auf Folien oder Dias, die auf eine Leinwand projiziert werden, bis hin zu den Tonfilmsequenzen des wissenschaftlichen Films.

Auch das didaktische Modell des individualisierten programmierten Unterrichts bildet einen Kontext vielseitiger Medienverwendung, angefangen vom programmierten Lehrbuch über einfachere Lernsoftware bis hin zum interaktiven Text-Ton-Bild-Programm auf CD ROM.

Ebenso ist Multimedialität auch im Kontext des didaktischen Modells "Fernunterricht" geläufig, wenn er über die Monomedialität des geschriebenen Textes hinausgeht und nicht nur ikonische (audiovisuelle) Elemente in die Gestaltung von Lernumgebungen einbezieht, sondern auch enaktive Elemente wie Experimente und Erkundungen.

Und schließlich finden wir im Rahmen des didaktischen Modells "Simulation" umfangreiche Medienverwendung, angefangen vom einfachen Rollenspiel, bei dem die Lernumgebung vom enaktiven Medium "Laienschauspieler" gebildet wird, bis hin zur Computersimulation mit audio-visuellen Komponenten.

Neben diesen vier didaktischen Modellen bzw. Grundformen didaktischen Handelns gibt es jedoch noch viele andere, in denen Medien als Elemente Verwendung finden können. Im Rahmen eines langjährigen Forschungprojekts habe ich mit meinen Mitarbeitern insgesamt 20 solcher Grundformen rekonstruiert, von denen jede in der Regel in mehreren Varianten vorkommt (FLECHSIG 1991). Das Ergebnis dieser Rekonstruktion, der "Göttinger Katalog Didaktischer Modelle" enthält so folgende Grundformen:

DIE 20 ARBEITSMODELLE DES "GöTTINGER KATALOGS"

 
1. Arbeitsunterricht 11. Lernausstellung
2. Disputation 12. Lerndialog
3. Erkundung  13. Lernkabinett
4. Fallmethode 14. Lernkonferenz
5. Famulatur 15. Lernnetzwerk
6. Fernunterricht 16. Lernprojekt
7. Frontalunterricht  17. Simulation
8. Individualisierter programmierter Unterricht 18. Tutorium
9. Individueller Lerplatz  19. Vorlesung
10. Kleingruppen-Lerngespräch 20. Werkstattseminar
        
In unserem Zusammenhang einer Begriffsbestimmung von "Multimedialität" ist nun die Feststellung wichtig, daß jede dieser zwanzig Grundformen und jede ihrer Varianten Medien als Komponenten der Lernumgebung haben können und meist auch haben. So kommen in nahezu allen Grundformen schriftliche Texte in irgendeiner Form vor. Bei Erkundungen finden oft Tonaufzeichnungen von Interviews Verwendung, oder in Lernprojekten werden in der Regel  schriftliche Projektberichte verfaßt.

Im Interesse didaktischer Vielfalt und damit im Interesse effektiveren, humaneren und nachhaltigeren Lernens wird es darauf ankommen, multimediale Repräsentationen von Wissen in den Kontext auch dieser Modelle zu bringen.

ZUSAMMENFASSUNG

Fassen wir zusammen: Aus der Perspektive didaktischen Handelns erscheint es sinnvoll, bei der Begriffsbestimmung von "Multimedialität" weder von der Vielfalt und Kombination technischer Geräte noch von der Anzahl und der Verknüpfung der menschlichen Sinnesorgane auszugehen, über die Informationen vermittelt werden. Für didaktisches Handeln und didaktisches Design geeigneter erscheinen vielmehr die Spannweite des Erfahrungskegels, die Vielfalt der Wissensrepräsentation und die Vielfalt der didaktischen Modelle, in deren Kontext Medien verwendet werden.

FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN

Was den letzgenannten Punkt anbelangt, so besteht hier ein erheblicher Forschungsbedarf. Es gibt jedoch gute Gründe, diese Forschungslinie weiterzuverfolgen und modellspezifische Medienverwendung zum zentralen Thema zu machen: Vier dieser Gründe möchte ich hier nennen:
  1. Alle Versuche, eine beste Unterrichtsmethode für alle Lerner und für alle Kontexte zu finden, sind in der Geschichte der Didaktik gescheitert. Die neuere Lernstilforschung stützt vielmehr die Erkenntnis, daß Lerner entsprechend ihren Lernstilen von einzelnen didaktischen Modellen bzw. Unterrichtsmethoden mehr profitieren als von anderen. Die Erweiterung der Modellvielfalt ist daher zu empfehlen, wenn man die systematisache Benachteiligung von Lernern eines bestimmten Lernstils verhindern will.
  2. Untersuchungen über Effekte des gleichen Mediums im gleichen didaktischen Kontext, das jedoch in gerätetechnisch verschiedener Weise erzeugt bzw. präsentiert wurde, zeigen keine signifikanten Unterschiede in bezug auf Lerneffekte.
  3. Da in der Unterrichtsforschung immer nur Systemeffekte, nicht jedoch Effekte einzelner Variabler erfaßt werden können, lassen sich gültige Erkenntnisse über die Wirkung von Unterrichtsmedien nicht generell, sondern nur bezogen auf spezifische Kontexte gewinnen. Spezifische Merkmale der einzelnen didaktischen Modelle bzw. der verschiedenen Lehr-Lernkulturen gehören jedoch zu den wichtigsten Kontextmerkmalen didaktischen Handelns.
  4. Wenn das didaktische Modell festlegt, welche Medien in welcher Weise verwendet werden, lassen sich Aussagen darüber machen, welche Medien im betreffenden Kontext wie funktional, wie effektiv und wie ökonomisch sind. Wenn jedoch Vorentscheidungen über einzusetzende Medien das didaktische Modell ferstlegen, lassen sich keine Aussagen darüber machen, welche Lerneffekte auf dem Einfluß des didaktischen Modells beruhen und welche auf den verwendeten Medien.
Ich plädiere deshalb dafür, die Vielfalt neuer technischer Möglichkeiten zur Erzeugung von Lernumgebungen mit multimedialen Komponenten in der Weise zu nutzen, daß man zunächst die für den Kontext geeigneten didaktischen Modelle auswählt und dann die im Rahmen dieser Modelle erprobten Formen des Medieneinsatzes vergleicht und entsprechend auswählt. Auf einer solchen Erfahrungsbasis lassen sich dann auch im Einzelfalle neue Geräte der Medienerzeugung sinnvoll anwenden. Auf jeden Fall sollten wir verhindern, daß Steinzeitdidaktik im Gewand von EDV-gestützter Multimedialität als didaktischer Fortschritt Zukunft wird.

LITERATUR:

Flechsig, K.-H.: Kleines Handbuch Didaktischer Modelle. Göttingen 19913.

Maddux, C. D.: User-Developed Computer-Assisted Instruction: Alternatives in Autoring Software. In: Educational Technology, April 1992, Vol. 32, No. 4, S. 7-14.

Olson, D. R. and Bruner, J. S.: Learning Through Experience and Learning Through Media. In: Olson, D. R. (ed.), Media and Symbols. The 73rd  Yearbook of the NSSE, I, Chicago 1974, pp. 120-150.


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