Während jedoch die Bedeutung interkulturellen Lernens innerhalb und außerhalb der Erziehungswissenschaften wie auch in der Öffentlichkeit gemeinhin erkannt wird, gilt dies nicht in gleicher Weise auch für sein Komplement, das "kulturelle Lernen". Offensichtlich herrscht noch immer die Auffassung vor, daß das Erlernen eigener Kultur im wesentlichen im frühen Alter geschieht, und zwar durch Prozesse, die üblicherweise als "Enkulturation" oder "Sozialisation" bezeichnet werden. Demgegenüber sollte kulturelles Lernen jedoch als lebenslanger Prozeß gesehen werden, der in der Begegnung mit anderen Kulturen eine neue Qualität erhält. Dies wurde zwar bereits in der Kulturkundebewegung zu Beginn dieses Jahrhunderts ausführlich erörtert. Auch in den meisten Theorien interkulturellen Lernens finden sich Hinweise darauf, daß interkulturelles Lernen stets mit kulturellem Lernen einhergeht und daß Kulturkontrasterfahrungen stets in zwei Richtungen wirken: sie entwickeln zugleich besseres Verständnis für das Fremde und besseres Verständnis für das Eigene; und sie vermitteln zugleich Kompetenzen für den Umgang mit anderen Kulturen und Kompetenzen für den Umgang mit der eigenen Kultur.
Dieser Prozeß ist zumeist mit starken emotionalen Erlebnissen verbunden. Fremdes wird als Neugier weckend, interessant, exotisch und horizonterweiternd empfunden, aber auch als ängstigend, bedrohlich und schockauslösend, so daß Kulturkontrasterfahrungen nicht selten mit Aggressions- und Abwehrreaktionen verbunden sind.
Unsere Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, daß weltweit immer mehr Menschen Kulturkontrasterfahrungen machen, da die Gelegenheiten zunehmen - sei es im Ausland oder auch im Inland -, mit Menschen aufeinanderzutreffen, deren kulturelle Prägung von der eigenen verschieden ist. Dieses interkulturelle Aufeinandertreffen führt jedoch nicht automatisch zu interkulturellem Lernen und zur Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen. Eine wesentliche Bedingung für interkulturelles Lernen ist offensichtlich, ob und wie weit dabei Kulturkontrasterfahrungen gemacht und verarbeitet werden.
Prozesse intensiver Kulturkontrasterfahrung verlaufen in der Regel nicht stetig und harmonisch, sondern eher schockartig ("Kulturschock") und konflikthaft; und sie lassen sich - wie andere Entwicklungsprozesse auch - nach Phasen unterscheiden. Während die erste Phase häufig noch von Euphorie getragen ist, zeichnen sich die nächsten Phasen durch Betonung von Vorzügen der eigenen und der Ablehnung der fremden Kultur aus. Erst die weitere Entwicklung bringt dann eine realistischere Einschätzung und ein besseres Verständnis sowohl für fremde als auch für eigene Kultur mit sich, bis schließlich kulturelle Neuorientierungen entstehen, die je nachdem als Entdeckung von Gemeinsamkeiten, als Übernahme von Elementen des bis dahin Fremden, als Weiterentwicklung des Eigenen oder auch als Neuentwicklung von - beide Kulturhorizonte übergreifenden - "transkulturellen" Eigenschaften in Erscheinung treten.
Kulturkontrasterfahrungen sind somit für Lernprozesse entscheidend, bei denen gleichzeitig mehr darüber gelernt wird, was "fremde" Kultur ist und was "eigene" Kultur ist. Sie sind aber auch entscheidend für Lernprozesse, bei denen gelernt wird, was "gemein- same" Kultur und was Kultur überhaupt ist. Diese vier Aspekte sollen im folgenden kurz erläutert werden.
Unser alltagssprachlicher und im Alltagsdenken verankerter Kulturbegriff weicht in mindestens drei Punkten deutlich vom Stand der wissenschaftlicher Diskussionen in den damit befaßten wissenschaftlichen Disziplinen ab, womit nicht gesagt sein soll, daß in diesen Disziplinen einheitliche Auffassungen bestehen:
Wie aber lernt man zu unterscheiden, ob es sich bei einer als "fremd" wahrgenommenen Verhaltensweise (z.B. Begrüßung per Handkuß) um eine kulturspezifische, d.h. für eine Kulturgemeinschaft charakteristische oder um eine individuelle Verhaltensweise handelt ? Offensichtlich hängt die Möglichkeit, dies zu entscheiden, vom Vorhandensein eines besonderen Hintergrundwissens ab, mit dessen Hilfe man Menschen erkennt als solche, die zum eigenen Kollektiv gehören und solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Daß dabei äußere Merkmale wie Hautfarbe, Haartracht und Kleidung eine ebenso große Rolle spielen wie Sprache, Gebärden und möglicherweise auch Geruch, darf als belegt angenommen werden.
Um entscheiden zu können, ob es sich um kollektive und kulturspezifische Eigenschaften eines Fremden handelt oder um individuelle, muß weiteres Hintergrundwissen über Eigenschaften bestimmter Kollektive angeeignet werden. Solches Hintergrundwissen, das der Begegnung mit Mitgliedern anderer Kulturgemeinschaften vorausgeht, wird in der Alltagspraxis zumeist in Form von einfachen, d.h. von wenigen Merkmalen gebildeten Schemata ("Stereotypen") vermittelt, etwa über Witze und Anekdoten, literarische oder filmische Repräsentationen, in neuerer Zeit auch über die Werbung. Und weil die Zahl der namentlich bekannten Kulturgemeinschaften in der Regel begrenzt bleiben muß, greift die Alltagspraxis gern auf - oft lange - historische Überlieferungen solcher Schemata zurück, in denen Territorialität, Nationalität, Religionszugehörigkeit, regionale Herkunft oder Minderheitenstatus als Bestimmungsmerkmale akzentuiert werden: "die Franzosen", "die Juden", "die Indianer", "die Ostfriesen", etc., (wobei diese Wörter von naiven Gemütern gern auch im Singular verwendet werden).
In aller Regel beruhen diese Schemata nicht auf statistischen Erhebungen der schemabildenden Eigenschaften und haben nur wenig mit der Realität zu tun. Sie sind jedoch - selbst wenn sie "falsch" sind - sozusagen notwendige Einstiegs- und Orientierungshilfen für Lernprozesse. Daher sollte das bloße Vorhandensein von solchen einfachen Schemata der Orientierung über andere Kollektive nicht mit dem Begriff "Vorurteil" belegt werden. Erst wenn sie Lernprozesse nicht stimulieren und eröffnen, sondern verhindern und abschließen, werden sie zu Vorurteilen.
In neuerer Zeit werden solche Schemata bzw. Merkmalskataloge auch mit dem Begriff "Kulturstandards" bezeichnet und zur Grundlage vorbereitender interkultureller Trainings gemacht. Dabei sind unter "Kulturstandards" Wert- und Moralvorstellungen sowie Verhaltensweisen zu verstehen, die für eine Kulturgemeinschaft typisch sind bzw. sein sollen. In solchen Ansätzen werden die Einheiten, die jeweils als eine Kulturgemeinschaft gelten, zumeist als "Länder" bezeichnet, d.h. nach ihren territorialen Grenzen bestimmt. Angesichts der weltweit stattfindenden Globalisierung vieler Gesellschaften ist dies nicht unproblematisch.
Auch wenn man die hier skizzierten Vorphasen einer vorausgehenden Schemabildung nicht außer acht lassen darf, so beginnt das Erlernen einer fremden Kultur im engeren Sinne erst bei Begegnungen mit lebenden Mitgliedern der betreffenden Kulturgemeinschaft. Solche Begegnungen können von mittelfristiger oder längerfristiger Dauer sein. Nur wenn sie intensiv sind, d.h. wenn sie Formen des Zusammenlebens und der Zusammenarbeit beinhalten, bieten sie Chancen zu lernen, was eine fremde Kultur ist.
Wie manche Beispiele gescheiterter Praxis belegen, ergeben sich diese Chancen jedoch nicht automatisch durch Begegnung, Zusammenleben und Zusammenarbeit. Sorgfältige Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung solcher Erfahrungen können sie jedoch erheblich verbessern.
Im Laufe des Modernisierungsprozesses nahm in Europa aber auch die kulturelle Binnendifferenzierung von Gesellschaften zu: religiöse und regionale Besonderheiten, der Eigencharakter von Generationen, Professionen, Ideologien und Institutionen wurden so zu Einflußgrößen kultureller Orientierung. Und wenn man die aktuellen Untersuchungen zur Ausdifferenzierung der bundesdeutschen Gesellschaft nach "Milieus" und "Lebensstilen" ernst nimmt, so gewinnt die "mikrokulturelle" Orientierung unserer Mitbürger zunehmend Gewicht für Lebensführung und Gemeinschaftsbildung. Dies aber hat zur Folge, daß Individuen in der Regel jeweils mehreren Kulturgemeinschaften zugleich - wenn auch mit unterschiedlicher Betonung und mehr oder weniger bewußt - zugehören.
Daß für diejenigen Mitbürger, die selbst oder deren Eltern außerhalb Deutschlands aufgewachsen sind, zusätzlich noch weitere Aspekte kultureller Orientierung hinzukommen, sei in diesem Zusammenhang nur am Rande erwähnt, obwohl dieser Umstand etwa in der Literatur zur Ausländerpädagogik besonders betont wird.
Nicht unerwähnt bleiben darf ferner die Tatsache, daß sich in den letzten Jahrzehnten Vorstellungen von "Weltkultur" Geltung verschafft haben, in denen die Notwendigkeit hervorgehoben wird, daß die Menschheit lernen muß, sich im ganzen als eine Kulturgemeinschaft ("Lernen für die eine Welt") zu verstehen, um die politischen und moralischen Konsequenzen aus ihren ökologischen, ökonomischen, institutionellen und kommunikativen Vernetzungen zu ziehen.
Angesichts der Vielfalt der hier nur sehr knapp skizzierten kulturellen Orientierungsmöglichkeiten gerät kulturelles Lernen als "Lernen, was meine eigene Kultur ist oder sein könnte", unter erschwerende Bedingungen. Denn diese "eigene" Kultur läßt sich weder durch Identifikation mit einem einzigen bedeutsamen Kollektiv definieren, noch durch eine lediglich subjektive Entscheidung zugunsten einer individuellen Mischung von Elementen aus dem Gesamtinventar kultureller Möglichkeiten. Unter Bedingungen spätmoderner Existenz müssen Menschen lernen, gleichzeitig mehreren kulturellen Bezugssystemen und Gemeinschaften zuzugehören, d.h. sie müssen lernen, zugleich Weltbürger, Europäer, Staatsbürger, auch Gemeindemitglied, Vertreter einer Institution usw. zu sein, ein Umstand, den uns die Soziologie mit dem Rollenbegriff vermittelt hat. Und sie müssen lernen, wie man ein persönliches Gleichgewicht zwischen der Anforderungen und Vorgaben dieser Bezugssysteme herstellt.
Zwei Tendenzen bereiten diesem Erlernen dessen, was meine eigene Kultur ist, besondere Schwierigkeiten. Dies ist zum einen die Tendenz, daß aus dem Tatbestand kultureller Vielfalt und kultureller Relativität die Konsequenz gezogen wird, daß kulturelle Optionen - oder gar der Verzicht darauf - den Prinzipien von Zufall und Beliebigkeit unterliegen. Für Kulturen gilt jedoch ebenso wie für Sprachen, daß die Tatsache sprachlicher Vielfalt und sprachlicher Relativität nicht impliziert, daß es autonomen Subjekten freigestellt ist, beliebige Laute mit ihrem subjektiven Vorstellungen zu verknüpfen und dies dann als "Sprache" zu bezeichnen. Auch gilt für Sprachen, daß sie in einem Prozeß evolutionärer Dynamik sowohl eine Anpassung an Lebenswelten als auch eine selbstreferentielle Qualität erreicht haben. Einzelne Menschen können dann zwar mehrere Sprachen lernen und im Rahmen dieser Sprachen individuelle Varianz nutzen, ja sie können diesen vom System einer Sprache vorgegebenen Bezugsrahmen sogar sprachschöpferisch erweitern. Würden sie sich jedoch ihre eigene Sprache zusammenbasteln, sei es aus selbsterfundenen Wörtern und Syntagmen, sei es aus Wörtern und Syntagmen, die sie vielen Sprachen entlehnen, so gingen sie damit das Risiko mißlingender Kommunikation mit anderen Menschen ein und verlören damit eine wesentliche Eigenschaft ihrer menschlichen Existenz.
Folgen wir dieser Analogie, so impliziert sie, daß Menschen prinzipiell mehrere Kulturen erlernen und in diesen auch kulturschöpferisch tätig sein können, daß sie jedoch immer an die Vorgaben des jeweiligen kulturellen Bezugsrahmens gebunden sind.
Die zweite Tendenz hängt eng mit dem Modernisierungsprozeß in Europa zusammen und wird im allgemeinen als "Individualisierung" oder "individuelle Modernität" bezeichnet. Diese Tendenz zur Individualisierung und zu individualistischen Moralvorstellungen bei gleichzeitiger Abkehr von sozialen Bindungen (welcher Kulturgemeinschaft gegenüber auch immer) ist selbst eine kulturelle Erscheinung, die in der Spätmoderne ein krisenhaftes Stadium erreicht hat, in der das hohe Lied des Egozentrismus von vielen Kanzeln gesungen wird. Sie erzeugt den Irrtum, daß Menschen als autonome Subjekte "kulturfrei" existieren können oder sollen. Individuell verstandene personale Identität ist jedoch keine Alternative zu kultureller Identität, sondern eng mit der letzteren verbunden. Das Erlernen eigener Kultur ist somit auch die Voraussetzung individueller Persönlich- keitsentwicklung.
Für diejenigen, die junge wie auch erwachsene Menschen beim kulturellen Lernen unterstützen, ergeben sich daraus deutlich veränderte Aufgaben und Herausforderungen. Es geht nun nicht mehr darum, den als vorgegebenen und als selbstverständlich akzeptierten Bezugsrahmen eines wie auch immer weltanschaulich definierten Welt- und Menschenbilds in exemplarischen Beispielen zu präsentieren und einzuüben. Es kann auch nicht allein darum gehen, die Vielfalt kultureller Orientierungsmöglichkeiten vorzuführen und darauf zu hoffen, daß Lerner daraus schon irgendwie persönliche Konsequenzen ziehen. Es geht vielmehr darum, die Bedingungen und Strukturen kultureller Praxis erfahrbar zu machen und einzuüben.
Auch wenn die Geschichte viele Beispiele für imperiale Verhältnisse und überstaatliche Zusammenschlüsse kennt, in denen sich Ansätze gemeinsamer Kultur entwickelten, so sind doch erst in diesem Jahrhundert weltweite Zusammenschlüsse zu einem bestimmenden Element des Weltgeschehens geworden. Vom Völkerbund bis zur UNO und ihren Organisationen über die Bündnisse im Ost-West-Konflikt bis hin zu den aktuellen Bemühungen um globale und regionale Formen intensiver Zusammenarbeit reichen hier die Beispiele.
Bei diesen Bündnissen waren und sind jedoch noch weitgehend ökonomische, militärische und juristische Gesichtspunkte und deren technisch-organisatorische Probleme in den Vordergrund gerückt. Die Gesamtheit der von diesen Bündnissen betroffenen Kulturen, im besonderen deren Wertorientierungen und Moralvorstellungen, ihre sozialen und kommunikativen Grundlagen bleiben weitgehend ausgeblendet. Es ist anzunehmen, daß ohne Bemühungen um die Entwicklung und Gestaltung übergreifender kultureller Gemeinsamkeiten auch die Gemeinsamkeiten in Teilbereichen wenig erfolgreich sein werden. Und was für die internationale Zusammenarbeit gilt, dürfte in vergleichbarer Weise auch für die Binnenstrukturen moderner Gesellschaften gelten, deren multikultureller Charakter zunimmt. Es gilt auch hier zu lernen, was gemeinsame Kultur ist oder sein kann.
Bezogen auf internationale Verhältnisse beinhaltet dies zum einen die Besinnung auf historische Gemeinsamkeiten von Regionen und Nationen und auf frühe wechselseitige Einflüsse. Es beinhaltet zum anderen aber auch das Erlernen und die Entwicklung neuer kultureller Gemeinsamkeiten unter Perspektiven der Zukunft. Bezogen auf die Binnenverhältnisse multikultureller Gesellschaften impliziert dies vor allem, daß die Bedingun- gen ihrer Entstehung ebenso ins Bewußtsein gehoben werden wie die Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung im Sinne eines Gleichgewichts von Besonderheit und Gemeinsamkeit.
Der seit kurzem entwickelte Begriff des "transkulturellen Lernens" weist auf die Notwendigkeit und die Möglichkeiten des Erlernens kultureller Gemeinsamkeiten hin. Er mutet Menschen nicht zu, ihre bisherigen kulturellen Orientierungen aufzugeben, wohl aber sie zu ergänzen und zu erweitern. Zwischen der Verwirklichung dieses Prinzips eines "transkulturellen Lernens" mit Minimalkonzepten des kleinsten gemeinsamen kulturellen Nenners oder mit Maximalkonzepten kulturrevolutionären Charakters liegt jedenfalls ein breites Spektrum weiterer Möglichkeiten.
Es mag befremden, daß diese aus dem Management-Bereich stammende Empfehlung in unserem Zusammenhang an prominenter Stelle erwähnt wird. Deshalb sei auch auf einen wesentlichen Unterschied hingewiesen: Während für Wirtschaftsunternehmen der Aspekt verbesserter Wirtschaftlichkeit zur Begründung herangezogen wird, ist für Bildungseinrichtungen die Gestaltung und Verbesserung von Lernkultur das Motiv. Was Kultur ist, lernt man am besten, indem man Kultur praktiziert. Daß das "Praktizieren" von Organisationskultur etwas zu tun hat mit Bewußtmachung und Verbesserung ("Verfeinerung"), dürfte offenkundig sein. Bildungseinrichtungen sollten daher ihr Bewußtsein dafür steigern, daß sie in erster Linie eingerichtet sind, um Prozesse menschlichen Lernens und menschlicher Entwicklung zu organisieren und daß sie ihre Qualität daran zu messen haben, wie gut sie dieser ihrer Aufgabe gerecht werden. Diese "zweckrationale" Seite von Kultur bedarf jedoch der Ergänzung durch eine "wertrationale". Da es sich bei einer "Kultur" um einen ganzheitlichen, "systemischen" Zusammenhang handelt, der sich durch Betonung spezifischer Wertvorstellungen auszeichnet, ist die kulturelle Qualität einer Bildungseinrichtung auch daran zu erkennen, wie weit diese Wertvorstellungen von den Mitgliedern geteilt werden, wie weit sie die einzelnen Elemente und Maßnahmen der Praxis durchdringen und wie weit sie geeignet sind, kulturelle Identität ihrer Mitglieder zu stiften.
Vor allem wenn sich Bildungseinrichtungen dadurch auszeichnen, daß ihnen Mitglieder kulturverschiedener Herkunft angehören, verfügen sie über zusätzliche Anlässe und Möglichkeiten zur Entwicklung ihrer "organisationskulturellen" Identität: sie können zum einen kulturelle Vielfalt an konkreten Beispielen erfahrbar machen; sie sind zum anderen jedoch dazu herausgefordert, neue ("transkulturelle") Gemeinsamkeiten zu entdecken und zu entwickeln. Dabei trägt die Mitwirkung von Mitgliedern mit kulturverschiedener Herkunft an der Gestaltung von Organisationskultur - ebenso wie die aller anderen Mitglieder - dazu bei, daß auch sie eigene kulturelle Identität weiterentwickeln. Bildungseinrichtungen haben es nicht mit kulturell "fertigen" Menschen zu tun, deren aktuellen kulturellen Zustand es lediglich zu respektieren oder zu tolerieren gilt, wie dies gutmeinende Apologeten des Multikulturellen gelegentlich nahelegen. Bildungseinrichtungen müssen nach dem Prinzip lebenslangen Lernens alle ihre Mitglieder als kulturell entwicklungsfähige Personen auffassen.
Nicht dadurch, daß die einzelnen Bildungseinrichtungen ihre Mitglieder aus unterschiedlichen Kulturen rekrutieren, sondern dadurch, daß sie ihre eigene Organisationskultur gestalten, können sie eigene kulturelle Identität entwickeln und können auf diese Weise zur Entwicklung institutioneller und kultureller Vielfalt beitragen. Ein gewisser Multikulturalismus, der so im Bildungssystem entsteht, könnte multikulturelle Tendenzen auf anderen Ebenen der Gesellschaft, auch auf der Ebene von Weltgesellschaft, aufgreifen und am Beispiel der eigenen Institution thematisieren und reflektieren. Ein in diesem Sinne gestaltetes Bildungssystem würde durch seine Struktur selbst beispielhaft vermitteln wie kulturelles Lernen aussehen könnte, wenn es nicht den Charakter einer (bürokratischen) Monokultur hat, sondern den eines "Biotops" vieler Organisationskulturen.
Als Königsweg zur Vermittlung interkultureller Begegnungen im Rahmen von Bildungseinrichtungen wird zumeist der Personalaustausch (Schüleraustausch, Lehreraustausch etc.) angesehen. Daneben bieten sich jedoch weitere Formen an, in denen Mitglieder von Bildungseinrichtungen interkulturelle Begegnungen organisieren können: Schulpartnerschaften, Austausch von Produkten, Materialien, Publikationen, medienvermittelte Kommunikation (z.B. per Internet).
Wie bereits erwähnt, werden solche Begegnungen jedoch nur dann zu Erfahrungen, wenn sie reflektiert und in persönliche Erfahrungs- und Bildungszusammenhänge eingebunden werden. Bildungseinrichtungen müssen deshalb für vorbereitende, begleitende und nachbereitende Maßnahmen sorgen, die eine Erfahrungsbildung unterstützen. Inzwischen gibt es genügend professionelle Möglichkeiten für die Gestaltung einer solchen Praxis. Sie einzubeziehen gehört somit zur Verantwortung von Bildungseinrichtungen.
Sehr häufig tendieren Bildungseinrichtungen jedoch dazu, Wissen als allgemeingültig darzustellen und Fragen nach seiner Herkunft, nach seinem Geltungsbereich und nach seiner Bedeutung für oft sehr spezielle theoretische oder praktische Zwecke auszuklammern. Mitunter wird dies mit zeitökonomischen Argumenten begründet: Da die Darstellung eines komplexen Begriffs, Modells oder Verfahrens selbst viel Zeit benötigt, bleibt die Frage, wer in welchem Kontext welchen Sinn damit verband, ungestellt. Damit wird zwar die "Menge des durchzunehmenden Stoffes" erhöht, gleichzeitig werden jedoch Chancen vergeben, Hintergrundwissen über die Vielfalt kultureller Kontexte zu vermitteln.
Gelegentlich mögen für die Ausklammerung von Fragen nach dem kulturellen Kontext von Wissen auch Befürchtungen im Hintergrund stehen, daß Wissen weniger wert ist, wenn es einen kulturspezifisch eingegrenzten Sinnbezug hat. Vor allem für wissenschaft- liches Wissen wird der Anspruch auf Allgemeingültigkeit selbst dann noch anerkannt, wenn er nur noch mit einschränkenden Leerformeln ("ceteris paribus") aufrechtzuerhalten ist. Die in den hermeneutischen Disziplinen entwickelten Methoden, die ein besseres, d.h. immer auch kontextbewußteres Verstehen sichern, bleiben zumeist ungenutzt. Auch die unter dem Stichwort "Paradigmenwechsel" bekannten Einsichten in den Zusammenhang von Kulturentwicklung und Wissenschaftsentwicklung harren noch ihrer Umsetzung. Und schließlich sei darauf hingewiesen, daß sich in Auseinandersetzungen zwischen Vertretern von Interdisziplinarität und fächerübergreifendem Unterricht häufig auch kulturelle Unterschiede erkennen lassen.
Begründungen, die andererseits auf Aspekte kultureller Gemeinschaftsbildung
verweisen, dürften demgegenüber noch wenig populär sein.
Und doch sind sie es, die für die lernenden und lehrenden Mitglieder
von Bildungseinrichtungen ebenso, wie für ihre internen und externen
Beziehungen, für die Herstellung ihrer Praxisbezüge ebenso, wie
für die Bestimmung ihrer theoretischen und weltanschaulichen Grundlagen
neue Orientierungen erwarten lassen.