Kulturelle Orientierungen

"Kultur" als Phänomen der Außenwelt

Kultur ist ein Begriff, der sich in Europa seit der Antike entwickelt hat. Dabei haben sich drei Bedeutungen ausgebildet, die auch in der Gegenwart noch aktuell sind und nicht selten für Verwirrung sorgen. Die älteste Schicht des Kulturbegriffs bezeichnet die „Veredlung" der Sitten im besonderen durch Bildung, Religion, Künste und Wissenschaften. In diesem Sinne wird auch der Begriff Zivilisation" verwendet. Dieser Kulturbegriff kommt auch heute noch dort zum Tragen, wo man „Kultur" als Synonym für Kunst und „höhere" Lebensgestaltung verwendet. Im Zusammenhang damit wird dann oft die Menschheit in „zivilisierte" und „wilde" Menschengruppen bzw. Entwicklungszustände gegliedert.

Die zweite Schicht des Kulturbegriffs entwickelt sich im 18. Jahrhundert aus. „Kultur" des Menschen (als Gattungswesen) ist das, was nicht „Natur" ist. Alles, was zur Umwelt des Menschen gehört und von ihm selbst entwickelt wurde, also alles, was Menschen erdacht und gemacht haben. Dazu gehören dann Gebäude und Werkzeuge, Kleidung und Schmuck ebenso wie Sprachen und Rechtssysteme, Künste und Technologien, Organisationsformen und Therapien. Dieser erweiterte Kulturbegriff wird heute noch in den Sozialwissenschaften und im besonderen in der Ethnologie verwendet und breitet sich auch in der Umgangssprache aus.

Die dritte Schicht des Kulturbegriffs bildet sich am Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert aus und bezieht sich auf eine konkrete Menschenmenge, die sich als Einheit von territorialen, ethnischen, ideologischen mentalen und linguistischen Kriterien bestimmen läßt. Hierfür wird dann zumeist auch der Begriff „Volk" oder „Nation" verwendet. Wenn die Wirklichkeit sozialer Verhältnisse einer solchen Einheit widerspricht - und dies ist in Europa weithin der Fall -, so wird die Forderung laut, daß die realen historischen Gegebenheiten so zu verändern sind, daß eine solche Einheit hergestellt wird. Dieser Begriff von „Kultur" als Nationalkultur hat in diesem Fall ideologischen Charakter und wird zumeist zur Unterstützung von Herrschaftsansprüchen verwendet. Er wirkt in unsere Gegenwart hinein und findet in ethnozentrischer Überzeugungen sowie in Ab- und Ausgrenzungsbemühungen seinen Niederschlag.

„Kultur" als Phänomen der Innenwelt

Kultur ist aber nicht nur das, was zur Außenwelt des Menschen gehört. Kultur existiert auch in den Köpfen von Menschen. In jüngster Zeit wurde dieses Verständnis von „Kultur" mit einem Bild aus der Computerwelt verglichen: „culture - software of the mind". Die (biologische) Hardware des Gehirns erhält erst durch ihre kulturelle Programmierung ihre erkenntnis- und handlungssteuernde Funktion. Was und wie Menschen denken und fühlen, was sie für schön oder häßlich, gut oder böse, anständig und unanständig, nützlich oder schädlich, wahr oder falsch halten, wie sie erklären, warum etwas so ist wie es ist, wie sie Wissen erzeugen und organisieren, speichern und vermitteln und schließlich was sie tun und wie sie es tun.

Diese „kulturelle Programmierung" baut auf der genetischen Programmierung des Menschen auf und erfolgt in historischen sozialen Kontexten, indem Menschen lernen, erzogen werden und sich entwickeln. Als „Enkulturation" und „Sozialisation" werden solche Prozesse bezeichnet, bei denen Menschen „Kultur" lernen. Der Vielfalt und Differenziertheit kultureller Kontexte entspricht eine Vielfalt kultureller Orientierungen in einem später noch zu erläuternden Sinn.

In den vielfältigen kulturellen Kontexten, die es gab und gibt, haben Menschen teils gleiche oder ähnliche, teils verschiedene oder andersartige Lösungen gefunden, um ihre kulturelle Umwelt und ihre „Innenwelt" zu gestalten. Aber nicht nur die natürliche Umwelt und das genetische Programm des Menschen bilden Kontexte für die Entwicklung seiner kulturellen Innenwelt, sondern auch historische Kontexte, in denen Traditionen und schöpferische Erfindungen einzelner wie auch Begegnungen mit fremden Welten.

Kulturelle Innenwelten zeichnen sich im besonderen dadurch aus, daß in ihnen Ereignissen und Objekten symbolische Bedeutungen zugeschrieben werden. So werden z. B. gern Tiere als Träger menschlicher Eigenschaften verwendet: Fuchs-schlau, Löwe-mutig, Hase-ängstlich, Schwein-schmutzig, Kamel-dumm etc. Auch anderen Objekten, Ereignissen und Gesten können symbolische Bedeutungen zuerkannt werden, z. B. "Kreuz", "Hammer und Sichel", "Sonnenfinsternis", "Olympiade", "Kopfnicken" oder "Stinkefinger". Wer diese Bedeutungen nicht kennt, z. B. weil er mit dem betreffenden kulturellen Kontext nicht vertraut ist, kann nicht verstehen, was gemeint ist. Er mißversteht die Situation vielleicht sogar, weil die betreffenden Objekte, Gesten oder Ereignisse im eigenen Kontext keine oder eine andere Bedeutung haben. Das Erlernen und Verstehen neuer und fremder Kontexte ist deshalb immer auch mit dem Erlernen ihrer Bedeutungen verbunden.

„Kultur" als Gemeinschaft

Was aber ist eine Kulturgemeinschaft? Früher wäre die Antwort darauf einfach gewesen: z. B. eine Gesellschaft, ein Land, ein Volk, eine Nation, eine Sprachgruppe oder ein Staat. Früher war man auch rasch bei der Hand, Menschen, die aus einem bestimmten Land kamen, bestimmte Nationaleigenschaften nachzusagen: Deutsche sind ordnungsliebend, Franzosen sind Feinschmecker, Italiener sangesfreudig usw. Jemand, der diesem "Nationalstereotyp" nicht entspricht, ist denn eben "kein richtiger" Italiener, Russe, Deutscher etc. Solche Vorstellungen von Eigenschaften ganzer Völker halten sich oft über Jahrhunderte. Obwohl sich jedermann tagtäglich von einer Vielzahl von Verstößen gegen Verkehrsregeln oder Steuergesetze überzeugen kann, lebt im Inland wie im Ausland das Vorurteil, daß alle Deutschen Regeln und Gesetze besonders gern und besonders genau einhalten. Aber selbst wenn es so wäre, daß bei den Bewohnern eines bestimmten Landes gewisse Eigenschaften im statistischen Sinne häufiger verbreitet sind als bei anderen, hilft dies im Einzelfall wenig, um die kulturelle Orientierung eines einzelnen Menschen zu erkennen.

Schwieriger geworden ist in unserer Gegenwart die Frage danach, was eine Kulturgemeinschaft ist, aus drei Gründen: Der erste Grund: In den meisten Ländern dieser Welt haben sich auf dem gleichen Gebiet und im gleichen Staat mehrere Kulturgemeinschaften entwickelt, die gleichzeitig und nebeneinander existieren. Dies sind die (Sub-)Kulturen der Religionen und der Regionen, der Professionen und der Organisationen, der Generationen und der Lebensstile.

Zum zweiten zeichnet sich unsere Gegenwart dadurch aus, daß in modernen Gesellschaften jeder Mensch als ein Individuum betrachtet wird, das gleichzeitig mehreren Kulturgemeinschaften angehören kann: Er kann sich gelegentlich mehr als Weltbürger oder Europäer fühlen, gelegentlich mehr als Bundesbürger oder Hesse, gelegentlich als Katholik oder Grüner, gelegentlich als Ingenieur oder Arbeitsloser. Entsprechendes gilt auch für andere Länder. So können beispielsweise Einwohner Chinas hinsichtlich ihrer kulturellen Orientierungen Moslems oder Buddhisten, Taoisten oder Atheisten, (moderne) Städter oder (traditionelle) Dörfler, Weltbürger oder Nationalisten, Fleischesser oder Vegetarier sein; sie können als Ursachen für Erfolg oder Mißerfolg rationale Gründe oder das Wirken böser Geister angeben; und sie können das Leben in Großfamilien oder in Kleinfamilien bevorzugen.

Der dritte Grund: Außer einer - vor allem im Zusammenhang mit Globalisierungsprozessen sich entwickelnden - "Weltkultur" sind weitere gebietsübergreifende Kulturgemeinschaften entstanden, so z.B. die "Europäische Gemeinschaft".

Wie die leidvolle Geschichte nationaler Stereotypenbildung beweist, ist dabei die Zuschreibung von Eigenschaften, die Mitglieder eines bestimmten Kollektivs - eines fremden oder des eigenen - angeblich besitzen, eine beliebte Vorgehensweise, die oft über Generationen weitergereicht wird. Der dabei ins Spiel kommende fundamentale Denkfehler besteht darin, daß solche Aussagen ebensoviel oder mehr über denjenigen aussagen, der diese Aussage macht, als über den, auf den sie sich bezieht. Ebenso wie „Bruder sein" keine Eigenschaft eines Menschen ist, sondern ein Beziehungsverhältnis zwischen mindestens zwei Menschen bezeichnet, so sind auch Aussagen über „Franzosen", „Moslems" oder welches Kollektiv auch immer solche Beziehungsaussagen, die immer auch zugleich Selbstaussagen sind. Einer empirischen Überprüfung von Merkmalen eines bestimmten Kollektivs entziehen sie sich daher prinzipiell. Wie weit sie sich eignen zur Erfassung von Beziehungsverhältnissen, mag in unserem Zusammenhang offenbleiben.

Kultur als Bezugssystem (als abstrakte Bezugsgruppe)

Aus den genannten Gründen fällt es schwerer, eine Antwort zu geben auf die Frage, was eine "Kulturgemeinschaft" sei und was "eine" Kulturgemeinschaft sei. Deshalb soll im folgenden die Rede sein von "kulturellen Bezugssystemen". Als kulturelle Bezugssysteme werden dann nicht mehr konkrete Gruppen oder Gemeinschaften von Menschen bezeichnet, sondern abstrakte Bezugsgruppen, mit denen sich Menschen identifizieren bzw. denen sie von anderen zugeordnet werden. Wer sich mit der Bezugsgruppe "Weltbürger" oder "Konservativer" identifiziert, meint damit keine bestimmte Menschenmenge, sondern einen Komplex von Wertvorstellungen, Verhaltensnormen und Deutungsmustern, die er im Laufe seiner Enkulturation kennengelernt hat, die er akzeptiert und die er der betreffenden abstrakten Bezugsgruppe zuschreibt. Dabei handelt es sich um einen systemisch geordneten Komplex, der Vorstellungen davon enthält, was diese Bezugsgruppe denkt und fühlt, was sie für schön oder häßlich, für nützlich oder schädlich, für gut oder böse, anständig und unanständig, wahr oder falsch hält, wie sie erklärt, warum etwas so ist wie es ist, wie sie Wissen erzeugt und organisiert, speichert und vermittelt. Entsprechendes gilt für den Fall, daß ein Mensch von einem oder mehreren anderen einer Bezugsgruppe zugeordnet wird, mit der er sich selbst jedoch nicht identifiziert.

Welche kulturellen Bezugssysteme in diesem Sinne weltweit bekannt sind, ist dabei ein offenes Problem, nicht zuletzt auch deshalb, weil solche Systeme sich im ständigen Wandel befinden. Kulturelle Bezugssysteme können auf mehreren Ebenen angesiedelt sein: Auf globaler Ebene sind es unterschiedliche Auffassungen von Weltkultur. Auf der Ebene von "Kulturkreisen" sind es mehrere historisch-geographisch bestimmbare Großräume - Schwarzafrika, Europa und der mediterrane Raum, Asien beispielsweise. Auf der Ebene von Nationen, Stämmen, Ethnien und Sprachgemeinschaften können solche Bezugssysteme gefunden werden. Aber auch Regionen, Religionen, Professionen und Organisationen können als Bezugssysteme in Frage kommen. Und in modernen (oder postmodernen) differenzierten Gesellschaften bilden Lebensstile und Milieus Bezugssysteme für kulturelle Orientierung.

Kultur als Konstrukt

Kulturen haben somit den Charakter im sozialwissenschaftlichen Sinn, d. h. sie sind keine Wirklichkeit, sondern werden als gesellschaftliche Rekonstruktionen der Wirklichkeit erzeugt, ebenso wie andere Rekonstruktionen auch und sie werden wie diese sozial vermittelt, im besonderen durch Erziehung und Enkulturation. Ebenso wie andere Konstrukte, z. B. „Intelligenz", „Sozialschicht" oder „Identität", handelt es sich dabei zunächst um Vorstellungen (Schemata) in den Köpfen von Menschen, die sich auf individuelle und kollektive Merkmale anderer beziehen. Wie weit diese Vorstellungen dann mehr der Realität oder der eigenen Vorstellungswelt entsprechen, bedarf im Einzelfall einer empirischen Überprüfung. Aufgabe sozialwissenschaftlicher Forschung ist es dann, solche Konstrukte mit beobachtbaren Sachverhalten zu verbinden, sie zu „operationalisieren". In diesem Sinne soll auch der im folgenden verwendete Begriff der „kulturellen Orientierung" verstanden werden, d. h. kulturelle Orientierungen sind Konstrukte, deren empirische Entsprechungen im einzelnen nachzuweisen sind.

Kulturelle Orientierungen

Dies führt uns zu der Frage, was man unter "kulturellen Orientierung" inhaltlich zu verstehen hat. Der Begriff "Orientierung" bezieht sich ursprünglich auf die räumliche Orientierung des Menschen. Er weiß, wo er sich im (dreidimensionalen) Raum befindet, er kennt also seinen Standort und seine Lage in diesem Raum und hat Vorstellungen über die Beschaffenheit der Umwelt, in der er sich befindet. Hat er sich verirrt, versucht er dann, sich zu orientieren, also herauszufinden, wo er sich befindet und wie er sich in seiner Umwelt bewegen kann. Orientierungshilfen wie Kompaß, Landkarte, Höhenmesser etc. können ihm dabei helfen.

Der Begriff "kulturelle Orientierung" überträgt diese Vorstellung von der Orientierung im dreidimensionalen Raum auf die Orientierung im "n-dimensionalen kulturellen Raum", d. h. auf die Position des Menschen im Hinblick auf kulturelle Bezugssysteme. Menschen können sich dabei - wie im Falle von Stammesgesellschaften - im wesentlichen an einem einzigen Bezugssystem orientieren, wenn auch hier Differenzierungen nach Geschlecht, Alter und Funktion weitere Bezugssysteme darstellen. Für Menschen die in modernen, komplexen und ausdifferenzierten Gesellschaften leben, die Beziehungen zu supranationalen und infranationalen Bezugssystemen haben, wird der "kulturelle Raum" jedoch vieldimensional. Jemand kann sich dann als Europäerin und Katholikin, Ärztin und Feministin, Seniorin und Sozialistin, Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland und Hessin zugleich verstehen. Und sie kann von anderen - zu Recht oder zu Unrecht - diesen Bezugsgruppen zugeordnet werden. Welche Kombinationen dabei häufiger oder weniger häufig vorkommen, in welchen Situationen welche Bezugssysteme sich manifestieren und welche Entwicklungen Menschen im Laufe ihres Lebens machen, verweist auf empirisch zu ermittelnde Tatbestände. Anders ausgedrückt, "kulturelle Identität" von Menschen in modernen Gesellschaften ist ein komplexer Sachverhalt, da kulturelle Orientierungen sich auf eine Vielzahl kultureller Bezugssysteme richten.

Dabei kann das Bewußtsein für die eigene kulturelle Orientierung mehr oder weniger ausgeprägt sein. Ebenso wie die Orientierung im dreidimensionalen Raum als Selbstverständlichkeit erfahren wird und erst ins Bewußtsein gelangt, wenn man sich verirrt hat oder wenn man beim Salto nicht mehr weiß, was oben oder unten ist, entsteht ein Anlaß, sich zu orientieren. Das Bedürfnis oder die Notwendigkeit bewußter kultureller Orientierung entsteht entsprechend in Situationen, in denen die Selbstverständlichkeit in Frage gestellt ist, im besonderen bei Begegnung und Kontakten mit Menschen anderer kultureller Orientierung oder in "fremden" kulturellen Kontexten. Fremdheitserfahrung löst dann häufig auch die Frage oder die Suche nach "eigenen" kulturellen Orientierungen aus. Umgekehrt versuchen Fremde in solchen Begegnungen ihre eigenen Vorstellungen davon zu entwickeln, welches denn die kulturellen Orientierungen des anderen sind.

Bewußtsein von eigener kultureller Orientierung ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Selbstaussagen, in denen sich Menschen zu einer Bezugsgruppe bzw. einem Bezugssystem "bekennen". Nicht jeder, der lauthals ruft, "ich bin stolz, ein Frankfurter zu sein", beweist damit schon, daß es ein kulturelles Bezugssystem "Frankfurter" im empirischen Sinne gibt. Allenfalls betont er damit Eigenschaften, die er mit einem sozial vermittelten Stereotyp "Frankfurter" verbindet, und zwar unabhängig davon, ob die diesem Stereotyp zugeschriebenen Eigenschaften empirisch ausschließlich oder überwiegend bei Einwohnern von Frankfurt und weniger bei anderen Menschen festzustellen sind. Kulturelle Orientierungen entwickeln sich vielmehr in der Auseinandersetzung mit den Werten und Normen, den Deutungsmustern und Traditionen, den Motiven und Sinngebungen, welche in sich stimmige kulturelle Bezugssysteme ausmachen. Die Frage ist demnach, wie lassen sich solche Bezugssysteme und solche Orientierungen empirisch ermitteln?

Zur Operationalisierung und Diagnose kultureller Orientierungen

Empirische Überprüfbarkeit von Sachverhalten setzt nach dem Verständnis empirisch-analytischer Sozialforschung eine Operationalisierung der Merkmale voraus, die in bezug auf einen Merkmalsträger - ein Individuum oder ein Kollektiv - von „unabhängigen Beobachtern" übereinstimmend beobachtet, d. h. mit Hilfe von Sinnesorganen und Meßinstrumenten wahrgenommen werden können. „Ziel einer Operationalisierung ist, den Begriffen einer Wissenschaft größere Präzision zu geben, sie somit empirisch gehaltvoller zu machen" (Friedrichs 1973, S. 78). Für den Fall, daß eine operationale Definition nur eine partielle Definition eines noch ungenauen Begriffs darstellt, ist die Operationalisierung dann nichts anderes als „die Angabe von beobachtbaren Designaten (Indikatoren)" (a. a. O., S. 78/79). Ein Indikator („index") ist nach Kerlinger „an observable phenomenon that is substituted for a less observable phenomenon or for a phenomenon that cannot be directly observed" (Kerlinger 1964, S. 616).

Der erste Schritt auf dem Weg der Operationalisierung ist somit die Festlegung von Indikatoren, d. h. von prinzipiell beobachtbaren Merkmalen eines Merkmalsträgers, in unserem Falle eines menschlichen Individuums. In einem zweiten Schritt müssen dann Meßinstrumente entwickelt werden, die es ermöglichen, diese Merkmale zu erfassen. Dies können Beobachtungsinstrumente sein, die auf entsprechendes Verhalten der beobachteten Person gerichtet sind. Es können auch Befragungsinstrumente sein, die Aussagen über Wahrnehmungen oder Meinungen auslösen und registrieren.

Wenn es nun aber zutrifft, daß in bezug auf interkulturelle Beziehungen immer auch der kulturelle Hintergrund des Beobachters oder Beurteilers mit ins Spiel kommt, wie läßt sich dann so etwas wie „Objektivität" bzw. „Kulturunabhängigkeit" solcher Beobachtungen erreichen? Auf der einen Seite steht dem entgegen, daß der Forscher in die Entwicklung seines Meßinstruments und in die Wahrnehmung und Interpretation der erhobenen Daten seine eigene kulturelle Orientierung einbringt, die möglicherweise Merkmale akzentuiert, die in anderen kulturellen Kontexten keine oder wenig Bedeutung haben und umgekehrt. Zum anderen sind Selbstaussagen von Befragten im Kontext ihrer kulturellen Orientierung zu sehen, so daß beispielsweise nicht die tatsächliche, sondern die sozial (d. h. von der kulturellen Bezugsgruppe) erwünschte Wahrnehmung oder Meinung erfaßt wird.

Stellen wir eine Antwort auf diese Fragen zurück und befassen wir uns zunächst mit der Indikatorenbildung. Es gibt in der kulturvergleichenden Forschung eine Reihe von Hinweisen auf solche Indikatoren, die sich auf kulturelle Orientierungen menschlicher Individuen beziehen und deren kulturübergreifende Relevanz angenommen wird. Zu den Autoren, die in diesem Zusammenhang zu nennen sind, gehören Kluckhohn & Strodtbeck (1961), Hall (1990), Hofstede (1991), Triandis (1988). Angesichts der Tatsache, daß es sich bei kulturellen Orientierungen von Menschen um hochkomplexe Gebilde handelt, ist verständlich, daß die hier vorgestellten Kategorien möglicherweise weiterer Bearbeitung bedürfen, um als Indikatoren im beschriebenen Sinne Verwendung finden zu können. In einem ersten Überblick sollen diese Indikatoren vorgestellt und kurz erläutert werden. Ausgangspunkt ist dabei eine Fassung, die von Brake u. a. (1995) vorgelegt wurde, die daraus Handlungsempfehlungen für interkulturelle Kommunikation und Interaktion entwickelt haben.

Kategorien und Indikatoren kultureller Orientierung

Es geht bei diesen Kategorien und Indikatoren, mit denen sich die kulturellen Orientierungen erfassen lassen, um die Einstellung von Menschen

Es geht sodann um Kommunikationsformen und Kommunikationsstile, Es geht bei Bezugssystemen darum, Es geht um Ordnungsvorstellungen und Denkstile, also darum, Und es geht auch um folgendes: Umsetzung von Indikatorensystemen in Meßinstrumente

Um empirische "Messungen" kultureller Orientierungen durchzuführen, bedarf es der Umsetzung von Indikatorensystemen in Meßinstrumente bzw. "Items". Je nachdem, ob man Beobachtungen oder Befragungen durchführen möchte, muß man Beobachtungsbogen oder Interviewleitfäden bzw. Fragebogen entwickeln und möglichst jedem Indikator mehrere zu beobachtende Merkmale bzw. Fragen zuordnen.

Man kann jedoch auch auf vorhandene Instrumente zurückgreifen, die jedoch in der Regel auf theoretischen Grundannahmen beruhen, welche nicht alle der genannten Indikatoren berücksichtigen. Dazu gehören z. B. der Kulturfragebogen von Sparrow (1993), der sich an die Kulturtheorie von Kluckhohn & Strodtbeck (s. o.) anschließt.

Man kann aber auch Items aus mehreren Fragebogen der eigenen Fragestellung entsprechend kombinieren, wenn es darum geht, z. B. eine Gruppe von Teilnehmern an einem interkulturellen Training zur kulturellen Selbstreflexion zu veranlassen. Für Feldstudien mit dem Anspruch auf Repräsentativität gelten allerdings noch weitere Gesichtspunkte, die hier nicht behandelt werden können.

Auf jeden Fall sollte die Auswahl bzw. Gestaltung der Meßinstrumente im Hinblick auf die Zielgruppe und im Hinblick auf das anstehende Problem erfolgen. Wenn es z. B. darum geht, aktuelle kulturelle Orientierungen von Trainingsteilnehmern zu erfassen, um Trainingswirkungen zu erfassen, dann sollten die entsprechenden Meßinstrumente auf Merkmale bezogen sein, deren Beeinflussung Ziel des Trainings ist. Diagnosen kultureller Orientierungen, die dazu dienen, die Ausgangssituation kennenzulernen, um Trainingskonzepte zu entwickeln, verlangen vermutlich anders gestaltete Instrumente.

Dominante und latente kulturelle Orientierungen

Menschen, auf jeden Fall aber moderne Menschen, sind jedoch hinsichtlich ihrer kulturellen Orientierungen nicht grundsätzlich festgelegt. Sie haben zumeist mehrere kulturelle Seelen in ihrer Brust bzw. können sich an mehreren und unterschiedlichen Bezugssystemen orientieren. Dies führt zu folgenden Überlegungen:

Zum einen ist wahrscheinlich, daß sie diese Orientierungen im Laufe ihres Lebens verändern. Professionelle Identität gewinnen Menschen verständlicherweise erst dann, wenn sie beruflich tätig sind. Religiöse Identität kann durch Bekehrungserlebnisse verändert werden. Territoriale Orientierungen können sich durch Übersiedlung an einen anderen Ort ändern. Und generationsspezifische Orientierungen sind ohnehin altersabhängig.

Sodann können Menschen ihre kulturellen Orientierungen in bezug auf verschiedene Lebensbereiche unterschiedlich akzentuieren. Im beruflichen Bereich eher hierarchisch orientierte Personen können im Familienbereich eher egalitär orientiert sein (und umgekehrt). Personen, die im Bereich des Sports stark wettbewerbsorientiert sind, können im Beruf eher Wettbewerb vermeiden.

Menschen können ihre kulturellen Orientierungen aber auch der Rolle entsprechend unterschiedlich akzentuieren. Als Vorsitzender eines Vereins kann jemand eher auf Harmonie bedacht sein, der vorher als einfaches Mitglied Konflikte nicht scheute. Lehrer, die gleichzeitig auch Elternvertreter in der Klasse ihrer eigenen Kinder sind, können sich in ihrer Einstellung zu Disziplin und Ordnung kulturell durchaus anders artikulieren als in ihrer Lehrerrolle gegenüber Elternvertretern.

Schließlich können Menschen ihre kulturellen Orientierungen aktuellen Situationen anpassen und sie können diese der Situation und ihrer Rolle in der Situation entsprechend modifizieren und akzentuieren. So kann sich jemand in Krisensituationen (z. B. bei Kriegen) zum Nationalisten wandeln, der im Frieden eher weltbürgerliche Orientierungen verkörpert, und umgekehrt.

Wenn dies aber zutrifft, dann lassen sich mit Hilfe der genannten Indikatoren bzw. der entsprechenden Meßinstrumente lediglich dominante, nicht aber latente Orientierungen erfassen. Wie diese latenten Orientierungen sich in welcher Altersphase, in welcher Rolle, in welchem Lebensbereich und in welcher Situation dann manifestieren, ist damit nicht entschieden und kann allenfalls in Form von Wahrscheinlichkeitsaussagen behauptet werden.

Kulturelle Orientierungen und kulturelle Identität

Die bisherige Darstellung des Begriffs „kulturelle Orientierung" legt es nahe, darunter das Gleiche zu verstehen wie unter „kultureller Identität". Und in der Tat hängen die beiden Begriffe eng zusammen. Deshalb ist hier noch ein Hinweis auf eine Unterscheidung angebracht.

„Kulturelle Orientierung" als Konstrukt bezieht sich auf die Vielzahl kultureller Bezugssysteme, über die ein Mensch verfügt und die er in einer Situation zur Anwendung bringen kann. Welche der Orientierungen für ihn jedoch sein Verhalten und Handeln bestimmen, ist damit noch nicht entschieden.

Ein Vergleich mag dies verdeutlichen. Untersuchungen zur moralischen Entwicklung von Menschen haben ergeben, daß zwischen moralischem Urteil und Moralverhalten keine eindeutige Beziehung herrscht. D. h. daß die mit Hilfe von Fragebogen festgestellte moralische Urteilsfähigkeit nur bedingt den Schluß zuläßt, daß sich die betreffenden Situationen (z. B. von moralischen Konflikten) tatsächlich auch so verhalten werden.

In einer ähnlichen Beziehung lassen sich die Begriffe „kulturelle Orientierung" und „kulturelle Identität" sehen. Während kulturelle Orientierungen auf Aussagen über die Selbstzuordnung zu kulturellen Bezugssystemen beruhen, kommt kulturelle Identität im tatsächlichen Verhalten und Handeln zum Ausdruck. Sie läßt sich insofern auch schwerer empirisch fassen, da sie auf Methoden der Verhaltensbeobachtung angewiesen ist.

Sodann jedoch geht in Definitionen kultureller Identität zumeist auch der Aspekt der Fremdzuschreibung ein. Kulturelle Identität hat also auch einen Außenaspekt, d. h. sie wird auch durch Urteile und Verhalten anderer mitbestimmt, während kulturelle Orientierungen auf Selbstaussagen beruhen.

Da diese Unterscheidung üblicherweise jedoch nicht vorgenommen wird, ist es sinnvoll, auch das Stichwort „kulturelle Identität" zu verwenden, wenn man Literatur zum Thema „kulturelle Orientierung" sucht.

Was bedeutet dies für interkulturelles Lernen und interkulturelle Trainings?

Es bedeutet zunächst, daß wir Abschied nehmen müssen von der Auffassung, daß man die kulturellen Eigenschaften eines einzelnen Menschen auf Grund seines Herkunftslandes oder seiner Zugehörigkeit zu einem anderen Kollektiv bestimmen kann. Statt dessen müssen wir - bezogen auf die einzelne Person - versuchen herauszufinden, welches ihre kulturellen Orientierungen sind. Dabei muß die Abhängigkeit der Befunde von Situation, Rolle, Lebensbereich und Lebensphase ebenso berücksichtigt werden wie die Tatsache, daß die mit dem Meßinstrument erhobenen Daten dominante und in der Meßsituation manifeste Orientierungen betreffen, die allenfalls Tendenzen andeuten, nicht aber statische Merkmale.

Es bedeutet ferner, daß Menschen prinzipiell offen und zugänglich sind für interkulturelles Lernen, da sie über eine gewisse Flexibilität ihrer kulturellen Orientierung verfügen, die als wichtige Voraussetzung für Fremdverstehen und interkulturelle Kommunikation bzw. Interaktion anzusehen ist.

Und für Maßnahmen interkulturellen Trainings haben Erhebungen der kultureller Orientierung von Teilnehmern ebenfalls wichtige Funktionen. Sie sind Impulsmaterial für Lerntätigkeiten, die der kulturellen Selbstreflexion dienen. Sie können Einsichten in kulturelle Binnendiffenzierungen von vermeintlich homogenen Teilnehmergruppen vermitteln. Und sie können im Rahmen der Evaluierung eingesetzt werden, um Trainingseffekte (z. B. Einstellungsänderungen) festzustellen.

Literaturverzeichnis

Brake, T. u. a.: Doing business internationally. The workbook to cross-cultural success. Princeton (Training Press) 1995

Friedrichs, J.: Methoden empirischer Sozialforschung. Reinbek (Rowohlt) 1973

Hall, E. T./Hall, M. R.: Understanding cultural differences. Yarmouth, Maine 1990, s. 3-31

Hofstede, G.: Cultures and organizations: software of the mind. London (Mc Graw - Hill Book Company) 1991

Kerlinger, F. N.: Foundation of behavioral research. Educational and psychological enquiry. London u. a. (Holt, Rinehart & Winston) 1964

Kluckhohn, F. R./Strodtbeck, F. L.: Variations in value orientations. Westport C. T. 1961

Sparrow, L.: Examining cultural identity. In: Gochenoir, T. (Hrsg.): Beyond experience. The experiential approach to cross-cultural education. Yarmouth, Maine (Intercultural Press) 1993, 2. Aufl., S. 155-166

Triandis, H.: Collectivism v. Individualism. A reconceptualisation of a basic concept in cross-cultural social psychology. In: Verma G. K./ Bagley, C. (Hrsg.): Cross-cultural studies of personality, attitudes and cognition. Houndvilles u. a. 1988, S. 60-95

Technology Transfer & Technology Validation projects (Hrsg.): Innovation across cultural borders. http://www.cordis.lu/tvp/src/culture3.htm