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Evangelische Kommentare 10/95

Jesus, der Sünder

Gespräch mit dem Neutestamentler Gerd Lüdemann

Professor Dr. Gerd Lüdemann (49) ist Neutestamentler an der Georg-August-Universität Göttingen. Hervorgetreten ist er in den letzten Jahren mit Arbeiten zur Geschichte des Urchristentums, zur Wissenschaftsgeschichte und zum Verhältnis von Psychoanalyse und Exegese. Er leitet unter anderem das Archiv der "Religionsgeschichtlichen SchuIe" in Göttingen. Besondere Aufmerksamkeit erregte sein letztjähriges Buch "Die Auterstehung", in dem er die traditionelle Christologie kritisiert. Gerade erschienen ist sein neues Werk "Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums".

Evangelische Kommentare: Herr Professor Lüdemann, bereits seit geraumer Zeit gibt es ein neues Interesse an der historischen Person des Jesus von Nazareth. Worauf führen Sie dieses zurück?

Professor Dr. Gerd Lüdemann: Der wichtigste Grund ist, daß in der Kirche jeden Sonntag ein Jesus gepredigt wird, der von einer Jungfrau geboren und wahrer Gott, gleichzeitig aber auch wahrer Mensch und ohne Sünden seit soll. Jesus wird so zu einer Gestalt aus der Märchenwelt, die für das allgemeine Wahrheitsbewußtsein nicht mehr zugänglich ist. Deshalb gehen einerseits immer weniger Leute in die Kirche, andererseits aber gibt es ein unvermindertes Interesse daran, wer Jesus denn nun wirklich war. So hat die Kirche mit ihrer Predigt, die an vergangenen Glaubensbekenntnissen orientiert ist, das neue Fragen nach Jesus mit provoziert.

Kommentare: Das ist eine deutliche Kritik an der Kirche. Liegt hier aber nicht auch ein Versagen der Theologie vor, die all diejenigen, die in der Kirche engagiert sind, mit guten Argumenten versorgen sollte?

Lüdemann: Die evangelische Theologie ist gebunden an das Bekenntnis. Auch für sie gelten die entsprechenden Bekenntnisschriften, auch die aus altkirchlicher Zeit. Selbst ein kritischer Systematiker, wie etwa Gerhard Ebeling, der wie kaum ein anderer nach dem historischen Jesus gefragt hat, weicht etwa bei der Frage nach der Sündlosigkeit Jesu aus, indem er diese nicht in Frage stellt, sondern unvermindert behauptet und ausführlich begründet. Für jemanden, der historisch nachfragt, ist das völlig unglaubwürdig. Wenn Jesus wirklich Mensch war, wie soll er dann ohne Sünde gewesen sein, zumal er sich von Johannes dem Täufer "zur Vergebung der Sünden" hat taufen lassen? Selbst Ebeling und erst recht viele andere kritische Systematiker sitzen hier weiterhin der altkirchlichen Christologie auf und weichen der Geschichte schlicht aus. Ich halte die Voraussetzung der Sündlosigkeit Jesu und ihre fortgesetzte Behauptung für einen Skandal.

Kommentare: Sie behaupten also, die evangelische Theologie an den deutschen Universitäten sei verkirchlicht?

Lüdemann: Ja, die Theologie wird zum großen Teil als kirchliche Wissenschaft bestimmt. Das war im letzten Jahrhundert schon so und ist in unserem Jahrhundert verstärkt worden durch Karl Barths "Kirchliche Doginatik". Ich denke dagegen, daß ich meiner Kirche überhaupt nicht damit helfe, wenn ich den kirchlichen Charakter der Theologie betone. Denn das hindert mich daran, nach der Wahrheit zu suchen. Die Theologie ist genauso wenig kirchlich oder christlich wie die Wissenschaft vom Verbrechen verbrecherisch ist. Die Theologie sucht ebenso wie alle anderen Wissenschaften nach der Wahrheit. Sie kann überhaupt kein Resultat voraussetzen.

Kommentare: Worauf führen sie es zurück, daß sich die wissenschaftlich arbeitenden Theologinnen und Theologen der Kirche derart dienstbar machen?

Lüdemann: Es besteht eine enge Verquickung zwischen theologischen Fakultäten und der Kirche. Die meisten meiner Kollegen sitzen in kirchlichen Gremien und sind sogar froh, in dieselben berufen zu werden. Manche haben sich als Theologieprofessoren sogar nachträglich ordinieren lassen. Das widerstreitet eigentlich dem evangelischen Verständnis von Ordination, das ja eng mit dem Pfarramt verbunden ist. Sich nachträglich ordinieren zu lassen, zeigt ein katholisches Denken, das in irgendeiner Weise nach zusätzlichen Sicherheiten sucht und von einer Zwei-Klassen-Gesellschaft ausgeht: hier die Kleriker, dort die Laien.

Kommentare: Diese Entwicklung hat also auch eine psychologische Seite?

Lüdemann: Das mag sein. Vielleicht kommt die Angst hinzu, doch nicht die Wahrheit zu besitzen. Vielleicht suchen viele deshalb nachträglich die Absegnung der Kirche. Das geht aber zu Lasten der Theologie. Denn ein etwaiger Streit zwischen Kirche und Wahrheit wird dann schnell zu Gunsten der Kirche entschieden. Ein kritischer Theologe muß indessen sagen: Im Konfliktfall hat die Wahrheit Vortritt vor der Kirche.

Kommentare: Das neuerwachte Interesse an der Person Jesu hat wohl auch etwas mit den Funden von Qumran zu tun. Für wie seriös halten Sie die Publikationen mancher Kritiker, die, ausgehend von diesen Funden, behaupten, das Christentum habe die Einzigartigkeit Jesu lediglich konstruiert und mit Machtmitteln durchgesetzt. In Wirklichkeit sei Jesus aber nur Mitglied einer jüdischen Sekte gewesen?

Lüdemann: Diese Auffassung ist nicht zu halten. Sie scheitert an den kritisch gelesenen Texten. Aus diesen geht hervor, daß Jesus zu Anfang Täuferjünger gewesen ist. Er hat sich von Johannes taufen lassen. Ein weiteres Tatsachenurteil ist, daß er sich dann losgelöst hat von Johannes und eine eigene Bewegung gegründet und Jünger berufen hat. Alles andere ist schlicht und ergreifend Unsinn.

Kommentare: Gehen wir über zu Ihrer Kritik. In Ihrem neuen Buch bezeichnen Sie Paulus als den "ersten Ketzer". Gemeinhin gilt er indessen als wichtigster Apostel, Evangelist und Theologe des Christentums. Was meinen Sie mit der Bezeichnung "Ketzer"?

Lüdemann: Der Begriff ist so zu verstehen, daß Paulus der erste Mensch war, der von einer anderen christlichen Gruppe als Ketzer, das heißt als frevelhafter und zu verwerfender Mensch bezeichnet worden ist. Faktisch hat die Gemeinde in Jerusalem den Inhalt des Begriffs Ketzer in das Christentum eingeführt. Es war dann eine Ironie der Geschichte, daß Ableger dieser Gemeinde hundert Jahre später selbst als Ketzer bezeichnet wurden. Die Mehrheit der Neutestamentler ist sich zunehmend darin einig, daß Paulus, historisch gesehen, der erste Ketzer war. Es läßt sich ganz deutlich rekonstruieren, wie sich eine christliche Gruppe radikal von Paulus geschieden hat, ja ihn sogar angegriffen und ausgestoßen hat. Dieser Vorgang hat sich im Urchristentum an vielen Stellen wiederholt, so daß wir sagen können: Das Phänomen der Abgrenzung, der Verketzerung, des Abstoßens, des Kampfes miteinander war in den ersten beiden Jahrhunderten, in denen das Neue Testament entstand, viel verbreiteter als gemeinhin angenommen wird.

Kommentare: Trotzdem hat sich eine Lehrmeinung durchgesetzt.

Lüdemann: Ja, aber welche? Sicherlich nicht die Lehrmeinung des Paulus, denn seine Theologie wurde von anderen in verschiedener Weise verändert. Nach seinem Tode wurden unter anderem auch Briefe in seinem Namen gefälscht. So bildete sich erst allmählich der neutestamentliche Kanon heraus.

Kommentare: Die frühchristliche Theologie war vor allem geprägt durch die apologetische Auseinandersetzung mit der Gnosis, die als Irrlehre abgelehnt wurde. Das gilt bis heute. Müßte die Gnosis auf dem Hintergrund Ihrer historisch-kritischen Überlegungen rehabilitiert werden?

Lüdemann: Lassen Sie mich ein Beispiel geben: die Auferstehung Jesu oder die Auferstehung der Gläubigen. Die Kirche, die in den theologischen Auseinandersetzungen am Ende des zweiten Jahrhunderts gesiegt hat, behauptete und bekannte die Auferstehung des Fleisches im Glaubensbekenntnis. Heute bekennen wir die Auferstehung der Toten, früher aber sprach man von der Auferstehung des Fleisches. Die Gruppen, die das Neue Testament durchgesetzt haben, gingen in der Tat von einer fleischlichen Auferstehung Jesu aus. Wie gehen wir heute damit um? Wir können das entweder weiter so behaupten und damit unglaubwürdig werden, oder wir müssen die christliche Hoffnung ganz anders verstehen und auch formulieren. Hier könnte die gnostische Antwort helfen, denn sie nimmt die Auferstehung als ein Symbol für etwas Feststehendes, das unsagbar ist. An diesem Punkt etwa halte ich die Beschäftigung mit gnostischen Aussagen zur Auferstehung für unabdingbar, weil die Gnostiker die einzigen Theologen der Frühzeit waren, die in diesem Punkt Vorstellungen hatten und Formulierungen wählten, die glaubwürdig sind.

Kommentare: Einer der wichtigsten Kritikpunkte an der Gnosis war deren Dualismus, das Auseinanderfallen von Diesseits und Jenseits und die Selbstvervollkommnung des Menschen zu einem göttlichen Wesen. Diese Vorstellung zu rehabilitieren, ginge aber doch wohl zu weit, denn damit würde man unter anderem die reformatorische Rechtfertigungslehre über den Haufen werfen.

Lüdemann: Der Begriff Gnosis ist höchst umstritten. Es ist nicht klar, ob er eine eigenständige Bewegung meint oder eine Struktur innerhalb der christlichen Religion. Ich will nicht behaupten, daß die Kirchenväter alles falsch gemacht hätten. An der Schwelle des dritten Jahrtausends geht es allerdings darum, die Herausforderungen unserer Zeit anzunehmen, und zwar unter Verwendung sämtlicher Dokumente innerhalb und außerhalb der Bibel. Bei der Frage nach der Schöpfung erachte ich die altkirchliche Antwort für absolut notwendig. Hier ist Dualismus schädlich und führt uns von der Verantwortung für die Erde weg.

Kommentare: Hier wird unter anderem die Spannung deutlich zwischen Religion und Wissenschaft, Mythos und Rationalität. Sie lösen diese Spannung fast völlig zu Gunsten der Rationalität auf. Im Zuge der Postmoderne-Diskussion hat sich indessen gezeigt, wie bleibend relevant Mythen für uns Menschen sind. Vernachlässigt Ihre Exegese nicht diese Erkenntnis?

Lüdemann: Das ist ein häufig erhobener Vorwurf. Ich finde, er trifft nicht zu. Zwar arbeitete ich historisch-kritisch. Denn wer wollte behaupten, daß das nicht notwendig sei. Rationalistisch wäre ich indessen nur, wenn ich auch den Osterglauben so erklärte, das heißt intellektuell, als Interpretament, um mit Rudolf Bultmann zu formulieren. Aber ich komme durch meinen historischen Zugang ja gerade zu einer starken Betonung der emotionalen Seite der Entstehung des Osterglaubens. Ich kritisiere sogar eine protestantische Theologie, die gegenüber Visionen voreingenommen ist. Allerdings bin ich davon überzeugt, daß das Grab voll war und Jesu Leib verwest ist. Denn Menschen sterben nun einmal und müssen sich auf gewisse Realitäten einstellen. Hier geht es schlicht und einfach um eine nüchterne Betrachtung, die gewisse Dinge, auch unbequeme, ehrlich ausspricht. Das ist aber noch lange kein Rationalismus.

Kommentare: Kritiker werfen Ihnen unter anderem vor, Sie wählten bei Ihrer exegetischen Arbeit einen falschen Ansatz: Statt liebevoll auf dem Boden der Tradition die Texte von ihrem inhaltlichen Anliegen her zu verstehen, unterwürfen Sie alles dem modernen wissenschaftlichen Denken. Dies sei aber ein "subtiler Kulturimperialismus" (Klaus Berger), der der "Wahrnehmungskultur der Bibel" nicht gerecht werde. Trifft Sie dieser Vorwurf?

Lüdemann: Diese Kritik richtete sich gegen mein Auferstehungsbuch. Ich kann dazu nur sagen, es ging mir um eine ganz andere Frage. Mich interessiert: Was geschah Ostern wirklich? Bei dieser Frage hilft mir ein Rückgriff auf die Wahrnehmungskultur der Bibel zunächst einmal gar nicht. Entscheidend ist zunächst die Faktenfrage, denn einerseits steht zwar in der Bibe!, das Grab sei leer gewesen, andererseits aber kennt zum Beispiel das Evangelium nach Matthäus eine jüdische Version, daß das Grab gar nicht leer war, sondern daß die Jünger den Leichnam gestohlen haben. Deshalb ist die Frage nach der historischen Wahrheit unumgänglich. Ein verantwortlicher Exeget und Historiker muß überdies vergangene Geschichte rekonstruieren, um dem, was sich tatsächlich ereignet hat, näher zu kommen. Und aus dieser Rekonstruktion vergangener Geschichte, die der biblischen überlegen ist, sind dann Folgerungen abzuleiten.

Kommentare: Können Sie das an einem Beispiel konkretisieren?

Lüdemann: Nehmen wir das Evangelium nach Markus und was dort über die Juden gesagt wird. Markus berichtet allein dreimal, daß Jesus nach Jerusalem geht, um von den jüdischen Oberen zu Tode gebracht zu werden. Berücksichtigen wir hier die Wahmehmungskultur der Bibel, so stellen wir ganz offensichtlich antijüdisches Denken fest. Das läßt sich auch an anderen Bibelstellen zeigen. Ich sehe nicht, wie wir anders als durch Rückfrage und Rekonstruktion mit diesen Aussagen sachgerecht umgehen können.

Kommentare: Heißt das, daß die kirchliche Verkündigung Ihrer Meinung nach in den vergangenen 2000 Jahren wenn nicht falsch, so doch zumindest partiell schief war?

Lüdemann: "Partiell schief" ist noch sehr freundlich gesagt. Zunächst einmal rede ich als Wissenschaftler. Ich rekonstruiere Geschichte und schreibe Bücher darüber. Ich mache mir keine Gedanken, was für die Kirche dabei herauskommt. Unbestritten ist indessen, daß es einem bei manchen Fragen ganz schlecht werden kann: Nehmen wir etwa das Verhältnis der Kirche zu den Juden. Deswegen ziehe ich es vor, heutige Fragen zu diskutieren und nicht so sehr, ob Vergangenes partiell falsch oder richtig war. Es geht darum, was heute richtig ist.

Kommentare: Gleichwohl können wir nicht absehen von unserer Herkunft und unserem Erbe. Wir stehen in gewissen Kontinuitäten, die unsere Gegenwart prägen. Ihre wissenschaftlichen Forschungen haben zwangsläufig Auswirkungen auf die Kirche und ihre Verkündigung.

Lüdemann: Ja, aber mir geht es vor allem um die Zukunft. Wir kommen jetzt ins dritte Jahrtausend und müssen darüber nachdenken, welche Rolle die Kirche und die christliche Tradition in Zukunft einnehmen sollen. Für diese Zukunft schreibe ich. Wenn wir nicht offen für die Zukunft bleiben, hat weder die wissenschaftliche Theologie an der Hochschule noch die Kirche in der Gesellschaft eine Perspektive. Dann verbindet sich die Wissenschaft mit dem Unglauben und die Kirche mit der Barbarei, wie Schleiermacher gesagt hat.

Kommentare: Weiche Veränderungen sind Ihrer Meinung nach in der Kirche am dringendsten notwendig?

Lüdemann: Vor allem muß sich die Kirche in eineBeziehung zu Jesus von Nazareth setzen, so, wie er sich aus historischer Rekonstruktion nahelegt, und nicht zu dem erhöhten Herrn. Letzteres ist bereits Interpretation der ersten Christen. In der bisherigen neutestamentlichen Theologie wurde in Anlehnung an Rudolf Bultmann eine scharfe Diastase zwischen Jesus und Christus errichtet: Danach gehört der Jude Jesus zu den Voraussetzungen der christlichen Religion, aber erst mit der Verkündigung Christi beginnt das eigentliche Christentum. Das war eine Konstruktion, mit der sich leben ließ. Damit konnte man die gesamte kirchliche Verkündigung integrieren und Jesus als "schweren Brocken" außen vor lassen. Das aber geht meiner Meinung nach so nicht mehr. Jesus war der erste Christ. Das sollte Konsequenzen für die Kirche und auch für meinen persönlichen Glauben haben.

Kommentare: Das hieße aber dann doch wohl, daß selbst das Glaubensbekenntnis neu formuliert werden müßte, oder?

Lüdemann: Ganz recht. Im apostolischen Glaubensbekenntnis, das wir jeden Sonntag sprechen, heißt es: geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben und so weiter. Der ganze Jesus fehlt in diesen Formulierungen, sein Leben, seine Person, seine Verkündigung. All das muß viel mehr in den Vordergrund gerückt werden. Überdies halte ich mit Verlaub die ganze altkirchliche Christologie für überholt. Sie ist ein Bestandteil der Tradition, die für unsere Verkündigung heute, für unser Leben überhaupt keine Bedeutung mehr hat.

Kommentare: Kann es unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch eine Christologie geben?

Lüdemann: Man müßte wohl Jesulogie sagen. Aber auf den Namen kommt es nicht an, sondern darauf, Jesus historisch verstehbar zu rekonstruieren, seine Person und die Botschaft, die er gebracht hat. Deshalb werden meine künftigen Arbeiten damit befaßt sein, hier weiter zu kommen. Eine Trennung von Jesus und Christus ist durchaus möglich. Die Auferstehung ist kein historisches Ereignis. Dies zu sehen, gebietet schlicht und einfach die intellektuelle Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit. In diesem Zusammenhang kann man an das bekannte Diktum erinnern: Jesus hat das Reich Gottes erwartet, gekommen ist die Kirche. Dem darf man nicht ausweichen, indem man sagt, Jesus und Christus könnten nicht getrennt werden.

Kommentare: Wie läßt sich denn die Auferstehung Ihrer Meinung nach interpretieren?

Lüdemann: Vielleicht helfen uns die Gnostiker auch da weiter. Im Evangelium nach Philippus heißt es an einer Stelle sinngemäß: Diejenigen, die sagen, daß Jesus starb und auferstand, irren sich. Vielmehr ist zu sagen, er stand auf und starb. Hier ist die Auferstehung ein Symbol für etwas Feststehendes. Das könnte auch für eine religiöse Erfahrung gelten, die in diesem Leben zu machen ist und nicht erst im Jenseits. Die Aussage könnte sein: Wer hier Gott erkannt hat und damit auch sich selbst, wer hier durchgedrungen ist zu dem Feststehenden, hat den Tod überwunden. Um diese Erfahrung mit dem Absoluten und dem Feststehenden geht es, wenn ich persönlich von Auferstehung spreche. Und ich glaube, damit kann man auch den modernen Zeitgenossen einen Weg bahnen, sich christliche Inhalte anzueignen.

Kommentare: Ist das auch eine Absage an jede Form von Eschatologie?

Lüdemann: Ich halte es für äußerst schwierig, Aussagen über die letzten Dinge zu machen. Insofern ist die traditionelle Eschatologie, die mit einem zeitlichen Wiederkommen Jesu rechnet, für mich völlig unglaubwürdig und nicht nachvollziehbar. Abgesehen davon: Die ersten Christen haben sich für die einzigen und letzten Christen gehalten. Denn Jesus sollte zu ihrer Lebenszeit wiederkommen. Doch das ist nicht eingetreten. Die Endzeiterwartung hat sich als Irrtum erwiesen. Und ich weiß nicht, wie man nach 2000 Jahren noch damit leben kann.

Kommentare: Viele Christen haben es durch die Jahrhunderte hindurch getan.

Lüdemann: Ja, aber es gab schon immer ehrliche Leute, die das durchschaut haben. Ein Kollege, dessen Name ich nicht nennen will, hat einmal eine Geschichte von Rudolf Bultmann erzählt: Immer wenn er Studenten zu Hause zu Gast hatte, forderte er sie einzeln auf, klar Stellung zu nehmen, ob sie denn meinen, daß Jesus vom Himmel her zurückkommen werde. Mit dieser Frage wollte er sie zwingen, ehrlich zu sein und nicht einfach eine Tradition aufrecht zu erhalten. Ich denke, das ist das einzige, was man in dieser Frage machen kann: ehrlich sein und ein bißchen bescheidener werden.

Kommentare: Damit eng zusammen hängt die Frage nach der Erlösung. Jesus als der Christus war in der kirchlichen Verkündigung immer der Erlöser, der die Menschen von ihren Sünden befreit. Wenn man Ihrem Ansatz folgt, müßte man auch diese Vorstellung ad acta legen. Wie würden Sie denn Jesus bezeichnen?

Lüdemann: Als Mensch. In der Verkündigung Jesu ist die Tendenz sichtbar, die Tradition im Lichte der Liebe und zu Gunsten der Menschheit zu interpretieren. Dabei steht er ganz auf dem Boden der Tradition Israels und wurde deshalb auch von der Hoffnung bewegt, das Reich Gottes werde in unmittelbarer Zukunft anbrechen. Er hatte eine hochgespannte Endzeiterwartung. Wenn wir Jesus als Mensch betrachten, müssen wir zugestehen, daß er weder sündlos noch irrtumslos war. Er hat offenbar etwas erwartet, was nicht eingetreten ist. Das schließt aber nicht aus, daß wir viel von ihm lernen können: von seinen Gleichnissen, von der Seligpreisung der Armen oder davon, daß Gott die Gottlosen annimmt. Diese Botschaft Jesu kann Menschen ansprechen und anrühren, daß sie Grundlage ihres Lebens wird.

Kommentare: Damit hätten Sie allerdings die transzendente Dimension des christlichen Glaubens abgeschafft, das, was man traditionell mit der Chiffre Himmel bezeichnet.

Lüdemann: Was heißt hier Himmel? Man kann die Dimension, die das Faktische sprengt, in verschiedenen Sprachen zum Ausdruck bringen, man kann etwa vom Grund des Seins sprechen. Ich meine schon, unser Leben weist auf etwas anderes hin, wobei ich an Troeltsch erinnere, der gesagt hat: Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits. Wir müssen allerdings lernen, diese Hoffnung neu auszudrücken.

Kommentare: Die Diskussion um das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes hat gezeigt, wie stark christlich imprägnierte Traditionsbestände noch in der Öffentlichkeit vorherrschen. Nehmen Sie es bewußt in Kauf, daß viele Menschen Ihre Gedanken als Anschlag auf das Christentum schlechthin betrachten?

Lüdemann: Ich halte es für aberwitzig, daß etwa die Schülerinnen und Schüler in die Physik eingeführt werden oder in die Chemie, daß sie aber im religiösen Bereich Analphabeten bleiben. Gleichwohl darf das de facto vorhandene Analphabetentum weiter Bevölkerungskreise in Deutschland mit Blick auf das frühe Christentum nicht zur Resignation führen. Denn die Konsequenz kann nur lauten, Bildung auch diesbezüglich als Aufgabe anzusehen und sie in Gemeinden und Schulen hineinzutragen.

Kommentare: Sie stellen mit Ihrem Ansatz viele kirchlich tradierte Auffassungen in Frage. Wurden Sie jemals von offiziellen kirchlichen Stellen unter Druck gesetzt?

Lüdemann: Mein Kollege Berger aus Heidelberg hat in einer großen überregionalen Tageszeitung über ein Lehrzuchtverfahren gegen mich nachgedacht. Ein solches kann es indessen gar nicht geben, weil ich nicht ordiniert bin. Ich bin lediglich ein staatlicher Beamter. Ansonsten fühle ich mich in keiner Weise unter Druck gesetzt. Auf der anderen Seite haben mir einige Pfarrer geschrieben, daß sie wegen ähnlicher Auffassungen von der Kirche gezwungen wurden, ihre Meinung aufzugeben oder Bücher aus dem Verkehr zu ziehen. Innerhalb der Kirche geht man offenbar wohl gegen Abweichler vor. Aber es ist eine Schizophrenie, daß die Bekenntnisse nach wie vor gelten und die Pfarrer auf etwas ordiniert werden, was sie gar nicht mehr glauben können, und dies dann als Gottes Wort verkündigen sollen. Die Scheinheiligkeit könnte nicht größer sein!

Kommentare: Stehen Sie selber noch auf dem Boden von Schrift und Bekenntnis?

Lüdemann: Aus Gewissensgründen, nein! Ich kann zum Beispiel nicht auf dem Boden des apostolischen Glaubensbekenntnisses stehen, denn die dort ausgesagte Jungfrauengeburt hat nachweislich nicht stattgefunden. Ich kann nicht auf dem Boden der Schrift stehen, denn die Bibel ist gar nicht Wort Gottes, sondern ein Werk der katholischen Kirche des zweiten Jahrhunderts. Leider hat man auch im "Jahr mit der Bibel" 1992 wenig von dieser ihrer menschlichen Seite gehört.

Mit Professor Dr. Gerd Lüdemann sprach Michael Strauß am 7. September in Göttingen.

(Evangelische Kommentare 10/95)


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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