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Wenn nichts mehr gilt, was gibt es noch zu glauben?

Theologe Gerd Lüdemann stellt zentrale Aussagen der Bibel in Frage

Das Credo würde er abschaffen; seiner Kirche wirft er Scheinheiligkeit und Schizophrenie vor; daß Jesus durch seinen Tod die Menschen erlösen wollte, hält er für eine Fama: Gerd Lüdemann ist wahrscheinlich der umstrittenste evangelische Theologe. Sein Aachener Kollege Sigurd Daecke hatte ihn zum Vortrag nach Aachen eingeladen; AZ-Redakteur Peter Pappert sprach mit Lüdemann.

Wie wichtig ist die Frage, ob das Grab leer war?

Lüdemann: Nach der Bibel ist sie sehr wichtig. Nach der Tradition und im Bewußtsein der Kirche ist sie wichtig. Aber an sich - vom Neuen Testament aus beurteilt - ist sie unwichtig, führt sogar von der Sache weg, weil die älteste Tradition das leere Grab gar nicht gekannt hat. Der Begriff des leeren Grabes ist aber zum Symbol dafür geworden, ob jemand noch mit dem Kern des Christentums übereinstimmt Es ist ganz schwer, davon wegzukommen, weil es zur zweiten Natur der Kirche geworden ist.

Dann ist die Debatte, die Sie seit Jahren führen, eine Deballe um den Kern des Christentums.

Lüdemann: Ja. Darum geht es. Das ist mein Anliegen: Was ist christlicher Glauben heute? Wir brauchen eine glaubwürdige und kritische Religion.

Was bleibt dem Gläubigen, wenn Sie ihm diese Hoffnung nehmen? Was sehen Sie als Kern des Glaubens? Woran sollen wir uns halten?

Lüdemann: Wir sollten uns auf unseren Glauben besinnen, nachdenken, was Glauben heißt. Es geht darum, ein gutes und erfülltes Leben zu führen, nicht um Dinge, die im Jenseits geschehen. Sterbende denken mehr darüber nach, wen sie geliebt haben, als darüber, was mit ihnen geschieht.

Aber ihr Glauben sagt den Sterbenden, daß der Tod nicht das letzte Wort ist. Es gibt Hoffnung auf Leben nach dem Tod, auf Erfüllung, auf etwas Besseres. Stimmen Sie dem zu?

Lüdemann: Daß es Leben nach dem Tod gibt, ist nicht nachvollziehbar. Für mich ist nachvollziehbar, daß ein Mensch, der ein erfülltes Leben gehabt hat, sanft und zufrieden stirbt. Wir sterben in ein Geheimnis hinein. Soweit will ich gehen. Ich will also nicht sagen: Mit dem Tod ist alles aus. Wir sterben in ein Geheimnis hinein; aber das ist es dann auch.

Sie schließen nicht aus, daß nach dem Tod etwas kommt.

Lüdemann: Das kann ich gar nicht ausschließen. Aber darüber nachzudenken, was nach dem Tod geschieht, halte ich für unsinnig. Bei den Spekulationen über die Dinge nach dem Tod geht es im Grunde immer nur um uns und unsere Probleme hier. Ich schlage also vor, darüber direkt zu sprechen und nicht den Umweg übers Jenseits zu machen.

Viel Hoffnung bleibt da nicht mehr. Über welche Essentials des Glaubens herrscht denn noch Konsens in der Kirche?

Lüdemann: Darüber, daß wir alle glauben wollen. Der Wunsch zu glauben, der Wille zu glauben.

Mehr nicht?

Lüdemann: Mehr nicht - nach meiner Einschätzung.

Das ist nicht gerade viel.

Lüdemann: Ja, das stimmt. Das ist nicht viel.

Und das reicht Ihnen?

Lüdemann: Mir reicht das. Der Mensch lebt von dem Wenigen, was er wirklich glaubt.

Warum wird auf Fragen, die den Glauben betreffen, soviel wissenschaftliche Anstrengung verwendet?

Lüdemann: Weil sich der christliche Glauben auf ein historisches Ereignis bezieht. Er hat sich traditionell an die Geschichte gebunden. Deshalb versuchen wir in der Theologie, um jeden Preis dieser Geschichte nahe zu kommen.

Sie gehen mit Vernunft an die Sache heran. Aber ist Glauben nicht im ursprünglichen Wortsinn etwas Un-Vernünftiges?

Lüdemann: Glaube ist nicht gleich Vernunft. Nur: Was ich glaube, will ich verstehen. Das ist eine Sache der Vernunft. Glauben beruht für mich auf Erfahrung. Seit der Aufklärung ist der Einsatz der Vernunft unabdingbar.

Muß man alles verstehen, was man glaubt?

Lüdemann: Darüber will ich nichts sagen. Ich bin kein Zensor. Die mißliche Lage, in der wir jetzt sind, daß die gläubige Gemeinde schockiert ist, liegt daran, daß sie nie etwas gehört hat, wie die Evangelien geschrieben worden sind. Die Gläubigen sind aus welchen Gründen auch immer als Analphabeten gehalten worden; das auszubaden, kann man nicht von mir erwarten.

Verstehen Sie alles, was Sie glauben?

Lüdemann: Ja. Verstehen in dem Sinne, warum ich es tu. Ich kann über meinen Glauben sprechen.

Was hat der Entzug der Prüfungserlaubnis durch die hannoversche Landeskirche für Auswirkungen auf Sie gehabt?

Lüdemann: ich bin ziemlich isoliert in der Göttinger Fakultät. Aber ich kann arbeiten und werde zu vielen Vorträgen gebeten. Andererseits werde ich zu Kirchenkonferenzen nicht mehr eingeladen. Das Kirchenamt hat mir erklärt: "Ihr Verhältnis zur Landeskirche ist zerstört." Das ist schon ziemlich kaltschnäuzig. Was ich gesagt habe, haben viele vorher gesagt. Die Pfarrer werden auf etwas ordiniert, was sie nicht mehr glauben können. Die Scheinheiligkeit könnte nicht größer sein.

(Aachener Zeitung, 22. November 1997)


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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