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Amerika nach dem 11. September

Sonne der Gerechtigkeit: Amerika nach dem 11. September

von Gerd Lüdemann

Am Abend des 11. September fanden überall in Amerika Gottesdienste statt, bei denen der Opfer und der Angehörigen der Attentate von New York und Washington gedacht wurde. In zahlreichen Fällen schlug Fürbitte in anhaltendes Wehklagen um. Zur gleichen Zeit trafen sich Mitglieder des Kongresses und Stimmten spontan und vor laufender Kamera in das patriotische Lied "God bless America" ein. Am darauf folgenden Tag wurde in allen Schulen des Landes die Nationalhymne gesungen und das Gelöbnis auf die Flagge ("Pledge of Allegiance") gesprochen: "Ich gelobe Treue zur Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika und zur Republik, für die sie steht: eine Nation unter Gott, unteilbar – Freiheit und Gerechtigkeit für alle." Auf Außenstehende wirkt diese Zeremonie sentimental oder gar nationalistisch. Für die meisten Amerikaner, die sie –mit der rechten Hand aufs Herz – in der Grundschule täglich eingeübt haben, ist dies anders. Das Gelöbnis drückt ihre eigene Bindung an die Republik aus und hat dabei gleichzeitig "Gott" im Blick, unter dem die Nation steht, auf den sie baut und der darum die Amerikaner besonders in krisenhafter Zeit segnen soll. Dieses stolze Bekenntnis amerikanischer Hoffnung steht auf allen Dollarscheinen: "In God we trust". Es wäre sicher verfehlt den in Amerika allgegenwärtigen Bezug auf Gott für reine Rhetorik zu halten. 90% aller Bewohner der USA haben neuesten Umfragen zufolge eine Beziehung zu Gott. Die mächtigste Nation der Welt ist eine der frömmsten dieser Erde. Deren Religiosität zeichnet sich indes durch eine enorme Vielfalt aus. Sie hat in den letzten 35 Jahren noch kräftig zugenommen. Zur Zeit existieren 2000 verschiedene religiöse Gemeinschaften – vor hundert Jahren waren es nur 350 –, und mehr als die Hälfte der Gemeinschaften der Gegenwart wurden erst nach 1965 gegründet. Zwei Drittel der Amerikaner – bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 300 Mio. – sind Mitglieder einer christlichen Kirche. Sie verzweigt sich noch einmal in 1000 verschiedene Denominationen, von denen die römisch-katholische die zahlenmäßig größte ist. Jüdische und muslimische Gläubige machen je 6 Mio. aus, wobei letztere durch Immigration und Kinderreichtum stark zunehmen.

Die soeben geschilderte Vielfalt religiöser Bekenntnisse ist in der Geschichte der USA begründet. Die Gründungsväter stellten durch die strikte Trennung von Staat und Kirche die unbeschränkte Freiheit der Religionsausübung sicher. Die Besiedlung Neuenglands war durch religiöse Dissidenten erfolgt, deren Glaube bereits den Keim zu weiterer Zersplitterung in sich trug. Von ihnen übten besonders die Puritaner einen nachhaltigen Einfluss auf die spätere Republik aus. Sie nannten Neuengland "Gottes neues Israel", woraus in der Zeit der Republik "amerikanisches Israel" wurde. Der neue Staat hieß in der Folgezeit auch die "Erlösernation", die dem Rest der Welt das Licht, die Gerechtigkeit und die Freiheit bringen sollte.

Trotz heftiger Kritik von intellektueller Seite haben die Präsidenten in ihren programmatischen Reden der Versuchung nur selten widerstanden, in den Ozean der großen mythischen Worte einzutauchen. Die Nation hat ihnen Gehör geschenkt und sie als Führergestalten anerkannt, die sich für die Durchsetzung des von Gott befohlenen Konsenses der Grundwerte verbürgen. Dieser Vorgang spiegelt eine gewisse Dimension von Transzendenz wider, ohne die für die meisten Amerikaner der Sinn des Lebens bedroht wäre. Der Watergate-Skandal um Richard Nixon oder die durch puritanische Eiferer in die Öffentlichkeit lancierte Sexaffäre von Bill Clinton konnten diese grundsätzliche Übereinstimmung nicht gefährden. Wohl aber zeichnet sich inzwischen die Entwicklung ab, dass Träger des obersten Staatsamtes "wiedergeboren" sein müssen, konkret: eine Bekehrung zu Christus hin erfahren haben. Den Anfang machte Jimmy Carter. Bei der letzten Wahl bezeichneten sich beide Kandidaten, sowohl der Demokrat Gore als auch der Republikaner Bush, als wiedergeboren, und der Kandidat der Demokraten für das Amt des Vizepräsidenten, Lieberman, präsentierte sich der Öffentlichkeit gar als wiedergeborener Jude – ein Hinweis darauf, wie in Zukunft die Kandidaten aus anderen Religionen beschaffen sein müssen. All das bedeutet aber auch, dass ein Amerikaner, der als Atheist gilt, kein öffentliches Amt und schon gar nicht das des Präsidenten bekleiden wird. Der Rede von Präsident Bush vor dem Kongress am 20. September liegen die Grundwerte der amerikanischen Republik zugrunde: Freiheit, Gerechtigkeit, die Führungsmacht Amerikas im Kampf gegen das Böse und Gott als jemand, der nicht neutral bleibt, sondern für die Vereinigten Staaten Partei ergreift. Die verschiedenen Namen für den Krieg, "Allumfassende Gerechtigkeit" (infinite justice) und neuerdings "Anhaltende Freiheit" (enduring freedom), liegen auf derselben Linie. Mit der Rede ihres Präsidenten waren 95% der Amerikaner zufrieden. Die Trauer über das entsetzliche Geschehen wich einem uramerikanischen, patriotischen Kampfgeist. Der Kongress erteilte dem obersten Befehlshaber (commander in chief) bei nur einer Gegenstimme die Vollmacht, Krieghandlungen vorzunehmen gegen Feinde, die von ihm erst noch zu bestimmen waren.

Zur Zeit gibt es in dieser Frage weder eine parlamentarische Opposition noch Kritik in den Medien. Dort, wo sie geäußert wird, moniert man zunächst allgemein, dass die amerikanische Regierung mit zweierlei Maß gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft messe (man vgl. zuletzt die Nicht-Unterzeichnung des Klimaschutzabkommens) und sich dennoch in einer moralischen Führungsrolle gegenüber allen anderen sehe. Sodann empfehlen die Kritiker unter Verweis auf die anhaltende Stärke der USA eine moderate Reaktion und erinnern gleichzeitig an die auch gegen Zivilisten gerichteten Attacken unter Beteiligung Amerikas: in Indonesien unter Suharto (1965), in Kambodscha (1970), in Nicaragua und im Irak-Krieg, wo infolge der gezielten Bombardierung von elektrischen Anlagen und Wasserleitungen Tausende von Zivilisten ihr Leben lassen mussten. Der besonders durch die zuletzt genannte Aktion eingetretene Verlust von Glaubwürdigkeit in der arabischen Welt müsse bei der Vorbereitung einer gerechten Antwort auf die Anschläge unbedingt berücksichtigt werden. Diese Stimmen verhallen fast ungehört. Die schwarze Abgeordnete aus Berkeley, die als einzige gegen die Resolution des Kongresses stimmte, erhielt Morddrohungen. Amerika will diesen Krieg jetzt auskämpfen, um so mehr, als in der Geschichte der USA ein Krieg zum ersten Mal von außen nach Amerika hineingetragen wurde. Pearl-Harbor-Veteranen sprechen im Fernsehen darüber, wie sie damals der Demütigung durch die Japaner widerstanden haben, und Überlebende der jetzigen Katastrophen sowie Angehörige der Opfer legten nicht lange nach dem 11. September Zeugnis für den unerschütterlichen Mut Amerikas und seinen Patriotismus ab.

Dieser lässt sich zur Zeit auch nicht vor den Karren des christlichen Fundamentalismus spannen. Dies bekam ein prominenter Vertreter der religiösen Rechten, Jerry Falwell, zu spüren, als er unmittelbar nach den Anschlägen unter Hinweis auf den moralischen Zerfall der amerikanischen Gesellschaft erklärte: "Wir haben bekommen, was wir verdienen." Doch musste er diese Äußerung öffentlich widerrufen. Zu groß war die allgemeine Empörung über seine aus der Bibel gewonnene Deutung der nationalen Tragödie vom 11. September.

Es ist so, wie Präsident Bush am 20. September sagte: Trauer ist in Wut umgeschlagen und inzwischen ist daraus ein richtiger Krieg geworden. Dieser Mechanismus schützt nicht wenige vor der Frage, warum Gott die Tragödie vom 11. September hat zulassen können. Ein weiterer Grund, warum der Gottesgedanke nicht selbst in eine Krise gerät, liegt darin, dass Gott mit dem Sendungsbewusstsein der Nation verschmolzen ist. Und schließlich glauben viele Amerikaner dem wörtlich verstandenen Zeugnis der Bibel, das Opfern wie Gläubigen ein glückliches Leben im Jenseits verheißt, wo Gott abwischen wird alle Tränen.

Die islamischen Terroristen von New York und Washington hatten das gleiche himmlische Ziel. Dies geht aus den erschütternden Selbstzeugnissen hervor, die sich in ihrem irrtümlich fehlgeleiteten Gepäck befanden. Sie beanspruchten ebenso wie alle anderen Muslime auch, den Gott Abrahams auf ihrer Seite zu haben. Den Weg in den Himmel wollten sie sich freilich anders bahnen, durch Tötung von "Ungläubigen" und durch "Selbstopferung".

Es wäre zu wenig, bei der Verurteilung ihrer Gräueltaten stehenzubleiben. Man muss diese zu verstehen suchen. Wie steht es mit ähnlichen Gewaltakten von Juden und Christen? Hier kommt auf christlicher Seite David Koresh in den Blick und auf jüdischer Yigel Amir, der den Premierminister von Israel, Yitzhak Rabin, auf Befehl Gottes tötete. Ein gemeinsamer Nenner dieser religiösen Extremisten besteht wohl darin, dass sie die Propagierung eines religiösen Pluralismus für einen kulturellen Genozid halten und entsprechend auszurotten suchen. Demgegenüber haben nicht wenige Vertreter von Christentum, Judentum und Islam das Wort "Pluralismus" auf ihre Fahne geschrieben und sich in der modernen Welt eingerichtet. Indes ist daran zu erinnern, dass nicht nur der Koran Befehle zu Gewaltakten gegen Ungläubige enthält, sondern auch die biblischen Schriften, auf die sich Juden wie Christen gleichermaßen berufen. So wurden die Kanaanäer auf Befehl Gottes ausgemerzt und der Verfasser der Offenbarung des Johannes schwelgt in blutrünstiger Phantasie darüber, wie der römische Feind umgebracht wird. Juden, Christen und Muslime könnten die schreckliche Tat vom 11. September als Anlass zum Nachdenken darüber nehmen, wie viel von ihrer Religion noch übrig bleibt, wenn sie sich der grausamen Teile ihrer jeweiligen Heiligen Schrift entledigt haben. Am Ende nämlich muss Gott selbst abgerüstet werden, der allenthalben der "Herr" genannt wird. Denn auch ein solcher "Herr" ist allem pluralistischem Denken feind und hat in einer Demokratie, wo es um Mehrheiten geht, keinen Platz. Wer trotzdem an Gott, dem "Herrn" festhalten will, gleicht einem Krieger, der sich um eine herrenlos gewordene Flagge schart, ohne zu merken, dass sein "Herr" längst gefallen ist.

(Eine leicht gekürzte Fassung dieses Beitrags erschien in: Publik-Forum, Nummer 22, vom 23. November 2001, S. 39-40.)


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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