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Ein Leben Jesu in Kurzfassung

Kurzfassung aus: Gerd Lüdemann, Jesus nach 2000 Jahren. Was er wirklich sagte und tat (Lüneburg: zu Klampen, 2000), S. 877-887 (überarbeitet).

Wenn die Bilder, in denen der Mensch spricht, ein getreuer Spiegel seiner Umgebung sind, so steht fest, dass Jesus ein Mann aus dem Dorf war. Denn die Welt seiner Gleichnisse ist durch ein ländliches Milieu geprägt. Jesus kennt den Sämann auf dem Acker (Mk 4,3-8), er sieht den Hirten mit seiner Herde (Lk 15,4-6), die Vögel unter dem Himmel (Mt 6,26) und die Lilien auf dem Felde (Mt 6,28). Selbst das winzige Senfkorn im Garten wird dem Dorfmenschen Jesus zum Bild für das sichere Kommen des Reiches Gottes (Mk 4,30-32).

Aufgewachsen ist Jesus im Kreis von mehr als fünf Geschwistern, wohl als der Älteste, im galiläischen Dorf Nazareth. Seine Muttersprache war Aramäisch, was nicht ausschließt, dass er einige Brocken Griechisch verstanden hat. Von seinem Vater lernte er den Beruf des Handwerkers. Lesen und schreiben konnte er, wie die meisten seiner Zeitgenossen, nicht. Doch war die heimatliche Synagoge neben dem Elternhaus der Ort seiner religiösen Erziehung. Hier und bei anderen Gelegenheiten lernte er mündlich Partien aus der Thora: Gebote, prophetische Weisungen und Voraussagen sowie spannende Geschichten aus den Schriften, beispielsweise die Erzählungen von den Wunderpropheten Elia und Elisa, die viele fromme Gemüter der damaligen Zeit erhitzten.

Die Grenzen seines damaligen Umfelds werden durch einen Vergleich mit dem Apostel Paulus sichtbar, der gleichaltrig mit ihm war. Paulus kam nicht vom Dorf, sondern war ein Städter. Das weisen wiederum die von ihm gebrauchten Bilder aus. Seine Briefe zeigen das Leben in der Stadt mit ihren Krämerbuden (2Kor 2,17), an denen vorbei der Erzieher (Gal 3,24f) mit seinen Zöglingen an der Hand zur Schule geht, und die Straße, durch die sich der feierliche Triumphzug bewegt (vgl. 2Kor 2,14). Oft entnimmt Paulus seine Bilder dem Leben der Soldaten (2Kor 10,3-5), und selbst ihre Trompeten dienen ihm zum Vergleich. Ebenso benutzt er Entsprechungen aus dem Rechtsleben (Gal 3,17), ja sogar aus dem Theater (1Kor 4,9) und von den Wettspielen her (1Kor 9,24ff) für seine Argumentation. Jesus dagegen hat wohl niemals ein Theater oder eine Arena gesehen. Dabei war die von griechischer Kultur geprägte Stadt Sepphoris, wo er beispielsweise als Handwerker Arbeit gefunden hätte, keine fünf Kilometer von Nazareth entfernt. Im Gegensatz zu Jesus konnte Paulus lesen und schreiben und hatte zusätzlich sowohl eine jüdische als auch eine griechische Ausbildung erhalten. Aramäisch beherrschte er zwar auch, doch seine Muttersprache war Griechisch. Als römischer Bürger war er mit zahlreichen Privilegien ausgestattet. Von Herkunft und Bildung her standen sich in Paulus und Jesus Welt und Provinz gegenüber. Bei einer persönlichen Begegnung hätten sie sich vermutlich wenig zu sagen gewusst. Die sozialen Barrieren wären der Kommunikation nicht förderlich gewesen. Vielleicht hätte Paulus gegenüber einem solchen Naturburschen wie Jesus aus Galiläa lediglich geschmunzelt, womöglich aber auch nur mit den Achseln gezuckt. Jesus wäre es umgekehrt kaum anders gegangen. Die hoch gestelzte theologische Argumentation des Paulus hätte er ohnehin nicht verstanden. Denn die schulmäßige, strenge Auslegung von Geboten, Propheten und Schriften mit all ihren kniffligen Unterscheidungen wäre nicht nach seinem Geschmack gewesen.

Aber trotz aller Unterschiede haben die beiden auch Gemeinsamkeiten. Jesus und Paulus waren entschiedene Juden, die stolz auf ihren Gott waren, den Vater, der Himmel und Erde geschaffen und der Israel erwählt hat. Beide lebten in der Gewissheit, dass Gott Jerusalem zum Mittelpunkt der Erde bestimmt hatte. Hier sollte am Ende der Tage der "Retter" kommen, und hier wurden, von Gott angeordnet, die Opfer für die Sünden der Juden dargebracht. Gleichzeitig hielten die wiederum von Gott angeordneten großen Feste wie Passah, Pfingsten und Laubhüttenfest den Zyklus des Jahres zusammen. Dieses Grundgerüst religiöser Überzeugungen hatten Jesus und Paulus mit den meisten anderen Juden gemeinsam. Zusätzlich mag man noch bemerken, dass sowohl Jesus als auch Paulus die Spezialbegabung besaßen, Dämonen auszutreiben, und dass beide meinten, Kontakt zum Teufel zu haben.

Es gibt im Leben eines jeden Menschen Besonderheiten, die von Naturanlagen bis hin zu Schicksalsschlägen reichen. Bei Paulus war es wahrscheinlich eine Krankheit, die ihn bis zum Ende seines Lebens plagte und die ihn offenbar für ekstatische Erfahrungen besonders geeignet machte. Er spricht in Andeutungen hierüber als den Pfahl im Fleisch, den Engel des Satans, der ihn - natürlich auf Geheiß Gottes - mit Faustschlägen bearbeitet (2Kor 12,7). Jesus war mit einem ungleich schwereren Makel behaftet, der auch über seiner Mutter Maria lag. Jesus, ihr ältestes Kind, war nämlich unter dubiosen Umständen gezeugt worden. Heißt er in der ältesten Quelle verächtlich "Sohn der Maria" (Mk 6,3), so erkennt die Geburtsgeschichte des Mt (1,18-25) das Fehlen eines Vaters an und schiebt sofort den Heiligen Geist als Erzeuger nach. Gleichzeitig wird Maria gegenüber dem Vorwurf unsittlichen Verhaltens in Schutz genommen, denn auch die Ahnfrauen des Messias seien in unsittliche Dinge verwickelt gewesen. Aber all dies habe Gott nicht von seinem Plan abgebracht, aus dem Geschlecht dieser anrüchigen Frauen den Messias und Gottessohn erstehen zu lassen: Jesus, den Sohn Marias. Doch ist theologische Deutung auf goldenem Grund eines. Etwas anderes ist die teilweise brutale Geschichte im Staub dieser Erde, und die bekam Jesus in verstärktem Maße zu spüren. Er wurde seit seinem Auftreten in seiner Heimat Nazareth angegriffen unter Hinweis darauf, dass er ein Bastard ohne rechten Vater sei. Daher das Hohnwort "Sohn der Maria". Die spätere Adoption durch Joseph - lange vor Jesu öffentlichem Auftreten - änderte nichts daran, dass Jesus durch diesen Schatten in seiner Herkunft stigmatisiert worden sein muss. Er lernte also früher oder später, was es heißt, als Sohn einer Hure zu gelten. Vielleicht lag hier eine der Wurzeln für seine spätere Zuwendung zum verachteten Volk: zu Huren, Zöllnern und Sündern. Und möglicherweise erklärt sich von hier aus sein zerstörtes Verhältnis zu seiner eigenen leiblichen Familie. Denn nach dem offenbar frühen Tod seines Adoptivvaters hätte er sich als Ältester normalerweise um die Familie, insbesondere seine Mutter, kümmern müssen. Doch die Quellen sprechen hier eine andere Sprache. Das vierte Gebot, das die Ehrung von Vater und Mutter vorschrieb, galt für Jesus nicht mehr. Er wählte den Weg der radikalen Trennung.

Nun reichen Neigungen und Verletzungen noch nicht aus, um eine Bewegung ins Leben zu rufen. Es müssen weitere Gründe und Anregungen durch andere Menschen hinzukommen. Das wurde für Jesus in der Gestalt Johannes des Täufers Wirklichkeit.

Johannes der Täufer stand in einer langen Reihe von jüdischen Unheilspropheten, die zur Umkehr angesichts des bevorstehenden Tages Gottes mahnten. Zugleich verband er seine Gerichtspredigt mit der Ansage einer Sündenvergebung, die allen jenen zuteil werden sollte, die sich von ihm taufen ließen. Damit sei gewährleistet, dass sie dem kommenden Zorn entgehen könnten. Seine Predigt zündete wie der Blitz und führte zahlreiche Juden zu ihm an den Jordan. Unter ihnen war der Galiläer Jesus von Nazareth, den es in den Süden verschlagen hatte. Auch in ihm brach sich eine bohrende Unruhe Bahn, und sie fand eine vorläufige Beruhigung im Umkreis des Täufers. Mit dem Anschluss an ihn hatte Jesus eine neue Familie gefunden, die sich von seiner leiblichen Familie sehr unterschied. Er gehörte nun zu einer Gruppe von Asketen, die Gott allein gehorsam sein wollten und ihm dafür dankten, dass er ihnen eine letzte Frist zur Umkehr geschenkt hatte. Die Mitglieder der Priesteraristokratie dürften über den Sonderling am Jordan und seine Anhänger irritiert gewesen sein. War nicht ihnen allein von Gott selbst Aufsicht, Verwaltung und Durchführung der Sühne wirkenden Opfer anvertraut worden? Aber solange der Tempel nicht unmittelbar gefährdet war, ließ man die exotisch anmutende Täufersekte am Jordan gewähren. Außerdem gab es auch damals inspirierte Propheten in Hülle und Fülle, die einmal dies, das andere Mal das behaupteten. Aber gefährlich war Johannes schon. Mochte man mit seiner indirekten Tempelkritik noch klarkommen, so wurde es für die Machthaber brenzlig, als seine Predigt politische Implikationen hatte. Das bekam der Landesherr Jesu, Herodes Antipas, zu spüren, der daraufhin Johannes kurzerhand als messianischen Prätendenten hinrichten ließ.

Wie lange sich Jesus in der Umgebung des Täufers aufhielt, wissen wir nicht. Allerdings ist sicher, dass er sich nicht erst nach der Hinrichtung des Johannes von ihm ablöste. Vielmehr zeigt die Rivalität zwischen Jesus- und Johannesjüngern, dass Jesus schon vor dem Tod des Täufers eigene Wege gegangen sein muss. Das ist nicht im Sinne eines Traditionsabbruches zu verstehen, sondern als Weiterführung oder Zuspitzung der Täuferpredigt durch Jesus. Dieser Aufbruch war bei Jesus mit dreierlei verbunden: Erstens behagte ihm auf Dauer die asketische Grundhaltung des Johannes nicht. Dem entspricht, dass er zweitens die ungeheure Erfahrung des Reiches Gottes machte, das sich ihm in einem starken Maße im Akt der Gemeinschaft und des Essens und Trinkens zeigte. Und drittens wurde ihm die Fähigkeit zur Heilung eine umstürzende Erfahrung, die er sogar mit der Ankunft des Gottesreiches verband.

Wie sich die drei genannten Punkte chronologisch und sachlich zueinander verhalten, ist nicht mehr aufzuklären. Wichtig bleibt die Beobachtung, dass keine der drei Besonderheiten sich für Johannes belegen lässt, so dass von einem echten Neuanfang zu sprechen ist, der ein neues Stadium in Jesu Wirksamkeit einleitete. Allerdings blieben wesentliche Züge der Verkündigung Johannes des Täufers Bestandteil der religiösen Überzeugung Jesu: zum einen das unmittelbar bevorstehende Endgericht, sodann der unerbittliche Ernst in der Auslegung und Befolgung des Willens Gottes. Schließlich blieb Jesus ebenso wie Johannes unverheiratet. In dieser Gemeinsamkeit trafen die beiden mit dem Apostel Paulus überein. Dies verdient um so mehr Aufmerksamkeit, als die Zeugung von Nachkommen Pflicht eines jeden männlichen Juden war.

Jesu neu entdeckte Fähigkeit zur Heilung sprach sich in Galiläa bald herum. Seine Exorzismen, in denen er psychisch Kranke heilte, sind die am besten bezeugten Wundertaten im Neuen Testament. Nerven- und Geisteskrankheiten wurden damals auf die Besessenheit durch Dämonen zurückgeführt. Als Oberster dieser bösen Geister galt Satan. Jesus verlieh dem Kampf gegen ihn Realität. Er sah in Vorwegnahme des Reiches Gottes den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen (Lk 10,18) und war damit stärker als dieser selbst geworden. Er konnte daher Männer und Frauen heilen, indem er sie der Herrschaft des Teufels mit der Zusage der Vergebung der Sünden entriss. Krankheit und Sünde bildeten für ihn einen unzerreißbaren Zusammenhang. Auch darin war ihm Paulus ähnlich. Dieser konnte sich die zahlreichen Krankheitsfälle in der Gemeinde von Korinth nur durch den sündhaften Missbrauch des Abendmahls erklären (1Kor 11,29-30).

Das Reich Gottes verband sich für Jesus aber nicht nur mit Heilungen und der Befreiung von Krankheiten und Bösem jeglicher Art. Entscheidend war vielmehr die Erwartung der universalen Herrschaft Gottes, an der Jesus zusammen mit den Zwölf beteiligt sein sollte. Dieser Erwartung lag die tollkühne Hoffnung zugrunde, dass am bald eintretenden Ende der Zeiten, wenn Gott sein Reich herbeiführen werde, auch jene zehn Stämme wiederhergestellt würden, die 700 Jahre zuvor von den Assyrern zerrieben worden waren. Von ihnen waren zur Zeit Jesu nur die beiden Stämme Juda und Benjamin übriggeblieben. Am Abschluss der Geschichte, so Jesus, werde jeder einzelne seiner zwölf Jünger einen dieser Stämme richten (Mt 19,28). Die Würde, neben Gott und seinem Auserwählten, in richterlicher Funktion tätig zu sein, war kaum zu überbieten. Doch hat auch der Apostel Paulus ähnliches erhofft. Er verlangte von den Gemeindegliedern in Korinth, nicht gegeneinander zu prozessieren, da sie selbst, jeder einzelne, über Engel richten würden (1Kor 6). Hier sehen wir in das Herz der frühen Christen und der von Jesus gesammelten Gemeinde förmlich hinein. Nicht Vernunft oder Überlegung, sondern die Aussicht auf Anteilhabe an Gottes Herrschaft waren die Wurzeln ihres Glaubens. Und diese Herrschaft erstreckte sich nicht auf die Menschen allein. Sie umfasste vielmehr den ganzen Kosmos, den es in die von Gott gewollte, schöne Ordnung zurückzubringen galt. Selbstverständlich war das alles von einem jüdischem Blickwinkel aus gedacht, denn ausschließlich um das jüdische Volk samt dem neuen Jerusalem im Mittelpunkt ging es; die übrigen Völker waren zumeist nur Anrainergruppen. Glühende Hoffnung erfüllte Jesus, dass Gott demnächst seine Zusage einlösen werde. Und im Laufe seines Auftretens - nach der Ablösung von Johannes dem Täufer - gewann er die Überzeugung, dass er selbst einen wesentlichen Teil in diesem Enddrama zu spielen habe. Auch hier ist die Parallele zu Paulus frappierend und erhellend, denn auch dieser meinte, eine ähnliche Rolle im Enddrama spielen zu können, wo es um die Eingliederung der Heiden in das Gottesreich ging (vgl. Röm 11,13-36).

Jesu Leben war in seiner entscheidenden Phase geprägt von dem felsenfesten Glauben, im Namen Gottes dessen Gesetz vollständig auslegen zu müssen. Zu weiten Teilen war seine Thoraauslegung als Verschärfung des Willens Gottes wahrzunehmen. So verbot er die Ehescheidung unter Berufung auf die gute Schöpfung Gottes, bei der Mann und Frau in der Ehe unwiderruflich ein Fleisch geworden seien (Mk 10,9.11). Das Liebesgebot spitzte er zur Forderung der Feindesliebe zu (Mt 5,44a). Das Richten (Mt 7,1) und Schwören (Mt 5,34a) verbot er. Ab und zu reduzierte er das Gesetz grandios und spitzte es z.B. beim Sabbat auf den Menschen zu (Mk 2,27). Aber all das, was - modern gesprochen - nach Autonomie aussah, war gegründet in Theonomie. Jesus konnte diese freien und gleichzeitig radikalen Interpretationen des Gesetzes nur durchführen, weil er dazu von Gott, den er ebenso wie später Paulus (Gal 4,6) liebevoll als Abba (= Papa) anredete (Lk 11,2), die Vollmacht erhalten hatte. An diesem Punkt waren Jesus und sein göttlicher Vater fast eins, und das musste für die jüdischen Zuhörer sehr anstößig sein.

Dämonenaustreiber und Gesetzesausleger war er, aber gleichzeitig auch ein Dichter und Weisheitslehrer. Jesus erzählte spannende Geschichten von Betrügern und sah in ihrer realistischen Einschätzung der jeweiligen Situation ein Vorbild für sich und seine eigenen Jünger. In moralischer Hinsicht ähnelte sein Leben selbst dem eines unmoralischen Helden, um so mehr, als er wegen seiner Wanderschaft keine Einkünfte hatte, sondern sich von Sympathisanten aushalten ließ oder einfach auf Gott vertraute. In seine Erzählungen waren Klugheitsregeln eingebettet, die man eher von Philosophen erwartet hätte. In anderen Gleichnissen veranschaulichte er, wie Gott sein Reich herbeiführen werde, nämlich leise und gleichzeitig doch unwiderruflich. Wieder andere Gleichnisse legen schlagend dar, wie Gott das Verlorene sucht. Jesus lieferte in seinem Leben den Kommentar dazu: Er war oft zu Gast bei Zöllnern und Huren. Manchmal bekamen seine Gleichnisse auch einen drohenden Klang: Am Ende wird Gericht sein, und Gott wird seine Feinde vernichten. Gleichzeitig wendet Gott dann das Schicksal der Armen, Hungernden und Weinenden zum Guten, wie die Seligpreisungen der Bergpredigt eindrucksvoll darlegen.

Man hat gefragt, wie sich die quasi zeitlosen Weisheitsregeln bei Jesus sich zu jenen Stücken verhalten, die von einer ungebrochenen Naherwartung zeugen. Manche hauen den Knoten mitten durch und erklären das eine für echt und das andere für unecht. So entsteht dann wenigstens ein für uns heute verständlicher Jesus. Aber das ist wahrscheinlich zu modern gemacht. Was wir nicht zusammenbringen können, gilt für einen Menschen des ersten Jahrhunderts noch lange nicht. Jesu Zeitgenosse Paulus ist für das Beieinander von zeitloser Weisheit und ungestümer Naherwartung ein schlagendes Beispiel. Er war davon überzeugt, das Kommen seines Herrn Jesus auf den Wolken des Himmels noch selbst zu erleben, und wollte, wie in einem Fiebertraum befangen, das gesamte römische Weltreich noch vor der Wiederkunft Jesu missionieren. Doch finden sich bei ihm gleichzeitig quasi zeitlose Ausführungen darüber, dass die menschliche Weisheit vor Gott Torheit sei (1Kor 1,18-2,16), und er selbst hat der Nachwelt das schöne Lied von der Liebe überliefert, das keinerlei Naherwartung kennt. In 1Kor 13 spricht er davon, dass die Liebe größer sei als die Hoffnung (auf das Ende) und größer auch als der Glaube (an Christus, der die Naherwartung erst ermöglicht hat). Daraus folgt: Bei Jesus ebenso wie bei Paulus stehen Naherwartung, Weisheitslehre und Ethik gegen alle moderne Logik nebeneinander. Wahrscheinlich hat bei Jesus die Naherwartung aber die Überhand gehabt, wie sich aus der Betrachtung der letzten Tage seines Lebens noch ergeben wird.

Jesus hatte in Galiläa große Erfolge erlebt. Die Massen waren ihm zugetan. Nun zog es ihn nach Jerusalem. Dort wollte er Volk und Führung zur Umkehr aufrufen. Er marschierte nach Jerusalem, begleitet von einer Schar von Jüngern und Jüngerinnen. In einer Symbolhandlung gab er im Tempelvorhof seiner Hoffnung auf den neuen Tempel dadurch Ausdruck, dass er einige Tische der Wechsler und Verkäufer umstieß. Das konnte ihm die jüdische Aristokratie nicht verzeihen. Was nun kam, war nichts im Verhältnis zu den gelegentlichen Auseinandersetzungen zwischen Pharisäern und Jesus in Galiläa. Ging es dort im wesentlichen um Sticheleien, so wurde es in Jerusalem bald ernst. Jesus wurde als politischer König der Juden verleumdet, und Pilatus machte kurzen Prozess. Offenbar hatte Jesus seine Jünger schlecht darauf vorbereitet. Andernfalls wären sie nicht alle geflohen. Spätestens am Kreuz wurde Jesus zum Opfer inmitten von Verbrechern. Er litt hier für etwas, was er gar nicht wollte. Es war anders gekommen, als er es seinen Jüngern und dem jüdischen Volk gesagt hatte. Wahrscheinlich hat er das aber so gar nicht wahrgenommen. Hier hilft noch einmal der Blick auf den Apostel Paulus: Als dieser infolge des Todes einzelner Gemeindemitglieder merkte, dass die Wiederkunft Jesu ausblieb, gab er nicht etwa seinen Glauben auf, sondern hielt um so stärker an ihm fest. Nun kam er zu der Überzeugung, dass er, ob er lebe oder sterbe, dem "Herrn" gehöre. So wird wohl auch Jesus am Kreuzesbalken in Ergebung gegenüber seinem Vater gedacht und gefühlt haben. Kein Glaube kann je durch die Realität, von Argumenten ganz zu schweigen, widerlegt werden.

Die Nachgeschichte Jesu gehört in gebotener Kürze auch zu seinem Leben dazu, und zwar deshalb, weil wir ausschließlich ihretwegen überhaupt noch etwas von ihm wissen. Die sich mit Leidenschaft auf Jesus berufenden Jünger haben aus Jesus, dem Juden, einen Problemfall ersten Ranges gemacht. Bald nach seinem Tod behaupteten sie nämlich, Jesus sei von den Toten erweckt worden und werde als Gottessohn, als Retter, als Christus, als der Menschensohn auf den Wolken des Himmels wiederkommen. Doch es kam noch stärker: Anhänger Jesu trieben in seinem Namen Dämonen aus und vollbrachten ähnliche Wunder wie er. Ja, manche dienten sogar als Sprachrohr des auferweckten Jesus und gaben stellvertretend für ihn, erfüllt vom heiligen Geist, Antworten auf Probleme der Gemeinden. Den vorläufigen Gipfel bildete die Bekehrung des Christenverfolgers Paulus, der durch den Auftrag des himmlischen Christus der Heidenmission den entscheidenden Impuls vermittelte und sie im großen Stil organisierte.

Was nun folgte, war eine Konfusion ohnegleichen, an deren Ende die fast ausschließlich aus Heiden bestehende Kirche Jesu Christi stand, die Jesu Volksgenossen unverzüglich als Gottesmörder abstempelte. Die mit der "Auferstehung" Jesu einsetzende Springflut bizarrer Deutungen des Alten Testaments war nicht mehr aufzuhalten. Überall brachen die Dämme der Vernunft, die bisher religiöse Allmachtsphantasien einigermaßen in Schach gehalten hatten. An vielen Stellen des Alten Testaments - so die Christen - hatte Gott bereits von Christus geredet und dessen Kommen angekündigt. Ja, bereits zu Beginn der Weltgeschichte stand Christus Gott zur Seite. War es schon eine Tragödie, wie der vollmächtige Exorzist, der Gesetzeskundige, der Prophet, der Poet und der Weisheitslehrer Jesus in Jerusalem einer politischen Intrige zum Opfer fiel, so gilt das potenziert von der Art und Weise, wie Jesus in der Kirchengeschichte bis heute interpretiert und für die Zwecke der jeweiligen Menschen missbraucht wurde.

Trotzdem bleibt die Frage: Was bedeutet er für die Gegenwart, wenn einmal seine kirchliche Verbrämung als Maskerade erkannt ist? Meine Einschätzung ist: Jesus war eine sympathische, naturwüchsige Gestalt, ein Mensch mit Humor und Witz, über den ich manchmal schmunzele. Auch seine Ernsthaftigkeit macht Eindruck. Aber in seiner Gesetzesauslegung wird er mir zuweilen zu ernsthaft, und in seinem Schwärmertum, das die Vernunft mit Füßen tritt, kann ich ihn nicht mehr ernst nehmen, denn das von ihm angekündigte Reich Gottes ist ausgeblieben. Und in seinem intimen Umgang mit Gott, den er Papa nannte, wirkt Jesus geradezu lächerlich auf mich, denn damit teilt er einen Fehler vieler religiöser Menschen: sich selbst im Mittelpunkt der Welt zu sehen. Als ganze Person bleibt Jesus ein Problem, und von einem Problem können wir nicht Antwort auf die uns bedrängenden Fragen erwarten.


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Letzte Aktualisierung am 22. April 2020
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