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Das Credo abschaffen

Der Göttinger Theologieprofessor Gerd Lüdemann über Bibel, Jesus und Glauben


SPIEGEL: Herr Professor Lüdemann, lang ist die Reihe der Dementis christlicher Wahrheiten in Ihrem Buch "Ketzer": Die Bibel ist nicht Gottes Wort. Im Credo steht vieles, was man nicht zu glauben braucht. Jesus war nicht frei von Irrtum und Sünde. Das liest sich so, als seien Sie selber Ketzer und wollten sich aus der Kirche verabschieden.
Lüdemann: Nein, das liegt mir fern. All dies und einiges mehr sind Erkenntnisse meiner wissenschaftlichen Arbeit und Konsequenzen. die ich daraus ziehe, unabhängig davon, ob dies der Kirche nützt oder schadet.
SPIEGEL: Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers will Sie maßregeln und von der Prüfung künftiger Pfarrer in Ihrem Fach Neues Testament ausschließen, weil Sie der Kirche in einem Interview mit den Evangelischen Kommentaren Scheinheiligkeit und Schizophrenie vorgeworfen haben.
Lüdemann: Weil sie ihre künftigen Pfarrer bei der Ordination im Amtsgelübde auf alte Bekenntnisse verpflichtet, die sie nicht mehr glauben können.
SPIEGEL: Sind Sie zum Widerruf bereit?
Lüdemann: Nein.
SPIEGEL: Die Kirche kann noch weitergehen, um Sie zu disziplinieren, der Konflikt kann leicht eskalieren.
Lüdemann: Ganz gleich, was die Kirche gegen mich unternimmt, ich bin entschlossen, diesen Konflikt durchzustehen. Es geht mir um zwei Punkte. Erstens zu klären, ob die Theologie eine kirchliche oder eine freie Wissenschaft ist, sie kann nur das eine oder das andere sein. Und zweitens zu erreichen, daß nicht weiterhin in den Gemeinden die historisch-kritische Erforschung der Bibel totgeschwiegen wird, unter anderem mit der Folge, daß viele Gläubige ein ganz falsches Bild von Jesus haben.
SPIEGEL: Worin stimmen Sie, was Ihr "Ketzer"-Buch betrifft, mit Ihren Fachkollegen, den anderen Neutestamentlern, überein, worin nicht?
Lüdemann: Das eigentliche Thema meines Buches ist die Entwicklung der Christenheit in den ersten beiden Jahrhunderten nach dem Tode Jesu. Da bin ich zu neuen Erkenntnissen gekommen. Aber hinsichtlich fast allem, was ich über Jesus und die Bibel geschrieben habe, befinde ich mich im Konsens mit den meisten Fachkollegen.
SPIEGEL: So sicher sind wir da nicht.
Lüdemann: Uns unterscheidet nur, daß sie ihre Befunde eher verstecken als veröffentlichen. Und anders als die meisten Neutestamentler will ich nicht länger hinnehmen, daß aus unserer Arbeit keine Konsequenzen gezogen werden. Deshalb habe ich zum Beispiel pointiert behauptet: Die Bibel ist nicht "Gottes Wort".
SPIEGEL: Warum nicht?
Lüdemann: Weil Menschen sie geschrieben haben und sie deshalb voller Ungereimtheiten, Widersprüche und Irrtümer steckt, und an einigen Stellen ist das "Wort Gottes" sogar unchristlich.
SPIEGEL: Wo?
Lüdemann: Zum Beispiel dort, wo es den Haß gegen Juden schürt. Der Autor des Matthäus-Evangeliums läßt die Juden von dem römischen Statthalter Pilatus den Tod Jesu fordern und sie ausrufen: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder." Auf diesen Satz haben sich Antisemiten aller Jahrhunderte bezogen, er hat viele Juden das Leben gekostet.
SPIEGEL: Nennen Sie uns zwei, drei Beispiele für Irrtümer in der Bibel.
Lüdemann: Am Anfang der Bibel steht der schlichte Irrtum, daß alle Menschen von Adam und Eva abstammen. Am Ende, im letzten Kapitel der Johannes-Offenbarung, wird angekündigt, daß Jesus bald wiederkommt. Inzwischen sind fast 2000 Jahre verstrichen.
SPIEGEL: Wie viele Iritümer dieser und anderer Art mag es geben?
Lüdemann: Ich habe sie nicht gezählt, aber ich schätze, daß es deutlich über hundert sein werden.
SPIEGEL: Und wie steht es mit den Widersprüchen in der Bibel? Gibt es mehr Widersprüche als Irrtümer?
Lüdemann: Viel mehr, schon deshalb, weil die Bibel von Menschen ganz verschiedener Herkunft zu ganz verschiedenen Zeiten geschrieben worden ist. Der älteste Teil des Alten Testaments entstand 1200, der jüngste 165 Jahre vor Christi Geburt. Beim Thema Widersprüche sind wir am Ausgangspunkt all meiner Überlegungen. Die Texte des Neuen Testaments sind nicht nur, wie es oft heißt, Zeugnisse des Glaubens, sie sind weithin auch Kampfschriften, gerichtet nicht nur gegen äußere Feinde, sondern auch gegen Christen, die anders denken. Deshalb widersprechen sich die Evangelien und Briefe an vielen Stellen. Da schlagen sich im "Wort Gottes" Richtungskämpfe nieder, bei denen auch vor Verleumdungen und zumindest in einem Fall vor einer massiven Fälschung nicht zurückgeschreckt wurde.


SPIEGEL: Wo?
Lüdemann: Es gibt zwei Briefe an die Thessalonicher. Nicht nur steht im zweiten etwas ganz anderes als im ersten, mehr noch: Der Autor des zweiten Briefes behauptet, der erste Brief sei gefälscht, und er stelle das nun klar. Dabei ist es genau umgekehrt: Er selbst ist der Fälscher. Der erste Brief stammt von Paulus, der zweite nicht. Dessen Autor gibt sich als Paulus aus und bekräftigt dies noch: Er habe den Brief geschrieben "mit meiner, des Paulus, Hand". Alles gelogen.
SPIEGEL: Darin, daß der zweite Brief nicht von Paulus stammt, stimmen fast alle Fachkollegen mit Ihnen überein, aber die meisten gehen mit dem Pseudo-Paulus nicht so hart ins Gericht wie Sie. Die Kirchgänger wissen von all dem nichts, sie glauben, daß Paulus beide Briefe geschrieben hat, weil es so in der Bibel steht.
Lüdemann: Es ist ein Skandal, daß man das Kirchenvolk, das evangelische wie das katholische, noch immer in dem Irrglauben läßt, das Neue Testament sei von Aposteln oder Apostelbegleitern geschrieben worden - alle 27 Teile, also die 4 Evangelien, 21 Briefe, die Apostelgeschichte und die Johannes-Offenbarung. Dabei stammen nur 7 Briefe von einem Apostel, nämlich von Paulus. Kein einziger Autor hat Jesus gekannt und sozusagen aus erster Hand berichtet. Paulus wurde ja erst nach Jesu Tod zum Christen.
SPIEGEL: Demnach war es eine Fehlentscheidung, als die Kirche um 200 nach Christi Geburt bestimmte, was als "Gottes Wort" in die Bibel kommt und was als Menschenwort draußen bleibt? Kriterium war, ob ein Text von einem Apostel stammt.
Lüdemann: Zweifellos war es ein Fehler. Hätte man damals gewußt, was man heute weiß, so hätte man ein anderes Kriterium wählen müssen, oder aber das Neue Testament wäre ein dünnes Bändchen mit sieben Paulus-Briefen.
SPIEGEL: Nach 1800 Jahren will niemand diesen Fehler korrigieren oder Konsequenzen daraus ziehen.
Lüdemann: Doch, das wäre schon möglich. Weil der zweite Brief an die Thessalonicher eine massive Fälschung ist, könnte man sich entschließen, ihm keine Predigttexte mehr zu entnehmen. Lüge bleibt Lüge, auch wenn sie in der Bibel steht.
SPIEGEL: Gibt es Texte, die so wenig christlich sind, daß sie aus diesem Grund nicht im Neuen Testament stehen sollten?
Lüdemann: Ja, die "Offenbarung des Johannes", das letzte Buch der Bibel. Schon früh gab es Widerstand gegen seine Aufnahme, und zwar völlig zu Recht. Die Offenbarung schildert blutrünstig und grausam das Ende der Welt. Ich halte es für verhängnisvoll, daß dieser schreckliche Text als Teil des Neuen Testaments in die Gegenwart transportiert wurde, in unsere Zeit mit ihren apokalyptischen Ängsten. Sie werden durch die Johannes-Offenbarung noch angeheizt. Deshalb ist sie bei den Sekten so beliebt.
SPIEGEL: Gibt es umgekehrt einen Text, der eigentlich in der Bibel stehen sollte?
Lüdemann: Das Thomas-Evangelium, das jahrhundertelang verschollen war und erst 1945 gefunden wurde. Es enthält nur Jesus-Worte, insgesamt 114, darunter viele, die auch im Neuen Testament stehen, aber auch viele andere, von denen ich einige für authentisch halte.
SPIEGEL: über jeden Text der Bibel werden dicke Bücher geschrieben, Texte wie das Thomas-Evangelium kennen fast nur Fachgelehrte. Stört Sie das?
Lüdemann: Sehr, denn das ist verhängnisvoll. Die Schriften, die ins Neue Testament aufgenommen und damit zum "Wort Gottes" erklärt wurden, sind dadurch aus ihrer Geschichte, aus jedem Kontext gelöst worden. Weil sie in den Gottesdiensten verlesen werden und auf den Kanzeln über sie gepredigt wird, gewinnen sie eine exklusive, sakrale Bedeutung, die ihnen nicht zukommt. Wem die Bibel als "Wort Gottes" oder, schlimmer noch, als "Heilige Schrift" präsentiert wird, der will sie andächtig lesen und gar nicht erfahren, wie menschlich sie ist.
SPIEGEL: Ist Jesus für Sie wahrer Gott und wahrer Mensch, wie es im Glaubensbekenntnis von Chalkedon aus dem Jahre 451 steht, das in beiden Kirchen noch heute als verbindlich gilt?
Lüdemann: Nein. Diese Vorstellung ist antiquiert. Jesus war Mensch, man kann auch sagen: wahrer Mensch, wenn man damit ausdrücken will, daß er für uns heute maßgeblich ist.
SPIEGEL: Worin hat sich Jesus geirrt?
Lüdemann: Vor allem in der Naherwartung des Gottesreiches. Er glaubte, das Ende der Welt noch selbst zu erleben.
SPIEGEL: Wußte Jesus mehr als die Menschen seiner Zeit, zum Beispiel, daß die Erde eine Kugel ist?
Lüdemann: Nein, das wußte er nicht. Er hatte kein anderes Weltbild als seine Zeitgenossen. Die Hölle glaubte er tief in der Erde und Gott hoch oben im Himmel.


SPIEGEL: Wie begründen Sie, daß Jesus ein Sünder war? Vielen oder sogar den meisten gläubigen Christen ist diese Vorstellung lästerlich.
Lüdemann: Er hielt sich selbst für einen Sünder, sonst hätte er sich nicht von Johannes dem Täufer taufen lassen, wie wir aus dem ältesten, dem Markus-Evangelium wissen. Die Taufe Jesu paßte schon anderen Autoren des Neuen Testaments nicht in ihr Bild vom makellosen, mehr göttlichen als menschlichen Jesus. Im zuletzt geschriebenen Johannes-Evangelium steht davon gar nichts mehr.
SPIEGEL: Haben Sie noch andere Indizien?
Lüdemann: Jesus hat so hohe Ansprüche gestellt, daß niemand ihnen vollauf gerecht werden konnte, auch er selbst nicht. Denken Sie an die berühmte Stelle Matthäus 5, 28: "Wer eine Frau ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen." Luther hat nicht genau übersetzt, es müßte nicht "Weib" oder "Frau", sondern "verheiratete Frau", "Ehefrau" oder "Weib eines anderen" heißen. Das nur zur Klarstellung. Warum soll für Jesus etwas anderes gelten als für jeden anderen Mann?
SPIEGEL: Hat er mit einer Frau zusammengelebt, mit Maria Magdalena vielleicht, die ihm am nächsten stand? Manche Buchautoren haben sie sogar zu seiner Ehefrau erklärt.
Lüdemann: Das ist reine Phantasie. Ich schließe aus, daß er mit einer Frau zusammengelebt hat oder verheiratet war, wie Petrus und vermutlich auch andere Jünger. Eine Affäre mit einer Frau hätte seine Gegner zu Polemik und zu antichristlichen Legenden veranlaßt. Die Christen hätten sich dagegen wehren müssen, das hätte Spuren in den Evangelien hinterlassen.
SPIEGEL: Laut Bibel hat Jesus mehrere der höchsten Titel, die es damals gab, auf sich bezogen, sich zum Messias, zum Sohn Gottes und auch zum Menschensohn erklärt, also zum Richter und Retter in der Endzeit. War es so?
Lüdemann: Keinen dieser Titel hat Jesus für sich beansprucht; sie wurden ihm allesamt erst später zugeschrieben.
SPIEGEL: Stammt der Taufbefehl von Jesus: "Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker, taufet sie..."?
Lüdemann: Nein. Jesus hat selbst gesagt: "Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel." Er umgab sich mit zwölf Jüngern, weil es ihm um die zwölf Stämme Israels ging. Der Taufbefehl ist in der christlichen Gemeinde entstanden, lange nach dem Tode Jesu, um der Mission unter den Heiden, die Jesus weder gewollt noch erwartet hat, mehr Gewicht zu geben.
SPIEGEL: Hat die Bergpredigt stattgefunden?
Lüdemann: Nein, es handelt sich um Worte Jesu, die der Autor des Matthäus-Evangeliums zusammengestellt hat. Er wollte sie nicht einfach aufreihen, sondern läßt sie Jesus feierlich und zusammenhängend auf einem Berg "vor viel Volk" sprechen. Historisch ist diese Situation nicht.
SPIEGEL: Hat Jesus gewußt, daß er sterben würde, als er nach Jerusalem zog?
Lüdemann: Er hat es nicht gewußt, aber er hat es in Kauf genommen.
SPIEGEL: Wollte Jesus mit seinem Tod die Menschen erlösen, starb er um ihrer Sünden willen? Das ist ja eine zentrale Glaubenswahrheit in der evangelischen wie in der katholischen Kirche.
Lüdemann: Nein, das ist erst nach seinem Tode in sein Leben projiziert worden. Man hat Stellen im Alten Testament genutzt, um vom Sühnetod, vom Opfertod Jesu zu sprechen.
SPIEGEL: Hat er das Abendrnahl gestiftet, also die heiligste Handlung begründet, die es in beiden Kirchen gibt? Laut Matthäus-Evangelium geschah es, als er seinen Jüngern Brot und einen Kelch mit Wein gab, mit den Worten: "Nehmet, esset; das ist mein Leib." Und: "Trinket alle daraus; das ist mein Blut."
Lüdemann: Es gab das letzte Mahl mit den Jüngern, bei dem er auch über seinen Tod gesprochen hat - als Möglichkeit, nicht als Gewißheit. Aber die Abendmahlsworte sind Jesus nachträglich in den Mund gelegt worden. Er hat dies weder zu seinen Jüngern gesagt noch sich damit an die künftigen Christen gewandt.
SPIEGEL: Wie viele Neutestamentler sind dieser Ansicht?
Lüdemann: Sehr viele, vermutlich die meisten, und seit geraumer Zeit auch erstaunlich viele katholische Kollegen. Nur steht dieser Befund bei vielen diskret und verschlüsselt in Sätzen, die allein Fachleute verstehen. Man will sich nicht mit den Kirchen anlegen und scheut die Auseinandersetzung in diesem zentralen Punkt. Der Wahrheit ist damit nicht gedient.
SPIEGEL: Sind Sie dagegen, daß das evangelische Abendmahl und die katholische Eucharistie gefeiert werden?
Lüdemann: Dagegen spricht nichts, wenn dies als Kulthandlung verstanden wird, mit der man sich das Sterben Jesu vergegenwärtigt und sich bewußt macht, was Jesus für uns heute bedeutet. Aber man sollte kein Geheimnis daraus machen, daß Jesus weder von seinem Leib noch von seinem Blut gesprochen hat. Diese Einsetzungsworte sind heute ohnehin vielen fremd, allein schon wegen des Gedankens, Blut zu trinken.


SPIEGEL: In Ihrem Interview mit den Evangelischen Kommentaren wurden Sie gefragt: "Stehen Sie noch auf dem Boden von Schrift und Bekenntnis?" Sie haben die Frage verneint. Bleiben Sie dabei?
Lüdemann: Ja, auf jeden Fall. Die Bibel ist für mich keine "Heilige Schrift, und die Bekenntnisse sind historische Urkunden, auf die man heutige Christen nicht mehr verpflichten kann.
SPIEGEL: Das gilt auch für das wichtigste, das Credo, wie das Apostolische Glaubensbekenntnis genannt wird?
Lüdemann: Ja. Schon der Titel ist falsch. Kein Apostel hat es gekannt, es entstand in späterer Zeit und erhielt seine letzte Fassung erst im vierten Jahrhundert.
SPIEGEL: Das Credo wird in den evangelischen und katholischen Gottesdiensten von der Gemeinde gemeinsam gesprochen. Auch von Ihnen?
Lüdemann: Nein. Ich empfinde dabei zunehmend Unbehagen. Manchmal würde ich lieber hinausgehen ins Freie, als weiter zuzuhören.
SPIEGEL: Warum?
Lüdemann: Das Sprechen des Credos ist für mich das Murmeln einer antiken Religion. Ich sehe es so: Entweder sprechen die Gottesdienstteilnehmer den Text, ohne über ihn nachzudenken, dann plappern sie wie die Heiden. Oder aber sie glauben, was sie aufsagen, dann bekunden sie, daß sie Absurdes glauben.
SPIEGEL: Scheuen Sie das Wort Aberglauben?
Lüdemann: Ich vermeide es nur, um Gläubige nicht unnötig zu verletzen. Nehmen Sie das, was über Jesus im Credo steht. Jungfrauengeburt, Höllenfahrt, Himmelfahrt - lauter Mirakel. Und auch eine leibliche Auferstehung hat es nicht gegeben Jesu Grab war nicht leer. Hingegen steht im Credo kein Satz, keine Silbe über das Leben Jesu, über seine Botschaft, mithin über all das, was allein ihm heute noch seine Bedeutung gibt.
SPIEGEL: Würden Sie das Credo abschaffen, wenn Sie es könnten?
Lüdemann: Sofort.
SPIEGEL: Was kann die Christen noch einen, wenn es nach Ihrer Meinung weder das Credo noch die Bibel sind? Der zum Gott erhobene Christus ist es doch wohl auch nicht?
Lüdemann: Nein. Die Norm kann nur Jesus sein, der Mensch Jesus.
SPIEGEL: Das meint außer Ihnen niemand, damit stehen Sie ganz allein.
Lüdemann: Das mag sein, aber wenn es um die Wahrheit geht, wird gewogen und nicht gezählt.
SPIEGEL: Nun ist von dem Menschen Jesus wenig übriggeblieben, seit die Kritiker zwei Jahrhunderte lang jeden Satz in der Bibel auf seinen historischen Gehalt überprüft haben. Daß Jesus keine Wunder vollbracht hat, ist für Sie doch sicher?
Lüdemann: Absolut. Jesus hat keine Toten auferweckt, kein Brot vermehrt, und er ist auch nicht übers Wasser gegangen. Er hat lediglich Dämonenaustreibungen vorgenommen und Kranke geheilt.
SPIEGEL: Auch vieles, was als sein Wort in der Bibel steht, hat er nach Meinung der kritischen Forscher nicht gesagt.
Lüdemann: So ist es. Von all den Jesus-Worten im Johannes-Evangelium zum Beispiel stammt höchstwahrscheinlich kein einziges von ihm, abgesehen von denen, die aus den älteren Evangelien übernommen wurden. Das Johannes-Evangelium ist fromme Dichtung, es hat mit dem historischen Jesus fast nichts zu tun. So bitter es für Bibelgläubige auch sein mag, Jesus hat sich weder als das "Licht der Welt" noch als das "Brot des Lebens" bezeichnet. Und nicht von Jesus, sondern vom Autor des Johannes-Evangeliums stammt das berühmte Wort: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich."
SPIEGEL: Wieviel ist denn nach Ihrer Meinung von all dem, was als Jesus-Wort im Neuen Testament steht, "echt"?
Lüdemann: Etwa 15 Prozent. Für die Unterscheidung von "echt" und "unecht" gibt es keine völlige Sicherheit, aber eine hohe Wahrscheinlichkeit. Wir kennen den harten Kern der Botschaft Jesu ziemlich genau.
SPIEGEL: Was, zum Beispiel, gehört dazu?
Lüdemann: Insbesondere die Gleichnisse vom barmherzigen Samariter, vom verlorenen Sohn, und die anderen. Das ist O-Ton Jesus.
SPIEGEL: Aber reichen so wenige echte Worte, um darauf den Glauben zu gründen, wie Sie es verlangen?
Lüdemann: Es genügt, um ein Gesamtbild Jesu zu gewinnen und seine Botschaft zu kennen. Das allein kann die Basis des Glaubens sein.
SPIEGEL: Herr Lüdemann, als "Diffamierung des ordinierenden Handelns der Kirche und auch der Pfarrerschaft" bezeichnet Günter Linnenbrink, der Geistliche Vizepräsident der hannoverschen Kirche, Ihren Vorwurf, die Kirche handle scheinheilig und schizophren, weil sie von ihren Pfarrern bei der Amtseinfühmag verlange zu bekennen, was sie nicht glauben. Linnenbrink hat Sie aufgefordert, "zur Klärung dieses Sachverhaltes nach Hannover zu kommen". Werden Sie hinfahren?
Lüdemann: Nein. Ich bin zu einem Gespräch bereit, aber nur an einem anderen Ort und nicht unter vier Augen.
SPIEGEL: Warum nicht in Hannover?
Lüdemann: Ich stehe nicht im Dienst der Kirche, sondern bin Professor an einer staatlichen Universität. Man kann mich nicht in die Kirchenleitung bestellen.


SPIEGEL: Der Vizepräsident hat Ihnen geschrieben, es gehe ihm nur um Ihre Kritik an der Kirche, er nehme keinen Anstoß an Ihren Forschungsmethoden und Ergebnissen.
Lüdemann: Ich weiß nicht, ob es wirklich so ist, das kann auch Taktik sein, um Aufsehen zu vermeiden. Nehmen wir mal an, er meint, was er schreibt. Dann trennt er, was nicht zu trennen ist, und verlangt von mir die gleiche Schizophrenie wie von seinen Pfarrern. Ich darf angeblich frei lehren und forschen, aber ich darf der Kirche nicht vorwerfen, daß sie meine Arbeit, überhaupt die Arbeit der neutestamenflichen Forschung nicht zur Kenntnis nimmt und sogar von den Gemeinden fernhält.
SPIEGEL: Angedroht hat er Ihnen, Sie von der Prüfung künftiger Pfarrer auszuschließen. Kann die Kirche noch weitergehen?
Lüdemann: Sie ginge schon mit dem Ausschluß aus dieser Prüfung sehr weit und mißbrauchte ein Privileg: In anderen Fächern prüfen die Universitäten oder der Staat das Wissen der Absolventen, in der Theologie darf das die Kirche tun. Bislang wurden die Professoren nach fachlicher Qualität bestellt, nun soll ihre Tätigkeit offenbar von kirchlichem Wohlgefallen abhängig sein. Die Kirche könnte darüber hinaus die Scheine nicht mehr anerkennen, die Studierende in meinen Übungen und Seminaren erwerben. Das wäre ein Versuch, meine wissenschaftliche Arbeit zu beeinträchtigen - ohne daß es zu einem Konflikt mit dem Staat kommt. Ich würde an den Rand gedrängt. Aus der Sicht der Studentenschaft liefen meine Veranstaltungen neben dem normalen Lehrbetrieb her.
SPIEGEL: Die Kirche könnte sogar ein "Lehrbeanstandungsverfahren" gegen Sie einleiten. Das wurde Sie Ihren Lehrstuhl kosten, wenn die Kirche Ihre Abberufung verlangt und der Staat dieser Forderung nachkommt.
Lüdemann: Es ist umstritten, ob eine evangelische Landeskirche dies erreichen könnte, selbst wenn sie es wollte.
SPIEGEL: Sie hat dieses Recht, meint Professor Axel von Campenhausen, der das Kirchenrechtliche Institut der EKD in Göttingen leitet. Er würde sicher ein Gutachten liefern, das die Kirche bestärkt, so weit zu gehen. Dann gäbe es einen evangelischen Fall Lüdemann, wie es bislang nur einen katholischen Fall Küng gab.
Lüdemann: Die evangelische Kirche wäre sehr katholisch, wenn sie versuchte, es dahin kommen zu lassen.
SPIEGEL: Sie wollen Kirche und Theologie trennen, Ihre Kollegen an der Göttinger Fakultät wollen sie enger zusammenbringen. Bis Ende vorigen Jahres brauchte jemand, der dort habilitiert wird, nur zu versprechen, sein Bestes zu tun, "um als akademischer Lehrer und Forscher der Wissenschaft zu dienen und die akademische Jugend im Geiste der Wahrheit zu erziehen". Von Kirche kein Wort. Neuerdings muß er sich verpflichten, die Theologie "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der evangelisch-lutherischen Kirche aufrichtig, deutlich und gründlich vorzutragen". Dieser Text stammt aus dem Jahre 1848. Wie erklären Sie sich diesen Rückschritt?
Lüdemann: Offenbar wollen oder sollen meine Kollegen den konfessionellen Status der Fakultät zementieren, obwohl er längst überholt ist. Nur ein Beispiel: Kein Ungetaufter kann in deutschen theologischen Fakultäten einen akademischen Grad erwerben. Bei mir kann kein Jude ohne Taufschein mit einer Arbeit über den Juden Jesus promovieren.
SPIEGEL: Hätten Sie die Verpflichtung unterschrieben, wenn man es 1977 bei Ihrer Habilitation verlangt hätte?
Lüdemann: Nein, ganz sicher nicht. Ich hätte dann aber auch nicht Professor werden können.
SPIEGEL: Herr Professor Lüdemann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

(Werner Harenberg in: Der SPIEGEL Nr. 8/29.2.1996)


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Last updated on April 22, 2020
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