Francisco Welter-Schultes, Per Anhalter durch Südamerika.
Last modified 15.2.2007.
Francisco Welter-Schultes |
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Anmerkung ganz am Anfang: Beim rüberkopieren von word in netscape
gingen sämtliche Formatierungen verloren, was
an sich sehr schade ist, denn ich hatte mir 1994, als ich die Briefe in den
Computer getippt und zum ersten Mal ausgedruckt hatte, wirklich sehr viel Mühe
gemacht, bestimmte Wörter kursiv und andere fett zu
formatieren, zentrierte Überschriften und
eingerückte Absätze für wörtliche Rede usw. Tja, alles weg.
Trotzdem viel Spass beim Lesen.
Die ganzen Stories sind auch in Umweg nach Cayenne beschrieben, dort
sogar mit kursiven Formatierungen.
Links zu den Einzelseiten in Umweg nach Cayenne: 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142
Passende Landkarten gibt es auf den Landkartenseiten unseres Weltkarte-Posters.
Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken eines mitteleuropäischen Anhalters auf dem Weg durch Nord- und Südamerika, Ende der 1980er Jahre.
Die Passagen wurden meist an den Orten selber geschrieben, und zwar als Briefe, und diese Briefe werden hier gekürzt wiedergegeben, teilweise um einige Gedanken ergänzt (Sommer 1993, Göttingen). Viele der Briefe gingen an "das FORUM", das sind ein paar Leute in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Neustadt/Ostsee. Die haben da Anfang der 1980er Jahre angefangen, ein wenig alternative Kultur da zu machen (hervorgegangen aus der Friedensbewegung).
Die ersten Briefe geben sicher kein zusammenhängendes Bild, später stabilisiert sich der Schreibstil etwas. Aber sie sind trotzdem mit reingenommen, so als Einleitung sind sie vielleicht auch ganz interessant.
"Urlaub" oder "Bildungsreise" sind sicherlich nicht die
treffenden Wörter. Für mich war es irgendwie das Leben schlechthin,
etwas, das nie aufhört. Auf keinen Fall war es irgendetwas Geplantes.
Auch wenn es sich stellenweise wie ein witziger Abenteuerbericht anhören
mag, war es immer ein Weg in eine unbekannte Zukunft.
Inhalt
Einstimmung, durch Nord- und Mittelamerika
Karibikstrand Honduras
Bei den Mískito-Indianern in Honduras
Der Weg nach Nicaragua
Auf dem Altiplano in Bolivien
Per Anhalter von Bolivien nach Chile
Patagonien und Feuerland
Mit dem Fahrrad durch Nordost-Brasilien
In Cayenne, Französisch-Guyana
Das Lied der Sterne
The song of the stars
We are the stars which sing,
we sing with our light,
we are the birds of fire,
we fly over the sky.
Our light is a voice,
we make a road for spirits,
for the spirits to pass over.
Among us are three hunters
who chase a bear;
there was never a time
when they were not hunting.
We look down on the mountains.
This is the song of the stars.
- Lied der Algonquin-Indianer
New York
Brief FORUM 1
Geschrieben am 22. Oktober 1987, am Savannah River bei Mc Cormick, South Carolina,
USA.
(...)
Es waren vielleicht 30 Schritte bis zum Ufer, aber zwischen mir und den Bäumen
stand das Wärterhäuschen.
Es hatte schon längst begonnen zu dämmern. Nach 2 Stunden Laufen war
der Rucksack schwergeworden. Ich faßte all meinen Mut zusammen und ging
hinein. Uns so lernte ich den Wärter kennen.
Ein bißchen komisch fand er's ja, als ich ihm erklärte, daß
ich irgendwo unter den Bäumen hinter der Absperrung übernachten wollte.
Er bot mir Kaffee und Kuchen an. Das New Yorker Wasser sei gut. Und dann begann
er, ein bißchen über sich und sein Land zu erzählen.
Er wird etwa 60 Jahre alt gewesen sein, seine Eltern waren aus Italien eingewandert.
Von seiner alten Arbeit hatten sie ihn entlassen, weil er zu alt geworden war;
er war froh, daß sie ihm diesen Wärterposten angeboten hatten.
New York? Das sei nichts für mich. Die Leute, die Kriminalität...
naja, in Queens geht's gerade noch. Aber sonst - schlechte Stadt. Ich will ja
gar nicht in New York bleiben, erkläre ich, ich hatte eben nur den billigsten
Flug von Frankfurt nach Amerika genommen.
So - per Anhalter weg? - Schlag dir das aus dem Kopf. Keiner wird dich mitnehmen.
Die Leute haben viel zu viel Angst. Zu Recht: New York hat seine 6-10 Morde
am Tag. Außerdem ist Trampen in den meisten Staaten der USA verboten,
auch wenn kein Polizist dich dafür belangen würde.
Auf dem Land ist's anders. Geh nach Westen. You'll see - people will help you.
Brötchen hatte er noch. Im Wetterbericht nannten sie eine 30%ige Wahrscheinlichkeit
dafür, daß es in der Nacht regnet. Er erklärte mir, wo ich mich
am besten hinpacken könnte unter den Bäumen, er hatte natürlich
niemand gesehn. Dann drückte er mir 2 Dollar in die Hand und beschrieb
mir den Weg, wie ich morgen mit der U-Bahn nach Manhattan in die Stadt kommen
würde.
Es gab keinen Regen in dieser Nacht.
(...)
Veracruz
Brief FORUM 3
23. Dezember 1987, El Paraje bei Benito Juárez, bei Tuxpán, Veracruz,
Mexico.
(...)
Feierabend in den Tropen. VERACRUZ. El Paraje ("Die Herberge") heißt
das Bergdorf. Ich hab das einfach mal gemacht, in die Berge gegangen und gefragt,
ob es hier Arbeit gibt.
"Äh, also, die Schulkinder haben mir erzählt hier gibt's Arbeit
und ich wollte, so für ne Woche, hier - äh - arbeiten, wenn ich -
wenn ich was zu essen bekomm... ich mein - "
"Arbeiten?" Abrán, el maestro, Vor-"arbeiter", kuckt
mich erst schief an, erstaunt, dann mit so'm doch komischen Lächeln auf
den Lippen - "Ja, klar gibt's hier Arbeit. Und Essen gibts auch... wenn
du willst kannst du - ja, kannst du mit uns arbeiten."
Wer jetzt denkt, daß Arbeit in Mexico eintönig und öde sei,
der ist falsch gewickelt. Eintönig nicht. Arbeit in den Bergen: Bau einer
Kanalisation für das Dorf. Rohre legen und so.
Lección 1: "Ziehen Sie einen Graben. Unbeirrt und kühn entschlossen...",
1 Meter tief, ½ Meter breit. Mit Spitzhacke und Schaufel. Mein Stück
mißt 5 m. Schwere Erde. Steiler Lehmberg. Nach einem halben Tag habe ich
die dicken Blasen an den Händen.
Aber man kann ja auch einen ganzen Pritschenwagen voll mit Steinen vom Fluß
laden - und wieder entladen. Das bringt Abwechslung. Für die Hände.
Man kann sich auch den Rücken kaputtmachen. Mit 50-kg-Zementsäcke-schleppen.
Zur Abwechslung. Oder die Wirbelsäule. Mit Wassereimer schleppen (2 à
20 Liter). Oder die Schultern. Mit Baumstämme tragen. Oder alles nacheinander.
Montag bis Samstag, 7.00-17.00. Und zwar pünktlich. Samstag bis 12.00.
Eine ganze Woche. Sonst hab ich keine Probleme.
Lohn: 18.000 Pesos. Die Woche. 1 l Milch = 300 Pesos, 1 kg Bohnen = 500 P.,
1 kg Fleisch bei 4000 P. In DM sind es vielleicht 8,50 oder 9,- DM. Die Woche.
Kriegen alle (etwa 20 Leute). Macht 35,-DM im Monat. Und auch noch steuerfrei...
Und die Sprache. Irgendwann haben sie schon mitgekriegt, daß der Gringo
es wohl nicht gewohnt ist, so hart zu arbeiten. Einer kommt auf die Idee, ich
könnte die Steine, die mit in den Graben fallen, als sie ihn wieder mit
Erde zuschütten, einzeln raussammeln. Tomás soll mir das erklären.
Fängt er an, "Quién sabe si va a entender..." - wer weiß
ob er das auch verstehen wird... Spanisch ist nicht schwer, aber wenn man's
halt nicht kann, checkt man auch nur ein Drittel.
Die meisten sprechen spanisch. Die Indianer aus Tlatlapongo (dem Nachbarort)
unterhalten sich in nahuatl - shukutl heißt "Apfelsine", atl
heißt "Wasser" und ashnit lakake tlentatikichto heißt
"ich verstehe kein Wort".
Schlafen. 2 Wochen im Bett von Lino - neben Lino. Lino steht morgens um 4 auf,
um nach Benito Juárez in die Schule zu gehen. Lino stört mich nicht.
Dafür aber der miese Gockelhahn, der keine 3 Meter von mir in der Hütte
festgebunden ist. Und der ab halb 3 alle 35 Minuten mindestens 5 mal kräht,
zusammen mit seinen anderen Kumpels, es gibt mindestens 40 von der Sorte im
Dorf. Ich hab's nachher sogar geschafft, den Kerl zu überhören und
durchzuschlafen.
Ach, und das Essen. Jeden Tag in einem anderen Haus. Das Dorf hat etwa 20 Häuser,
in 10 bin ich bis jetzt eingeladen worden. Donnerstag hab ich's dann zum ersten
mal abgelehnt, den ganzen Teller Bohnen aufzuessen. Tortillas sind nicht ganz
so schlimm. Zwei Drittel des Essens besteht aus Tortillas und Bohnen. Weihnachten
gibt's Hühnchen.
Einige gehen manchmal zur Arbeit, ohne etwas gegessen zu haben. Aber egal wie
arm die Leute sind, von dem wenigen was sie haben, geben sie mir immer noch
was ab. Am ehesten die Ärmsten im Dorf.
Habe ich ein schlechtes Gewissen? Irgendwie hab ich's nicht.
Diese Welt gibt's nur einmal. Und uns auch.
(...)
Als Tramper in Mexico
Brief an Ludwig Klinke.
31. Dezember 1987, Puerto Angel, Oaxaca, Mexico.
(...)
Man steht morgens auf, in der Scheune in der man die Nacht verbracht hat, und
geht mit Rucksack und Wüstenschuhen los, und weiß nicht, was der
Tag bringt. Wieweit man kommen wird, ob man irgendwo was zu essen bekommen und
wo man die nächste Nacht verbringen wird. Begegnet man netten Leuten? Oder
wird man in eine große Stadt gefahren, wo man 4-5 Stunden braucht, bis
man wieder rausgelaufen kommt? Wird es den ganzen Tag regnen, oder hält
einer an und bietet dir an, diese Nacht bei ihm zu verbringen? Wird man vielleicht
einige 100 km in den nächsten Staat nach Süden gefahren, oder gibt
es ein paar kleine Tramps nach Westen? Oder muß man wieder 5 Leuten 5
mal erklären, daß und warum man keinen Alkohol trinkt; wird dir wieder
nicht mehr einfallen als die alte, ziemlich wertlose Geschichte mit der Freundin
in Deutschland, wenn sie dich löchern, warum du der Mexikanerin auf der
Straße dort nicht nachpfeifst?
(...)
Gestern bin ich in den Mond reingelaufen. 10 km in den Mond. Ich hätte
mich ja auch gleich hinter Ejutlá irgendwo hinpacken können, und
wäre am nächsten Tag bestimmt genauso schnell nach Puerto Angel weitergekommen.
Der Tag war auch nicht der beste gewesen: wieder mal kaum was zu essen, durfte
aus der 300.000-Einwohner-Stadt Oaxaca rauslaufen, und hatte eine gute Chance
auf Mücken in der Nacht. Aber dann ist da der Mond, der einen einlädt,
10 km die Straße weiterzugehen. Irgendwie perfekt.
Es gab einen tieferen Sinn in diesem Absatz, aber er ist mir entfallen.
(...)
Bei Touristen in Mexico
2. Brief an Sonja (ein Brief, der nie angekommen ist)
9. Januar 1988, Cattle Landing bei Punta Gorda, Belize, Zentralamerika.
Und Brief FORUM 4
20. Januar 1988, Limón bei Bonito Oriental, bei Trujillo, Colón,
Honduras.
(...)
Nach 4 Wochen Mexico war es mir ein bißchen langweilig geworden, durch's
nur spanisch sprechende Land zu trampen, und bekam fast sogar Lust auf ein paar
richtige Touristen. Also nix wie hin, der nächste Badeort an der Pazifikküste,
und da sind sie schon.
Alles was du brauchst, sind 4 Sprachen. Und ein bißchen Geld, obwohl:
Mexico ist wirklich total billig. Ab und zu bringt's das auch mal, andere Touristen
kennenzulernen.
Gar nicht mal so viele US-Amerikaner, wie ich vermutet hatte, vielmehr Franzosen,
Schweizer, Franco-Kanadier, Österreicher, Australier, Spanier und Deutsche
halt auch.
Englisch zählt wenig. Obwohl's die meisten Mexikaner in der Schule lernen.
Du siehst kaum ein englisches Reklame- oder Hinweisschild im Touristenort. Zeigt
natürlich etwas vom Verhältnis der Mexikaner zu ihren nördlichen
Nachbarn. Bedient wirst du auch nur in spanisch. Mir ist das sympatischer als
in den griechischen Touristenorten, wo du dich mit dem Verkäufer auf griechisch
bemühst und der Kerl antwortet dir stur auf englisch.
Was du bekommst, sind Informationen. Über Mexico, über Zentralamerika,
über's Trampen, über Visa, was machen andere, wo ist's schön,
wo gibt's Straßen, Busse, Boote.
Das muß jetzt nicht heißen, daß diese Informationen immer
viel taugen. Aber manchmal überschneidet sich's. Daß Mexico City
öde ist, erzählt dir jeder. Und nach Tikal im Norden Guatemalas mußt
du unbedingt hin. Spätestens wenn dir einer erzählt, alles was der
Anhalter braucht, sei ein Handtuch, weißt du, daß du seinen Informationen
guten Glauben schenken kannst. Weil er seinen Reiseführer gelesen hat...
(den Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis).
Aber über Visa in Zentralamerika bin ich heute so schlau wie vorher.
"Nur El Salvador macht Probleme... dicken Antrag mit 20 Fragen, 2 Paßfotos
und so, in den anderen Ländern gehst du an die Grenze, zeigst den Paß
vor und okay." -
"Die anderen Staaten? Da brauchste immer Visa, die kriegste aber an der
Grenze." -
"Für El Salvador würde ich zur Botschaft in Guatemala City gehen."
-
"Stimmt's, daß man nach Honduras nicht reinkommt, wenn man DDR-Stempel
im Paß hat?" -
Wie ist es denn in Belize?
"Belize? Hingehn an die Grenze, das sind alles Schwarze da, die ham doch
keine Ahnung. Frag ihn, wo Deutschland ist! Frag ihn! - 'Germany?', die sprechen
alle englisch, 'must be somewhere in Europe. All right. Go ahead.' - Aber was
willst du in Belize? Da gibt's doch rein gar nichts zu sehen. Keine Berge und
nichts. Die klauen überall. Bloß schnell weiter nach Guatemala."
Ganz so einfach wie der Franco-Kanadier das beschreibt, scheint das mit der
Grenze in Belize auch nicht zu sein.
"Über die Grenze kein Problem, aber die fragen dich, wieviel Dollar
du hast, je nachdem geben sie dir Aufenthalt, paar Wochen." - sagen die
Schweizer. Das Land sei flach, Belize City eine schöne kleine Hafenstadt
mit lauter Holzhäusern. - Dänemark in der Karibik? Langsam interessiert's
mich wirklich.
Der Amerikaner aus Washington State, der mich 450 km durch Yucatán auf'm
Motorrad mitgenommen hat:
"Belize? Soll öde sein. Wüßte nicht, warum ich dahin soll."
-
"Die ham das zweitgrößte Barrier-Riff der Welt." - ein
mexikanischer Student - "Belize ist teuer. Und puro inglés."
"Belize - das ist Karibik. Die Leute, die Musik, das Leben, alles, eben
Karibik." - ah, die Deutschen.
"Ihr wart da?"
"Ja, vor 6 Jahren. Du brauchst'n Visum. Das mußte dir in Mérida
holen. Kost 10 Dollar." Mérida ist ne Stadt im Norden Yucatáns,
400 km ab vom Weg. Seit neuestem gibt's die Visa wohl auch in Chetumal, das
liegt näher an der Grenze.
"Wieso'n Visum?"
"Als Deutscher brauchst du'n Visum. Belize war früher British-Honduras,
ne Kolonie, und ist 1981 unabhängig geworden. Guatemala beansprucht das
Gebiet für sich und erkennt den Staat nicht an. Deswegen gibt's da'n Grenzkrieg.
Deutschland liefert Waffen an Guatemala."
Toll, und das müssen mir irgendwelche Touristen erklären. Da arbeite
ich in Deutschland jahrelang in der Friedensbewegung mit, und hab von sowas
keine Ahnung... trotzdem: ich liefere jedenfalls keine Waffen nach Guatemala.
Die 10 Dollar können andere zahlen.
Ich bin weder in Mérida noch in Chetumal gewesen.
An der Grenze von Belize
Guatemala hat 1981 das Fehlen der britischen Truppen während des Falkland-Krieges
gleich ausgenutzt, um in Belize dick einzumarschieren. Als erstes waren die
Indianerdörfer im Süden dran, die abgebrannt wurden. Die Briten sind
dann aber schnell wiedergekommen.
Aber ich hatte natürlich trotzdem kein Bock, 10 US-Dollar für ein
Visum in Belize hinzublättern, und bin so an die Grenze. Abends, 8 Uhr,
also schon dunkel. An der mexikanischen Seite räumen sie mir wenig Chancen
ein, in Belize so durchzukommen. Sie geben mir nicht mal einen Ausreisestempel.
"Aber bitte, du kannst es ja versuchen, muchacho."
Rüdiger Nehberg schreibt in einem seiner Bücher, daß man als
Tramper an manchen Orten besser wegkommt, wenn man die Fahne seines Heimatlandes
zeigt. Andere basteln sich einen überdimensionalen Daumen oder lassen den
Kopf eines Teddybären aus dem Rucksack schauen. Ich habe auf ein Stück
Stoff die Fahnen aller Länder, in denen ich bis jetzt gewesen bin, genäht,
von Österreich bis Mexico 15 Stück, und es gibt immer wieder Situationen,
wo's Spaß bringt, das Ding aus der Tasche zu holen und damit aufzuschocken.
Ich gehe also zum Schalter im kleinen Grenzhäuschen von Santa Elena, Belize,
es sind nur 3 Leute im Dienst, lege Rucksack und Schlafsack in die Ecke, hole
die Fahnen heraus und sage zum officer:
"Before I show you my passport, I show you this. I'm a traveller. And these
are all the countries I've been travelling to."
Langsam und mit sichtlichem Unbehagen hole ich dann meinen deutschen Reisepass
raus, erzähle ihm von meiner Meinung zu deutschen Waffenlieferungen nach
Guatemala und von der Friedensbewegung, wo die Leute gegen die Waffenlieferungen
an fremde Länder kämpfen.
"Well, wie lange willst du denn in Belize bleiben?"
"Naja, halt durch nach Guatemala, aber das Land wollt ich mir schon ein
bißchen ansehen..."
"Das Maximum, das ich dir geben kann, sind 7 Tage. Aber du kannst nach
Chetumal zur Botschaft gehen und dir ein Visum holen, dann kann ich dir 3 Wochen
oder mehr geben."
Belize ist ein kleines Land, und 7 Tage sind ein gutes Geschäft.
Also in Belize, ein kleines Land an der Karibik, mit vielleicht ¼
Mio Einwohner. Die erste Nacht in Corozal, der Wärter des Bus-Terminals
läßt mich in einem der geparkten Busse schlafen.
Trampen geht gut. Bin in einem Tag über mehrere 100 km nach Punta Gorda,
der südlichsten Ortschaft Belizes, gekommen, und werde am Dienstag das
Boot nach Puerto Barrios, Guatemala, nehmen.
Belize - folgende Informationen waren für den Müll:
Das Land hat keine Berge. - Gibt's schon, im Süden.
Überall wird geklaut. - Ist wie anderswo auch.
Die Leute wissen nicht viel von Europa. - Auch hier haken sie öfter nach,
aus welchem Deutschland du kommst - Ost oder West.
Und klar gibt es hier was zu sehen, es kommt nur auf deine Augen an.
Ich sitze hier unter einer der vielen Kokospalmen am Meer und beobachte schon
die ganze Zeit den kleinen Graureiher, wie er im ruhigen Wasser herumwatet und
ab und zu ein paar Fische fängt. Eben ist noch eine Art Weißreiher
dazugekommen. In den Bergen gibt's Jaguar. Im Wald.
Und immer noch ein Hauch von Kolonialismus. Britische Militärpräsenz.
Obwohl - so britisch ist Belize auch nicht. Die (sehr wenigen) Straßenschilder
sind zweisprachig, englisch - spanisch. Im Norden sprechen die meisten spanisch.
Die Indianer sprechen maya, oder quiché. Die Schwarzen auch garífuna.
Teuer ist's wohl tatsächlich. Hotel 20,- DM die Nacht. Aber warum, das
ist mir schon in der ersten Nacht klargeworden: hier gibt's mehr Mücken
als Sandkörner am Strand. So hinlegen ist von daher einfach nicht möglich.
Ich bin froh, daß mir die Leute hier ein leeres Haus zum Übernachten
gezeigt haben.
Sonja, das Bild müßtest du sehen. Ich sitze an der Karibik, vor mir
noch paar Palmen, und hinter dem Meer die Berge von Zentralamerika.
(...)
Puerto Barrios, Guatemala
5 Tage später sitze ich im Boot von Punta Gorda (ganz im Süden
von Belize) nach Puerto Barrios, Guatemala - die nächste Grenze.
1 Quetzal für Zoll (~ 1,- DM) - gut, 1 Belize-Dollar habe ich noch. 2 Holländer
und ein Kanadier stehen vor mir in der Schlange, als wir die Reisepässe
zurückkriegen. 10 Quetzal.
Kleine Diskussion, dann zahlen die Holländer. Der Kanadier sagt, er käme
jetzt das 4. Mal nach Guatemala, aber es seien immer nur 2-3 Quetzal gewesen,
niemals 10. Gut, 2 Quetzal. Er hat Dollar.
"Oder 2 Dollar."
"Was!?"
Schließlich zahlt er seinen letzten Quetzal und einen Dollar.
Ich. Verdammt, ich kann doch nicht immer Eintritt in die Länder zahlen.
"Ich hab in Mexico für 18.000 Pesos die Woche gearbeitet", erzähle
ich, "das sind 8 Quetzal."
"8 Quetzal die Woche? Das ist wenig."
"Das ist sehr wenig. Muß ich jetzt 2 Quetzal zahlen?"
"Geh durch. Nos entendemos - wir verstehen uns. Hier ist dein Paß."
Respekt. Vielmehr brauch ich nicht zu schreiben.
Guatemala.
Landet man nachts in einer Stadt wie Puerto Barrios, gibt es immer das Bus-Terminal,
wo man übernachten kann. Einer, der mit US-amerikanischem Paß mit
dem Boot rübergekommen ist, aber in Guatemala wohnt, erzählt mir ein
bißchen über das Land. Tenor: nix los außer paar Touristenorte,
die Leute sind schlecht drauf, mißtrauisch, und als Anhalter kommst du
nicht weg.
Diese Art, mißtrauisch zu sein, haben sie auch schon in Chiapas draufgehabt,
das war der mexikanische Staat, der an Guatemala grenzt. Da war Trampen auch
viel schwieriger als im restlichen Mexico.
Ob alles stimmt, was er sagte, hab ich nicht nachprüfen können - bin
am nächsten Tag weiter nach Honduras getrampt. 3 Tramps, darunter mein
erster Truck-Tramp auf dem amerikanischen Kontinent (von, bis dahin, 135 Tramps).
Grenze Honduras in den Bergen
Wieder der Kanadier von Puerto Barrios in der Schlange. Er ist mit dem Bus
gekommen und war wohl genauso schnell wie ich. Ihn wollen sie nicht nach Honduras
reinlassen, weil er einen Stempel von Indien im Paß hat. Honduras schickt
alles zurück, was irgendwie mit kommunistisch aussehenden Ländern
zu tun hat. GL. Und mein Paß ist voll mit Stempeln von Mexico, Jugoslawien
und Bulgarien... (ich rede jetzt nicht von den 32 DDR-Stempeln!).
Griechisch kann er wohl nicht lesen und deutet auf einen der Stempel aus Griechenland:
"Was ist das?"
"¡Grecia! - ¡Pura Grecia!" - Alles Griechenland!
Was will ich in Honduras, will er wissen. Ein bißchen das Land anschauen
und weiter nach Nicaragua.
"4 Tage."
Ey, ich bin zu Fuß. Das ist zu wenig.
Nix, 4 Tage. Auch der Beamte am Schalter nebenan kann ihn nicht umstimmen. Kostet
5,- Lempira (~ 5,- DM). Der Kanadier ist nochmal dran und beschwert sich, weil
er extra bei der honduranischen Botschaft in Guatemala City war und die ihm
ein Visum für Honduras ausgestellt haben, weil Indien nicht kommunistisch
sei.
Nein, Indien ist kommunistisch, das steht hier auf der Liste und du kommst hier
nicht rein. Auch nicht mit Visum von der Botschaft, kann ja jeder kommen. Der
Kanadier resigniert, geht zurück zu den Stufen, vielleicht wird der Beamte
ja mal abgelöst. Ich werde mich hüten, mit diesem Beamten weiter über
meine 4 Tage zu diskutieren, und zahle die 5,- Lempira.
4 Tage für 600 km Honduras - aber wenigstens bin ich über die Grenze.
Und los.
In den Bergen von Honduras
Honduras. Das Land und die Leute sind besser als seine Grenzbeamten. Leute
laden mich ein, geben mir zu essen, oder sogar Geld fürn Bus, Trampen geht
gut. Besonders im Süden und Westen des Landes.
In Tegucigalpa gehe ich, weil ich noch ein wenig Zeit übrig habe, zur Botschaft
von Nicaragua; mal sehen, ob die mir eine Arbeitserlaubnis für Nicaragua
geben. Ein kleines Gebäude, ein Kassenschalter, ich erzähl der Frau
dahinter, daß ich in Deutschland für die Freiheit Nicaraguas mitgekämpft
habe und daß es viel Solidarität mit Nicaragua in Deutschland gibt.
- "25 US-$ und 3 Paßfotos." Was?
Ich sage, das ist viel, ich will ja in Nicaragua arbeiten. Sie fragt, ob ich
irgendein bestimmtes documento aus Deutschland habe. Sorry, tut mir leid, sowas
habe ich nicht. Ich verstehe auch nicht ganz, was sie meint, sie geht auf 85
US-$ rauf, soviel kann ich nicht bezahlen... also gibts keine Arbeitserlaubnis
für Nicaragua.
Ich gehe wieder raus, ohne verstanden zu haben, warum sie auf einmal so komisch
war. Wenn einer da arbeiten will, für geringen Lohn oder nur für Essen,
warum lassen sie einen denn nicht? Da arbeiten doch viele in der Solidaritätsbewegung.
Oder seh ich aus wie der typische Contra? Vielleicht kommen da ja alle Nase
lang die Europäer an und wollen da arbeiten.
Auf alle Fälle setzte sie voraus, daß, wer sich mit ihr unterhält,
mindestens perfekt spanisch können muß. Ja genau, das wird's gewesen
sein, das hat sie bestimmt gestört, mein schlechtes spanisch. Hat sie ja
irgendwo auch recht, so gut ist es ja wirklich nicht. Also gut, sie hat recht,
ich nehme mir vor, das zu ändern. Ich frage einen auf der Straße
nach dem Weg Richtung Danlí und lasse mir gleich im Anschluß sämtliche
grammatischen Regeln aus dem Satz erklären...
Was das ganze wirklich sollte, versteh ich erst an der Grenze.
Impressionen von Nicaragua
Grenze Nicaraguas in den Bergen, hinter Danlí, der Ort heißt
Las Manos, große Plakatwände: "¡Bienvenidos! Nicaragua
- tierra de hombres libres." Wenig los an der Grenze. Es regnet. Erst werde
ich freudig begrüßt von den Leuten, einer spielt Gitarre, Freiheitslieder,
aber dann kommt der Beamte und gibt mir meinen Paß zurück:
"Du hast ja gar kein Visum, so kommst du hier nicht rein."
"Was, brauch ich'n Visum??"
Jetzt komm ich erst mit. Auf Diskussionen lassen sie sich nicht ein, ich soll
zurück nach Tegucigalpa zur Botschaft und mir dort das Visum holen. Es
regnet.
Ich hatte nicht gewußt, daß ich für die Einreise auf jeden
Fall ein Visum brauche, unabhängig davon, ob ich dort arbeiten will oder
nicht. An der Grenze hier in Las Manos wollen sie mir dieses Visum nicht geben.
"Nach Tegucigalpa?", frage ich ihn nochmal, mit Blick auf das Wetter.
"Ja, nach Tegucigalpa."
Gut, also zurück.
Die Frau in der Botschaft war also deswegen so komisch, weil sie am längeren
Hebel saß. Nur hatte ich das nicht geahnt. Im Prinzip war sie genauso
drauf wie der honduranische Grenztyp von der Grenze zu Guatemala. Bei dem hatte
ich mich wohl gehütet, weiterzudiskutieren, als ich merkte, daß ich
nicht mehr als 4 Tage rausholen würde. Es läuft so, daß je länger
du mit solchen Leuten diskutierst, desto teurer wird es für dich.
Ich kann nichts machen. Ich muß zurück, im Regen. Der honduranische
Beamte übermalt mit Tipp-Ex den Ausreisestempel. Jetzt habe ich noch einen
Tag, um nach Tegucigalpa zurückzufahren, zur Botschaft zu gehen, mir das
Visum zu holen, und dann nochmal nach Las Manos zu fahren. Man kommt sich ja
vor wie ein Depp.
Für mich ganz schön deprimiernd.
Ein bißchen komisch ist das Leben ja schon. Wo komme ich her? Berliner
Hausbesetzerbewegung, Grüne, Friedensbewegung... Jahrelang kämpft
man mit für Nicaragua, ein "Land von freien Menschen", und an
der Grenze schicken sie dich einfach zurück. Im Regen.
Was mache ich? Gehe ich zurück nach Tegucigalpa? Ich latsche die Straße
zurück, im Regen. Sie meinten, ich soll auf den Bus warten. Nee, danke,
ich geh zu Fuß. Der Bus fährt vorbei. Ich geh weiter, im Regen.
In Jugoslawien zeigst du den Paß vor, Stempel rein, und durch bist du,
normalerweise kucken sie nicht mal in dein Gepäck. Den Gag hätten
sie ja nicht mal in Bulgarien gebracht, mich von der Grenze weg zurück
nach Belgrad zur Botschaft zu schicken. Okay, kostet halt 50,- DM, wenn du kein
Visum hast, aber du kommst jederzeit über die Grenze.
Nee, Junge, nicht nach Tegucigalpa. Zu den Contras, oder zu den Miskito-Indianern,
aber nicht nach Tegucigalpa. Okay - ich könnte es heute nacht noch schaffen
bis "Tegus", morgen früh zur Botschaft, mit ein bißchen
Glück würde sie auch mit dem Preis wieder etwas runtergehen. Vorausgesetzt
den Fall, daß die Botschaft Samstag morgens überhaupt auf hat. Und
am Nachmittag könnte es nochmal mit dem Zur-Grenze-trampen klappen. Wenn
nicht, müßte ich bis Montag warten, und würde damit das Visum
für Honduras überziehen, was auch etwa 50 US-$ pro Tag kommen kann...
nö, Nicaragua, so nicht. Ich bin doch nicht dene ihr Depp.
Ein anderer Bus hält an, wohl aus Mitleid, eine Stunde bin ich im Regen
gelatscht, und nimmt mich mit bis Danlí. Von dort gibt es 2 Straßen:
eine nach Tegucigalpa, und eine nach Norden durch die Berge... nee, Junge, nicht
nach Tegucigalpa.
Seitdem drifte ich.
Wieder an der Karibik
Bin jetzt in Limón gelandet, etwas östlich von Trujillo, im Norden,
an der Karibikküste.
Hier wohnen Schwarze. Das ist eine ganz interessante Geschichte, die die haben:
die stammen alle von den Leuten eines Sklavenschiffes ab, das im 18. Jahrhundert
vor der Karibikinsel St. Vincent bruchgelandet ist. Es gab wohl ein Gesetz,
daß die Überlebenden von bruchgelandeten Sklavenschiffen frei waren,
und so siedelten sie sich dort an, zunächst. Als sie erfuhren, daß
den Engländern solche Gesetze doch nicht ganz so heilig waren, haben sie
sich zusammengetan und die Mosquitoküste von Honduras besiedelt. Diese
Leute sind stolz darauf, nie Sklaven gewesen zu sein. Sie sprechen garífuna,
eine Sprache, die sich ihren Angaben nach aus englisch, spanisch, französisch
und verschiedenen Indianersprachen zusammensetzt (paar afrikanische Elemente
werden aber auch drin sein).
Was ich hier mache, hab ich eigentlich immer noch nicht richtig mitgekriegt.
Die letzte Straße ist hier zuende. 6 Stunden Fußmarsch nach Osten
liegt Iriona. Im Landesinneren gibt's Milliarden von Mücken. Hier fängt
die "Mosquitia" an, die wird zu recht so heißen.
Die fehlende Aussicht und das überzogene Visum, irgendwie quält das.
Die Straße zurück, die ich hergekommen bin, das mach ich nicht. Die
Leute in den Bergen waren voll mies drauf, die hier in Limón bestätigen
das. "Nada más adiós y adelante" - nur tschüß
und nix wie weiter. Mala gente - unfreundliche Gegend... und gefährlich.
Du merkst es an der Art, wie sie bewaffnet sind, daß da etwas nicht stimmt.
Natürlich, es gibt auch freundliche Leute, aber auch nur tagsüber.
Lieber 500 km Umweg, über San Pedro Sula, als da nochmal durch.
Ja, wohin morgen? In Limón kann ich nicht bleiben, nur ausruhn. Mit dem
Boot nach Costa Rica? Aber es fährt keins. Zurück nach Tegucigalpa,
über San Pedro Sula? Es ist gar nicht so ungefährlich, mit einem überzogenen
Transitvisum in Mittelamerika erwischt zu werden. Und wer weiß, was sie
an der Grenze sagen.
Aber ich wollte es ja so. Gejagt vom Hunger, von Moskitos, illegal im fremden
Land, immer weiter, und nicht wissen wohin. Was für ein Leben. Irgendwann
wird es dann vor mir stehen, das Leben, und sagen:
"Okay, Willi, 10 Pluspunkte für schlechte Ausführung, aber 100
Miese für die richtige Wahl."
(...)
Am Karibikstrand von
Honduras
2. Brief an Inga
4. Februar 1988, Wampusirpi am Río Patuca, Gracias a Dios, Honduras.
(...)
Trampen on the road ist ja ganz abenteuerlich, aber hier kommst du unweigerlich
in Gegenden, wo's einfach keine Straßen mehr gibt, Teerstraßen schon
lange nicht mehr. So kommt es, daß es schon Wochen her ist, daß
ich das letzte Auto gesehn hab. In Limón endet die letzte Straße,
die in der Trockenzeit gerade noch befahrbar ist. Limón liegt 30 km östlich
von Trujillo am karibischen Meer.
Ich bin aus den Bergen gekommen, dort leben Mestizen (Mischung zwischen Spaniern
und Indianern), und besonders gastfreundlich sind sie da oben nicht gewesen,
also lande ich am Meer, in Limón, dort, wo die letzte Straße endet
und der Strand beginnt.
Limón
Eine überdachte Ecke bieten sie mir an, abends kommen noch einige und
unterhalten sich mit mir. Ein Gringo aus den USA lebt bei ihnen im Dorf, Mich
heißt er, er ist nicht da, kommt aber morgen früh.
Irgendwie habe ich die Tage darauf das Gefühl, in eine Sackgasse gelaufen
zu sein. Nach 2 Tagen bin ich kurz davor, mir ein kleines Boot zu kaufen und
einfach auf blauen Dunst aufs Meer zu fahren. Mich, der Amerikaner, sagt, ich
könne eventuell auf einer der vorgelagerten Inseln Arbeit finden...
Oder sollte ich wieder denselben Weg zurück? Ich schreibe den 4. Brief
ans FORUM, ernähre mich von Apfelsinen von den Bäumen und von Kokosnüssen
vom Strand.
Gleich zwei Frauen sprechen mich an in der Zeit, eine will mich heiraten, ich
soll hierbleiben. Eine lädt mich zu sich zum Essen ein, ich weiß
nicht, ob das jetzt auch so was Eindeutiges ist. Ich glaube, in Europa machen
das nur die Männer, bin mir aber auch nicht sicher, hab nie genau drauf
geachtet. Angemacht fühl ich mich nicht, und wenn sie mich einlädt,
warum sollte ich das nicht annehmen?
Abendessen. Sie war freundlich, sagte aber dennoch ziemlich direkt, warum sie
mich eingeladen hatte (auch sie wollte mich heiraten), und ich mußte ebenso
deutlich sagen daß ich sie wohl enttäuschen müßte. Sie
machte ein bißchen den Eindruck, als nähme sie's mir übel. Oder
sie dachte, ich wär rassistisch, und würde das nicht machen wegen
der Hautfarbe.
Es ist der 4. Tag, ich habe von irgendwoher eine Karte, in der wenige Orte eingetragen
sind. Der nächste Ort am Strand richtung Osten heißt Iriona. Die
Leute am Verwaltungshaus.
"Nach Iriona willst du?"
"Naja, mal sehn, ich weiß noch nicht... wie ist denn der Weg?"
"Iriona? 6 Stunden Fußmarsch am Strand, immer geradeaus. Zuerst kommt
Punta Piedra, dann Cosuna, Sangrelaya... nee, Sirivoya kommt noch davor, und
La Punta, und dann Iriona."
Einer ist Fischer und kennt sich noch ein bißchen weiter aus:
"Iriona, und dann Tocamacho, Bataya, Palacio, Plaplaya... Ibans...",
ich schreibe so schnell wie möglich im Heft mit, er kommt bis zur Grenze
Nicaragua, immerhin fast 300 km.
Zu meiner Überraschung rückt einer von den anderen schließlich
damit raus, daß ich auch auf die Karte drinnen im Verwaltungshaus schauen
könnte.
"Karte?"
Aber was für eine. Mit allen Flüssen, Höhenlinien, Dörfern,
Pfaden - perfekt. 2 Tage und ich habe sie abgepaust. Die ganze Gegend südwestlich
von Limón bis zur Grenze Nicaragua.
Jetzt ist's klar, wo's hingeht. Eine Karte ist immer die Voraussetzung. La Mosquitia
- das Land, in dem die Mískito-Indianer wohnen.
Eine Frau sagt mir noch, daß die Leute in Punta Piedra nicht so gut drauf
seien, in Sirivoya sei's besser. Solche Informationen sind immer Gold wert.
Sie sagt, 4 Stunden bis Iriona.
Der erste Tag am Strand,
ab Limón
Nächsten Morgen geht's los. Früh um 6. Zwei Fischer sind gerade
bei ihrem Boot am Strand und sagen, sie wollen warten, bis sich das Meer etwas
legt, und um 7 dann nach Iriona abfahren. Ich könne mit, wenn ich will.
Ja, okay, ich warte solange am Boot.
Die Sonne steigt. Um 9 sind sie noch nicht wieder zurück, jetzt gehe ich
zu Fuß los. Ein langer Weg am Karibikstrand.
Der Sand ist schön fest, und ich sinke nicht ein. Trotz Rucksack und Schlafsack
komme ich gut vorwärts. Eine Zeitlang verfolgt mich ein Schwarzer auf seinem
Pferd, schließlich hat er mich eingeholt und wir unterhalten uns ein wenig
auf spanisch.
Ein bißchen mißtrauisch bleibe ich. Seine zweite Frage nach "Woher
kommst du" war gewesen, ob ich wie andere Gringos für eine christliche
Organisation arbeite, eine Frage, die mir hier öfters begegnet. Nein -
also nur Tourist am Karibikstrand.
"Aus Deutschland kommst du, dort gibt's doch Dollars, stimmts, du mußt
bestimmt jede Menge Knete haben."
Nö, ich hab kein Geld, bin per Anhalter hierhergekommen, das ist nicht
teuer.
"Und wo ißt du?"
"Naja, was mir die Leute so geben, heute habe ich noch nichts gegessen."
Die Unterhaltungen mit solchen Leuten sind eine hohe Kunst, jedes einzelne Wort
will gut, aber nicht lange überlegt sein.
"Wo willst du hin?"
In solchen Situationen nur das nächste Tagesziel angeben - "Iriona."
"Hm. Die Leute in der Gegend sind arm und können dir nichts geben,
du wirst dir dein Essen kaufen müssen."
Ein Stück Weg laufen wir nebeneinander her, er auf seinem Pferd, ohne Gepäck,
ich zu Fuß, mit Rucksack und Schlafsack. Den Schlafsack trage ich dabei
im Nacken, er hält zwar, wird aber mit der Zeit schwer. (Ist so'n billiger
Stoff-Schlafsack, den mir Steve Blackmon in Washington, Georgia, geschenkt hat,
braun, jetzt ziemlich versifft, 3-4 kg schwer). Nein, er bietet mir nicht an,
den Schlafsack abzunehmen.
Wir nähern uns der Stelle, wo ein Berg ins Meer reinragt und keinen
Platz mehr für einen Sandstrand läßt. Ja, das haben sie mir
gesagt, daß der Weg einmal kurz in den Berg reingeht, um dann über
-zig Kilometer aber nur noch dem Strand zu folgen.
"Dahinten geht der Weg in den Berg rein, das ist ein bißchen gefährlich
und schwer zu finden", bricht er das Schweigen, "wenn du willst, kann
ich dich da durchführen, wenn du, du verstehst, mir ein bißchen was
gibst."
Jetzt fängt's an, kritisch zu werden.
"Hombre, ich hab doch auch kein Geld, ich hab heute noch nicht mal was
gegessen, ich werde den Weg alleine finden müssen."
"Hm."
Lange überlegt er nicht, trabt los, sieht zu, daß er Abstand kriegt.
Ach ja, er darf mir ja keine Spuren zum Nachfolgen anbieten. Also reitet er
ein bißchen zu den Sanddünen, ha, weiter ins Land geht's nicht, weil
da alles unter Wasser ist, das ist ja auch der Grund, warum's hier soviele Mücken
gibt. Er bemüht sich redlich, möglichst unauffällig den Einstieg
in den Berg zu nehmen.
Aber es spielt ja auch schon alles gegen ihn. Hab ich ihn schon die ganze Zeit
vor mir, muß der Sand auch noch so flach sein, daß man soweit sieht.
Und überall ist nur Sand, wo will er da keine Spuren hinterlassen. - Okay,
es ist der gute Wille, der zählt, denke ich mir, ich kann es ja mal honorieren
und gehe ein bißchen auf die Sanddünen zu. Versuche, eine halbe Stunde
Zeit zu verlieren. Wenn er sich irgendwo im Berg versteckt hält, wartet
er nicht lange, er will ja auch wohin.
Man braucht leider wirklich nicht der perfekte Beduine zu sein, um die Fuß-
und Pferdespuren im Sand lesen zu können, die allesamt auf den Einstieg
in den Hügel zulaufen. Es folgt ein kleiner Steinpfad durch den Wald, vielleicht
40 m, und oben bin ich auf einem super-instandgehaltenen Pfad, der parallel
zur Küste verläuft. Und die Pferdespuren meines Vorgängers wieder
vor mir - alles unter Kontrolle. So gehe ich eine Stunde durch den Wald, der
Schatten tut gut.
Ein Reiter kommt mir entgegen und begrüßt mich freudig. Was, nach
Iriona willst du. Ich komme gerade von daher, bin schon 4½ Stunden unterwegs.
Der Weg? - Dahinten gehts runter, und dann immer nur am Strand lang. Alles Gute
auf dem Weg, verabschiedet er sich. Ein freundlicher Mensch.
Mittag ist es geworden, 3 Stunden laufe ich schon, und er kommt 4½ Stunden
mit dem Pferd... wenn ich heute überhaupt nochmal in Iriona ankomm, bin
ich gut. Ich erreiche den Strand, und dann immer gradeaus.
Und ich laufe am Strand. Alle halbe Stunde fließen die dicken Bäche
ins Meer, meist ist das Wasser kniehoch, außerdem ziemlich rot-braun-dunkel,
weiß der Geier warum. Ich laufe barfuß und in kurzen Hosen - nee,
in Unterhosen: zum einen spült mir ständig das Meer um die Füße,
zum anderen fließen ständig die Bäche ins Meer.
Vorteil: Das Meer kühlt gut. Nachteil: Am nächsten Tag habe ich den
dicken Sonnenbrand an den Beinen. Einer von den Zuflüssen reicht mir beim
Durchqueren bis an die Hüften, ich muß aufpassen, daß ich das
Gleichgewicht nicht verlier, mit meinem ganzen Gepäck.
Weiter oben ist der Sand lockerer, da kann ich nicht gehen, die Füße
sinken im Sand ein, und außerdem wird der trockene Sand sehr heiß.
Aber das Meer zieht sich jetzt etwas zurück und hinterläßt unten
feuchten, gut gepackten, soliden Sand zum Laufen. Und ich laufe. Was für
ein Bild. Über mir die Sonne, links das Meer, die weite Dünung, vor
mir der lange Sandstrand und rechts die Kokospalmen auf den Dünen. Das
ist die Karibik, so sieht sie tatsächlich aus, andere hängen sie sich
als Wandtapete in die 2-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad.
Kann ich es genießen? Ich laufe und laufe. Viel Zeit zum Träumen.
Am Nachmittag erreiche ich Punta Piedra. Ayó und weiter gehe ich am Strand.
Ayó ist garífuna und heißt tschüß. Richtig dunkel
schwarz sind sie hier, die Leute, in Limón waren sie ja noch ein bißchen
spanisch vermischt.
2 Frauen laufen vor mir her. Ich muß schon ein bißchen exotisch
aussehen, die helle Hautfarbe, und viel größer als sie bin ich auch.
Mutter und Tochter. Sie haben jede einen schweren Sack zu tragen, mit Yuca-Wurzeln,
über dem Kopf auf dem Rücken. Ab und zu legen sie einen kurzen Sprint
ein, vielleicht haben sie Angst, sie sind etwas langsamer als ich. Als ich sie
dann doch eingeholt habe, fassen sie sich aber ein Herz - und fragen, ob sie
mir tragen helfen dürfen, den Schlafsack. So schwer ist der auch nicht,
ich nehme ihr Angebot dankend an. Sie machen es gerne, besonders wo ich ihnen
erzähle, daß ich aus Limón gelaufen komme.
Bis hinter Cosuna. Sie wechseln sich im Tragen ab. Hinter Cosuna kommen 2 andere
Frauen entgegen, sie nehmen ihnen die Säcke ab, und zu fünft geht
es noch etwas weiter am Strand. Casave geben sie mir ab, als sie hören,
daß ich noch nichts gegessen habe. Casave wird aus Yuca hergestellt (deutsch:
Maniok) und sieht so ähnlich wie so Art Crunchy-Knäckebrot aus. Es
ist das tägliche Brot der Garífuna. Zwischen Cosuna und Sirivoya
sind sie zuhause.
Am späten Nachmittag komme ich nach Sirivoya, ich bin fertig und setze
mich zu einigen älteren Leuten auf die Dünen unter die Palmen. Ein
paar Boote kommen gerade vom Fischen heim, es ist viel los am Strand. Bei 3
alten Frauen komme ich unter. Es sind 2 kleine Häuser: ein Wohnhaus, wo
sie schlafen, und ein Haus als Küche, dort kann ich schlafen. Sie geben
mir ein wenig zu essen, viel haben sie nicht, und am Morgen Kaffee, bevor ich
losgeh. Ich gebe ihnen eine Kokosnuß, die ich seit Belize im Rucksack
trage... ein bißchen komisch, was ich manchmal so mach, weil sich die
hier doch überall am Strand finden... aber wegwerfen wollte ich sie auch
nicht und nun bin ich froh, daß ich sie los bin, und die Frauen haben
sich gefreut über die Geste.
Zweiter Tag am Strand,
ab Sirivoya
Nächster Tag. An La Punta vorbei, Sangrelaya, Iriona erreiche ich am
Vormittag, 9½ Stunden von Limón. Hier leben jetzt weniger Leute,
bis Tocamacho seien's nochmal 6 Stunden. Es ist heiß, ich habe leichten
Rückenwind und somit überhaupt keine Luftkühlung. Das Meer ist
etwas ruhiger als gestern. Einen Wanderer hole ich ein, weil ich nicht wie er
die lange Hose ausziehe, um durch einen Fluß zu waten. Mit nasser langer
Hose gehe ich weiter, das ist dann die Wasserkühlung.
Er geht denselben Weg. Ein bißchen mißtrauisch bleibe ich, bis er
mir anbietet, den Schlafsack zu tragen. Eine halbe Stunde vor Tocamacho setzen
wir zum ersten mal in einem Kanu über einen Fluß, und ich weiß
nicht, liegt es am heißen Wetter, liegt es am etwas tieferen Sand, oder
liegt es an der Geschwindigkeit, die wir gehen - als wir um 1 in Tocamacho ankommen,
bin ich total fertig, und setze mich, nachdem wir in einem Haus Wasser (auf
garífuna: duna) bekommen haben, unter ein paar Palmen am Strand. Er kennt
das Dorf auch nicht und geht seines Weges.
Tocamacho. Ich packe mich auf's Gras. Schlafsack als Kissen, ruh mich aus
und versuche, den Augenblick zu genießen. Karibikküste, Schatten,
das Meer rauschen hören.
Doch, sie gefällt mir, die Art, wie die Orte hier angelegt sind. Das Meer,
der Sandstrand, 20 m weiter ein paar Dünen, mit Gras und Kokospalmen drauf.
Und gleich dahinter die kleinen Häuser des Ortes, deren Dächer meist
alle aus Palmwedeln gemacht sind, Wellblech ist selten. Und es ist Leben in
den Häusern. Die Schweine, die Hunde, die Hühner, die Frauen am Arbeiten
und nicht zuletzt die Kinder, die überall herumwuseln.
Die Minuten verstreichen. Daß ich Gesprächsthema bin, merke ich schon,
und schließlich kommt eine Frau zu mir und bringt mir ein gutes Stück
Casave, das ich mir gierig reinziehe, hab ja seit heute früh nichts mehr
gegessen. Sie merken, daß ich wohl Hunger habe - eine andere Frau bringt
mir einen gebratenen Fisch, oh, ist das wertvoll, ich esse die Gräten fast
mit auf, und Wasser bekomme ich auch. Die Kinder tummeln sich auf dem umgestülpten
Einbaum gegenüber herum, ich lehne mich zurück; für einen Moment
könnte ich den Eindruck haben, ich wäre irgendwo an einer Küste
in Afrika.
Oft sind sie nicht, solche Augenblicke, und wie schnell sind sie vorbei.
Zum 3. Mal kommt jetzt der ziemlich dunkel dreinblickende Typ, der mir bis jetzt
grad nochmal buenos días gegönnt hat. Diesmal bringt er noch einen
Kumpel an, den war er wohl suchen gegangen, mit Radiorecorder. Kumpel scheucht
die Kinder vom Einbaum, neben den ich mich hingelegt habe, und fängt an,
auf englisch aufzuschocken.
"Hey, what-matter, man? All right man? Want some music?"
Ouh nein, keine Frage, er hat sein Englisch auf den honduranischen Karibikinseln
gelernt, dort sprechen sie englisch, aber was für eins. Er versucht mir
zu sagen, daß er mir etwas Musik vorspielt und ich ihn dafür bezahlen
soll. Eine Kassette legt er ein, gar nicht mal die typische Musik von hier,
aber schon fangen die Kinder an, im Rhythmus zu tanzen. Schon die kleinsten.
Afrika.
Ich sag, zum Bezahlen hab ich kein Geld. Etwas vortanzen soll ich, erklärt
er, aber in so schlecht verständlichem Englisch, daß ich ihn frage,
ob er nicht auch spanisch spricht. Ist ihm wohl gar nicht recht, dann kann er
ja nicht mehr mit seiner Fremdsprache aufschocken. Er bleibt bei seinem Englisch,
ich check nicht, was er sagt, er wird laut, ich erklär ihm auf spanisch,
daß ich kein Englisch sprech, weil ich aus Deutschland komm. Er soll spanisch
sprechen und ich werde ihn verstehn.
"Deutschland?"
"Ja, das ist in Europa, das ist ein Land indem kein Englisch..." -
oh nein, er weiß nicht mal, wo Europa liegt, er glaubt mir das mit dem
Europa nicht, schreit mich an, fällt irgendwann wieder ins Garífuna
zurück, scheint mir wohl irgendwelche Vorwürfe zu machen, daß
die Gringos alle so reich seien und er nicht, ich soll bezahlen, er jagt die
Kinder weg, oder vortanzen. Sein nicht-englischsprachiger Freund macht keine
Anstalten, ihn zu beruhigen. Er checkt einfach nicht, daß ich sein Englisch
nicht versteh. Ouh mann, ich sag ihm 2 Sätze auf deutsch und frag ihn,
ob er meine Sprache versteht.
Nee, aber jetzt kommt ihm das Ganze dann doch verdächtig vor, er steht
auf, spricht nun spanisch, wird aber kein bißchen leiser. Europa - das
ist doch kein Land. Er will meine Papiere sehn, ja, er sei hier die Polizei,
er will sofort meine Papiere sehn. Junge, ich will mich hier ausruhn. Nix -
Papiere. Also Schluß mit der Ruhe, auf den Rucksack setzen.
"Ja, klar hab ich Papiere, Herr Polizeichef, die sind hier drin, aber ich
komm aus Sirivoya hierhergelaufen, am Strand, ich bin total fertig und will
mich ausruhn." -
Nix, er sei hier die Autorität, er will meine Papiere sehn, auf der Stelle.
Jetzt geht's los. Scheiß-Situation. Wie kommt man jetzt da wieder raus?
Eins ist klar: ich muß hier weg, so schnell wie möglich.
"Hombre, das hier: sind meine Füße. Mit denen komme ich hier
an. Sirivoya - Tocamacho. Ich bin 6 Stunden gelaufen. Ja, bin ich
denn hier nicht willkommen, daß ich mich noch nicht mal unter die Palmen
legen kann und mich ausruhn? Bin ich nicht willkommen in Tocamacho, daß
man mir noch nicht mal eine Stunde Ruhe gönnt?" -
Zieht noch nicht.
"Ich bin fertig, ich will mich ausruhen, auf dem Schlafsack, und dann weiter
nach Bataya gehn."
Zieht auch noch nicht.
"Ich will mich hier hinlegen und schlafen."
Das zieht.
Ja- leg dich hier hin und schlaf. Leg dich hin und mach die Augen zu. Okay,
jetzt weiß ich woher der Wind genau weht. "Mach die Augen zu und
schlaf". Er bleibt sitzen, jagt die Kinder nochmal weg, und wartet ab,
paar Sekunden. Ich lehne mich wieder zurück.
Nicht lange, dann legt der andere wieder eine Kassette ein, und Kumpel Polizeichef
versucht mir nun, was vorzutanzen. Betrunken ist er wohl nicht, vielleicht ist
es irgendein anderes Rauschgift. Aber jetzt ist es an mir, die "Sind-wir-nicht-alle-Brüder-Tour"
anzustimmen, auf sowas fahren Betrunkene doch auch immer ab.
Sowas anzufangen, ist nicht unbedingt schwer, denn bei seinem Geisteszustand
wird er dich nicht fragen, warum du auf einmal damit anfängst, völlig
ohne Bezug zu irgendwas, was vorher lief. Ich steh quicklebendig auf, geh auf
ihn zu, nehme ein paar Musiktakte von eben mit, klopfe ihm auf die Schulter,
seinem Kumpel auch, "seht ihr, wir sind doch alle Brüder, ja genau,
wir sind alle Brüder... ", nehme kurz eins von den Kindern auf den
Arm, stelle es auf den Einbaum, die beiden klopfen mir auch auf die Schulter,
"ja, wir sind alle Brüder", umarmen sich sogar gegenseitig, fahren
voll drauf ab...
"...alle Brüder, seht ihr, ich muß doch nach Bataya", Rucksack
auf, "wir sind alle Brüder", er hilft mir sogar beim Schlafsack
- kurz umdrehn, ein tiefer Blick in die Augen der Frauen, die dem Geschehen
zugesehen haben, ich glaube, sie haben verstanden, und ab am langen Strand,
richtung Bataya. Ich hab ihn los, aber ich bleibe der Gejagte.
Papiere sehn. Das kann fei ins Auge gehn, laufe ich in diesem Land doch schon
bald 2 Wochen mit einem 4-Tages-Visum rum, erwischen lassen darf ich mich nicht,
die reagieren empfindlich, das weiß ich.
Also weiter am Strand. Adrenalin, das hält jetzt erstmal für einen
halben Tag vor. Ich treffe immer weniger Leute, laufe teils für Stunden
am einsamen Karibikstrand, ohne einem Menschen zu begegnen. Der Rückenwind
ist ein bißchen stärker geworden, aber kühlen will er nicht
so richtig. In Plaplaya sollen die letzten Garífuna wohnen, ich könnte
es bis zum Abend noch schaffen, und von da ab dann nur noch Indianer.
Bataya lasse ich auch rechts liegen, bis ich zum Río Tinto komme, der
Fluß ist vielleicht 100 m breit. Also wieder warten bis ein Kanu ankommt.
Es ist schon Spätnachmittag, und das Kanu bringt mich ein kleines bißchen
flußaufwärts, nach Palacios. Hier gibt es Gringos, unter anderem
einen Arzt, sie zeigen mir sein Haus. Wie's der Zufall will, waren wir uns ein
paar Stunden zuvor am Strand begegnet, er war nicht allein, und wir haben uns
eine Zeitlang erst auf spanisch unterhalten.
Der Abend in Palacios
Am Abend kommt er dann wieder nach Hause, er ist ganz nett, ich habe ein
wenig Vertrauen zu ihm und sage ihm auf seine Frage auch ganz frei, daß
ich keine Probleme mit Visum habe - nur ohne. Vielleicht weiß er ein bißchen
Bescheid.
"Hombre, du hast Probleme, weißt du das... die werden dir mindestens
eine Geldstrafe aufdrücken, wenn nicht noch mehr. Laß dich bloß
nicht erwischen damit." - Ich sehe ja wohl tatsächlich nicht so gut
aus damit.
Im Krankenhaus sind noch ein paar Betten frei, ein Zimmer schließt er
mir auf, aber einschlafen kann ich nicht.
Mir geht wohl viel zu viel im Kopf herum. Morgen früh geht ein Boot nach
Río Plátano, ein paar Leute vom Ärztekollegium fahren, er
will mich um 5 wecken. Hell wird es in diesen Breiten immer um 6... okay, jetzt
vielleicht 10 nach 6, aber den Unterschied in der Tageslänge zwischen Sommer
und Winter gibt es hier nicht mehr. Die Schwarzen sagen, von Río Plátano
an sprechen sie nur noch mískito; spanisch würden nur noch einige
in den großen Orten verstehen. Einer aus Sirivoya letzte Nacht hatte mir
gesagt, der Strand ginge ziemlich lange durch, 250 km bis zum Río Coco,
das ist die Grenze zu Nicaragua, und da gibt's sogar 'n Grenzübergang,
da kann man weiter. Wie weit soll ich eigentlich noch am Strand weitergehen...
naja, wenn ich wohl bis - tong! Klack! Tock tock tock!! Hä?
"Francisco, bist du noch wach?"
"Jaja -"
"Diese Leute hier wollen sich mit dir unterhalten, also zieh deine Hose
an und komm her."
Au weia. Jetzt aber.
Sie sind zu dritt, ein Schwarzer in Zivil, zwei Militärs mit dicken Maschinengewehren
im Anschlag. Ruhig bleiben. DON`T PANIC - steht in großen freundlichen
Buchstaben auf dem Einband des Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis...
also ruhig bleiben, cool bleiben, und reden. Aber nach allen Regeln der Kunst.
Erstmal begrüßen. "Hermanos -", Brüder, im ersten
Moment denke ich noch, es sei der schwarze Typ aus Tocamacho, ist er aber nicht.
Zum Glück. Die beiden Militärs sind Mestizen.
Sie sagen mir natürlich nicht, warum sie mich aus dem Bett holen (bloß
nicht fragen!). Wie ich hierherkomm und was ich hier mache. Die ganze Geschichte
seit Limón. Und bestes Spanisch, das unterscheidet: die meisten Gringos
aus den USA zeichnen sich dadurch aus, daß sie auch nach langer Zeit im
Land kaum ein Wort spanisch sprechen, und wenn, dann nur mit starkem Akzent.
Mich, der Amerikaner aus Limón, zum Beispiel, lebt dort nun schon seit
3 Jahren, und die Kinder meinten zu mir, daß ich mit meinen 2 Monaten
Spanisch-Amerika wesentlich besser spanisch spreche als er. Und garífuna
sprach er auch nicht.
2 Tage Strand. Wo ich geschlafen hab, wo ich gewesen bin und wo nicht, nicht
daß sie's wissen wollen, aber man kann's ja mal erzählen, wo nette
Leute wohnen... was ich vorhab (über Peru nach Argentinien, das macht auch
Eindruck), und dann, goldener Zug:
"Sicherlich wollen Sie meine Papiere sehn, damit alles in Ordnung ist."
Bei den Militärs muß immer alles seine Ordnung haben.
"Ja, zeig mal her."
Selbstverständlich nicht nur Reisepaß und Visum, nein, alles was
wir an documentos dahaben, die sind alle wichtig, für die Ordnung... der
Zettel vom Reisebüro in Hamburg, wo draufsteht, daß ich von USA nach
Argentinien unterwegs sei, ein paar Heftchen von verschiedenen Kirchen in deutsch
und englisch, mein Tagebuch ("ich bin dabei, ein Buch über Amerika
zu schreiben"), alle Papiere sind wichtig... ich habe sogar das Glück,
daß einer der Militärs englisch kann, er kann sogar übersetzen.
Meine Landkarten von Südamerika auch zeigen, man muß alles zeigen,
und klar macht das Eindruck.
Reisepaß. Nee, nicht nur "hier isser", was wollen die mit einem
deutschen Reisepaß. Aufschlagen, das ist der Nachname, das ist der Vorname,
in dieser Stadt bin ich geboren, dies ist die Stadt, in der ich wohne in Deutschland,
Brüder, und dies ist der Stempel dieser Stadt. Und die Jungs sind erstmal
zufrieden. Ihnen muß ich ja nicht erzählen, daß man ein Visum
braucht und daß der Zettel erst auf Seite 17 eingetackert ist.
"Okay, hier wirst du nicht schlafen, hier im Krankenhaus nicht, pack deine
Sachen zusammen, du kommst mit und morgen werden wir dann weitersehn."
"Morgen? Hm - da ist eine Sache. Morgen früh um 5 fahren die vom Ärztekollegium
mit dem Boot nach Río Plátano, die wollen mich mitnehmen, um 5,
das wär gut, wenn ich das Boot kriegen könnte." - Hoher Einsatz
verdoppelt die Gewinnchancen.
"Ja, wenn wir einige Sachen besprochen haben werden, morgen früh,
das geht schon."
"Um 5 ?"
"Ja, na, so um 7 oder 8." - Schließlich erklärt ihnen der
Arzt auch nochmal, daß sie um 5 ablegen wollen.
"Jaja, wir werden sehn."
Der Schwarze will partout meinen Rucksack und Schlafsack tragen, ist mir recht,
ich hab das Zeug heute schon genug geschleppt. Er geht neben mir her, einen
Pfad über eine Wiese, die beiden Bullen gehen hinter uns, mit den Maschinengewehren.
Ich drehe mich mal unauffällig um - tatsächlich, im Anschlag. Die
haben Schiß, das ist gefährlich. Ich hab keinen Check, was die überhaupt
wollen, aber ich weiß, daß ich illegal hier bin.
Zu einem kleinen Haus, dort wartet ihr Chef, auch keine 25 Jahre, jung sind
sie, die Militärs. Tja, es hilft nichts, nochmal das Ganze. Was soll's,
müde bin ich jetzt sowieso nicht, und langsam macht's mir sogar ein bißchen
Spaß, die vollzulabern. Wieder die ganzen documentos, aber erstmal die
Jacke ablegen, hierhin legen, nein, dorthin legen, nein, doch hierhin. Hosentaschen
ausleeren, Sachen auf den Tisch. Paar Lempira, nicht mehr als 10,- DM, ich soll
sie in das Taschentuch einwickeln. Warum nicht in - swutsch! - diese Plastiktüte
- nein, ins Taschentuch, und zubinden, damit du morgen alles wiederbekommst
und nichts fehlt. Damit alles in Ordnung ist. Hier in der Hängematte wirst
du diese Nacht schlafen. - Ich kann auch am Boden schlafen, im Schlafsack. -
Ja, okay, das geht auch. - Nee, hier wird er nicht schlafen, nee, im anderen
Haus. Anscheinend wissen sie selber nicht, was sie wollen.
Was hab ich sonst noch in den Hosentaschen - Taschenmesser, Bonbonpapier, paar
mexikanische Münzen. Soll ich die Jackentaschen auch ausleeren? Ha, das
hab ich mal in Berlin-Schönefeld im Flughafen machen dürfen, der Kerl
hat nicht schlecht gestaunt, als ich vom Nähzeug und den Wäscheklammern
bis zum Edding-Stift und OP-Stofftuch alle 19 Jackentaschen ausgeleert hab,
der ganze Kleinkram wiegt mindestens 1½ Kilo... nein, Jackentaschen nicht
ausleeren.
Papiere. Den Reisepaß kuckt er sich genauer an. Sieht schon ganz schön
bunt aus, mit den ganzen Visumstempeln, und hinter dem (4-farbigen) USA-Stempel
dann der gelbe Visums-Zettel von Honduras. Den studiert er genau.
Irgendwie scheint er zu riechen, daß da der Wurm drinsteckt. Junge,
das kriegst du nie raus. Aber die Spannung steht mir ins Gesicht geschrieben.
Im Kerzenlicht zeige ich den anderen die ganzen Klamotten aus dem Rucksack,
eher um mich abzulenken, und er studiert den Visumszettel. Mit Taschenlampe.
5 lange Minuten. Junge, das kriegst du nie raus.
Wie soll er auch, wenn von den 26 Kästchen und Feldern ein kleiner Vermerk
auf die Aufenthaltslänge hinweist, kommentarlos ist Días ("Tage")
aufgedruckt, und die blaue "04" davor ist nur eine von 9 Ziffernfolgen
mit den verschiedensten Bedeutungen. Und vor allzu langer Zeit scheinen weder
er noch der Grenztyp, der den Schein ausgestellt hat, Lesen und Schreiben gelernt
zu haben. Und Rechnen genauso: mein Alter auf dem Zettel ist auch falsch.
Nein - so kriegt er das nie raus. Was ihn schon besser anspricht, sind die paar
Dollars, die mit im Brustbeutel sind. Ob er einen haben kann.
"Warum nicht. Du siehst, ich hab ja nicht viel, aber einen Dollar kannst
du schon haben.", findet er gut.
Die anderen müssen ihm erklären, wieviel ein Dollar wert ist. Das
ist selten, daß einer noch nie Dollar gesehn hat.
Sowieso erstaunlich diese Gegend. Auf dem Schwarzmarkt in den Städten ist
der Dollar etwa 2,40 Lempira wert, der offizielle Tauschkurs ist 1:2, aber hier
in der Gegend bekommst du für 1 US-$ nur 1,50 Lempira. Witz.
Sie unterhalten sich noch über die Dollars, und ich überlege langsam,
wie ich es anstelle, daß er mich wieder loshaben will und mich freiläßt...
nicht daß er auf einmal Gefallen an der Idee findet, sich mit mir noch
lange weiter zu unterhalten... und zu meiner Überraschung kommt es schneller
als ich denke.
"Tja, das war's dann, Hombre, pack die Sachen wieder ein, ja, alles in
den Rucksack. Genau, alles in den Rucksack. Weißt du schon, wo du heute
nacht schläfst?" - Hä? Äh, also - aber keinen Augenblick
zögern, so schnell wie möglich blubber ich los.
"Ja, der amerikanische Arzt hat mir vorgeschlagen in einem der Zimmer im
Krankenhaus zu schlafen einige sind frei im Hotel will ich nicht schlafen weil
ich nicht soviel Geld zum Bezahlen hab aber der Arzt sagt ich kann im Krankenhaus
schlafen kein Problem."
Hat er nicht gecheckt, sehr gut, weiter so.
"Also es ist so: der Arzt der Amerikaner hat gesagt es wäre kein Problem
im Krankenhaus zu schlafen, im Krankenhaus, in dem Krankenhaus, da is'n Zimmer
frei da ist ein Bett da kann ich drin schlafen auch, im Krankenhaus da wo der
Arzt, also dann schlaf ich auch im Krankenhaus kein Problem. - Kann ich jetzt
gehn?"
"Ja, also dann -"
"Ja, danke nochmal, tschüß, und gute Nacht, hermanos."
Als Peter und ich nach 3½ Stunden Polizeiwache in Mainz endlich im Zug
nach Koblenz saßen, muß ich genauso ein Gesicht gemacht haben wie
jetzt, wo ich alleine, mit Rucksack und Schlafsack, über diese Wiese gehe.
Bullen sind doch alle gleich...
Das Raumschiff rauschte durch die Nacht.
Der Arzt staunt nicht schlecht, als ich ihn wieder aus dem Bett hole und ihn
bitte, nochmal das Krankenhaus aufzuschließen. Bei der Gelegenheit erfahre
ich von einem anderen Honduraner, mit dem ich mich noch lang in der Nacht unterhalte,
was der Grund des nächtlichen Besuchs gewesen sein könnte: in Bataya
scheint ein Engländer Remmi-Demmi gemacht und sich mit den autoridades
angelegt zu haben, und die hier dachten jetzt wohl, ich wär sein Kumpel.
Etwas weiter flußaufwärts soll's 'ne Menge Goldschürfer-Gringos
geben, Tourismus gibt's hier nicht.
Wäre wohl am besten, mich in den folgenden größeren Orten freiwillig
den Militärs vorzustellen... allein durch die Gegend gelaufen zu kommen
sei doch immer etwas verdächtig, meint Dr. Hesmith. Es sei sehr wahrscheinlich,
daß ich in der Gegend, wo ich hinwollte, noch öfter kontrolliert
würde.
Dritter Tag am Strand,
vorbei an den Lagunen
Am nächsten Morgen tuckere ich im Boot, halb 7, langsam an Plaplaya
vorbei, durch die Ibans-Lagune, nicht ganz bis Río Plátano, sondern
bis kurz davor, irgendeine Siedlung, und ich laufe wieder am Strand entlang.
Das ist witzig: auf einmal bin ich aus Afrika raus und bei Indianern in Amerika,
gar nicht weit von der Stelle, wo Kolumbus das amerikanische Festland "entdeckt"
haben soll. Reinrassige Indianer sind es hier aber auch nicht, recht vermischt
mit den Schwarzen, außerdem soll es ein Mischgebiet von 3 verschiedenen
Indianerstämmen sein. Ich weiß nicht, welcher Witzbold es gewesen
ist, der mir gesagt hat, bis Río Plátano seien's 1½ Stunden,
nee, auch nicht mit starkem Rückenwind.
2 kommen mir entgegen.
"Hey, hombre, aus Cocowila ?!" - Ein Ortsschild war nicht dran, aber
das wird's wohl gewesen sein.
"Hast guten Weg gemacht, du mußt da um - halb 8 losgegangen sein."
"Ja, kommt gut hin. Die haben mir gesagt, es seien 1-1½ Stunden
bis Río Plátano."
"Nee, nee, das ist mehr als 'ne Stunde, wer hat dir denn das erzählt,
mit deinem Gepäck läufst du 3 ½. Du nimmst nicht das carro?
Die Gringos nehmen immer das carro."
"¿Carro? Gibt's da'n carro?"
"Ja, die ham da'n carro, da fahrn sie immer zwischen Cocowila und Río
Plátano hin und her, kostet vielleicht 1,- Lempira, nicht mehr."
Carro ist die Vokabel, die sie in Honduras für "Bus" und für
"Auto" nehmen, könnte sich um einen umgebauten Lkw, einen Jeep
oder einen Pick-up (Pritschenwagen) handeln.
"Ich mag aber gerne zu Fuß gehen."
"Ja, das finden wir gut, wir gehen ja auch zu Fuß.", freut er
sich.
"Wie weit is'n das jetzt noch bis Río Plátano?"
"Río Plátano. Das kommt - du siehst dahinten im Dunst die
2 auffälligen Kokospalmen? Da fangen die ersten Häuser an, und der
Fluß kommt dann auch gleich."
"Na, dann lauf ich ja dann nicht mehr weit."
"Nee, weit läufst du nicht mehr..." - Adiós, que le vaya
bien, alles Gute auf dem Weg.
Der Wind ist ein bißchen stärker geworden, und das Meer wird auch
wieder rauher. Ja, logo, sobald's irgendwo'n Auto gibt, haben die Kerle keine
Ahnung mehr, wie weit die Srtecken zu Fuß sind. Aber das ist schon selten,
daß ich die gesagte Zeit verdreifachen muß, um auf die wirkliche
Laufzeit zu kommen, normalerweise muß ich immer 50 % dazuaddieren. Die
Leute, die selber laufen, wissen die Zeiten genauer. Nur einmal vor Tocamacho
haben sie mir einmal 2 Stunden zuviel vorausgesagt, aber normalerweise werden
die Entfernungen von der Bevölkerung unterschätzt. Nur dieser Indianer
von eben...
... hey, was war denn das? "Du siehst dahinten die 2 Kokospalmen -",
das war nicht die Art, wie mir seit den USA der Weg beschrieben wird. Normalerweise
sagen sie dir in dieser Situation, "ja, das ist nicht mehr weit, nach Cocowila
ist es weit, aber Río Plátano ist nah, immer am Strand lang",
und bei den Zeitangaben rechnet nie jemand mein Gepäck mit ein. Nur seine
Zeitangabe war mit Gepäck, und stimmte genau.
"Du siehst im Dunst die 2 Palmen" - oh, das war eine andere Qualität,
das war ein Indianer, der ein anderes Verhältnis zu seiner Umgebung hatte.
Okay, es gehört nicht viel dazu, am Karibikstrand den Weg zu beschreiben,
aber hat er nicht schon allein mit seinen 2 Palmen gezeigt, daß er einen
Blick für seinen Weg hat? Ich habe ihn nur gefragt, wie weit es noch ist,
und er bietet mir seine 2 Palmen an. Die fallen auch nur von weiter weg auf,
kommt man näher ran, gehen sie unter im Wald der anderen Palmen auf den
Dünen.
Es sind die Kleinigkeiten, die mir auffallen, je länger ich darüber
nachdenke. Dann fand er es gut, daß ich zu Fuß geh. Egal wohin ich
komme, ob in den USA oder in Lateinamerika: keiner versteht es, daß ich
nichts dagegen hab, auch mal eine Strecke zu Fuß zu gehen. Besonders,
wo es Busse gibt, checkt es kein Mensch, warum du nicht den Bus nehmen willst.
Zu Fuß gehen wird von den Leuten wirklich als die hinterletzte Möglichkeit
empfunden, von einem Ort zum anderen zu kommen. Wer zu Fuß gehen muß,
ist schon wirklich arm dran. In den Bergen: ich frage nach dem Weg aus dem Dorf,
und sie beschreiben mir genau den Weg zur Bushaltestelle. Fahr doch in die und
die Stadt und nimm das Passagierboot, warum nimmst du nicht das Flugzeug, wenn
du nach Peru willst.
"Wir gehen ja auch zu Fuß", meinte er, so ein Gedanke begegnet
mir selten. Und so beschränken sich die Wegbeschreibungen der Leute auch
meist auf die Wörter "noch weit" oder "nah", abschätzen
wie lange du läufst kann niemand, der Weg scheint der Feind der Leute zu
sein. Doch, das war was ganz anderes, dieser Indianer hat ein gutes Verhältnis
zu seinem Weg gehabt, das ist ganz was seltenes. Er kennt den Weg, und der Weg
ist sein Freund. Und auch die 2 Kokospalmen sind die Freunde des Indianers...hallo
Kokospalmen, schöne Grüße, von einem Freund von euch...
Río Plátano
Ein Junge bringt mich im Einbaum über den Río Plátano.
Es hat eine Art Restaurant hier im Ort, wo ich Essen bekomme, und bald finde
ich mich an einer tienda wieder (Laden mit Tresen), mal sehn, ob mir die Leute
ein bißchen mískito beibringen können.
"Mískito, ist das schwer?", frage ich.
"Nein, mískito ist keine so schwere Sprache. Es gibt andere Indianersprachen
hier in der Gegend, die sind schwer, aber mískito soll recht einfach
zu lernen sein."
Der Verkäufer selbst spricht sehr wenig mískito, seine Frau auch
nicht so gut, einige Kinder drumrum wissen mehr. Okay, was Gescheites wird das
jetzt wohl nicht werden, aber für diesen Zweck gibt es ja die "Rüdi-Liste",
100 Vokabeln, die wichtigsten, die Rüdiger Nehberg in solchen Situationen
vorschlägt.
Die Leute. Es ist eine bunte Mischung aus Mestizen, Schwarzen, Mulatten, verschiedenen
Indianern und Kreolen (Mischung zwischen Schwarzen und Indianern). Gut. Die
Wörter wie Sonne, Frau, Fisch, klein und schlafen kriegen sie vereint noch
gut raus, bei links und rechts haben sie schon Schwierigkeiten, und dann die
Zahlen. Die Kinder kommen bis 4, immer wieder kommen Leute vorbei und werden
auch gefragt. Einer weiß, was 5 heißt; einer kommt bis 7, und schließlich
sind wir bei 10, das heißt matawhal sip. Einen Älteren rufen sie
herbei, die Zahlen ab 11 zu fragen, gebe ich auf, aber vielleicht weiß
er, was 20 heißt.
"Wir gebrauchen die nicht, wir nehmen immer die spanischen Zahlen, weil
die einfacher sind. Für 20 müßten wir in mískito 4mal
hintereinander sagen matawhal sip", macht's vor und klatscht dabei im Takt
in die Hände, "und für die größeren Zahlen würde
sich der Aufwand nicht mehr lohnen."
Ich habe später noch andere Versionen gehört, was 20 heißen
könnte... Ein Kreole kommt zum zweiten Mal vorbei, scheint das aber wohl
verdächtig zu finden, daß ich die Wörter wissen will. 2 schwierigere
Wörter weiß er, und dann, am Wort für "Gegenteil",
entzündet sich eine Diskussion, warum ich denn gerade hier diese Sprache
lernen will.
"Wenn du mískito lernen willst, kannst du in die Hauptstadt nach
Tegucigalpa gehen, und einen 7-Tage-Kursus nehmen am öffentlichen Institut
für..."
"Aber er will sich doch hier mit den Leuten unterhalten", meint der
Verkäufer der tienda, "vielleicht sprechen da, wo er hinwill, einige
kein spanisch, da können wir ihm doch einige Wörter sagen, meinst
du nicht?"
"Hm."
Na, ganz überzeugt ist er nicht, aber schließlich sagt er, nun aber
die Sicherheit eines Lehrers ausstrahlend, bevor er abgeht, das Wort, rangtara,
aha, sagen die anderen, und ich schreibe es auf. Es war falsch.
Der Wind ist jetzt ganz schön stark geworden und hat nach Norden gedreht,
und ich laufe wieder am Strand. Der nächste Ort soll Tusi Cocal sein. Zwei,
drei Wörter sind schon hängengeblieben, aber bis ich mískito
kann, wird's wohl noch 'ne Weile dauern...
Die Fischer bei der Mündung der Brus-Lagune haben es gar nicht so leicht,
den Einbaum gegen den vom Meer wehenden Nordwest-Wind zu halten, als sie mit
mir ans andere Ufer paddeln, damit ich weiter nach Tusi Cocal gehen kann.
Und weiter, eine halbe Stunde, und noch eine halbe Stunde... ganz schön
weit ist das. Ich habe keine Uhr, muß mich immer nach der Sonne orientieren.
Es ist eine einzige Sanddüne, nicht breiter als 50 m, die jetzt über
etliche Kilometer das karibische Meer von der Brus-Lagune (Brackwasser) abgrenzt.
Ein wenig Gebüsch und natürlich lauter Kokospalmen wachsen darauf.
Ich laufe aber weiterhin unten am Karibik-Sandstrand, also auf der Windseite.
Ob das Meer wohl auch mal rüberschwappt? Nein, bestimmt nicht, Sturmflut
gibt hier wohl nicht. In den Lagunen wie der von Ibans oder Brus gibt es Brackwasserfische,
die sind recht beliebt, werden sogar ausgeführt, nach Guatemala und Mexico,
in Salz konserviert. Die Leute, die an den Lagunen wohnen, sind anscheinend
etwas wohlhabender als die Garífuna, die davor wohnten. Junge, das ist
ganz schön weit, dieses Tusi Cocal.
Ich muß mir mal endlich was überlegen, weil das blöde Visum
abgelaufen ist. So ein Müll. Aber irgendwas fällt mir da schon noch
ein... wär ja gelacht. Mal sehen, wie gehe ich das Problem am besten an...
also 4 Tage Visum, das sind genau 4 Tage Visum... Visumszettel... gelb... gelber
Visumszettel... wa-rum ausgerechnet gelb... wie die Raumschiffe von der Vogo-nen-Flotte...
Kommandant Prostetnik Vogon Jeltz... mist, ich komm nicht weiter, ich hab mich
in meine Gedanken verrannt.
Teufel, muß das so weit sein. Die Wellen des Meeres sind ganz schön
groß geworden, kommen weit vor auf den Sand, und der Sturm kommt immer
mehr von Norden, also genau vom Meer. Allzu lange dauert's wohl nicht mehr bis
zur Dämmerung, oder besser, bis zum Licht-ausgehn, hier ist ja nicht viel
mit Dämmerung. 5 Minuten dauert das hier, und dann ist das dunkel.
Von Norden kommen Wolken. Ich gehe immer weiter. Der Schlafsack liegt schon
völlig schief zwischen Nacken und Rucksack, und wird zum Großteil
nur vom Wind gehalten. Der pfeift ganz schön durch die Palmen. So, bald
wird jetzt das Licht ausgehn, noch 10 Minuten... nur noch 5 Minuten...
Tusi Cocal!
Geschafft, gerade noch bei Tag, das ist gut! Ich gehe zum ersten Haus, es sind
Mestizen, sie sprechen spanisch, ich bekomme ein wenig zu essen, überall
Sand, und natürlich haben sie einen Platz für mich für die Nacht.
Heute eine Nacht bei Sandsturm.
Auch am nächsten Morgen bekomme ich Frühstück, und ich teste
mal an, wie das Wetter werden könnte. Heute bewölkt, etwas kälter,
aber der Wind hat kein bißchen nachgelassen.
"Du willst los, bei diesem Wetter?"
"Ja, oder meint ihr, es wird regnen?"
"Regnen - wird das wohl nicht. Der Wind trägt nicht viel Wasser."
6 Stunden, heute wohl 7, meint er, bis Barra Patuca, Mündungsort des wohl
größten Flusses von Zentralamerika.
Der vierte Tag am Strand,
im Sturm bis zum Patuca
Ich werde 9 Stunden laufen. Einmal begegne ich 2 Leuten, und dann allein.
Kurze Hose und barfuß. Die Sonne scheint eh nicht, es ist eher kühl.
Nicht in Schuhen, wie gestern, oder in Socken, wie vorgestern (wegen der Sonnenbrand-Gefahr
auf den Füßen), heute geht es barfuß.
Aufgewühltes Meer, weite Dünung. Nach ein paar Stunden habe ich am
Vormittag die Brus-Lagune hinter mir, jetzt ist wieder dieses undefinierbare
Sumpf- oder Grasland hinter den Dünen, mit den Mosquitos. Die nächste
Lagune ist erst wieder die von Caratasca, die kommt aber erst weit hinter Barra
Patuca.
Von Barra Patuca wird's wohl 'ne Verbindung ins Land geben, flußaufwärts,
da gibt's bestimmt Boote. In Barra Patuca werde ich aber erstmal zu den Militärs
gehen (die gibt's hier in jedem kleinen Ort) und mich vorstellen. Doch, das
werde ich machen; das mit dem Visum werden die wohl auch nicht checken. Wenn
die fragen, was die "04 Días" zu bedeuten haben auf dem Schein,
kann ich ihnen ja irgendwas erzählen... ach stimmt ja, ich muß mir
ja nochmal was überlegen.
Verdammt, laufen die Wellen jetzt weit aus. Je weiter ich mich der Mündung
des großen Flusses nähere, desto mehr Ziviliationsmüll, Äste
und Baumstämme liegen am Strand, und wenn das Meer soweit raufkommt und
mir um die Füße spült, habe ich ziemlich viel Zeugs in der Gischt.
Ab und zu nimmt das Meer ein paar Äste mit zu sich rein. Da steckt ganz
schön Kraft dahinter.
Einmal paß ich nicht voll auf, das Meer kommt wieder vor, und da haut
es mir auch schon 2 dicke Knüppel auf die vordere Sehne vom linken Fuß.
Ah!! - Anhalten, hin zur Düne gehn, hinsetzen, untersuchen. Zum Glück
nichts kaputt. Ouh, mann, das ist fei scheißgefährlich! Ich bin allein,
und bei dem Wetter (einige Regenschauer kommen jetzt auch runter) kann ich lange
warten, bis da einer vorbeikommt. Weiter oben auf dem Sand kann ich nicht gehen,
da sinke ich zu sehr ein, vorwärts komme ich nur auf dem nassen Sand vorne
an der Brandung. Also voll aufpassen, wenn die Welle kommt, und nicht einfach
weitertrotteln.
Sonst ist es ja gar nicht so mies, das Meer: hat es vorgestern noch gut gekühlt
in der Hitze, gibt es bei dem kühlen, stürmischen Wetter heute sogar
ein bißchen Wärme an die Beine. Und von den 35 Mückenstichen
aus Limón spüre ich auch schon lange nichts mehr.
Die Wellen sind jetzt riesig groß geworden, laufen immer weiter zurück,
und kommen auch immer weiter vor, bis fast zu den Dünen. Gestern waren
es 2 bis 3 weiße Wellenkämme hintereinander, die dem Strand entgegenrauschten,
am späten Nachmittag auch mal 4. Heute überschlagen sie sich schon
weit draußen im Meer, ich zähle 5, 6, manchmal sogar 7 Wellenkämme
da draußen. Auch der Abstand zwischen 2 Wellen ist jetzt bald eine halbe
Minute lang und bestimmt über 100 Meter. Aber nicht alle Wellen sind gleich
groß und kommen bis ganz zu mir hoch, wo ich laufe. So bekomme ich wieder
Zeit, mich in meine Gedanken mit dem Visum zu vertiefen, bis die nächste
größere Welle kommt.
Fälschen! Ich Depp, warum bin ich da nicht früher draufgekommen?!
Wenn ich irgendwo Blaupapier auftreiben könnte, dürfte es doch keine
Schwierigkeit sein, aus den "04" Tagen "104" oder "164"
zu machen - 5½ Monate. Oder "04 Monate", die Tage einfach durchstreichen.
Genau, und schon haben wir keine Probleme mehr in Honduras. Ha, und die Jungs
in Nicaragua bekommen ein documento, daß ich hier für die "Solidaritätsgruppe
Nicaragua libre" arbeite, mit Siegel und Unterschrift, genau, mehr als
von der Grenze zurückschicken, weil ich kein Visum aus Tegucigalpa habe,
können die mich auch nicht. Echt, auf die einfachsten Sachen kommt man
nicht. Für sowas hab ich doch 'ne Hand, und Unterschriften imitieren lernt
man in der Schule.
Am Leuchtturm von
Barra Patuca
Ich komme langsam auf den Leuchtturm zu, passiere den Leuchtturm, dabei fällt
mir auf, daß bei Hochwasser der Leuchtturmsockel offensichtlich bis zu
1 Meter überspült wird. Dann müßte der Leuchtturm ja bei
Hochwasser ganz im Wasser stehen. Ich gehe weiter, wieder auf die Küste
zu, erreiche irgendwann die Küste wieder, aber es ist kein schöner
Sandstrand mehr da, sondern das Meer brandet hier direkt gegen die Büsche
am Ufer.
Ich gehe hin und schaue mir das an. Lauter Treibholz im stürmisch aufgewühlten
Wasser, es ist zwar meist nur knietief, aber die Wellenbewegung ist unberechenbar,
da durchzugehen wäre lebensgefährlich.
"He, hallo, was machst du denn hier!?" - sage ich zu der Kuh mit den
langen Hörnern, die kurz aus dem Busch herausschaut, mich mustert, und
wieder im Busch verschwindet. Spricht wohl kein deutsch...
Durch den Busch sind offensichtlich keine Wege, nur paar blöde Kuhpfade.
Ich geh lieber nicht in den Busch, wer weiß, ob die Rinder mit den großen
Hörnern wirklich alle weiblich sind. Und genau jetzt mache ich einen Fehler.
Wieder zurück zum Leuchtturm gehen, ich muß zurück zum Leuchtturm.
Es muß der falsche Weg gewesen sein, ich muß wieder zurück
und den richtigen Weg suchen. Den Leuchtturm haben sie ein paar 100 m auf eine
Sandbank vor der Küste gebaut, und irgendwie hatte der Weg vom Strand ab
auf diese Sandbank dahingeführt, zum Leuchtturm. Das war aber 3-4 km vor
dem Leuchtturm, wo der Strand langsam in die Sandbank überging, und irgendwo
dort muß es wohl auch einen anderen Weg nach Barra Patuca gegeben haben.
Ich merke, daß es nicht nur ein paar 100 m waren, die ich eben gegangen
war, vom Leuchtturm zu den Büschen, sondern 2 oder 3 Kilometer. Das hatte
ich gar nicht registriert. Ich mache ein paarmal einen Punkt in einiger Entfernung
aus, schätze wieweit der Weg ist, gehe hin, und merke, daß ich die
Entfernungen hier ganz gewaltig unterschätze.
Das Meer scheint irgendwie langsam zu steigen. Hoffentlich nicht zu schnell.
Diese Sandbank-Lagunen zwischen der Küste und der Leuchtturm-Sandbank waren
aber eben bestimmt noch nicht so tief unter Wasser, das weiß ich noch
genau. Hey, das muß um 10 cm gestiegen sein in den paar Minuten! - Paar
Minuten? Waren es wirklich nur ein paar Minuten? Wie lange habe ich an den Büschen
gestanden? Wann kam die Kuh? Es muß weit über 20 Minuten gewesen
sein.
Nein, warte mal, es sind auch mehr als 10 cm. Diese dicken Knochen waren eben
noch bestimmt 10 cm über dem Wasserspiegel. Und jetzt ist das Wasser einen
halben Finger hoch. Soll ich zurück zu den Kühen? Nein, ich muß
zum Leuchtturm, sonst finde ich meinen Weg nicht mehr, den ich hergekommen bin!
Scheiße, das Wasser steigt tatsächlich immer weiter! Ich renne
zum Leuchtturm, renne die Sandbänke entlang, renne platschend durch das
knöcheltiefe Wasser. Barfuß geht das aber ganz gut. Die Leuchtturm-Sandbank
ist noch nicht unter Wasser. Es fehlt noch ein halber Meter.
Außer Atem, aber ich habe den Leuchtturm erreicht! Von wo bin ich vorhin
hierhergekommen, ah, genau, von hier, da sind meine Fußspuren, also am
besten gleich weiter, den Weg zurück, oder? - Nein, stopp, vorsichtig sein,
keine Panik, erst den Leuchtturm genau untersuchen. Muschelbesatz bis 1 m über
dem Sockel. Dickes, rot-weiß angemaltes Eisengerüst. Wenn mich die
Flut hier erwischen würde, könnte ich, wenn ich gut bin, mich vielleicht
auf ein paar Querstangen setzen da oben. Raufklettern geht leider nicht. Ich
glaube, dieser Leuchtturm taugt nicht, um sich zu retten, erst recht hat er
keine Schlafmöglichkeit. Halt, warte, noch nicht weiter.
Jetzt muß ich noch zum Sandbank-Strand gehen da vorne, wo ich vorhin war
und mir die Muscheln und den ganzen Zivilisationsmüll angeschaut hab, um
da nachzusehen, wie hoch der aktuelle Wasserstand ist. Mann, das sind auch wieder
über 500 m dahin. Scheiße, meine Rechnung mit den 3-4 km, wo der
Strand in die Sandbank überging, haut nicht mehr hin. Das müssen etwa
7-8 km oder mehr gewesen sein, wenn das hier schon 500 m sind. Ich renne über
die Sandbank, zähle dabei die Schritte, messe einmal ab, wie lang ein Schritt
ist, renne weiter, verjage dabei die Vögel, die zwischen dem ganzen Schutt,
Muscheln und vertrockneten Algen hier ihre Würmer aus dem Sand holen und
die Fliegen fangen. Tut mir leid, Vögel, soll nicht wieder vorkommen. Ich
erreiche das Wasser, es ist vielleicht 15-20 cm höher als vorhin.
Ich gehe zurück, richtung Leuchtturm, und rechne aus, daß das vor
etwas über einer Stunde gewesen sein muß. 15 cm in einer Stunde.
Außerdem lerne ich endlich, die Entfernungen richtig zu schätzen
hier, es waren tatsächlich etwa 450 m.
Aber da, was ist das? Fußspuren! Das sind nicht meine, diese sind kleiner,
von einer Frau oder einem größeren Kind. Und da, von einem kleineren
Kind eine. Die waren zu zweit. Es war eine Frau, die Spur ist vergleichsweise
tiefer, die beiden hatten nicht das gleiche Gewicht. Ich muß sie verfolgen.
Sie scheinen Strandgut gesucht zu haben, die Spuren gehen kreuz und quer. Bei
der Schrittlänge gingen die höchstens 4 Stundenkilometer. Hier, endlich
eine Spur auf Feinsand: Es sind keine Regentropfen auf den Spuren. Da es vor
3 Stunden aufgehört hat zu regnen, muß die Spur jünger sein.
Die müssen eine Stunde vor mir dagewesen sein. Es muß einen direkten
Weg zur Küste geben, nicht den Weg entlang, den ich gekommen bin, sonst
hätte ich die irgendwie mal sehen müssen. Die müssen von hier
direkt zur Küste gegangen sein.
Bloß wo lang genau? Zwischen hier und der Küste sind es über
3 Kilometer und alles ist voll mit irgendwelchen riesigen Wasserpfützen,
durch die kein Kind kommt. Es muß einen Weg geben. Selbst wenn das Wasser
in 3 Stunden 3 · 15 cm = 45 cm gestiegen ist, es muß einen Weg
geben, den ein Kind, das einen Meter kleiner ist als ich, vor 3 Stunden noch
passieren konnte. Die wußten ja, daß das Meer kommen würde.
Es ist jetzt etwa früher Nachmittag, Sonne ist keine da, der Sturm wird
auch immer stärker. Soll ich den bekannten Weg zurückgehen? 7-8 km,
das wäre etwa eine Stunde, das Wasser wäre nachher 60 cm höher
als vorhin. Soweit ich mich erinnere, waren da vorhin sogar schon einige wenige
Stellen, die knöcheltief unter Wasser waren. 2 oder 3 waren das. Mindestens
2. Wenn ich einen neuen Weg finde, direkt zur Küste, könnte ich in
einer halben Stunde da sein, wenn alles gut geht. Beides ist gleich gefährlich.
Ich wage das zweite.
Wo würde ich von hier direkt zur Küste gehen? Dahinten, zwischen diese
2 Lagunen dahinten durch, anders geht es nicht. Ich renne hin, zähle dabei
400 Meter, und finde tatsächlich die Spuren! Ich hatte recht, die sind
da zu-rückgegangen.
Sie verlieren sich aber bald wieder, weil das Wasser jetzt überall steigt,
und in wenigen Minuten wird die Leuchtturm-Sandbank von der Küste abgeschnitten
sein. Da hinten, wo der Busch ist, muß die Küste sein! Das sind weniger
als 2000 m. Ich muß so schnell wie möglich zur Küste, ans Land,
egal wohin.
Diese Sandbänke hier sind zum Glück nicht sehr tief, ich kann durchwaten.
Einige Stellen sind auch noch gar nicht unter Wasser, andere werden gerade überspült.
Überall kommt jetzt das Wasser hoch, bilden sich Seen. Aber ich komme voran.
Langsam, weil ich nicht direkt gehen kann, weil ich mir in diesen Seen nicht
die tiefsten Stellen aussuchen darf. Weil es gefährlich ist, weil der Sand
da oft nicht fest ist und ich einmal knietief darin einsinke. Nur noch 800 m,
noch 600 m... wieder muß ich um einen See herumgehn. Aber jetzt hat er
verloren, es war der letzte dicke See, danach kommen noch paar Pfützen,
danach ist es trocken, weil das Wasser bis hierhin noch nicht gekommen ist.
Ich erreiche den Busch, püh, atme auf, das war knapp.
Hallo Kühe, wie geht's euch; schön, euch hier zu sehen. "Naxá,
nachkismá...", als erstes hole ich meine Notizen aus Río
Plátano heraus und begrüße die Tiere, wie es sich hier gehört,
auf mískito. Und stelle fest, es sind ganz liebe Kühe. Wo Kühe
sind, sind auch Kuhpfade.
Da sich auch die hiesigen Kühe freundlicherweise an die international geltenden
Kuh-Infrastruktur-Regeln halten, finde ich schließlich den Hauptpfad,
und wenig später komme ich nach Barra Patuca, dort, wo ich wegen des Sturms
4 Tage verbringen werde, ich gehe etwas durch den Ort. Ein bißchen stolz,
aber ganz schön fertig.
Barra Patuca
Wirklich ein Unterschied zu den Orten vorher. Die Holzhäuser bauen sie
hier auf Pfählen, die meisten mit Wellblechdächern. Vor einem Haus
sprechen zwei mich an, auf spanisch, was ich suche und so.
"Ich - suche - äh - einen Ort -"
"Einen Ort zum bleiben, zum schlafen, für die Nacht? Du bist neu hier?"
"Jäh-... äh, ja."
"In diesem Haus kannst du schlafen, wenn du willst, andere schlafen hier
auch, wenn sie auf der Durchreise sind."
Ja, so 'ne Art Pension gibt's in den Orten immer, in der Regel sind die recht
teuer, so 20,- DM oder was, ich sag, daß ich nicht soviel Geld habe. Er
überlegt nicht lange:
"Auch wenn du nicht bezahlen kannst, kannst du hier schlafen. Wir schlafen
hier auch."
Wo ich hinwill, wie ich hier hergekommen bin.
"Oh, der Pfad führt schon weit vorher vom Strand ab", sagt eine
junge Frau, die den Weg kennt, als sie hört, daß ich über den
Leuchtturm gekommen bin, "da hast du bestimmt 1½ Stunden verloren."
Sie lädt mich spontan zum Abendessen in ihr Haus ein. Ich bin überrascht
von der Selbstverständlichkeit dabei, denn das wäre bei den Mestizen
oder in Mexico undenkbar, von der Geschlechterrolle her. Reis gibt es, und gebratene
süße Bananen, dazu ein bißchen Schweinefleisch, von den kleinen
Schweinen wohl, die überall herumlaufen. Ich komme ins überlegen...
- zu was für einer Rasse gehören eigentlich die Menschen hier?
Indianer sind es ja irgendwie nicht, die sind heller, haben glattes schwarzes
Haar, mit so'm chinesischen Einschlag im Gesicht. Afrikanische Schwarze und
deren Mischungen haben aber krause Haare, die haben die hier auch nicht... viele
haben hier braune Haare, und die Gesichter von Europäern, von Griechen
vielleicht... nur die Hautfarbe ist sehr dunkel... Einer, der mich einlädt,
heißt Isidro Trapp, hat also einen deutschen Nachnamen. Sehr verdächtig.
Aber woher, weiß er auch nicht. Ach was, das sind hier wahrscheinlich
einfach nur Menschen, Menschen sehen halt so aus.
Sie selber unterhalten sich in mískito, also in einer Indianersprache.
"Mískito" heißt "Fischer", erklären sie
mir. Das klingt logisch: den Fischen ist es ja auch egal, welcher Rasse die
Leute angehören, Hauptsache, sie können fischen.
Also gut, ich muß es akzeptieren, auch wenn ich sie mir anders vorgestellt
habe: es sind Mískito-Indianer.
Mískito ist also eine Sache, die zwischen Fischen und Menschen abgeht,
da werden die unwichtigen Fragen, die zwischen den verschiedenen Menschen untereinander
abgehn, notfalls vernachlässigt.
Offensichtlich auch die Geschlechterrollen unter den Menschen; wahrscheinlich
haben die Mískitos die Erfahrung gemacht, daß das die Fische auch
nicht im geringsten interessiert, wer hier wen in wessen Haus einlädt.
Ich besuche die einzige Ausländerin, die am Ort lebt: im centre salud die
Krankenschwester kommt aus Japan, ist seit fast einem Jahr hier und hat noch
2 Monate. Es muß schön sein, in dieser netten Gegend Krankenschwester
zu sein. Sie macht einen sehr ausgeglichenen Eindruck. Manchmal sei es ein bißchen
langweilig, aber die Leute sind nett, meint sie.
Doch, hier bin ich woanders hingekommen. Sie fragen mich gar nicht, ob ich vielleicht
Hunger habe, sie geben mir einfach zu essen. Und abseits von Touristenorten
ist es immer erfrischend zu hören, wenn sie "Frankreich" oder
"Holland" schätzen, wo ich vielleicht herkomme, oder wenigstens
"Kanada": sie belohnen damit mein Spanisch, sie hören raus, daß
ich wohl kein US-Gringo bin. In den meisten Gegenden Lateinamerikas bin ich
mit meiner weißen Hautfarbe automatisch der Gringo aus den Estados Unidos,
und genauso ist die Japanerin überall die Chinesin, auch wenn sie sagt,
Japan sei was anderes als China.
Sie bemühen sich um mich: einer geht mit mir zur Comandancia - das sind
die Militärs. Ihr Chef ist auch Mískito-Indianer, zu tun haben sie
hier wohl auch nicht viel. Natürlich checkt auch er das mit dem Visum nicht,
vorerst werde ich da mal noch nichts dran rumfälschen. Es kommt hier mehr
darauf an, einen überzeugenden Eindruck zu machen, die Papiere seien in
Ordnung.
Aber wer jetzt denkt, ich bin froh, daß er das mit dem Visum nicht gecheckt
hat, tschüß, und geh erleichtert raus, die haben wieder mal ihre
Lektion nicht gelernt.
"Ich will weiter flußaufwärts, nach Wampusirpi und Wampú,
und dann nach Auasbila über die Berge, und da haben sie mir in Limón
gesagt, als ich mich dort vorgestellt habe, daß sie mir hier in Barra
Patuca ein documento ausschreiben sollen, daß ich mich hier vorgestellt
habe, daß ich da und da hinwill... daß alles seine Ordnung hat..."
Nickt er, ja, das macht er schon, hat ja eine wichtige Aufgabe hier. Ich schreibe
ihm noch Name und Vorname vor, und er schreibt ganz schön lange an den
7 Zeilen rum.
Alles, was rauszuholen geht. Doch, das war keine schlechte Idee von mir. Wenn
sie irgendwo pampig werden wegen dem Visum, kann ich immer sagen, daß
ich das nicht gewußt hätte, und daß die Militärs in den
Krisenregionen, bei denen ich mich immer brav vorgestellt hätte, immer
gesagt hätten, daß alles in Ordnung sei.
"So, diesen Zettel zeigst du vor, du mußt dich in Wampusirpi auch
bei der Comandancia vorstellen. Und wenn du weiter willst, sollen sie dir auch
so einen Zettel ausschreiben."
Stempel haben sie leider nicht, und'n paar Rechtschreibfehler sind auch drin.
Es war wohl der Satz, "Ich schreibe ein Buch über die Mískito-Indianer",
der ihn überzeugt hat.
Tuktuk nennen sie die langen Einbäume mit Motorantrieb, die vor allem
Reis, Benzin und andere Waren auf dem Fluß transportieren. Alle warten
den Sturm ab, aber am 4. Tag fährt ein Konvoi flußaufwärts,
und Passagiere nehmen sie natürlich auch mit. 3 Tage und 2 Nächte
sitze ich nun auf den Benzintonnen, jetzt fahrn wir übern Fluß, in
die Mosquitia. Ab und zu Regen, da deckt man sich mit einer großen Plastikplane
zu, und sobald es dunkel wird, kommen in der Mosquitia die Mücken.
Nachts legen sie irgendwo am Flußufer an, und natürlich ist es möglich,
auf einer Reihe liegender Benzinfässer zu schlafen. Ich wickel mich so
dicht wie möglich in die Plastikplane ein, bleibe trocken, krieg fast keine
Luft mehr, und erlebe ein Wunder der Natur: es ist zwar möglich, das Ding
luftdicht zu kriegen, es ist aber nicht möglich, das Ding insektendicht
zu kriegen. Alle 2 Minuten eine neue Mücke. Die sancudos, das sind die
Malaria-Kandidaten. Ich hasse sie. Wie kommen die da bloß rein? Bestimmt
mehr als 30 zerklatsche ich blind in der Nacht, ich schlafe erst sehr spät
ein. Am Morgen, wo es hell wird, wollen sie wieder raus, aber sie finden nicht
raus aus der Plane, und ich nehme gnadenlos Rache. Jetzt wollen sie raus, aber
jetzt ist es zu spät.
Ich komme in Wampusirpi an, bis dorthin fahren die tuktuks, es regnet in Strömen,
aber diese miesen sancudos gibt's in Wampusirpi zum Glück nicht.
(...)
Wampusirpi
Brief FORUM 5
20. Februar 1988, am Río Patuca, südlich von Wampú, Olancho,
Honduras.
(...)
Ich komme also in Wampusirpi mit dem tuktuk an, es regnet in Strömen, aber
sancudos gibt's in Wampusirpi nicht. Dafür plaga, die verbreiten zwar keine
Malaria, sind aber etwas direkter im Nehmen, und nach ein paar Tagen werde ich
erstmal nicht mehr barfuß über die Pfade gehen: ganz kleine Fliege,
setzt sich auf die Haut, beißt'n Loch rein, wie Vampir, schlabbert drin
rum und hinterläßt einfach 'ne offene Wunde. Hier in den Tropen infizierst
du dich auch, wenn du nicht kratzt.
Sie verweisen mich an Elena, die zeigt mir, wo ich wohnen kann. Sie ist von
Santiagos Familie, wohl eine von den reicheren im Ort, sie stellen Käse
her und haben nebenan ein Lagerhaus, das leer steht. Warum sie die Häuser
auf Pfählen bauen, frage ich, aber keiner weiß es genau. Gewohnheit.
Wie in Barra Patuca begleitet mich auch hier einer zur Comandancia - ich muß
mich ja wieder bei den Militärs vorstellen und zeigen, daß mit meinen
documentos alles in Ordnung ist. Das mit den 4 Tagen Visum erkennen auch die
nicht. Ich sag, daß ich vielleicht 2 oder 3 Monate hier in der Gegend
bleiben will, ja, meint er, ist okay. Dazu erzähl ich ihm noch, ich will
ein bißchen stromaufwärts und von den Mískito-Indianern lernen,
wie man Einbäume herstellt. Ernst hab ich das zu diesem Zeitpunkt nicht
gemeint, aber irgendeine ausgefallene Geschichte mußte ich ihnen ja erzählen.
Zu meiner Überraschung meint er glatt, das ginge, ich soll im Ort mal nachfragen.
Ey, das wär ja gut.
Wampusirpi.
"Buenos días, äh, sprechen Sie spanisch?"
"Ja -"
"Ich komme aus Deutschland, hab nicht viel Geld und suche hier Arbeit,
ob es wohl möglich ist, mit einigen Leuten von hier in den Wald zu gehen
und Einbäume zu hacken? Gibt es hier jemanden, der Einbäume macht?"
"Einbäume willst du hacken, kannst du das denn?"
"Naja, nicht so gut, glaub ich, ich will's halt hier lernen, deshalb bin
ich hierhergekommen."
"Ja, ich kenn jemand, der Einbäume macht, Eliezar Zelaya, mein Onkel.
Ich weiß, daß er demnächst loswill und Einbäume hacken,
gehen wir halt mal hin und fragen ihn."
Will wissen, was die von der Küste wollen, die sprechen hier doch auch
alle spanisch.
Zufällig das Haus neben Elena. Ganz schön steile Treppe nach oben
ins Haus, einige Frauen sind da, und er: ich schätz ihn auf 50 oder 60,
gezeichnetes Gesicht, lockige, schon bißchen graue Haare, ein alter Grieche,
würde ich sagen, wenn er nicht die dunkle Hautfarbe der Mískitos
hätte.
"Also, das ist er, erklär's ihm halt."
Okay - ich sprudel nochmal los, kein Geld, suche Arbeit, Einbäume hacken,
kann ich zwar nicht so gut, würde ich gerne hier lernen... meine Story
wird immer ausgefeilter, diesmal noch mit der Version, daß ich nach Deutschland
zurückkehren will und dann dort den Leuten beibringen will, wie Einbäume
gehackt werden..., "weil in Deutschland die Leute nicht wissen, wie man
das macht, - äh...", ich schaue fragend den Jüngeren an, "spricht
er überhaupt spanisch?"
"Ein wenig... er versteht's, wenn du langsam redest... sprechen kann er
nicht so gut."
Dideldi, also nochmal das ganze. Im folgenden gibt es dann auch eine Unterhaltung
mit Simultanübersetzung. Ob es in Deutschland Bäume gibt, will er
wissen, und Flüsse, und Meer... und vor allem, warum es da keine Einbäume
gibt. Geld könne er mir nicht zahlen. Ach, was ist schon Geld, ich will
ja was lernen, es reicht wenn Essen da ist, nix weiter. Wenige Worte fallen
zwischen den beiden.
"Also, er sagt, daß er in den Berg will mit einigen Leuten, und Einbäume
hacken. Wenn du willst, könntest du mit ihm mitkommen, aber er wird schon
sehr bald aufbrechen, so in ein-zwei Tagen, ich weiß nicht, ob es dir
so früh schon paßt."
"Ich könnte eigentlich jederzeit los - wie lange will er denn im Berg
bleiben?"
"Hm, naja, ich denke, schon 'ne ziemlich lange Zeit."
"Mehrere Monate?"
"Ja, so 2, na, 3 Monate schon."
Und er macht's, und morgen oder übermorgen soll's losgehn! Stark! Das gibt's
doch wohl nicht!
Halt, nee nee, nicht zu früh freuen. Wo ist da der Haken, ich kenn das
doch, bei sowas gibt's doch immer einen Haken. Ich suche jetzt den Haken. Mal
nachdenken.
Eben. Gesagt haben sie zwar ja, aber irgendwie klang der Tonfall in der Stimme
nicht ganz so überzeugend. Vor allem, was ihre Zeitplanung anging. Überhaupt
hörte es sich nicht gerade so an, als wäre die Sache perfekt durchgeplant.
Chaoten sind es aber auch nicht, dagegen spricht sein würdiges Alter. Vor
allem aber sind es hier alles nette Leute, das ist nicht schwierig, das rauszuhören.
Sogar die Militärs hier.
Was ich befürchte, scheint wohl einzutreten. Am nächsten Tag kann
er noch nicht los, weil er noch keinen Pro-viant gekauft hat: er muß sich
den Vorrat an Reis, Bohnen, Fett, Salz, Zucker, Kaffee und so erst zusammenstellen.
Und am Tag darauf hat er zwar Provision gekauft, aber der Reis muß erst
noch gestampft werden, und bei dem Regen geht das nicht.
Ich pendel in der Zeit immer zwischen seinem und Santiagos Haus hin und her,
bekomme mal hier und mal dort Essen, und auch an den folgenden Tagen kann er
erst "morgen oder übermorgen" los: erst fehlt Salz, dann hat
der Fluß Hochwasser, sein Kumpel ist krank, morgen ist Sonntag...
Mískito - meine erste
Indiandersprache
Gut, dann halt morgen oder übermorgen. Die Frauen bringen mir in der
Zeit ein bißchen mískito bei. Das heißt, zum Großteil
bringe ich mir das natürlich selber bei. Es ist jetzt meine 6. Sprache,
und langsam durchcheck ich das System dahinter. Was ist Sprache? Das Gerüst
einer Sprache besteht hauptsächlich aus ziemlich vielen Vokabeln, die du
dir alle reinziehn kannst, dann aus konjugierten Verben und 'ner Art, wie die
Sätze zusammengebaut sind, hier: Subjekt - Objekt - Verb. Und weil ich
die Leute ja nicht einfach fragen kann, wie sind'n die grammatischen Regeln?,
muß ich das schon selber rauskriegen.
Äußerst geschickt habe ich mir deshalb ein paar Grammatik-Testsätze
zusammengestellt, die sie mir einfach vom Spanischen ins Mískito übersetzen
brauchen. Das grobe System durchsteig ich ziemlich schnell, Mískito ist
tatsächlich eine einfache Sprache. Alle Wörter werden immer auf der
ersten Silbe betont, egal wie lang sie sind. Solche Regeln gefallen mir.
Bestraft wirst du nur bei der dummen Geschichte mit den Possesivpronomen, also
wenn du sagen willst: dies ist mein Gegenstand. Wie das geht, hab ich bis heute
nicht raus. Im Gespräch fällt sowas nie.
Nach ein paar Tagen krieg ich schon ein bißchen mit, worum's geht, wenn
sie was sagen. Besonders, wenn die Frauen sich im Haus unterhalten, versteh
ich schon 'ne ganze Menge.
Viel ist was anderes. Spanisch geht aber inzwischen ganz passabel, zumindest,
wenn es um die alltäglichen Sachen geht.
Einer aus Spanien lebt am Ort, Don Ignacio, er arbeitet für die UNO-Unterorganisation
ACNUR und betreut die nicaraguanischen Flüchtlinge, die hier im Lager außerhalb
des Ortes wohnen.
"Doch, du sprichst doch ganz gut spanisch", meint er, obwohl sein
europäisches Spanisch schon ein wenig anders klingt. Aber auf französisch
auszuweichen, wir probieren es einmal aus, lohnt sich nicht mehr.
Es gibt sogar Unterschiede zwischen honduranischem und mexikanischem spanisch,
die Lateinamerikaner hören das aus dem Tonfall raus. Mir fällt's halt
auf, wenn sie hier oder da mal 'ne andere Vokabel nehmen.
"Im Mískito gibt das größere Unterschiede zwischen den
Regionen", erklären mir die Frauen, "wenn du dich in Nicaragua
mit Mískitos unterhalten wirst, werden die deutlich raushören, wo
du die Sprache gelernt hast."
Das spricht dafür, daß es zwischen den einzelnen Siedlungsgebieten
der Mískitos wohl nicht allzuviele Verkehrsverbindungen gibt, wenn sich
da Dialekte rausbilden. Vielleicht liegt es daran, daß die Flüsse
immer nur in eine Richtung fließen, zum karibischen Meer, und das sind
eben die Hauptverkehrwege.
Über das Essen
"Tja, es gibt hier zur Zeit nicht genug Salz, er kann noch nicht los
und Einbäume hacken. Was er machen wird, ist, daß er eine Woche flußaufwärts
fährt und ein paar Bäume aussucht. Dann will er wiederkommen und dann
endgültig zum Arbeiten rauffahren." - Sowas mußte ja kommen.
"Hm, ich hätte schon Lust, eine Woche einfach mit raufzufahren, ich
mein, wenn er genug Essen hat natürlich nur -"
"Ja, genug Essen hat er, nur viel machen wird er halt nicht."
"Würde das gehen, daß ich dann einfach so mitkommen kann?"
"Naja, wenn du willst, das geht schon, nur: gutes Essen gibt es nicht.
Nur Reis, Yuca, Sixa und Fisch."
Sixa sind leicht süße Bananen, das Fruchtfleisch ist gelb. Wenn sie
reif oder etwas überreif sind oder wenn sie gebraten werden, wird die Schale
schwarz. Sixa ist gleichzeitig das Wort für "schwarz".
Yuca ist Maniok, sieht wie 'ne kinderarmdicke Löwenzahnwurzel aus und schmeckt
gekocht wie bißchen fade Kartoffeln. Ich vertrag das Essen hier sehr gut,
im Gegensatz zu den Maisgerichten in Mexico.
"Morgen oder übermorgen geht es los." - Jaja.
Das Grundnahrungmittel der Mískito-Indianer ist Reis. Ich glaube, ich
hätte mich schon gewundert, wenn ich das vorher irgendwo gelesen hätte.
In Mexico ist das Hauptnahrungsmittel seit Jahrtausenden überall Mais,
dort gibt's praktisch jeden Tag Tortillas. In Belize machen sie alles aus Kokosnüssen,
das tägliche Brot der Garífuna ist Casave (die Maniok-Pflanze kommt
auch aus Amerika, vermutlich sogar von hier), das sind also alles heimische
Pflanzen, und ausgerechnet bei den Indianern im abgelegensten Gebiet, in der
Mosquitia, gibt's jeden Tag Reis, eine asiatische Pflanze.
Die Kinder in der Mosquitia sind aber, das fällt mir auch auf, viel besser
ernährt als die der Garífuna. Die aufgeblähten Wasserbäuche
(Bilder wie aus dem Sahel) haben die Indianer-Kinder hier nicht.
Morgen oder übermorgen. Weil es wieder soviel regnet. Die Regenzeit endet
etwa im Januar, bis April geht dann die Trockenzeit. Aber diesmal regnet es
länger als sonst, es ist ja schon Februar.
Dann hat er kein Fett, er muß sich noch Fett kaufen. Das Fett beziehen
sie aus der Seifenfabrik von La Ceiba, abgepackt in handlichen Stücken.
Auf den Reis-Säcken steht, Import aus USA, gestellt by the people of the
Unites States, für die Flüchtlinge. Es steht extra drauf, daß
dieser Reis nicht zum Verkauf bestimmt ist. Ich weiß nicht, ob der hier
gehandelte Reis tatsächlich aus den USA kommt, oder ob sie nur die Säcke
recyclen, denn angebaut wird er hier auch.
Die erste Reise flußaufwärts,
einen Baum aussuchen
Bin ich froh, als ich nach nur 10 Tagen warten im Kanu flußaufwärts
sitze. Wir sind also zu dritt: vorne Eliezar, den sie Indio nennen, in der Mitte
ich, und hinten Primo, ein jüngerer Indianer. Die beiden stehen im Einbaum,
vorne und hinten, und stemmen nun mit 5 Meter langen Holzstangen das Boot
gegen die Strömung des Flusses. Das ganze wird auf spanisch palancar genannt,
die deutsche Vokabel dafür weiß ich nicht. Ich sage "staken"
dazu.
Der Einbaum ist recht klein, vielleicht 5 m lang und 50 cm breit, und zwar ist
es ein Fluß-Einbaum, ein duri, auf mískito, und auf spanisch pipante
. Es gibt Fluß-Einbäume und Meeres-Einbäume, die unterscheiden
sich. Ich bin Einbaumfahren nicht gewohnt und habe am Anfang ganz schön
Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Dieses palancar geht nicht besonders
schnell, aber sie kommen vorwärts damit, und das Wetter hält sich
auch. Der Fluß ist unterschiedlich breit, an einigen Stellen mehrere 100
m, aber wo er schneller fließt, verengt er sich. Das Kanu wird natürlich
nur am Ufer entlang geführt, nicht in der Mitte des Stromes.
An einer Kiesbank halten sie an, Indio hat im Fluß ein totes Krokodil
entdeckt, erschossen, etwa 6 Jahre alt. Er untersucht es, mißt es ab,
der Panzer ist noch gut.
"Hier gibt es viele, überall kommen die vor. Von allein können
die nicht sterben. 6 Fuß - das ist klein.", meint er, schärft
mein Taschenmesser und nimmt dem Reptil vorsichtig den Panzer ab.
"Zum verkaufen, gell?"
"Ja, in Barra Patuca, einige Gringos aus den USA kaufen die."
"Wieviel ist so eins wert?"
"Etwa 30 Pesos -", dieses verschmitzte Lächeln hat er öfter
drauf.
Mit Pesos meinte er die honduranische Währung, Lempira, also 20,- DM. Dann
wird's in die USA geschmuggelt, zu Krokodilledertaschen verarbeitet und dann
an Leute verkauft, die etwas mehr als 15 $ dafür zahlen können...
Wir essen derweil Mittag. Reis, Yuca und Bohnen. "Gasolina" - Benzin,
meinte Primo zu mir, als er beim Ablegen noch die Schüssel mit den Bohnen
ins Kanu gelegt hatte. Moderne japanische Benzinmotoren können sich hier
die wenigsten leisten, die Kanus der ärmeren Leute fahren mit Muskelantrieb.
Am Anfang denke ich noch, es ist für sie Arbeit, mich hier durch die Gegend
zu fahren. Ich biete Primo an, ihn mal abzulösen.
"Ich weiß nicht", meint er gleichgültig.
Ich bewundere die Selbstverständlichkeit und die Ausdauer, mit der sie
das Boot das Flußufer entlangstemmen. Für sie muß das aber
auch selbstverständlich sein, anders kommst du nicht vorwärts hier,
das war schon immer so. Auf den Pfaden durch den Wald, das geht viel langsamer.
Keine Miene verziehen sie, als es am Nachmittag voll anfängt, runterzuschütten.
Eine Stunde? 1½ ? Sie staken durch den Regen. Keine Chance, daß
es mal aufhört. Ich sitze im T-Shirt und langer nasser Hose auf 3 quergelegten
Holzstöcken im Boot, nur die Sachen werden nicht naß: die sind mit
Plastikplane abgedeckt. Der Regen hört nicht auf. Hin und wieder sind Siedlungen
am Fluß.
"Aquí vamos a quedar porque hay mal tiempo." - hier werden
wir übernachten, weil es schlechtes Wetter hat. Bei seiner Tochter. Ein
wenig mußte ich lächeln, als er mir auf spanisch "erklärte",
daß das Wetter schlecht sei. Am Feuer des Herdes kann ich mich und alle
meine Sachen trocknen. Sie hören Radio.
Weiter oben am Fluß soll es wieder hergehn, nachdem es eine ganze Zeit
ruhig gewesen sei: die Contras haben wohl wieder eine Geldspritze aus den USA
bekommen und müssen zeigen, daß sie in diesem Fall auch wirklich
für Freiheit und Demokratie kämpfen können. Abwechselnd wird
jetzt "Voz de Nicaragua" oder "Radio Sandino" (die sandinistischen
Regierungssender) und "Radio Liberación" (der Contrasender)
gehört, um an Informationen zu kommen, wo nun genau die Kampfgebiete sind.
Spanisch. Aber bei der Tonqualität bekomm ich auch nur bruchteilweise mit,
was los ist, außerdem erzählen sie nicht direkt, daß und wo
gekämpft wird, höchstens indirekt. Nicaragua spricht nur von laufenden
Friedensverhandlungen, die in Guatemala City stattfinden. Außerdem ist
das Land damit beschäftigt, den Leuten beizubringen, wie neue Córdobas
gegen alte eingetauscht werden: Nicaragua streicht wieder mal 3 Nullen seiner
Währung weg, das passiert zur Zeit wohl immer am Anfang der Trockenzeit...
"Todos a cambiar... ¡Córdobas Nuevos - estos sí valen!"
. Montag bis Mittwoch richten sie sogar einen eigenen Radiosender dafür
ein, der sendet auch nachts durch.
Und die allgemeine Wehrpflicht haben sie eingeführt. Dies schnappt der
Contrasender auf und spricht vom "servicio obligatório de la muerte",
von der "Pflicht zum Todesdienst", Wortlaut: "Gegen diesen Schlag
der Sandinisten auf Freiheit und Leben der nicaraguanischen Jugend kennen wir
nur ein Mittel: den bewaffneten Kampf!". Ich traue ihnen zugegeben auch
wirklich nicht zu, daß ihnen was besseres einfallen könnte, besonders
nachdem sie "berichtet" haben, daß die Jungs nach zum Teil nur
4 Stunden Ausbildung in die Kampfgebiete geschickt würden... die brauchbarsten
Informationen scheint dann auch "Radio Impacta", der Sender von Costa
Rica, zu bringen. Der ist nur leider noch schwerer zu verstehen, nachts geht
er besser rein.
"Du bist Deutscher, kein US-Gringo, dir werden sie wohl nichts tun, und
uns auch nicht, also fahren wir weiter.", am nächsten Tag ist das
Wetter wieder etwas besser.
Wir kommen bis Krausirpi, kommen dort auch bei einer Familie unter, hier sprechen
jetzt weniger Leute spanisch. Einen Tag warten wir schlechtes Wetter und schlechten
Fluß ab, und am übernächsten Tag geht es dann endgültig
ins Unbekannte, "il" - "Berg" und "Wald" sind
in mískito dasselbe Wort.
Weiter stromaufwärts "stabilisiert" sich das Wetter zunehmend,
und bald haben wir ein tropisches Tagesklima. Morgens noch etwas Nebel, der
verzieht sich, manchmal kommt noch 'ne schwere Wolke, aber dann gibt's erstmal
schönen Sonnenschein, wo du froh bist, wenn ab und zu mal eine Wolke vor
die senkrecht stehende Sonne kommt. Nachmittags passiert das öfter, dann
kommt schon mal ein Regenguß mit, zwischen etwa halb 5 bis halb 6 kann's
durchregnen, und gegen Abend verziehen sich die Regenwolken dann wieder. Nachts
kommt manchmal auch noch was runter, aber nur gerade soviel, daß du nicht
im Freien schlafen kannst. Eine Plastikplane über einen Querstock dient
als Dach, ab jetzt übernachten wir immer auf den Kiesbänken.
2 Tage später passieren wir das vorerst letzte Dorf am Fluß, hier
leben keine Mískitos sondern Mestizen, den Unterschied sieht man auch,
an den Häusern. Noch etwas weiter, und dann beginnen die beiden, nach Yulu-Bäumen
Ausschau zu halten. Jeden Yulu-Baum können sie aber nicht nehmen, sie müssen
prüfen, ob das Holz auch gut ist und keinen Pilz enthält. Diese Einbäume
sind an der dicksten Stelle vielleicht 10 cm stark , dann natürlich ständig
im Wasser und müssen 'ne ganz schön lange Zeit halten. Die Bäume,
die sie finden, enthalten aber alle diesen Pilz, und so geht es noch ein paar
Tage weiter flußaufwärts.
Die Tierwelt im Urwald von
Honduras
Nachmittags halten sie an und fangen Fische. Als Köder dienen Regenwürmer
oder kleinere Fische, oder sie haben vorher vor einer Kiesbank mit der Hand
geschickt ein paar der flinken kleinen Krebse gefangen. Flußkrebse gibt's
genug im Patuca, einmal beobachte ich, wie er sie erlegt: wenn es dunkel ist,
mit Taschenlampe, oder Feuerholz, im seichten Wasser. Und Machete... Ganz schön
groß die Viecher, einer und ich bin satt, und schmecken total lecker.
Immer öfter halten sie jetzt an, schlagen sich mit Machete einen Weg durch
den Dschungel, auf der Suche nach einem guten Baum, und ich bleibe beim Boot.
Oder sie bauen das Zelt erst gar nicht ab, dann bleibe ich den Tag über
da und soll denen, die vorbeikommen, erzählen, daß ich dabei sei,
die Gegend auf der Suche nach Gold auszukundschaften. Das wär nicht unlogisch:
der Flußsand ist voll mit lauter kleinen Blattgoldpartikeln, die glänzen
in der Sonne, sieht ganz lustig aus. Der Fluß ist hier vielleicht noch
30 oder 40 m breit, und wenn am Tag 2 Einbäume und ein tuktuk vorbeikommen,
ist das viel Verkehr. Ruhe? Von wegen.
"Dann gibt's immer eine Runde
tropische Insektenkunde."
Die Stechmücken kommen ja erst, wenn's dunkel wird, aber hier oben im
Urwald sind das zum Glück nicht so viele. Tagsüber habe ich das kleine
Vampirzeugs, diese miesen plaga, das sind die schlimmsten. Den Biß spürst
du meistens, wie von einer Bremse, und wenn die nur von Menschen leben würden,
wären sie bestimmt bald allesamt totgeklatscht. Das bringt denen meistens
nichts, Menschen zu beißen, aber sie tun's immer wieder.
Dann sind da die ganz kleinen Fliegen, die nerven, wenn sie dir dauernd um den
Kopf rumfliegen. Diese ganz kleinen Fliegen tun alleine nichts, aber wenn du
irgendwo so einen (mini-) Biß von der plaga hast, hast du sofort auch
ein halbes Dutzend dieser kleinen Fliegen dran, die drin rumschlabbern und verhindern,
daß die Wunde schnell zuheilen kann.
Eine Art Bremsen gibt das auch, die sind selten, aber ein paarmal am Tag besucht
uns auch mal eine. In Belize nannten sie die "Doctor-Fly", die sind
etwa so groß wie Wespen, etwas lauter im Flug, haben aber vom Aussehen
her eine ganz starre, militärische Art drauf. Wenn sie dich einmal gefunden
hat, läßt sie nicht locker, bis du sie zerklatscht hast. Du beschäftigst
dich dann 3 Minuten mit nichts anderem als mit diesem Vieh, und irgendwann hast
du's. Eigentlich schade, denn es sind wirklich schöne Tiere, der Körper
ist meist grün, und ganz große, grün-blau-violett schimmernde
Facettenaugen haben sie. Erfolgreich gebissen hat mich noch nie eine, die kann
gar nicht so beißen, daß es Menschen nicht merken.
Aber Freunde gibt's auch. Manchmal schwirren einige Libellen um mich herum,
die fangen sehr geschickt das kleine Fliegenzeug weg, und die etwas größeren
plaga trauen sich dann gar nicht mehr in meine Gegend. Sowieso die Libellen.
Ich hab's gern, wenn sie sich mal auf meine Hose setzen. Wirklich nette, freundliche
Partner. Die summen und fiepen auch nicht, klappern höchstens ein bißchen
mit den Flügeln. Schöne Tiere, es gibt welche in den leuchtendsten
Farben, ich zähle mindestens 20 verschiedene. Artenreichtum im tropischen
Urwald. Natürlich auch die Schmetterlinge und die Käfer, Blattheuschrecken,
immer wieder schönere, buntere, oder perfekt angepaßte. Wer will
die zählen.
Wer den Tiger hat...
Es geht wieder weiter. Wenn sie am Ufer entlangstaken, haben sie manchmal
steinigen Untergrund, dann geht's am besten, manchmal ist er schlammig, das
geht schwerer, da sinken die Stangen ein. Ab und zu, besonders wenn der Wald
bis ganz an den Fluß geht, so wie jetzt, ragt alles mögliche Gebüsch
ins Wasser am Ufer, oder ganze Bäume sind der Länge nach über
das Flußufer gefallen, alles übereinander, dünne Äste,
dicke Äste, wieso sitzt da jetzt 'ne Katze drauf, Baumstämme, große
Wurzeln, und da können sie sich dann an den Ästen abstoßen mit
den Stangen, das geht auch ganz gut. Wir kommen etwa mit guter Schrittgeschwindigkeit
voran... was war das eben, 'ne Katze?, das geht doch gar nicht hier... He, warte,
halt mal an - nochmal zurück.
Was ist jetzt das? Die sitzt da auf dem Baumstamm über dem Flußufer,
wir treiben in etwa 5 m Entfernung nochmal langsam dran vorbei. Groß wie
eine Katze, Schnurrhaare wie eine Katze, Wuschelschwanz wie eine Wuschelkatze,
Ohren wie eine Breit-Ohren-Katze, aber ganz schön fett für eine Katze,
und der Kopf ist etwas größer. Und hat hellgraues, zart geflecktes
Fell... gut, die Angaben reichen, vorläufige Diagnose: ein junger Jaguar,
ein Baby, paar Wochen alt, ohne Mutter.
Wir fahren nochmal dran vorbei, er haut nicht ab. Wohl bißchen verstört,
der Kleine. Sein eines Auge ist kaputt, fangen läßt er sich leicht,
sonst ist er aber gesund. Limi auf mískito, auf spanisch heißt
er tigre. Was machen wir jetzt? Wenn er keine Mutter mehr hat, kommt er so nicht
durch, er ist zu klein. Die beiden Indianer:
"Weißt du was, den nehmen wir mit, für die Kinder, was meinst
du, wie die kucken werden. Wenn man ihn richtig erzieht, bleibt er auch zahm."
"Hm. Mitnehmen. Und was sollen wir ihm zum Essen geben?"
"Fisch?"
"Na, dann können wir ja jetzt für 4 Leute angeln...", Lachen.
Tigre in den Sack, und weiter zu viert. He, die haben sich ja eben auf mískito
unterhalten, die beiden, das war ja gar kein spanisch, und ich habe das verstanden.
Aber Pech, sie finden keinen guten Baum, überall enthalten sie diesen Pilz.
"Wenn wir in den nächsten 2 Tagen auch nichts finden, fahren wir zurück
nach Wampusirpi."
Ratlosigkeit. Immer häufiger fällt der Ausdruck nu apu, "ich
weiß nicht", wenn sie sich unterhalten. Schon am nächsten Tag
wollen sie nicht mehr noch weiter flußaufwärts und kehren wieder
langsam um.
Abends auf der Kiesbank liegt wenig Feuerholz. Also geht einer der beiden ein
Stück hinter, wo mehr liegt, und kommt zurück mit einer 1,30 m langen,
grünen Echse, ein träges Tier, wie so'n Leguan, die haut auch nicht
ab.
"Futter für tigre!", als lebender Vorrat, sozusagen. Es reicht,
der Echse ein schweres Stück Holz auf den Schwanz zu legen. Scheint die
nicht groß zu stören.
Aber der kleine Jaguar will noch nichts fressen, keinen Reis, keine Bananen,
keine Yuca, keine 1,30 m langen grünen Echsen, auch keinen Fisch, nur ein
bißchen Wasser trinkt er.
Ja, die Tierwelt ist hier wesentlich reicher als in Europa. Auch die vielen
Arten von Eidechsen, im Fluß gibt's schwere Schildkröten, die Spuren
von Krokodilen am Flußufer, der Tag ist voll mit Vogelstimmen, hunderte
von Arten in den Bäumen, die wenigsten bekomme ich zu Gesicht. Grad wenn
sich der Reiher einen Fisch aus dem Fluß fängt oder die Papageien
sich mal in einen lichten Baum am Ufer gegenüber setzen.
Und nachts hämmern die
Spechte.
Aber mit Ausdauer. Dann wird's erst richtig laut, hier an dieser Hauptverkehrsverbindung.
Da brüllen und keuchen die Affen, zirpen die Insekten, quaken und pfeifen
die Frösche und Kröten, und am meisten Lärm machen die Spechte...
bis ich kaum noch die Mücken hör, wenn sie dicht an meinem Ohr vorbeifliegen.
Nächtliche Ruhe scheinen die beiden Indianer auch nicht gewohnt zu sein:
kommt oft vor, daß sie mit laufendem Radio einschlafen. Das gibt mir dann
immer den letzten Rest: nun höre ich die Stechmücken gar nicht mehr.
Gegen die muß ich mir schon einiges einfallen lassen. Lange Haare sind
gut zum Verjagen und schützen den Hals. Die lange Hose möglichst auch
im Schlafsack anbehalten, aber bei den Temperaturen schon weniger angenehm ist
der warme Pullover. Wenn's schlimm wird, nehme ich das Handtuch über den
Hals, in Mexico hab ich auch schonmal (im Freien) mit Stoffsack über dem
Kopf geschlafen. Vorteil eines Sonnenbrandes im Gesicht: du spürst jede
Mücke, die sich auf deine Haut setzt.
Endlich finden sie einen tauglichen Yulu-Baum, etwa 3-400 m weit vom Fluß
weg, mitten im Urwald. Sie bauen ein Gerüst um die Pfahlwurzel, und mit
der Axt fällen sie an einem halben Tag den 4 Fuß starken Waldriesen
um. Das kracht und staubt ganz schön, als er mit Getöse runtergepest
kommt, bergabwärts, er reißt die Kronen einiger anderer Bäume
gleich mit um, mehr als 10 m schleudert es ihn von der Wurzel ab. Sie untersuchen
ihn nach Pilzen, und - er ist gut. Sie haben Glück gehabt. Der Baum wird
so liegengelassen, wie er hingefallen ist, und sie müssen die Gerüste
zum Arbeiten außen stabil drum herumbauen.
Also noch nicht zurück nach Wampusirpi... Camp auf der nächsten Kiesbank.
Wieder eine von den Nächten mit Pullover. Tigre plagen die Insekten nicht,
der ist im Sack. Mit einem Strick anbinden wollen sie ihn nicht, könnte
er vielleicht durchbeißen. Eigentlich wollte ich heute abend wieder ein
bißchen die Sterne beobachten, aber es ziehen lauter Wolken vorbei und
dann bringt's das nicht, also leg ich mich hin. Indio ist wohl ganz schön
fertig vom arbeiten und hat sich auch schon hingelegt, Primo erlegt noch ein
paar Flußkrebse für morgen früh.
"Limi kaíkri !! Limi bálan !" - hä, was?
Ich bin noch nicht ganz eingeschlafen, da kommt Primo ganz aufgeregt zum Zelt,
"¡Vine tigre!", er hat die Jaguarmutter gesehen. Wir sind sofort
hoch. Wo ist der Sack mit dem Jungen - hier, da ist der Sack, ja, der Sack ist
noch da, aber keine Spur von Tigerchen. Gut zugebunden wie letzte Nacht hatten
sie ihn auch nicht, nur 3 schwere Steine draufgelegt, die liegen jetzt daneben.
Tigergeschichten. Da muß die Jaguarmutter in der Zeit tatsächlich
angekommen sein und ihr Junges befreit haben, und wir haben nichts gehört.
Indio lag keine 2 Meter daneben. Klar ham wir nix gehört - er mußte
ja wieder "Voz de Nicaragua" bis spät in die Nacht laufenlassen,
ja, okay, ich sag ja nichts, manchmal senden sie ja auch in mískito.
"Die ist fei verdammt gefährlich, die Mutter, wenn sie Junge hat",
erklärt er, "bist du allein und nur mit Machete bewaffnet, hast du
null Chance."
Klar, wenn die ihr Leben für ihr Junges einsetzt, Prost Mahlzeit. Dann
geht's rund. Dann mußt du schon viele CLEVER & SMARTs gelesen haben,
um dir vorstellen zu können, wie du dann aussiehst.
Wir hatten Glück, daß sie es so leicht befreien konnte, und sozusagen
nicht auf unsere Hilfe angewiesen war, was auch immer sie sich darunter vorgestellt
hätte... mit den 3 Steinen muß sie sehr vorsichtig umgegangen sein.
"Ja, von Natur aus haben sie auch Angst und kommen nicht zum Zelt."
Also weg Tigerchen. Am Morgen können wir es auch deutlich an den Stellen,
wo Sand ist, sehen: dicke, fette Jaguartatzen...
"Das wirst du können müssen, wenn wir wieder hierher zurückkommen",
meint Primo zu mir, als es mir dann am letzten Tag auch mal gelungen ist, mit
der Leine in der Hand ein paar Fische zu fangen. Langsam geht es jetzt wieder
zurück, sie können ja noch nicht anfangen zu arbeiten, weil sie nicht
genug Vorrat dabeihaben. Der Baum sei gut, sie freuen sich immer wieder darüber.
Sie können daraus ein 3½ bis 4 Fuß breites bílamanka
hacken, ein Meeres-Einbaum, auf spanisch sagen sie cayuco. So eins, neu, ist
hier etwa soviel wert wie in Deutschland ein guter Gebrauchtwagen. Sie freuen
sich immer wieder darüber.
(...)
Brief FORUM 6
25. März 1988, am Río Patuca, südlich Wampú, südlich
des Río Wasparasní, Olancho, Honduras. (zuendegeschrieben
in Wampusirpi)
(...)
Ich komm nach 2 Wochen also wieder zurück nach Wampusirpi, und Cristela,
die Freundin von Faustino, ist immer noch hochschwanger. Indio bietet mir ein
Holzbett in seinem Haus an, wo ich schlafen kann. Mir war es am Ende ja bei
Elena ein bißchen unwohl geworden: den ganzen Tag hing ich nur bei Indio
rum, und grad zum Schlafen kam ich zu Santiagos Haus.
Auch Indios Holzhaus steht auf Pfählen, es hat ein Naturdach aus Palmwedeln.
Die Treppe führt hoch zu einem Flur, wo der Eßtisch steht, und links
und rechts ist eine Tür. Auf der linken Seite ist die Küche, auf der
rechten der Wohntrakt mit einem größeren Zentralraum, wo mein Holzbett
steht und paar Hängematten hängen, und 4 kleine Zimmer gehen von diesem
Zentralraum ab.
Nächsten Montag soll's weitergehen. Okay -. diese Sprache verstehe ich
bereits... Eines morgens 2 Wochen später wird mich Faustino wecken, ich
soll aufstehn, heute geht's ab in die Berge. Bis dahin kann ich mir noch ein
bißchen die Sterne anschauen.
Den Abwasch machen...
Oder den Abwasch machen. Eine von den kleinen Mädchen lacht, vielleicht
weil ich so groß bin und die Spüle so niedrig, aber die anderen sagen
nichts, bei sich sagen sie ja auch nichts, der Abwasch ist halt da und irgendjemand
macht ihn halt.
Testmethode, wie sind die Völker drauf. Machst du (männlich) den Abwasch,
werden sie sich vielleicht freuen, daß du ihnen die Arbeit abnimmst, also,
sie finden das gut. Hier ist es so, oder in Deutschland auch. Oder, wie in der
Türkei oder in Mexico, sie versuchen, dich mit aller Kraft daran zu hindern,
weniger, weil du Gast im Haus bist, nein, der Abwasch, das ist Frauensache.
Frauen die Arbeit abzunehmen, das wäre mal das richtige für Mexico.
Manchmal ist es ganz spaßig, die Leute auf paar abwegige Gedanken zu bringen.
In Mexico interessieren sie sich immer für das fortschrittliche europäische
Land, aus dem ich komme. Gut, erzählen wir ihnen mal was von Alemania.
Paraje, Veracruz: Norma ist 18, und den ganzen Tag ist sie im Haus dabei. Einen
Sonntag hat sie auch nicht. Ich frage, ob ich ihr bei der Wäsche helfen
kann.
"Nein, nein, das geht nicht."
"In Deutschland helfen die Männer den Frauen bei der Arbeit im Haus.",
meine ich zu ihr.
Ob sie das beeindruckt, zeigt sie mir nicht. Am nächsten Tag kriege ich
zufällig mit, wie sie's ihrer Mutter erzählt.
Die Söhne Mexicos tun den ganzen Tag, wenn keine Schule ist, buchstäblich
nichts. Rumhängen, mal den Hund ärgern, oder ihre Schwester, die das
Haus ausfegt, baden im Fluß, Fußballspielen, unter der Veranda sitzen
und den Mädchen auf dem Weg nachpfeifen (das darf aber nur, wer älter
als 3 Jahre ist), oder sich auf der Bank vor dem Haus mit dem Gringo zu unterhalten.
Norma kommt mit Wasser vom Fluß.
"Wie schaffen die das, über die weite Strecke den 20-Liter-Wassereimer
auf dem Kopf zu tragen, ohne daß was verschüttet?", frage ich
die Witzbolde.
"Weiß nicht, wie die das machen."
"Könnt ihr das nicht?"
"Nein", er lächelt bei dem Gedanken daran, "nein, wir können
das nicht."
"Und wieso können die das?"
"Son mujeres: tienen la cabeza plana." - das sind doch Frauen, die
haben eben einen platten Kopf.
Es müßten mal ein paar Gringos sich hier ein Haus kaufen, hier eine
Zeitlang wohnen, und immer die Männer zum Wasserholen an den Fluß
gehen. Was meinst du, wie schnell sich das hier ändern würde, mit
den platten Köpfen. Ich würde dir das richtig gönnen. Manchmal
fehlt mir ja wirklich der Respekt vor den Traditionen der Völker...
Auch in Wampusirpi wird das Wasser nach dieser Methode von Frauen geholt, von
der Quelle. Vor allem für den Abwasch und zum Kochen. Ich frag, ob sie
mir zeigen wollen, wie das geht.
Hier erklären sie es mir gerne. Sie selber machen es immer mit 20 Litern,
davon verschwappt ein bißchen, also gut, 19. Eine, die ist zierlicher
gebaut, nimmt nicht ganz so viel Wasser rein, und nimmt den Eimer nicht direkt
auf den Kopf, sondern legt ein Tuch dazwischen. Ein Tuch habe ich auch, sie
zeigt mir, wie es gefaltet wird, wie der Eimer auf den Kopf gehoben wird, und
vor allem, wie er wieder abgenommen wird. Das letzte ist das schwierigste, da
müssen sie mir die erste Woche immer helfen dabei. Das mit den 20 Litern
lasse ich ganz schnell sein, ich bin froh, wenn ich mit 10 Litern am Haus ankomme.
Ich nehme mir vor, zu trainieren, jeden Tag mindestens zweimal, und nach 2 Wochen
habe ich mich auf 12 Liter gesteigert. Es ist ganz interessant zu beobachten,
was da alles für Muskulatur trainiert wird. Ich bin stolz darauf, etwas
zu können, was die Söhne Mexicos nicht können.
"Bis sie 10 Jahre alt sind, lernen die Jungen das hier auch", meint
Elena zu mir, "Ganz so schlimm, wie du es mir von Mexico erzählst,
ist es hier nicht. Aber trotzdem - hier gibt es auch viel machismo."
Machismo, das war ihr Wort gewesen. In Mexico habe ich es nicht gehört.
Von Natur aus scheinen die Mískitos wie viele andere Indianer eine ziemliche
Gleichberechtigung draufzuhaben. Wenn sich das langsam ändert, dürfte
das auf den schlechten Einfluß der Mestizen zurückzuführen sein,
also letzten Endes der Spanier. Nicht aus dem Fernsehen, das gibt es hier zum
Glück noch nicht.
Allein, indem sie die spanische Sprache lernen, müssen sie lernen, ständig
und in allen Situationen die Menschen nach den Geschlechtern zu unterscheiden.
Spanisch ist etwa so sexistisch wie deutsch. Im mískito gibt es gar keine
geschlechtsbezogenen Pronomen wie "er/sie" (in anderen Indianersprachen
auch nicht), die müssen das ganz kompliziert ausdrücken, wenn sie
irgendwas nur weiblich oder nur männlich haben wollen.
Manchmal hat der Unterschied zwischen Mestizen und Indianern interessante Seiten.
Ich bin nicht der einzige Europäer am Patuca. Sie erzählen mir von
Bettina, weil die auch aus Deutschland ist, und in einem der Orte viel weiter
oben am Patuca arbeitet, bei den Zumu-Indianern.
"Was für Arbeit?"
"Weiß nicht." -
"Weiß ich auch nicht genau, was die hier macht." -
"Nein, wissen wir nicht, die arbeitet halt hier." -
"Doch, die stellt doch irgendwelche Kunstgegenstände aus Ton her und
verkauft die nach Tegucigalpa weiter."
Später habe ich erfahren, daß die Frau sich Gelder über ein
deutsches Entwicklungshilfe-Projekt organisiert hat und seit ein paar Jahren
mit den Zumus arbeitet.
Ein Mestize würde nur sagen, die wohnt hier, er würde für eine
Frau ungerne das Wort arbeiten verwenden. In vielen Gegenden der Welt ist es
einfach nicht denkbar, daß eine Frau ihr Land verläßt, weil
sie irgendwoanders arbeiten will. Hier scheint es selbstverständlich zu
sein.
Eine Frau, die auf eigenen Beinen steht, vor gar nicht so langer Zeit war das
in Mitteleuropa noch etwas wahnsinnig Ungewöhnliches oder zumindest ultra-Fortschrittliches.
Toleriert allenfalls in den Großstädten.
Ein bißchen unsicher wirken die Mädchen, die ohne T-Shirt im Fluß
baden, als wir an ihnen vorbeistaken, sie gehen vorsichtshalber bis zum Hals
ins Wasser. Wir sind fremd, und sie wissen nicht, was wir für Benehmen
draufhaben. War es früher anders hier, oder sind die älteren Frauen
von Haus aus mutiger?
Bestimmt 50 oder 55 war die Frau, sie haben sich mit ihr, langsam vorbeistakend
(sie stand bis zum Bauch im Wasser) ein bißchen unterhalten. Indio kannte
sie wohl. Vielleicht war sie die Bürgermeisterin. Sie dachte gar nicht
daran, ihre Brust zu verdecken. Genauso, wenn sie ihre Kinder stillen: Brust
raus, Schreihals ran, Ruhe. In Mexico hatten sie da 'ne komplizierte Konstruktion
aus Tüchern, oder sie mußten ins Haus gehen, auf keinen Fall durfte
einer der Männer das sehen. Von den Mískito-Indianern werden die
Frauen nicht ihrer Brüste wegen diskriminiert. Sie steht im Wasser, und
sie spricht mit Würde: mit der ganzen Würde einer Frau.
Nichts wie weg - die
Sandinisten kommen !
Abend in Wampusirpi. Ich komme gerade vom Scheißhaus und geselle mich
zu den Leuten, die vor Indios Haus stehen. Hitzige Diskussion. Um was es geht,
krieg ich wieder mal nicht mit. Die Frauen besonders aufgeregt. Irgendwie scheint
es wieder um Sándino zu gehen. Margerita erklärt's mir dann.
"¡Vienen Sándino! Die Sandinisten kommen! Hier, nach Wampusirpi,
viele, Militärs, Guerilleros, wir müssen schnell flüchten, mit
dem Boot da unten, unsere Sachen packen und ab!"
"Hä? Wieso hierher? Was wollen die denn in Wampusirpi?"
Einige 100 Flüchtlinge leben im Lager am Ort, das wäre natürlich
ein Angriffsziel für Nicaraguas Regierungs-Guerilleros. Ach was, das ist
doch Quatsch.
"Es ist natürlich deine Sache, ob du hierbleibst oder nicht, also
wir fahren ab... und an deiner Stelle würde ich auch schnell weg hier.
Du siehst aus wie ein US-Gringo, die erschießen dich und fragen nicht
lange, ob du aus Deutschland kommst."
Ein Scherz ist das Ganze nicht, das wäre nicht ihre Art.
"Wann wollt'n ihr weg? Jetzt gleich?"
"Ja, packen und los."
Was wollen die denn hier? Das haut doch nicht hin. Bin ich jetzt total vertrottelt?
Das wirft doch alles über'n Haufen, was ich bisher über diese Sandinisten...
also noch mal von vorne, im Zeitraffer, viel Zeit ist nicht.
1. Bis 1979 hatten sie Somoza, den großen Diktator. Nachdem sie ihn rausgeschmissen
hatten nach dem großen Erdbeben, hat sich die sandinistische Regierung
in Nicaragua etabliert.
2. Die Somoza-Fans (und hinterher auch andere) gingen nicht in den Untergrund,
sondern über die Grenzen, nach Costa Rica, und die meisten nach Honduras.
Und weil jetzt die schlimmen Sandinisten einigermaßen erfolgreich gegen
die wirtschaftliche Abhängigkeit des 3-Millionen-Volkes von den USA regieren,
bekommen deren Gegner (die "Contras") vom großen Cowboy aus
Washington (Reagan) Geld und Waffen, um das Land wieder aus diesen bösen
Händen zu befreien.
3. Die meisten Contras (FDN) kämpfen in den Bergen, Department Olancho.
Hier bei uns in der Gegend gibt es zwar Flüchtlinge, aber keine bewaffneten
Contras.
4. Auf dem Einband des Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis stehen
in großen freundlichen Buchstaben die Worte KEINE PANIK.
"Zu Fuß kommen die? Wie weit sind die denn schon? Das ist doch hier
über 100 km von der Grenze, dazwischen ist der Urwald. Das dauert doch
lange, bis die hier sind, mindestens 2-3 Tage, wenn die die Wege auch alle kennen."
"Nein, bis Mocorón kommen die ganz schnell. Der Urwald danach, das
ist nicht soviel, die sind schnell hier, 1 Tag, nicht mehr, wir müssen
weg."
"Aber die können doch nicht einfach hier einmarschieren, Honduras
hat doch auch Militär."
"Schon, aber du siehst ja: 4 Leute hier am Ort."
"Wo habt ihr denn die Information her? Über den Funk von Don Ignacio?"
Hätt ich vielleicht auch früher fragen können.
"Sagen doch alle hier, siehst du das nicht?" -
"Woher? He, wer hat denn das gesagt, daß die Sandinisten kommen?"
-
"Weiß nicht, wer das gesagt hat." -
"Nee, nicht über den Funk von Don Ignacio." -
"Nee, sie hams im Radio durchgesagt."
Hm. Vielleicht Sunny Radio aus Puerto Lempira, dem Hauptort vom Department Gracias
a Dios, liegt an der Caratasca-Lagune. Der einzige Sender in der honduranischen
Mosquitia, Privatradio mit entsprechendem Niveau, "lo mejor en onda corta".
In spanisch und mískito, abends auch in zumu, und manchmal versuchen
sie sich auch in englisch. Sendet vormittags und abends, "das beste auf
der Kurzwelle". Macht aber nicht gerade den Eindruck, als hätten sie
ein landesweites Netz an Redakteuren.
Oder Radio Sandino? "Hallo Jungs, adelante! Heute geht's nach Honduras,
über die und die Strecke, die und die Orte! Und wenn die USA nicht bald
mit ihren Waffenlieferungen an die Contras aufhören, marschieren wir gleich
durch... Mexico hat uns schon freien Durchzug zugesagt!" - Laß den
Quatsch.
"Teym bálisa, ísparakung brísna...", meint eine
Frau.
"Mensch, die haben Maschinengewehre, mit der Machete richten wir da doch
nichts aus!", ein anderer.
"Wir müssen weg", meint Margerita, "wenn die hier um den
Ort kämpfen, schießen die rücksichtslos auf alles, was sich
bewegt!"
"Das gibt hier keine Kämpfe", ein Optimist.
"Meinst du. Ja, unsere werden sich wohl gleich ergeben, aber ich denke,
die vom Flüchtlingslager werden sich mit allen Kräften verteidigen.
Ich hab gehört, die wollen bleiben." - Andere sagen das auch, daß
die vom Lager bleiben wollen.
Endlich, einer, Véltran, weiß wo sie's herhaben.
"Also, es ist so. Das honduranische Militär ist in Alarmbereitschaft
versetzt worden, weil die Sandinisten an der Grenze aufmarschieren. Es besteht
quasi Mobilmachung. Ich glaube auch, die hier werden sich ergeben. Nur eben
die vom Lager... aber trotzdem, warum sollten die hier bei uns im Ort kämpfen?"
"Mensch, siehst du nicht, die Sándinos", meint die Freundin
von Margerita, schon allein der Begriff löst hier wohl schon Panik aus,
"wir müssen los! Packen und los. Sofort. Also ich bin dafür,
daß wir losfahren. Du doch auch. Du auch. Und du auch, oder?"
Einen hohen Respekt vor eurem praktischen Verständnis von direkter Demokratie...
aber trotzdem, ich weiß nicht so recht.
"Wo wollt ihr denn hin?" - Ja, wohin.
"Nach Belize -", meint einer.
"Hombre, vor 5 Wochen war ich in Belize, wißt ihr wie weit das ist,
und mit dem duri kommt ihr doch nicht über's Meer." - oh, das hat
wohl Eindruck gemacht, und sie hören mir zu - "Außerdem ist
da auch Krieg, die ham'n Grenzkrieg mit Guatemala, die werden euch willkommen
heißen."
"Was schlägst du denn vor?"
"Vielleicht geht mal einer zur Comandancia, die wissen doch bestimmt mehr."
- Okay, Véltran und 2 andere gehen hin.
Ob ich nicht Angst vor den Sandinisten hätte. Scheint wohl das Werk der
Flüchtlinge hier am Ort zu sein, die den Leuten nicht gerade das beste
Bild von den Sandinos übermitteln. Die haben die Sandinisten nur von ihrer
schlimmsten Seite kennengelernt. Sie erzählen von den abgebrannten Häusern
und daß ihnen die Haustiere getötet wurden... obwohl es ein Programm
zur freiwilligen Wiedereinbürgerung gibt, trauen sich die meisten noch
nicht zurück, "die werden mich ermorden, wenn ich zurückgehe.".
Véltran und die anderen kommen zurück. Er hat mit den Militärs
gesprochen, erklärt alles, alle hören zu, bis er fertig ist, und die
Leute sind beruhigt. Ein Wort von den autoridades ist halt schon immer was wert.
Auch die Frauen sind beruhigt. - Und auf spanisch?
"Ach so! Also, es ist so. Folgendes: sie sind in Bereitschaft versetzt
worden, weil die Gefahr besteht, daß die Sandinisten über die Grenze
kommen."
"Wo, wissen sie nicht?"
"Nein, das wissen sie nicht, es besteht nur genereller Alarmzustand."
"Und was sollen wir machen?"
"Gut, also sie sagen, daß wir die Ruhe bewahren und heute abend zeitig
im Haus sein sollen."
Diese Militärs sind manchmal gar nicht so schlecht.
Genereller Alarmzustand, das verlesen sie schon mal in Sunny Radio. Später
wird klar, daß es ein rein politischer Schachzug war: die honduranischen
Militärs sehen's halt nicht so gerne, wenn die Sandinisten über die
Grenze kommen und Stellungen der Contras in den Bergen angreifen.
Cristela
Ich fühl mich ja öfters genervt, wenn sie sich bis spät in
die Nacht unterhalten, aber diemal ist es mitten in der Nacht. Irgendetwas haben
diese Sonntage an sich... erst spät merke ich, was wirklich los ist: bei
Cristela ist es soweit. Die Wehen haben eingesetzt. In ihrem Zimmer geht es
wohl nicht so gut, also richten die Frauen in meinem Raum etwas her, mit Tüchern
haben sie schnell einen eigenen Raum abgespannt, alles bei Kerzenlicht. Strom
gibt es hier nicht. Auf dem Boden wollen sie das machen. Mein Holzbett ist auch
nicht so gut zum Kinder kriegen.
Aber die Geburt scheint komplizierter zu sein, sie sind irgendwie unruhig. Die
Großmutter und noch eine andere Frau mit wohl etwas mehr Erfahrung werden
herbeigeholt, warten... um 2 oder 3 Uhr nachts... ich schlafe wieder ein.
Als ich wieder aufwache, ist mehr Hektik im Raum. Sie sind mit Cristela wieder
in ihr Zimmer gegangen, auf dem Boden dahinten, das war vielleicht doch nicht
so gut. Nicht wegen mir, das hat die nicht gestört.
Hier werden die Kinder nicht bei Neonlicht im sterilen Krankenhausbett geboren,
Arzt, Hebamme, alle anderen raus, hier ist das bei der Familie im Haus. Okay,
die Kinder schlafen halt gerade, die sind jetzt nicht dabei.
Der Ausdruck saura fällt, es scheint tatsächlich nicht so gut zu gehen.
Faustino und 5-6 Frauen sind in Cristelas Zimmer, alle schwätzen aufgeregt
durcheinander, jetzt wird's wohl spannend.
"Schnell, eine Hühnerfeder, schnell!" - Faustinos Mutter pest
runter in den Hof, reißt dem nächstbesten schlafenden Huhn eine Feder
aus und kommt Sekunden später wieder rauf. Einen Augenblick ist Ruhe. Zwei.
Die Großmutter gibt ab und zu ein paar Anweisungen, aber die Ruhe wird
bleiben. Und Freude wird nicht einkehren.
Schwere Gesichter am Morgen. Cristela hat Zwillinge geboren, aber im 7. Monat,
und die können in der Regel so nicht überleben. Sie stellen einen
Tisch im großen Raum auf, dort legen sie sie drauf, gewaschen und in weiße
Tücher gewickelt. Mit Kerzen, die Großmutter wacht daneben.
Cristela bleibt auch nicht im Bett liegen, wie in Europa in den Krankenhäusern,
sie ist ja nicht krank, hat es ganz gut überstanden.
Für 3 Tage kommen jetzt alle möglichen Leute aus dem Dorf, um die
beiden anzusehen. Ein bißchen ein komisches Gefühl ist es ja schon,
zusammen mit den beiden Toten in einem Raum zu schlafen, aber die gehören
ja auch dazu.
Véltran scheint auch irgendwie zur Familie zu gehören, er zuckt
mit den Schultern, als er die beiden gesehen hat, und wirft mir einen Blick
zu, als wollte er sagen, "Im 7. Monat, was war denn anderes zu erwarten..."
Und das Leben geht weiter. 3 Tage später bringt auch Cristela wieder ein
Lächeln über ihre Lippen.
Ja, Kinder gibt es viele in Honduras.
"Jede Frau möchte hier möglichst 15-20 Kinder in ihrem Leben
bekommen", meint Seberino zu mir.
"In Deutschland haben die Leute nicht so viele Kinder, 1 oder 2, nicht
mehr, 3 ist schon viel."
"Wieso, wird das von der Regierung verboten?"
"Nein nein, im Gegenteil...", ich erzähl ihm von Kindergeld,
das wär was feines hier, "weißt du, das geht aber nur, wenn
nicht alle Leute 15-20 Kinder haben möchten, das ist der Trick dabei..."
Mariposa
Mariposa wurde von einer Schlange ins Ohr gebissen. Mariposa ist der Köter
aus Indios Haus. Einer von denen, die so dumm sind, daß sie sogar die
Kühe und die Pferde anbellen, die immer irgendwo im Dorf rumtrotteln. Mariposa
geht mir bis zum Knie und hat helles, ockerfarbenes Fell.
Sie waren mit den Hunden nur kurz ans andere Ufer gefahren, die Köter freuen
sich halt auch mal, wenn sie mal woanders hinkommen... und am Ufer haben sie
beim Aussteigen wohl nicht richtig aufgepaßt und sind ins Gras gesprungen
und haben die Schlange nicht gesehen. Oder sie haben die Schlange erst noch
dick angebellt, das sähe ihnen ähnlich. Jedenfalls war die Schlange
erstmal erfolgreicher als die Hunde. Frontera, den Nachbarhund, hat sie auch
gebissen.
Schlange heißt pyuta auf mískito. Die Leute sagen, wenn eine Schlange
einen Menschen beißt, wird er in jedem Fall sterben. Ich frage sie, was
für eine Schlange es denn war. Als die giftigste Schlange der Welt
wird hier in der Gegend die barba amarilla bezeichnet, eine kleine gelbgrüne
Art, die es in den Llanos gibt, dem Grasland mit vereinzelten hohen Kiefern,
die da rumstehn, offenbar nicht im Urwald. Die soll giftiger sein als die Schwarze
Mamba.
Die Schlange, die die Hunde gebissen hat, war groß, sie haben sie mit
Machete getötet. Sie denken, je größer die Schlange ist, desto
giftiger ist sie. Ich habe den Verdacht, sie haben von Schlangen genausoviel
Ahnung wie die Leute in Island oder wie die Eskimos. Sie kennen die einzelnen
Schlangenarten gar nicht.
Für Mariposa sieht es schlimm aus, der Hund blutet ganz stark aus dem Ohr,
seinen Kumpel Frontera hat die Schlange wohl nicht richtig erwischt. Ich sehe
mir Mariposa näher an. Ausgerechnet ins Ohr mußte sie ihn beißen,
genau an der Wurzel vom Ohr, da hat er ja keine Chance, man kann ihm ja nicht
den Kopf abbinden.
Sie wissen ein Heilmittel, entweder es ist Einbildung, oder es hilft vielleicht
bei Menschen manchmal. Ich bin skeptisch, denn wie können sie ein generelles
Mittel gegen Schlangengift kennen, wenn sie nicht einmal die einzelnen Schlangenarten
auseinanderhalten können? Vielleicht hilft es ja gegen das Gift einer ganz
bestimmten Art, vielleicht einer häufigen. Sie zerkochen irgendein Gewächs,
und weil er das freiwillig nie schlappern wird, müssen sie's ihm mit Gewalt
eintrichtern.
Das ist 'ne Gaudi, sie schaffen es auch zu dritt nicht, die Hündin Mariposa
wehrt sich nach Kräften, und erfogreich. Ich kann ja die miesen Köter
nicht ab, aber zusehen, wie die 3 mit Mariposa umgehen, kann ich auch nicht.
Sie kucken mich ein bißchen ratlos an.
"Witin díras -", er/sie trinkt nicht. Weiß ich vielleicht
ein Mittel? Nein, von Hunden hab ich doch auch keine Ahnung. Ich weiß
nur, daß sie nerven, wenn man abends mit Rucksack an einer Straße
langlatscht und von einem Köterrevier ins andere kommt. Und daß ich
nicht schlafen kann, wenn 2 oder 3 Sauhunde die Nacht durchbellen.
Sie rasieren Mariposa die Wunden sauber - eine Wunde am Kopf sieht nicht so
schlimm aus, aber die aus dem Ohr blutet immer noch. Sie füllen die grüne
Pampe, für die Hündin muß es ekelhaft riechen, in eine Flasche,
wollen ihr das Maul aufreißen und das Zeug gluckgluckgluck in den Hund
reinkippen. Na, wenn das mal was wird. Wird es aber nicht. Sie schaffen es nicht,
ihn festzuhalten. Dieser Hund hat es anscheinend überhaupt nicht gerne,
wenn ihm die Kehle zugedrückt wird... Wenn er das Zeug aber nicht trinkt,
wird er in jedem Fall verrecken, sagen sie.
Also gut, Köter, wolln mir mal nicht so sein, die Grüne Mumpitz war's
ja nicht, vielleicht besteht ja noch 'ne Überlebenschance. Ausgerechnet
im Umgang mit ihren Haustieren kennen sie sich kein bißchen aus. Erstmal
die Beine zusammenbinden, mit Stricken, die hab ich im Rucksack. Aber eine Idee,
wie man einen halben Liter grünen Pflanzensaft in einen Hund reinkippt,
habe ich leider auch nicht. Immerhin kann er sich jetzt nicht mehr mit den Füßen
wehren, und zu viert schaffen wir es in einer halben Stunde auch einigermaßen
gut, den Pflanzensaft größtenteils auf dem Boden zu vergießen.
Bis das Schauspiel jetzt vorbei ist, habe ich noch ein wenig Zeit, etwas über
das Verhältnis der Leute hier zum besten Freund des Menschen zu erzählen.
Der beste Freund des Menschen... In Paraje, Mexico, meinten sie zu mir, sie
hätten die Hunde bis vor kurzem noch gegessen. Tja, in Lateinamerika haben
die Hunde eine andere Funktion als in Berlin-Reinickendorf. Hier als Verwerter
von Essensresten, und vielleicht, um Besuch anzukündigen, durch lebhaftes
Bellen.
In Elenas Haus, der kleine Knirps, selber an Volumen nicht größer
als der große schwarze Hund, der in der Küche steht, nimmt Anlauf
und tritt dem Hund voll in die Eier. Das Tier heult auf und verzieht sich jaulend
unter den Tisch. Der kleine kann den Hund irgendwie nicht ab und trietzt ihn,
wo er ihn trifft.
"Paß auf, der ist fei stärker als du", sage ich auf deutsch
zu ihm, aber ich weiß, wenn er das verstehen würde, würde er
mich nur auslachen. So lernen die Kinder hier, mit Hunden umzugehen.
Mit Haustieren allgemein übrigens, manchmal ist das zum Staunen.
"Huh!", macht die kleine Dreijährige auf der Wiese, und die im
Vergleich riesige Kuh mit den riesengroßen Hörnern macht einen Bogen
um die Kleine, als wär's ein Löwe. Auch vor den Hunden haben die Kühe
Angst und weichen schnell zurück, wenn sie angebellt werden. Die Hunde
wiederum haben Angst vor der Glucke mit ihren Küken und machen einen ganz
großen Bogen um die.
Im Dorf laufen immer die Hühner, die kleinen Schweine und die Hunde frei
herum, und manchmal kommen die Kühe auch an. Für die kleinen Kinder
gefährlich ist es, wenn die Pferde angerannt kommen, da sind wohl schon
mal Unfälle passiert. Aber die Kühe mit den großen Hörnern
haben sie gut erzogen. Im Haus von Humberto haben sie einen grünen Papagei,
der läuft da frei rum, kann nicht fliegen.
So, endlich geschafft, die Flasche ist leer und das Ergebnis ist, wir sind genauso
fertig wie der Hund. Ovita hat eine Uhr - Mariposas Puls ist 98, hm, was haben
Hunde für einen Puls? Frontera hat 80... etwas später hat Mariposa
auch 82... also ich weiß ja nicht, ich räume ihr mehr Chancen ein
als die Leute.
Nächster Morgen, erste Frage von Seberino an seine Mutter, die früher
aufsteht:
"Ist der Hund schon tot?"
"Ja. Ja, ich glaube -" - Hat sie's nur geschätzt oder hat sie
den Hund nur pennen sehen? Kurze Zeit später seh ich ihn jedenfalls noch
relativ munter herumlaufen.
Aber ich sehe, was los ist: er blutet immer noch aus der Wunde am Ohr. Verdammt,
das Gift dieser Schlange hat also bewirkt, das der Blutgerinnungsprozeß
gestört wurde. Wenn das Blut nicht gerinnt, wird er verbluten, das ist
klar. Er muß die ganze Nacht geblutet haben, es ist auch zu sehen, unter
dem Haus, wo er geschlafen hat. Was würde denn da helfen... ? Ich versuche
krampfhaft, die Blutgerinnung aus der Schule mir ins Gedächtnis zurückzuholen...
wie war das jetzt nochmal... Fibrin und Fibrinogen gibt Fibrose... oder war's
anders?
"Für jedes Gift gibt es ein Gegengift.", meine ich zu Seberino,
aber er versteht nicht, was ich damit meine. Für ihn verreckt der Hund,
weil die Schlange böse ist, und nicht, weil das Gift der Schlange irgendeine
spezifische Wirkung hat. In der Klinik haben sie gar kein Mittel gegen Schlangengift,
höchstens in Auas, aber das ist ein paar Tagesreisen flußabwärts.
Fibrinogen und Fibrin gibt Fibrose... Fibrinose.. nein, das waren 2 Komponenten
dabei... mist, ich krieg's nicht mehr hin. Wie kriegt man Blut zum Gerinnen?
Sie rühren nochmal das Heilmittel an, der Hund wehrt sich schon wesentlich
weniger, er ist halt auch schon ziemlich fertig. Aber bis zum Abend blutet er
weiter aus dem Ohr, tropf, tropf, tropf, die Wunde will einfach nicht schließen.
Das Heilmittel hilft da auch nichts. Es ist kein gutes Gefühl, das mitansehen
zu müssen, noch läuft er rum, aber schon total schlapp, er reagiert
kaum noch, wenn Frontera und der schwarze Köter zum Pferde-an-bellen loslegen.
Nächster Morgen.
"Ist der Hund schon tot?"
"Nein, da, da ist er, der lebt noch."
Da läuft er immer noch rum. Wieviel Blut hat denn so ein Köter? Der
muß doch schon mindestens 2-3 Liter verloren haben! Mal hingehn und ihn
anschauen... - hey! Megamächtig, das Blut ist geronnen, die Wunde am Ohr
ist dicht! Na, Hund, da hast du ja Glück gehabt.
Trotzdem, Mariposa ist total fertig, hat seit Tagen nichts gegessen, kann irgendwann
auch nicht mehr aufstehen. Viel Blut zum Verlieren hätte dieses Tier ja
nun wirklich nicht mehr gehabt. Die Wunde darf auf keinen Fall wieder aufgehn,
sonst wird er wohl keine 2 Tage mehr Zeit haben, die Wunde zu verschließen.
Meine Befürchtung ist, daß bei der Tageshitze der Blutdruck steigen
könnte. Mariposa liegt vor dem Haus, wo tagsüber der Kakao und der
Reis in der Sonne getrocknet wird. Wir tragen ihn besser unter die Veranda des
anderen Hauses, da ist immer Schatten.
"Geht nicht zum Hund.", sage ich zu den Kindern, die danebenstehen.
Er braucht jetzt Ruhe, Kühle, und was zu essen. Warte mal, Hämoglobin
hat 4 Eisen-Atome... also muß er Eisen kriegen. Gut, rostige Nägel
liegen hier genug rum. So, und was noch? Mal ins Haus gehn und im Buch "Donde
no hay dóctor", dem Medizinbuch für die ländlichen Gegenden
Mexicos, nachlesen, im Kapitel über Anämie...
Indio, Faustino und Seberino kommen an und wollen ihm das Mittel nochmal geben.
Was? Nein, jetzt ist doch schon - ich mein, die Wirkung des Gifts hat doch schon
- mist, wie sag ich ihnen das denn jetzt?
"Nein, nicht das Mittel geben, er wird nicht sterben, sieh ihn doch an,
jetzt ist es schon gut."
"Doch, er wird sterben, wir müssen es unbedingt nochmal mit dem Mittel
versuchen."
"Zuviel Medizin ist auch nicht gut, das ist dann wieder giftig. Das steht
hier in dem Buch drin." - Mensch, Seberino ist doch kein Arzt. Indio ist
auch dafür:
"Besser wir geben ihm das Mittel nochmal."
"Nein, ich denke, die Medizin braucht er jetzt nicht mehr, die Wunde darf
nur nicht wieder aufgehn. Heute braucht er gutes Futter." - Er überlegt
kurz, Futter war wohl 'ne Idee.
"Erst geb ich ihm das Mittel, und dann kriegt er gutes Essen.", hat
er sich entschieden.
Na gut, was solls, zu dritt sind wir also wieder mit dem Mittel dabei, der schlappe
Hund wehrt sich noch weniger als gestern, er weiß halt auch schon, um
was es wieder mal geht.
"Und dann kriegt der Hund gutes Essen." Was kriegen wir? - Reis, Bohnen
und gekochte Bananen. Und was ist gutes Hundefutter? - Reis, Bohnen und gekochte
Bananen... Witin plun píras - er/sie ißt nicht.
"Das ist schlechtes Essen für den Hund", meine ich zu ihnen,
"der Hund braucht Eiweiß, Proteine, dieses Essen nützt ihm nichts."
Ein bißchen komisch muß es sich für sie schon anhören...
Fleisch, Fisch oder Eier für den Hund. Sie beobachten zwar, daß die
Hunde das gerne essen, aber sowas ist teuer. Ich gehe zu Santiagos Haus, vielleicht
schaffe ich es, ein wenig Milch zu organisieren. Ich muß es nur geschickt
anstellen.
"Eine Schlange? Oh, der arme Hund."
"Ich glaube, er kann's überleben. Ich weiß eine Medizin, die
wird aus Milch hergestellt, ich bräuchte dazu nur einen Becher Milch."
"Hundemedizin aus Milch herstellen? Kannst du das denn? Hilft das auch?"
"Ich habe die Schlange selber nicht gesehn, aber ich weiß, daß
es so eine Medizin gibt. Ich will es mal damit versuchen."
"Milch. Wir haben aber nur abgekochte... -"
"Die hilft auch."
Einen Becher Milch gibt sie mir. Wohl weniger wegen dem Hund, sondern weil ich
es bin, der sie darum bittet.
Lohn der Arbeit: der dumme Köter schlappert's auch nicht. Blöder Hund.
Jetzt kann er warten, bis er Schlappi kriegt.
Dabei habe ich mich extra angestrengt und das Ende eines Rinderröhrenknochens
mit einer Machete bearbeitet und mit 3 rostigen Nägeln die ganze Suppe
durchgerührt, und die Kinder haben ganz interessiert zugeschaut und es
überall im Dorf rumerzählt.
Etwas später komme ich vom Baden vom Fluß, Faustino ist beim Hund.
"Na, schon verreckt?"
"Nein, aber er hat die Milch getrunken."
"Hey, hat er ?!"
Jetzt ist er über'n Berg! Er kommt wieder zu Kräften, kann bald schon
wieder laufen. Mittags wollen sie ihm das Pflanzenzeug nochmal geben, aber er
läßt sich nicht mehr fangen. Ich glaube kaum, daß ihm das Mittel
irgendwie geholfen hat, der Köter hat sich in der Zeit seine Abwehrstoffe
oder sein Fibrinzeugs wohl selber hergestellt. Am Abend sucht er sich sein Essen
wie gewohnt von unter dem Haus: Reis, Bohnen, Yuca und gekochte Bananen...
Die zweite Tour in den Wald,
zum Einbaum hacken
Am nächsten Morgen ist alles gepackt und es geht ab in die Berge. Diesmal
sind wir mehr Leute. Indio und Primo von der ersten Tour, dann einer um die
25, Flüchtling aus Nicaragua, dort leben ja auch Mískito-Indianer,
bei mir heißt er Nic, der Name paßt zu ihm.
Der Zumu-Indianer, ein Freund, auch so alt wie Nic, steigt in Pimienta zu, und
die Köchin, mit ihrem 4 Monate alten Baby. Und auf geht's.
Und Köter. Der ist wohl auch noch nie Einbaum gefahren. 6 mal wird er bei
der Hinfahrt ins Wasser fliegen und wir müssen ihn jedesmal wieder herausfischen
wie einen nassen Waschlappen, hinterher hat er die dicke Erkältung.
Sie staken zu dritt. Der Einbaum ist vielleicht 7 m lang, und wenn sie zu dritt
staken, stehen sie alle 3 vorne. Sie müssen ein wenig geschickt mit ihren
5 m langen Holzstangen umgehen, wenn sie sich nicht in die Quere kommen wollen.
Das kriegen sie aber schnell raus.
Nic scheint eher in der spanischen Sprache zuhause zu sein, obwohl sie sich
untereinander ausschließlich auf mískito unterhalten. Aber nicht
nur Nic, sondern auch die Frau unterhält sich mit mir auf spanisch. Aber
das machen sie wohl nicht so gerne, besonders Primo und Indio nicht, sodaß
wir uns zunehmend mehr auf mískito unterhalten.
Der Zumu spricht kein spanisch, nur zumu und mískito, dazu ein wenig
englisch, in der Schule hat er's wohl nicht gelernt. Er versteht es am wenigsten,
wenn ich abends mit meinem selbstgebastelten Holz-Meßstab ein wenig die
Sterne und Planeten betrachte. Den anderen ist's wohl egal, außer Primo,
der fragt sich auch, was das für einen Sinn haben soll.
Essen. Die Frau kocht zwar, aber die Rollenverteilung ist hier wie gesagt nicht
so streng wie in Mexico. Auch mir gibt sie schonmal das Geschirr in die Hand:
hier, hast du die Seife, wasch mal ab. Fische und Flußkrebse fangen kann
sie auch, genausogut wie die anderen.
Fische fangen ist der Job der Mískitos, da sind sie in ihrem Element.
Nicht mit Schleppnetz, auch nicht mit Dynamit, wie es die Mestizen in Mexico
machen. Die hier können fischen. Mit der Angelsehne in der Hand, mit Spieß,
Speer, Machete oder mit Pfeil und Bogen. Wenn wir den Fluß entlangfahren,
sehen wir oft Leute, die am Flußufer stehen, mit Speer oder mit Pfeil
und Bogen, und das Wasser fixieren.
Wir kommen an der Kiesbank an, wo sie den Yulu-Baum gefällt haben, schlagen
das Lager auf, die Frau bleibt tagsüber am Lager, und wir gehen zum Baum.
Indio hat abgesteckt, wie lang das cayuco werden soll, etwa 8 m, und zunächst
wird die ganze oben liegende Hälfte des Baumstammes weggehackt, mit den
Äxten. Das geht recht schnell, nach ein paar Tagen sind wir damit fertig.
Die Holzstücke, die dabei durch die Gegend fliegen, sind oft mehrere Kilo
schwer. Ich kann es wie erwartet nicht so gut, und im Gegensatz zu mir werden
die 4 auch immer schneller und immer besser. Ich bin zwar ähnlich ausdauernd
wie sie, aber es haut mit der Technik am Ende nicht so hin, sie schaffen einfach
mehr.
Ich frage sie, wie alt der Baum gewesen sein mag. Sie müssen extra Indio
fragen.
"So 45 Jahre.", meint er, nach einigem Abwägen. Ich komme beim
Zählen auf 144 Jahresringe, die Methode mit den Jahresringen kennen sie
natürlich auch nicht. Da es hier eine Trocken- und eine Regenzeit gibt,
müßten das also 144 Jahre sein. Das ist alt, für den Urwald.
Nein, sie denken nicht in Zahlen und Jahren, wie in Europa. Bis 4 nehmen sie
ihre Zahlen in mískito (4 heißt einfach zwei-zwei), ab 5 die spanischen,
ab 100 auch die englischen. Die Garífuna, die Schwarzen an der Küste,
taten gut, in ihrer Sprache die Zahlen nicht aus dem mískito, sondern
aus dem französischen zu entlehnen. Wenn sie "20" sagen wollen,
müssen sie auf die Weise nicht 16 Silben aussprechen, wie im mískito,
sondern nur eine einzige: vingt.
Was sie beeindruckt, ist, daß ich ihnen im Wald eine Sonnenuhr bastel.
Das geht ganz einfach, wo die Sonne mittags fast senkrecht steht, und ich kann
ihnen immer fast auf die Minute genau die Uhrzeit sagen. Zum Mittagessen gehen
wir immer zur Kiesbank.
Antirassismus-Debatte
in Honduras...
Den Indianern scheinen auch die Namen der Leute nicht so bedeutend zu sein
wie uns. Die Frauen im Haus gebrauchen die Namen häufiger, aber hier reden
sie sich einfach mit "Freund" an, "der Zumu", "der
andere". Primo heißt auch nicht Primo, sondern Indio nennt ihn nur
so, weil er sein Neffe oder sowas ist, primo ist spanisch. Mich nennen sie mit
Vorliebe weykna píhini - "weißer Mann". Weil ich so eine
weiße Hautfarbe habe.
Sie nennen mich hier nicht gringo, das haben sie mir erklärt, das wäre
falsch, weil ich Deutscher sei und gringo nur für US-Amerikaner verwendet
würde. Offensichtlich auch für schwarze US-Amerikaner. In Mexico haben
sie mir erklärt, daß gringo "Weißer" heißen
würde und daß das für mich genau richtig sei. In einem alten
spanischem Wörterbuch stand, daß gringo von griego = "griechisch"
käme, schon in Spanien verwendet worden sei und ursprünglich eine
allgemeine Bedeutung für "fremde Person" gehabt hätte.
Wenn mich die kleinen Mädchen in Wampusirpi ärgern wollen, nennen
sie mich míriki, das heißt gringo auf mískito. Aber sie
wissen genau, daß sie mich ärgern damit, deshalb machen sie das auch
nur, weil ich zwar Weißer bin, aber kein míriki, also kein US-Amerikaner.
Das Land hier hat ein vorbildliches Verhältnis zur Haut- und Haarfarbe
der Menschen. In Rassen unterscheiden sie sich schon, warum sollten sie das
nicht, nur wird hier niemand diskriminiert. In Limón, bei Trujillo an
der Karibikküste, ging es einmal darum.
"Wir sind Mestizen, wir kommen aus den Bergen, nicht wie ihr von der Küste,
wißt ihr, wir denken halt in dieser Beziehung anders als ihr", meinte
der Mestize zu den schwarzen Garífuna, es ging um Musik, "unsere
Vorfahren sind Spanier und Indianer gewesen."
"Ja, du hast vielleicht recht, unsere Vorfahren kamen aus Afrika, da denken
wir wohl anders."
Einem aus Barra Patuca habe ich erzählt, daß da, wo ich herkomme,
fast nur Weiße wohnen.
"Nein, hier ist alles bunt durcheinander, wir wollen uns gründlich
vermischen, möglichst ein bißchen von allem im Blut haben."
Als wir den Fluß raufgefahren sind, haben sie einen mitgenommen, per Anhalter
sozusagen. Er stand einfach an einer Kiesbank, nahm seine Stange und stakte
2 Stunden lang mit. Mit Indio hat er sich auf mískito unterhalten. Im
anderen Einbaum kam ein Kumpel entgegen, hatte dunkle Haut und krause Haare,
sie riefen sich ein paar Sätze zu, auf spanisch. Warum auf spanisch? Vielleicht
ist er von den Schwarzen an der Küste.
"Ist er Garífuna?", frage ich ihn.
"Nein, der ist Mískito." - Er denkt ein wenig nach über
meine Frage, und meint dann lächelnd: "Sí, tal vez tiene un
poquito." - der hat wohl ganz gut was davon im Blut...
Vielleicht lächeln sie dabei über den Hintergedanken, wer da wohl
mit wem geschlafen haben wird, über die Generationen. Eine junge Frau in
Indios Haus sieht auch sehr afrikanisch aus und meinte zu mir, lächelnd,
sie sei eine Garífuna, aus Belize. Die Frau von Faustino, die haben ein
kleines Baby zusammen. Warum ist sie denn Garífuna?
"Sprichst du garífuna?"
"Nein, ich spreche nur mískito."
"Und seit wann bist du hier in der Mosquitia?"
"Seit ich klein war."
"Und deine Eltern, bei dir zuhause, haben die garífuna gesprochen?"
"Nein, die sprechen auch nur mískito, und spanisch. Die sprechen
kein garífuna."
"Und deine Großeltern?"
"Das weiß ich nicht mehr, was die gesprochen haben... ich glaube,
die kamen aus Belize. Ich bin Garífuna aus Belize."
"Wenn du kein garífuna sprichst, dann bist du doch Mískito."
"Das ist doch egal, welche Sprache du sprichst, das hat doch nichts mit
der Rasse zu tun. Du sprichst ja auch mískito und bist kein Indianer."
"Ja, aber ich spreche auch die Sprache von Weißen, und meine Eltern
sprechen die auch, aber du sprichst nicht die Sprache der Schwarzen."
"Nein, das geht anders. Ich bin viel größer als die Mískitos,
du siehst doch, ich bin größer als Faustino, und der ist ein Mann,
und die Männer sind doch meistens größer als die Frauen.
"Cristela ist auch größer als Faustino und Indio."
"Aber die Garífunas sind viel größer als die Mískitos.
Ich bin doch fast so groß wie du. Die Weißen sind auch größer
als die Mískitos. Jedenfalls du und Bettina und Don Ignacio und die Gringos
von den Flugzeugen." Sie ist etwa 1,75 m.
"Oder du bist Kreolin, das ist die Mischung zwischen Indianern und Garífuna."
"Wie, die heißen Kreolen?"
"Ja, Kreolen, die Mischung zwischen Schwarzen und Indianern."
"Trotzdem bin ich Garífuna, ich weiß doch, daß ich Schwarze
bin, und außerdem bin ich stolz dadrauf. Das muß falsch sein, wenn
du sagst, daß ich keine Schwarze bin. Ich bin eine Garífuna aus
Belize."
"Na gut, du bist keine Kreolin, dann ist der chíquito meinetwegen
Kreole, und du bist Garífuna..." - Chíquito nennen sie hier
die Babies.
"Ja, ich bin Garífuna, aber der chiquito, der ist Mískito,
das sieht doch jeder... du hast recht, der ist ja gar kein Mískito, weil
ich ja Garífuna bin. Ach, dann ist der chíquito also Kreole?"
"Ja, genau!" Sie muß lachen, ich muß auch lachen, wir
müssen beide lachen.
Alle gegen den Kommunismus
Im Radio bekommen wir täglich mit, was in Nicaragua läuft. Beziehungsweise
in Honduras' Grenzgebieten in den Bergen etwas weiter oben, etwa ein oder 2
Tagesreisen weiter flußaufwärts. Die Befürchtung der honduranischen
Militärs von vor einer Woche scheint wohl begründet gewesen zu sein:
sie sprechen von 80 Sandinisten, die über die Grenze nach Honduras gekommen
sind, bißchen Rabatz bei den Contras zu machen. Tagsüber kann man
auch immer wieder einige Flugzeuge kreisen hören.
"Das sind nicht die Hondureños, das sind die Sandinisten, die suchen
die Gegend nach Contra-Stellungen ab, laß dich am besten nicht sehen,
wenn eins kommt.", meint Nic, der sich wohl seine Hängematte von denen
organisiert hat.
Der Weg in die Berge nach Nicaragua sei ein kleines bißchen weiter flußaufwärts.
Einige, die auf einer anderen Kiesbank gezeltet haben, zum Fischen waren die
hier, fahren wieder runter, weil es ihnen zu gefährlich wird. Wir bleiben.
Primo und der Zumu sind auch aus Nicaragua. Nic ist vor fast 10 Jahren geflohen,
mit seinem Vater, er erzählt von seiner Mutter und seinen Brüdern,
die dageblieben sind. Auch der Zumu, der vor 5 Jahren weg ist, hat seine Familie
dort, und manchmal blickt er nachdenklich und etwas traurig auf die Berge im
Süden, "Dort drüben hinter diesen Bergen sind meine Leute",
sagt er mir einmal.
Die Zumu-Indianer sind wie die Mískitos auch Indianer, die in Honduras
und in Nicaragua wohnen, also beiderseits der Grenze. Als die Staatsgrenzen
Mittelamerikas erfunden wurden, wurden die Indianer nicht gefragt. Allerdings
hat sich früher auch kein Mensch drum gekümmert, was die Indianer
von der Grenze am "Río Coco" hielten, dem Fluß, der bei
den Indianern "Wangkí" heißt. Vor der Revolution war
die Grenze "grün".
"Ja, wir Mískitos mögen die Sandinisten nicht", meint
Nic, "nosotros somos contras." - wir sind Contras (= "dagegen").
"Warum mögt ihr die Sandinisten nicht? Weil das Spanier sind?"
Nic: "Nein, weil das Kommunisten sind, die werden von den Russen unterstützt,
und von den Kubanern, von den Bulgaren, eben von Kommunisten."
Primo, auf spanisch: "Kommunisten! Die sind schlecht."
"Was machen die?"
Nochmal Primo, wenn's ihm zu dumm wird auf mískito, mit der perfekten
Antwort: "Cómunista, sáura !"
Das Wort sáura hat mindestens 50 verschiedene Bedeutungen. Überhaupt
hat die Indianersprache weniger Vokabeln als europäische Sprachen, viele
Wörter haben mehrere, ähnliche Bedeutungen. Zum Beispiel:
lápta - "Sonne, Tag, Wärme, heiß".
sáura - "schlecht, böse, gefährlich, giftig, unreif, faul,
verboten, ungezogen, häßlich, nutzlos, untauglich, ungünstig,
doof, überflüssig, durcheinander, verrückt, unlogisch, wertlos,
ungerecht, mies, öde, gemein, fies, hinterhältig, unausstehlich",
und in diesem Fall wohl einfach "von Natur aus schlecht, das sprichwörtliche
Allerletzte".
Dem kleinen Kind bekommt die Hitze wohl nicht so gut. So fährt die Köchin
nach einer Woche mit einem tuktuk wieder zurück. Ihr selber ging's am Ende
auch nicht mehr so gut.
Als nächstes ist wohl der Hund dran, er frißt kaum noch was von seinem
Reis mit Bohnen, grad mal die Fischgräten. Tagsüber ist mit ihm sowieso
nichts anzufangen, abends klaut er sich manchmal unauffällig ein paar Bananen,
die sie einfach ins Schilf gelegt haben und die wir uns außerdem mit den
Eidechsen teilen dürfen, die sich fleißig bedienen. Bis jetzt war
die Köchin immer auf der Kiesbank geblieben, tagsüber, während
wir am Baum waren.
"Jetzt ist die Köchin weg, jetzt mußt du auf die Sachen aufpassen."
Tut uns ja leid. Ach, Leute, ihr wißt ja gar nicht, daß mir das
Spaß macht. Hab ich meine Ruhe, den ganzen Tag ungestört an einem
Fluß im Urwald, kann mich im Fischen üben, oder im Einbaumpaddeln.
Oder Bambuskörbe flechten, Bananen schälen, Fische ausnehmen... ständig
schneide ich mir irgendwo in die Finger, meine Hände sehen fast schon genauso
aus wie meine Wüstenschuhe.
Ich soll mir neue Schuhe kaufen, meinen sie zu mir, sie selber laufen immer
in Gummistiefeln rum. Naja, aufpassen, sie könnten irgendwo kaputtgehen,
brauche ich bei meinen Wüstenschuhen (aus Stoff waren die einmal gewesen,
wie billige Turnschuhe) wirklich nicht mehr.
Essen in der Wildnis
Vorgestern gab's Papagei, auf mískito guára. Einer von den
ganz großen, rot-blau-gelben, die längste Schwanzfeder mißt
knapp 60 cm. Sie haben ihn von einigen Leuten, die den Fluß raufkamen,
getauscht. Oder besser gekauft, Währung in der Wildnis: Zigaretten. Papagei
schmeckt ganz lecker, bißchen ähnlich wie Geflügel, aber mehr
wild. Hartnäckig wollen sie wissen, warum in Deutschland die Leute keine
Papageien essen. Sie wissen, daß die lebenden Tiere für 200 US-$
nach Europa gehen. Die wissen wohl nicht, was gut ist.
Interessant ist auch, was wir alles für Säugetiere essen. Affe schmeckt
ein bißchen arg streng nach Affe, für mich ein eher unangenehmer
Geschmack. Aber wir können ja nicht den ganzen Fluß leerfischen.
Bei dem Ibíhina weiß ich dann beim besten Willen nicht die deutsche
Bezeichnung. Sieht aus wie eine Mischung zwischen Hase und Schwein, der Zumu
hat ihn mit Machete erlegt, nachdem er ihn aus dem Wald zum Fluß gejagt
hatte. Ibíhina hat gutes, zartes Fleisch.
Und auf einmal ist der Hund hellwach! Seinen Reis frißt er immer noch
nicht. Ich glaube, er tut langsam gut daran, sich mit den Fischgräten und
Schildkröteninnereien zu begnügen. Ganz so mager wie am Anfang ist
er nicht mehr. Am Anfang hätte er sich ja sein Fell auch noch sparen und
sein Skelett mit Stricken zusammenbinden können.
Die Schildkröten fängt der Zumu mit Taucherbrille, die haben wir öfter
mal zum Essen. Sind auch ganz lecker, nur an denen ist halt ein bißchen
wenig dran. Die Eier von den Schildkröten können sie an trockenen,
warmen sandigen Böschungen am Flußufer finden, wenn sie den Sand
mit einem Stab abtasten. Schmecken genauso wie Hühnereier.
We are the stars which sing
Hab ich Seppl doch wieder meinen Meßstab für die Sterne verlegt,
grade eben hatte ich ihn doch noch. Ich habe ja einen Verdacht, und dieser Verdacht
erhärtet sich, als am Morgen plötzlich auch der zweite Stab, den ich
mir schnell provisorisch gemacht habe, auch weg ist. Dann eben nicht. Ein bißchen
komisch sind sie ja schon. Mich interessiert jetzt, warum.
Der Zumu: "Was suchst du?"
"Ach, diesen Stab für die Sterne."
"Oh, ist der weg, wo hast du ihn denn zuletzt liegen lassen?"
"Ist ja egal, morgen werde ich ihn finden." Hm, vielleicht tue ich
ihnen ja Unrecht und ich habe ihn aufs Dach gelegt...
"Du mußt ihn nicht suchen", Primo, "hier, mach mal den
Reis sauber, das ist gescheiter."
Also war es wohl eine Einzelaktion von Primo, auf sowas kommt der Zumu nicht.
Primo tuschelt dem Zumu etwas zu, und auf einmal findet der Zumu Gefallen an
der Idee. Noch tagelang fängt er immer wieder damit an, "Wo ist denn
der Sternstab? Wo ist er denn?"
Primo: "Warum studierst du die Sterne, das bringt doch nichts."
"Wieso, das ist doch ganz interessant, es gibt Sterne und Planeten, du
kriegst nachts die Uhrzeit raus, und wo Norden ist, das kann doch mal ganz nützlich
sein."
"Nein, das ist nicht gut, was du machst. Die Sterne sind schlecht, die
Planeten auch, sáura."
"Warum sind die Planeten schlecht?" -
Warum soll gerade so ein absolut unbedeutender kleiner blaugrüner Planet
irgendwo in einem völlig aus der Mode gekommenen Ausläufer des westlichen
Spiralarms der Galaxis der einzig gute unter den ganzen Sternen und Planeten
sein?
"Die Planeten sind schlecht, da gibt es Kommunisten, Russen, die sind schlecht,
ja, check mal was, Kommunisten, sáura."
"Da lebt keiner auf den Planeten, auch keine Kommunisten. Aber dein Radio
ist schlecht, da senden die Sandinisten, Voz de Nicaragua, kommunistisch, sáura."
- Gerade hat er's wieder laufen.
"Das Radio ist nicht schlecht, das Radio ist gut."
"Aber Voz de Nicaragua ist schlecht."
"Voz de Nicaragua ist gut."
"Aber das ist doch sandinistisch!"
"Voz de Nicaragua ist gut."
Wer die versteht. Komischer Krieg. Voz de Nicaragua sendet mehr Musik als der
Contrasender.
"Und deine Sonnenuhr ist auch schlecht, der Holzstock gehört ins Feuer."
Ha, das hat sie wohl beeindruckt, daß ich ihnen so genau die Uhrzeit sagen
konnte. Vielleicht vermutet Primo irgendeinen Zauber dahinter.
"Wenn die Sonnenuhr schlecht ist, dann ist deine Armbanduhr auch schlecht,
die gehört auch ins Feuer.", die anderen lachen.
"Die Armbanduhr ist nicht schlecht, die kam 200,- Lempira, die gehört
nicht ins Feuer..."
Es gibt ja einige Spezialisten, die sich sehr schlecht nur in jemand reinversetzen
können, der die Sprache erst lernen muß. Primo ist einer von denen.
Er ist zweisprachig aufgewachsen, hat aber offenbar keine Ahnung davon, wie
es ist, eine Fremdsprache zu lernen. Er versteht es noch nicht einmal, einen
Satz auf mískito langsam zu wiederholen.
Mit dem Zumu kann ich mich besser unterhalten, obwohl der kein spanisch spricht.
Er versteht es, Sachen zu umschreiben. Oft geht es im Gespräch ja um irgendwelche
Tiere, und Primo ist immer völlig hilflos, wenn ich auch das spanische
Wort dafür nicht weiß. Nur dem Zumu fällt es sofort ein, das
Quaken eines Frosches zu imitieren (übrigens perfekt) oder einen Affen
nachzumachen.
Mit Nic klappt's am besten. Wenn ich's auf mískito nicht verstanden habe,
dann auf spanisch. Er kann auch gut einzelne Wörter erklären, scheint
auch sonst irgendwie einen besseren Durchblick zu haben. Es sei der Konflikt
zwischen den beiden Großmächten, der den Krieg in seinem Land verursache.
Er findet es genauso witzig wie ich, sich einen Gag aus den Parolen von Radio
Sandino zu machen, die sie täglich jede volle Stunde bringen. "Córdobas
nuevos, ¡éstos sí valen!" Wenn wir das paarmal am Tag
wiederholen, wird es irgendwann witzig, weil es klar ist, daß die neuen
Córdobas genauso wenig Wert sind wie die alten.
Als 3200 US-Soldaten ins Grenzgebiet geflogen werden (Jamastrán-Tal,
südlich von hier, genau da bin ich im Januar durchgekommen), sendet Nicaragua
Durchhalteparolen für die Bevölkerung - "Por una paz digna. ¡Patria
libre o morir!" - Freies Vaterland oder Sterben.
"Wir wollen alles tun, was möglich ist, um den Frieden zu erhalten...",
... Freiheit... Souveränität... Nein, die Gefahr, daß ein Krieg
ausbricht, besteht hier nicht. Hier ist Krieg, und das ist seine Sprache.
Aber Nic hat sich an den Krieg gewöhnt, er ist ja schon fast damit aufgewachsen.
Arg fremd fühlt er sich hier in der honduranischen Mosquitia auch nicht,
das ist wohl der Vorteil dabei, wenn die Indianer nicht gefragt werden, wenn
in Mittelamerika die Grenzen erfunden werden. Jedes System hat auch seine Vorteile...
Schnell ein kleines Liebeslied hinterher - Nic singt gern einmal ein Lied beim
Staken. "Nosotros mískitos somos contras" - wir Mískitos
sind Contras - so ist das halt, so ist das Leben. Nic bringt's trotzdem Spaß.
Indio ist mir von den 4 noch am dunkelsten geblieben, obwohl ich nun schon seit
2 Monaten sein Gast bin. Er spricht wenig, manchmal nur das nötigste, schaut
aber oft nachdenklich in die Gegend. Er kann stundenlang aus einem Fenster schauen.
Indio teilt das Essen aus. Und Kaffee mag er. Wenn die anderen ihre Witze machen,
lacht er nur manchmal auch mit. Bei ihm ist es oft schwer, und auf irgendeine
Weise auch immer völlig unwichtig, herauszufinden, ob er etwas falsch verstanden
hat oder nur so tut.
Einmal lacht er aus vollem Halse los: als er beim Aufgießen vergessen
hat, den Kaffeesatz in den Filter zu tun. Der Hund hatte ihn irritiert, der
aus der Tasse mit dem Zucker geschlappert hatte. Wenn er der Älteste ist,
heißt das nicht, daß er irgendwie weniger flink Flußkrebse
fangen kann als die anderen, und auch nicht, daß er weniger hart cayuco-hacken
kann als die anderen: er sucht sich von Anfang an das schwerste Stück des
Baumes aus - und kommt fast doppelt so schnell vorwärts wie jeder der 3
anderen. Und dabei fühlt er sich noch ein bißchen schwach, er ist
ein bißchen krank, das Aspirin-Zeug will auch nicht helfen.
Nach 3 Wochen ist das cayuco fertig. Jetzt hauen sie mit Machete einen Weg
durch den Wald, den Berg runter an den Fluß, und transportieren das Boot,
auf Baumstämmen rollend, zum Wasser. Am nächsten Tag packen wir alle
Sachen rein, hängen den anderen Einbaum hinten dran, und fahren flußabwärts.
Flußabwärts natürlich in der Mitte des Stromes, weil das da
am schnellsten geht. Etwa einen halben Tag, dann lassen wir das cayuco auf einer
Kiesbank, bei einem, der die Feinarbeiten vornehmen wird. Alle Kanten herausschleifen,
irgendwie imprägnieren und so.
Nic, Primo und der Zumu verabschieden sich in Pimienta, der Hund ist hier auch
wieder zuhause, und schließlich finde ich mich mit Indio allein, im kleinen
Einbaum, den Patuca heruntertreibend. Indio ist eingeschlafen, in der Mitte,
ich sitze hinten. Ich sehe, wo der Fluß in die Kurve geht, kommt das Boot
immer mehr ans Ufer, immer dichter ran, mist, das ist gefährlich, wir werden
gleich... ich nehme schnell das nächstbeste Paddel - und merke, oh, es
ist ja gar keine Gefahr, ich kann das ja, es sind ja nur ein paar wenige Schläge,
und wir sind wieder in der Strommitte. Fast hatte ich's vergessen, ich habe
ja das Einbaumfahren gelernt.
Abschied von Wampusirpi
3. Brief an Inga nach Hamburg
22. August 1988, Bogotá, Kolumbien.
(...)
Vor ein paar Tagen habe ich mich entschlossen, nachdem ich 3 Monate bei den
Mískitos gewesen bin und ihre Sprache gelernt habe, wieder weiterzuziehen.
Bettina, die Deutsche, die mit den Zumu-Indianern arbeitet, habe ich am Ende
auch noch kennengelernt, sie war ein paar Tage in Wampusirpi, auf der Durchreise.
Sie riet mir davon ab, die Pfade durch den Urwald nach Auasbila zu nehmen und
meinte, der Weg nach Mocorón, also direkt richtung nicaraguanische Grenze,
sei wesentlich besser zu gehen.
Also will ich lieber, ihrem Rat folgend, nach Mocorón gehen, etwa 50
km (Luftlinie). Von da sind es dann nochmal 50 km (Luftlinie) zur Grenze Nicaraguas.
Auasbila ist ein Ort, der noch weiter in den Bergen am Río Coco liegt.
An sich kein besonders interessanter Punkt, abgesehen von der Tatsache, daß
mir einige Leute aus Deutschland vielleicht an die dortige Adresse "postlagernd"
hingeschrieben haben. In einer alten Honduras-Karte war der Ort ganz groß
eingezeichnet, heute ist es wohl nur noch ein kleiner Militär-Stützpunkt
mit wenigen Häusern, hat wahrscheinlich gar kein Postamt. Das habe ich
erst hinterher erfahren.
"Nach Mocorón kannst du nicht zu Fuß gehen, das geht nicht,
du kennst den Weg nicht", meinen Humberto und die anderen.
Ich soll das Flugzeug nehmen. Heute nachmittag soll eins kommen, die fliegen
immer zwischen Mocorón und Wampusirpi hin und her. Isábel, die
einen kleinen Laden hat und mir ein Paar schwarze Schuhe (leider 2 Nummern zu
klein) gegeben hat, gibt mir sogar 30,- Lempira, für den Flug.
Na gut, ich warte an der Startbahn. Einen Tag. Der Pilot von World Relief (Flüchtlingsorganisation)
sagt, er darf mich nicht mitnehmen. Die Verkehrslawine der modernen Zivilisation
kennen diese Indiander hier nur in Form von Flugzeugen. Autos gibt es hier am
Patuca nicht, die Kinder kennen zwar Spielzeugautos, viele wissen aber nicht
sicher zu sagen, wie rum die fahren.
Noch ein Tag, noch eine Maschine, die ist aber voll, eine andere fliegt nach
Puerto Lempira, nicht nach Mocorón.
"Morgen gehe ich zu Fuß los, nach Mocorón."
"Nein, wie willst du den Weg finden, du verläufst dich. Warte auf
das Flugzeug, morgen kommt eins."
Ich habe meinen Respekt vor diesen Indianern verloren, denn die, die mich vor
dem Weg warnen, sind ihn selber noch nie gegangen. Bettina ja, und Bettina hatte
mir geraten, diesen Weg zu nehmen. Also nehm ich ihn auch.
Na okay, auch sie meinte, der Pfad sei nicht ganz einfach, und es könne
sehr gefährlich werden, wenn du alleine gehst, dich verläufst und
dir das Wasser ausgeht. Es gebe nur wenige versteckte Wasserstellen im Llano.
Bettina hatte mir auch genau gesagt, was ich in Mocorón alles tun soll:
Zuerst soll ich zur Comandancia gehen und die fragen, ob mich jemand zum 5.
Batallón mitnehmen kann. Das ist eine ziemlich große Kaserne, etwas
außerhalb vom Ort. Dort muß ich dann fragen, ob ich mit dem Coronel
Sánchez oder Pinieda, welcher gerade da ist, sprechen kann. Und der soll
mir dann ein Papier ausschreiben, mit dem ich dann an die nicaraguanische Grenze
trampen kann. Und ich soll ihn von ihr grüßen.
Inzwischen habe ich mein Visum in Honduras natürlich schon über 3
Monate überzogen, das darf ich denen natürlich nicht sagen. Und wie
ich ohne Visum nach Nicaragua reinkomm, konnte sie mir auch nicht verraten.
Aber das sei eh egal, weil das, was ich vorhab, von Haus aus illegal sei, weil
Ausländer auch mit Visum nicht in die nicaraguanische Mosquitia dürfen.
Sie hatte das einmal versucht, die hätten ihr aber nichts als lauter Schwierigkeiten
gemacht damit. Mußte sie 1000 Formulare ausfüllen und hinterher durfte
sie doch nicht rein.
Ich scheine irgendwie nach Südamerika zu wollen. Nicaragua scheint ziemlich
verschlossen zu sein. Aber vielleicht schaffe ich es, nach Nicaragua reinzukommen.
Von da müßte ich dann nach Costa Rica weiter. Vielleicht illegal
oder sowas.
Aber noch bin ich in Wampusirpi und muß erst einmal von hier weg. Das
ist nicht immer selbstverständlich, daß die Militärs einen auch
zu Fuß gehen lassen. Also muß ich mich von den Militärs hier
verabschieden, das hört sich dann so an:
"Hallo Amigos, also ich geh wieder, morgen will ich losgehn, nach Mocorón,
ich will dort zum 5. Batallón und mit dem Coronel Pinieda sprechen. Ob
Sie mir da 'ne Erlaubnis geben können, daß ich nach Mocorón
gehen kann?"
"Du willst gehn? Wie lange warst du jetzt hier?"
"3 Monate in Wampusirpi", geb ich ihnen einen kleinen Zettel mit meinem
Namen und ein paar Daten drauf.
"Jaja, kein Problem mit der Erlaubnis, hier geht der Weg lang, hier rum
und dann immer gradeaus."
"Nein, ich werde lieber morgen früh gehen, ich habe Gepäck und
der Weg ist weit."
"Ja, alles Gute dann, kai ke was !"
So, die erste Hürde ist genommen.
Der Weg über den Llano,
Wampusirpi - Sixatingni
Am nächsten Morgen, um 8 (zu spät eigentlich) gehe ich los. Einer
begleitet mich noch eine halbe Stunde, einer von denen, die am Nachmittag immer
mit Volleyball gespielt hatten.
Danach gehe ich allein, mit Rucksack, Schlafsack und Wüstenschuhen. Nein
- Lüge - die sind ja im Rucksack, ich hab die schwarzen Schuhe an, die
2 Nummern zu klein sind. Aber der Pfad ist gut. Nach einer Stunde zweigt der
Pfad nach Auas ab, genau wie mir der Typ es beschrieben hatte, da muß
ich rechts, und dann immer geradeaus. Erst noch paar Hügel, aber dann über
viele Kilometer unbewohntes, flaches Grasland mit paar Kiefern, das ist der
Llano.
Feuer! Der Llano brennt, stellenweise. Das trockene Gras brennt, das ist aber
nicht gefährlich. Es ist schon seit ein paar Monaten Trockenzeit, und wenn
die Sonne auf meinen Kopf brennt, ist es ganz schön heiß. Die Kiefern
stehen nur vereinzelt rum und werfen nur wenig Schatten. Zum Glück weht
ein bißchen Wind.
Wo das Gras verbrannt und alles schwarz ist, ist es am heißesten. Wieder
ein paar Hügel... Vegetation... der Pfad geht zu einer Stelle mit Schilf
und - Wasser! Ein kleiner Bach, und fließt. Ich schlapper soviel wie möglich
Wasser in mich rein, fülle mir meine 0,5-Liter-Wasserflasche nochmal ganz
auf und mache T-Shirt und Hose naß. Dann sehe mir die Wasserstelle nochmal
genau von der anderen Seite an, und gehe weiter.
Das mit dem Wassertrinken war richtig: es war die letzte Wasserstelle für
viele Stunden. Ich gehe über Flachland, abgebranntes oder noch brennendes
Gras, immer weniger Kiefern, immer mehr Hitze vom Feuer und von der senkrecht
stehenden Sonne. T-Shirt und Hose sind sofort wieder trocken. In Wampusirpi
war es nie so heiß. Ich habe die Hitze unterschätzt.
Und Blasen an den Füßen, anders konnte es ja nicht kommen. Der Pfad
ist gut, nur leider zu heiß zum barfuß-gehen. Er ist wirklich brennend
heiß. Die Feuer entzünden sich von selber im Llano, so heiß
ist das hier.
Am Nachmittag verzweigt sich der Pfad ein paarmal, da muß ich höllisch
aufpassen. Ich soll bloß nie nach Süden gehen, immer nach Osten.
Mein Wasser wird langsam weniger. Ich habe keinen Kompaß und keine Uhr,
aber zum Glück ist es hier so, daß die Sonne auch schon am frühen
Nachmittag ziemlich genau im Osten steht.
Der Weg geht genau in Richtung der Schatten der sich langsam senkenden Sonne,
das gefällt mir sehr gut. Die Sonne scheint mir dann immer mehr in den
Nacken. Das macht noch mehr Durst als die senkrechte Sonne.
Noch eine Pause unter ein paar Kiefern. Die Blasen an den Füßen sind
aufgegangen und fangen an, wehzutun. Passende Schuhe hatten sie leider nicht,
es waren die größten, die sie hatten. Das Wasser ist auch leer.
Uhrzeit messen: Der Schatten ist noch nicht ganz so lang wie das Stöckchen,
also ist es noch kurz vor 3. Um 3 Uhr steht die Sonne hier um diese Jahreszeit
genau auf 45°, dann sind alle Schatten gleich lang wie die Sachen. 3 Stunden
also noch bis zur Dunkelheit. Und ich habe kein Wasser mehr.
Wieder weiter, und jedesmal zieht es jetzt mehr rein in die Füße.
Morgen werde ich mit den alten, kaputten Wüstenschuhen gehen, gut daß
ich die noch eingepackt habe.
Nach einer halben Stunde Laufen läßt der Schmerz langsam nach. Ich
komme zu ein paar mehr Kiefern, die wieder besseren Schatten geben. So ist es
nicht mehr ganz so heiß. Die Erde scheint irgendwie feuchter zu sein,
denn das brennende Land habe ich hinter mir, hier wächst wieder Gras, neben
dem Weg.
Sogar kleine Büsche hat es jetzt, ich könnte barfuß laufen,
aber das wäre sehr riskant wegen Schlangen. Im Llano soll die barba amarilla
vorkommen, die giftiger als die Schwarze Mamba sei... es soll sogar einige Leute
geben, die den Biß schon überlebt haben. Ich gehe an den unübersichtlichen
Stellen lieber langsamer und trampel extra fest auf dem Pfad auf, damit die
Schlangen nicht überrascht werden. Einen Stock zum Schlangen-abwehren habe
ich in der Hand.
Das Gras wird immer dichter und höher, wächst jetzt auch schon auf
dem Weg selber... immer mehr Vegetation... da, da vorne, ein Haus! Noch eins,
da auch Häuser, das muß Sixatingni sein, das liegt auf halber Strecke.
Und es ist Sixatingni, ich war gut, ich habe den Weg auf anhieb gefunden.
"Naxa - äh - sprecht ihr mískito?"
"Ja -"
"Habt ihr Wasser?"
Klar haben sie Wasser, drei ganze Schüsseln trinke ich leer, bin ich froh,
endlich Wasser. Die Leute sind freundlich, bieten mir etwas zum essen an, wir
gehen baden im Fluß.
Es sind alles Flüchtlinge in Sixatingni. Eine Familie ist aber vor ein
paar Tagen nach Nicaragua zurückgekehrt, und so steht ihr Haus leer, da
kann ich drin schlafen. Auch hier alles Holzhäuser auf Pfählen. Am
Abend ist Kirche, sie laden mich ein (Moravische Kirche) und ich soll ihnen
was aus der Bibel vorlesen. Na, dann mach ich das mal. Etwas aus Paulus' Reiseabenteuern...
Durch den Urwald,
Sixatingni - Mocorón
In der Kirche hatte sich das ergeben, daß ich am nächsten Morgen
mit einem anderen Indianer zusammen durch den Urwald nach Mocorón gehen
kann. In Wüstenschuhen, die ich mit Bast zusammengeflickt habe. Die Wüstenschuhe
drücken nicht an denselben Stellen wie die schwarzen Schuhe, von daher
machen mir die Blasen von gestern wenig aus. Dafür reiben die Bastbinden
ganz fies und bald habe ich eine Reihe neuer Blasen, die auch alle aufgehen.
Solange ich laufe, tut das allerdings nicht weh. Nur nach Pausen.
Der Weg durch den Urwald ist schön schattig, aber wegen überall den
ganzen Wurzeln und den steilen Stellen total schwierig zu laufen. Der Typ ist
um ein Drittel schneller als ich. Wir holen eine Familie ein, die laufen zum
Glück langsamer.
Am Nachmittag sind wir in Mocorón am Fluß, erstmal ein Bad, das
tut gut. Oh, meine Füße. Daß die überhaupt noch dran sind.
Ich gehe in den Ort, barfuß.
Also zur Comandancia. Wieder die Sache mit den Papieren, inzwischen habe ich
da Routine, das mit dem überzogenen Visum checkt wieder keiner. Ich kann
sogar in der Comandancia schlafen, im Armeebett, 1 A, mit Mosquitonetz. Bettina
hatte mir abgeraten, etwas auf dem Visumszettel zu fälschen, weil mehr
als 4 Wochen in Honduras gar nicht vergeben würden. Fälschen sei gefährlicher
als Nichts-wissen.
In der Kaserne vom 5. Batallón
Am nächsten Tag hinten drauf auf einem Lkw der Militärs rausfahren,
5 km, zur Kaserne vom 5. Batallón. Eine ganz schön große Anlage
ist das. Hoffentlich merken die das mit dem Visum nicht, da gehe ich jetzt sozusagen
in die Höhle des Löwen. Das ist ganz schön riskant, was ich da
mache. Aber ich habe keine andere Chance.
Barfuß kann ich nicht vor dem Militär-Boß erscheinen, also
habe ich die schwarzen Schuhe an, die ziehn höllisch rein, aber ich muß
es als eine Art Investition betrachten. Ich muß vorsichtig sein, und ich
muß gut sein. Jetzt kommt's drauf an.
Der Lkw fährt nicht in die Kaserne rein, sondern setzt mich beim Posten
davor ab. Name, Papiere, Visum, was willst du.
"Ich will mit dem Coronel Pinieda sprechen."
"Der ist nicht da."
"Und der Coronel Sánchez?"
"Der ja." ( - püh, Schwein gehabt...)
Ruft er an, gibt bescheid.
"Und warum willst du den sprechen?"
"Ja, ich schreibe ein Buch und muß hier in der Mosquitia einige Recherchen
machen, da brauch ich eine Erlaubnis vom Coronel Sánchez." - Scheint
wohl sein Chef zu sein.
"Aha. Und wie heißt das Buch?"
"América a pie." - Amerika zu Fuß, was blöderes
ist mir in der Sekunde nicht eingefallen.
"Bueno, ist in Ordnung, da längs die Straße, kannst du nicht
verfehlen." - ach so, ich soll zu Fuß zur Kaserne gehn.
Ouh mann, zieht das jetzt rein, die schwarzen Schuhe. Ich kann aber nicht langsam
gehen, weil das verdächtig wär, weil er mich genau beobachtet, wie
ich die Piste entlang zur Kaserne laufe. Ich komme am Batallón an, da
wissen die schon bescheid, ich soll ein bißchen warten bis der Coronel
Sánchez kommt.
Der kommt dann auch, im dicken Jeep. Ein Soldat soll ihm erklären, was
los ist.
"Guten Morgen, mein Coronel! Melde gehorsamst: ... (usw.)", ich muß
aufpassen, daß ich mir keine reinlach. Das kann leicht passieren bei denen,
die die Armee nur aus gewissen Comics kennen.
Er will von mir wissen, was ich genau will. Erstmal grüße ich ihn
von Bettina. Dann frage ich ihn, ob er mir eine Erlaubnis nach Auasbila geben
kann, damit ich dort über die Grenze nach Nicaragua gehen kann. Er ist
ganz nett, meint aber, nach Auasbila kann er mir keine Erlaubnis geben, das
sei zu gefährlich.
"Nein, über Leimus ("Leymus") mußt du, ab da geht
die Straße nach Puerto Cabezas ab, in Leimus ist der Grenzübergang."
"Sicher, wenn Sie das sagen, nur da ist eine Sache, warum ich nach Auasbila
möchte: ich habe eventuell Post in Auasbila am Postamt."
"Na, wenn's weiter nichts ist...", da können sie doch schnell
über Funk nachfragen.
Er gibt ein paar Anweisungen an die Soldaten.
"Jawoll, mein Coronel! Alles verstanden, mein Coronel! Wird sofort erledigt!",
fährt er wieder ab.
Einen Augenblick bleiben sie noch stramm stehen, dann, als der Jeep um die Ecke
ist, der eine zum anderen:
"Also, was hat er jetzt gesagt - Erlaubnis bis Leimus ausschreiben, 3 Tage
Geltungsdauer, soll der und der unterschreiben -"
"Ja, und in welcher Funktion, daß er als Tourist unterwegs ist, soll
auch rein -"
"War das jetzt alles?"
"Ja, ich glaube."
Gut, gehen wir zum Haupthaus, alles Beton, aber ganz sauber angemalt in Tarnfarben.
Auf dem Platz davor robben sie dann auch ganz fleißig über'n Rasen.
Das sind die honduranischen Militärs, die haben nichts anderes zu tun.
Die haben am wenigsten zu tun hier in diesem Krieg, die müssen nur einfach
dasein, viele sein und teuer sein. Geld kommt aus den USA, das ist leicht zu
sehen. Kämpfen tun nur die nicaraguanischen: die Sandinisten und die Contras.
Am Río Coco soll ein Contra-Lager neben dem anderen sein.
Den Zettel vom Coronel Sánchez habe ich schon in der Hand, DIN A 4, mit
Briefkopf, Stempel und Unterschrift, wie sich das gehört, jetzt müssen
wir noch auf den Funkspruch aus Auasbila warten. Den Zettel soll ich auf keinen
Fall mit nach Nicaragua reinnehmen, sondern ich soll ihn in Leimus, auf der
honduranischen Seite von Leimus, also bevor ich über den Fluß gehe,
den honduranischen Militärs wieder zurückgeben. Der Funkspruch kommt
- keine Post für mich in Auasbila. Na, dann halt nicht. Okay, dankeschön
nochmal, tschüß.
Der erste Abend am
Posten vor Leimus
Paar Militärs nehmen mich mit bis in die Nähe von Leimus, sie selber
fahren nach Auasbila. Sie setzen mich an einem Posten etwa 20 km davor ab, an
einem Militärposten an der Straße. Es ist hier alles Llano, also
Grasland mit Kiefernbeständen dazwischen. 4 Soldaten sind am Posten. Ich
soll nicht so losgehen, sondern warten, bis die Flüchtlingstransporte von
der UNO durchkommen, und mit denen nach Leimus fahren.
Spät, aber sie kommen. Paar Kieslaster, bis oben voll mit Flüchtlingen,
davor fährt der dicke klimatisierte Land-Rover-Jeep mit den Funktionären.
Der Verantwortliche wundert sich.
"Du willst in Leimus über die Grenze? Das ist doch kein Grenzübergang
für Touristen! Zeig mir mal deinen Paß." - er ist Ausländer,
hat irgendeinen Akzent, französischen, oder italienischen. - "Du hast
ja nur ein Transit-Visum, 4 Tage, das ist am 17. Januar abgelaufen!"
Ich solle zuerst nach Puerto Lempira zur Migración (Grenzbehörde)
und das regeln, so könne er mich nicht mitnehmen. Scheiße.
Puerto Lempira liegt vielleicht 150 oder 200 km nördlich von hier, da gibt
es auch eine Straße hin. Es ist ganz gut organisiert hier mit dem Trampen:
die wenigen Autos, die durchkommen, müssen immer bei den Posten anhalten,
und so trampen die Leute hier immer von Posten zu Posten. So ein Posten ist
eine ganz praktische Einrichtung.
Es wird später, am Ende warten hier 12 Leute am Posten, einige wollen nach
Puerto Lempira, andere nach Mocorón. Einer meint, in Mocorón sei
auch ein Büro von der Migración, und Mocorón ist näher,
nur 50 km.
Tramp auf dem Flüchtlings-Lkw
zurück nach Mocorón
Schon lange dunkel, es kommen wieder Kieslaster, auch voll mit Flüchtlingen,
diese hier wollen wohl nach Mocorón. Die Leute, die mit mir warten, wissen,
daß ich auch dahin will:
"Hopp, schnell, spring dahinten auf, mach schon, die fahren nach Mocorón!
Schnell, die warten nicht lange!"
Was, nach Mocorón - ja okay, Schlafsack rauf, Rucksack schmeißen
sie in die Flüchtlinge, meine Schuhe auch, einzeln, ich selber hangel mich
hinten am Kieslaster hoch, der wirklich voll ist mit Flüchtlingen, es ist
gar kein Platz mehr im Laderaum selber, nicht mal die Beine passen rein, ich
kann mich gerade noch auf die Eck-Kante setzen, da fährt er schon los -
ahh! - beinah hätte ich das Gleichgewicht verloren und wär wieder
runtergefallen.
Folgt der schlimmste und gefährlichste Tramp, den ich jemals erlebt habe.
Mein 169. Tramp auf dem amerikanischen Kontinent.
Mit beiden Händen halte ich mich, auf der Hinterkante des Lasters sitzend,
krampfhaft fest, es ist die Hölle, denn auf der hinteren Kante verstärkt
sich ja jedes Schlagloch um das Dreifache. Es ist fast nicht möglich, sich
dahinten zu halten. Volle Konzentration, ich darf die Hand keine Sekunde lockerlassen,
mist, die Hand kommt ins schwitzen... es wird feucht, ich rutsche ein paarmal
fast vom Lack ab - und kippe nochmal fast hinten über. Bei voller Geschwindigkeit.
Zum Glück habe ich in der Hose ein Taschentuch, also jetzt die rechte Hand
mit Taschentuch, und der Laster rast durch die Nacht. Über die Schotterpiste,
ein Schlagloch nach dem anderen.
Ich kann bald nicht mehr, meine linke Hand will nicht mehr mitmachen, verdammte
Scheiße, ich kann mich nur noch mit der rechten Hand festhalten. Mit der
linken krall ich mich so fest, daß ich nach ein paar weiteren Schlaglöchern
Einschnitte vom Stahl in den Fingern habe. Hand! Hand! Noch ein Schlagloch,
noch eins, wieder kurz an der Hose abwischen, kurz schütteln, wieder festkrallen,
Sache von Sekundenbruchteilen.
Ich merke, wie die linke Hand immer weniger wird, ich habe kaum noch Gefühl
dadrin, kann mich nicht mehr auf sie verlassen. Ein Wunder, daß die rechte
Hand, die mit dem Taschentuch, noch so gut hält. Aber jetzt merke ich,
mist, die wird auch schwächer. Wieviele Schlaglöcher halte ich noch
aus? 10, rechne ich mir aus, dann werde ich abrutschen, und ich habe beide Beine
außerhalb des Lasters. Hin und wieder kommen ruhigere Strecken, dann aber
wieder härtere, wieder mit Schlaglöchern, 10 werde ich noch aushalten,
scheiße, neun, scheiße, acht... nein, es geht wirklich nicht mehr...
wieder etwas ruhigere Strecke -
"Ich kann nicht mehr", meine ich zu der Frau direkt neben mir, und
sie schaffen es irgendwie, soviel Platz zu machen, daß ich ein Bein drinnen
deponieren kann.
Jetzt kann ich meine Hände abwechseln, da das Bein auch noch hält,
und langsam kommen die Hände wieder. Bin ich froh, als wir spätnachts
endlich in Mocorón ankommen - also nun auch an den Händen, lauter
offene Blasen. Ich bin fertig, gehe zur Comandancia, falle ins Bett. Ich habe
sogar meine schwarzen Schuhe wieder bekommen, die die Leute am Posten vor Leimus
einfach mitten in die Flüchtlinge auf den fast schon fahrenden Lkw geworfen
hatten.
Bei der Grenzbehörde
in Mocorón
Am nächsten Morgen also erstmal zum Häuschen der Migración
und "das regeln", jetzt wird's spannend. Das Visum ist um 3½
Monate überzogen, für einen Tag kann man mit 50 $ Strafe rechnen,
und wer keine Dollar hat, kommt in' Knast, und in Honduras stell ich mir das
nicht so toll vor. Das kann mir also hier blühen.
Ein Typ ist im Häuschen, weiß wohl schon bescheid von dem von der
UNO, will also meine Papiere sehen. Ich zeige sie ihm, wie immer, alle documentos,
nicht nur Paß und Visum, sondern auch die Zettel vom Reisebüro in
Hamburg, die Landkarten von Südamerika, weil sie so schön sind, und
den Zettel vom Coronel Sánchez.
"Tja, du hast dein Visum überzogen, fast 4 Monate, das weißt
du wohl."
Daß ich dumm bin und das nicht gewußt habe, scheint er mir wohl
nicht abzunehmen, so sieht er nicht aus. Was soll ich denn da jetzt noch sagen?
Er tut so, als wär ich dran, jetzt irgendwas zu sagen.
"Können Sie mir da jetzt keinen Ausreisestempel geben?"
Schüttelt den Kopf, gibt mir meinen Paß zurück. Anscheinend
bin ich wieder dran, was zu sagen. Jetzt weiß ich aber fast gar nichts
mehr, was ich noch sagen könnte... ach so, ich muß ja den Dummen
spielen:
"Ja. Kann ich jetzt nach Leimus zur Grenze?"
Das war eine sehr dumme Frage, das weiß ich auch selber.
Zu meiner absoluten Überaschung befinde ich mich eine Minute später
wieder auf der Straße, und zwar frei, denn er kommt mit folgender Antwort:
"Ja, mit diesem Papier vom 5. Batallón kannst du natürlich
nach Leimus."
"Nach Nicaragua?"
"Ja, mit diesem Papier ja." - Das gibt's doch wohl nicht.
"Ja dann, danke, adiós."
Das gibt's doch wohl nicht! Diese Militärs! Dieser Coronel Sánchez!
Mann, das ist ja geil, jetzt weiß ich endlich, wozu die Militärs
in solchen Ländern nützlich sind!
Also gut, ich habe noch 2 Tage Zeit, wieder nach Leimus zu kommen. Ich warte
in Mocorón in der "Einkaufstraße" auf den Bus zum Posten
vor Leimus.
Hier sind die Fußböden der Holzhäuser etwas niedriger, stehen
aber auch auf Pfählen. Bei den anderen Häusern sind die Fußböden
oft über einen Meter über der Erde. Früher, als sie noch keine
Holzbretter kannten, haben sie die Häuser aus einer Art Bambus gemacht.
Und statt Wellblechdächern hatten sie Palmwedel von einer bestimmten Palmenart...
Blondes Mädchen kommt auf mich zu... - Bettina!
"Hey, Bettina! Was machst du denn hier! Weißt du, daß mir dein
Coronel Sánchez eben 'ne ganze Menge Probleme mit der Migración
erspart hat?!"
Findet sie gut, lädt mich zum Frühstück zu sich ins Hotel ein,
sie ist nur zufällig ein paar Tage hier in Mocorón. Kellogg's Cornflakes,
Yuca und gekochte Bananen... und deutsch... manchmal fühlt man sich doch
einfach nur gut...
"Wie sehen denn deine Hände aus?"
"Meine Hände? Wieso... - oh, verdammt, die hatte ich vergessen. Die
sehen ja genauso aus wie meine Füße..."
Das sei überhaupt nicht spaßig hier in den Tropen, meint sie, weil
sich hier sofort alles infiziert. Das sei hier im Llano nicht anders als im
Urwald.
Auch die Krankenschwestern in der Klinik sind Mískitos, es ist sehr gut,
daß ich die Sprache spreche. Sie behandeln meine Wunden mit irgendso'm
ganz fiesen Zeugs, das desinfiziert auf der Stelle, das brauch ich sie nicht
zu fragen. "Für die Zukunft" geben sie mir violeta (Kaliumpermanganat),
Watte und so'n oranges Jod-Zeugs mit. Es sind 9 offene Blasen an den Füßen,
und 4 an den Händen, jetzt alle schön lila angemalt. 3 oder 4 waren
schon infiziert.
Der Weg durch die Nacht,
Posten vor Leimus - Pransa
Um 5 Uhr abends bin ich wieder am Posten vor Leimus, hallo Jungs, nachkismá,
wie geht's, ich muß doch wieder nach Leimus, wie gestern. Sie raten mir
ab, nach Leimus zu Fuß zu gehen. Einer sei die Strecke mal abgegangen
und wär 5 Stunden gelaufen, aber ohne Rucksack und Schlafsack. Außerdem
seien an der Straße 2 Contralager.
"Nachts ist es gefährlich, da langzugehen."
Nach Pransa, das ist auch ein Ort, der am Río Coco liegt, ginge ein Pfad.
Der Río Coco ist die Grenze zu Nicaragua.
"Pransa ist nur 2 Stunden von hier, wenn du diesen Pfad langgehen willst.
Und morgen kommst du mit dem Boot den Fluß runter nach Leimus, das ist
kein Problem."
Also soll ich den unbekannten Weg nach Pransa gehen, und zwar alleine. Na gut,
wenn die das sagen. Einen neuen Weg zu gehen, bringt nie einen Nachteil.
Einer zeigt mir, wo der Indianerpfad abgeht, beschreibt ihn mir ein bißchen,
und ich gehe wieder alleine über den Llano. Drei andere waren 10 Minuten
vor mir losgegangen, wollten auch nach Pransa, aber die werden wesentlich schneller
sein als ich. Erstens bin ich barfuß, und zweitens kennen sie den Weg.
Eine Straße würde irgendwann kommen, meinte der Soldat, da müßte
ich links. Schon nach 500 m kommt eine Straße, aber die Fußspuren
der anderen gehen nach rechts, keine geht nach links. Was mach ich jetzt? Ich
geh den Spuren nach - also nach rechts. Und nach weiteren 100 m folgen sie wieder
einem Pfad, der rechts abgeht. Und ich auch.
Die Dämmerung ist kurz, und schnell ist es dunkel. Bei Dunkelheit kann
ich die Unebenheiten auf dem Weg nicht mehr sehen, das ist gefährlich beim
barfuß-laufen. Ich mache eine kleine Pause, ziehe die schwarzen Schuhe
wieder an, trinke noch ein bißchen Wasser und mache mich auf den Weg in
die Dunkelheit. Leider ist kein Mond.
Das ist hier die Stelle, um die hiesigen Pfade zu loben: die sind so gut ausgetreten,
daß du auch bei stockdunkler Nacht auf dem Weg bleibst. Vom büscheligen
Gras auf beiden Seiten des Fußpfades wirst du immer wieder auf den richtigen
Weg gezwungen.
Es geht immer besser, viel besser, als ich vermuten würde. Und nach einiger
Zeit spüre ich auch meine ganzen Blasen an den Füßen nicht mehr.
Verdammt, ist der Pfad gut. Stockdunkel ist es allerdings auch nicht: die Venus
scheint recht hell. Ja, die Bäume werfen sogar einen Schatten von der Venus.
Wo steht die Venus eigentlich, im Osten oder im Westen? Sie müßte
im Westen stehen.
Irgendwie geht der Weg in die falsche Richtung. Er geht nach Südost und
müßte doch nach West - nach Nordwest... Südwest... Südnord...
nein, er geht nach Süd und müßte doch nach Westsüd-Nord,
nee, doch Nord, nee... die Venus steht im Westen und ich geh nach... nach...
nochmal. Die Venus - halt, still, was ist das?
Geräusche! Keine Lichter, wieder lauter Bäume vor mir. Scheiße,
das darf ich nicht machen, meine Gedanken über die Venus laut anstellen,
hier ist Kriegsgebiet, mann. Das könnten Contras sein. Stehenbleiben, genau
umschauen.
Doch, dahinten sind Lichter, dahinten, 2 Hügel weiter. Warum hab ich das
nicht vorher gesehn? Es ist ein Feuer. Vielleicht ein Lagerfeuer von den Contras.
Ja, ein Feuer am Berg, das ist genau zu sehen. Etwa 2 oder 3 km von hier. Ob
da Leute sind, kann ich aber leider nicht erkennen. Zum Glück geht der
Pfad woanders hin.
Ganz vorsichtig geh ich weiter. Die Geräusche sind näher, wie klappern
von Metall oder sowas... die Bäume werden dichter, der Pfad geht bergab,
durch Gebüsch - knack! Mist, auf'n morschen Ast getreten. Stehenbleiben,
ruhig, so laut war das nicht, hat bestimmt keiner gehört, cool bleiben,
genau den Geräuschen zuhören. Die Geräusche sind lauter. Sandboden
ist hier, komisch. Ich schleich mich leise weiter. Was sind das für Geräusche?
Leise, langsam weiter, weiter... noch ein Busch... - oh.
Ein Bach. Das Ufer an der anderen Seite ist 4-5 m hoch. Oder ist es eine Straße?
- Nee, is'n Bach. Oder ein Fluß. Daher wohl auch die Geräusche. Ich
gehe ganz vorsichtig die Böschung runter, es könnte ja der Río
Coco sein, und auf der anderen Seite Nicaragua. Verlaufen hab ich mich bestimmt.
Aber sollte der Río Coco in der Trockenzeit wirklich so klein sein?
Ahh, sehr verdächtig, der Bach fließt nach rechts. Der Río
Coco müßte auf alle Fälle nach links fließen, weil er
in die Karibik mündet. Erstmal Pause machen, Wasser trinken, auf die andere
Seite, sogar ohne nasse Füße. Wo geht eigentlich der Weg weiter?
Rucksack und Schlafsack an einen Baum. Tarnen, falls welche kommen, und jetzt
erstmal nachschaun, ob die Geräusche tatsächlich vom Bach kommen -
ja, korrekt. Scheiße, hier ist kein Weg.
Jaja, das habt ihr euch jetzt gedacht, daß ich den Weg verloren hab...
15 Minuten dauert's, aber dann hab ich ihn, ganz versteckt, hinter Büschen.
Hätten ruhig'n Hinweisschild hinstellen können.
Und außerdem ist es der richtige Pfad, weil er nach einer halben Stunde
endlich in die Straße mündet, die ich links langgehen sollte. Und
die Feuer in den Hügeln sind auch keine Lagerfeuer von Contras, sondern
wie zwischen Wampusirpi und Sixatingni einfache Steppenfeuer im Llano, die sich
tagsüber von selber entzünden.
Bei den Soldaten in Pransa
"Ja, die entzünden sich selber", meinen die Militärs
in Pransa, die sich ganz schön wundern, daß ich bei dieser Dunkelheit
noch den Weg gefunden habe. Betrunken sind sie.
In der zerbombten Kirche ist noch ein Holzbett. Die Soldaten sind wirklich ganz
schön blau, aber sie haben zum Glück Respekt vor der Unterschrift
von ihrem Chef auf meinem Zettel.
In der Nacht fängt es einmal voll an zu regnen, es trommelt wie wild auf
das Wellblechdach. Nicht lange. Aber die Regenzeit wird nicht mehr lange auf
sich warten lassen.
Morgens scheint wieder die Sonne. Es gibt Frühstück... bißchen
sich mit den Soldaten unterhalten, auf das Boot nach Leimus warten.
KRACH !! - Ein Schuß, von hinter den Bäumen, ich erschreck mich voll.
Die Soldaten hören dem Nachhall zu... - "ja, waren unsere", urteilen
sie fachgerecht, und unterhalten sich cool weiter.
"Passiert das öfters?", frage ich sie.
"Jaja, das machen die immer."
"Drüben in Nicaragua auch, auf der anderen Seite vom Fluß?"
"Ja, die auch.", sie lächeln ein bißchen.
"Und im Fluß, kann man da schwimmen?"
"Ja, klar, logisch."
"Und auf die andere Seite?"
"'darf sich halt nicht erwischen lassen -"
"- vom eigenen Chef!", meint lachend ein anderer. Das will ich jetzt
genau wissen.
"Seid ihr denn schon mal rübergeschwommen?"
"Ist 'ne Woche her...", scheint wohl so 'ne Art Mutprobe zu sein.
Kommt ein anderer: "mach schnell, die warten schon, am Ufer."
Bootsfahrt auf dem Río Coco,
von Pransa nach Leimus
Also schnell hin. 4 Indianer im Einbaum, sie nehmen mich mit. Fahren den
Fluß runter, paar Stunden sind das. Ganz schön heiß wird es
am Mittag. Natürlich kreuzt das Boot ständig die Flußmitte,
Respekt vor der Grenze zeigen sie überhaupt nicht. Wieso auch, auf beiden
Seiten leben Mískito-Indianer. Der Fluß ist vielleicht 30-50 m
breit.
Sie interessiert es natürlich, wo ich herkomme und wo ich mískito
gelernt habe, auch, wie es in Wampusirpi aussieht, und so vergeht die Zeit schnell.
Einmal, wir sind gerade wieder in Nicaragua, halten sie am Ufer an und winken
eine Frau herunter, die gerade in einem Melonenbeet dabei ist. Kurzes Gespräch,
wo kommt ihr gerade her, fragt sie.
"Wir kommen von recht weit oben."
"Und der míriki, was macht der hier?"
"Der ist von Pransa -"
"Der spricht nur spanisch, bestimmt, oder noch 'ne andere Sprache...?"
"Nein, der spricht gut mískito - erzähl ihr doch, wo du grad
herkommst, Francisco."
"Naja, ich hab 3 Monate in Wampusirpi am Patuca gewohnt und will jetzt
nach..." - das Gesicht dieser Frau, es gibt Sachen, die sind einfach nicht
bezahlbar.
Und gleich noch eine Runde Melonen, und noch eine, ich kann nicht mehr... aber
es geht solange, bis wir voll sind. Auf dem Fluß kommt mir die Strecke
ganz schön weit vor, gelaufen wäre ich das bestimmt nicht in 5 Stunden.
Leimus, Nicaragua
"Das ist Leimus, hier ist Schluß -". Danke für's Mitnehmen.
Nur wundere ich mich, daß ich auf der nicaraguanischen Seite bin, nicht
auf der honduranischen, ich sollte doch den honduranischen Militärs den
Sánchez-Brief wieder zurückgeben. Na, was soll's, jetzt bin ich
eben in Nicaragua.
Ich stecke den Brief in die Tüte zu den Landkarten und den anderen Papieren.
Das ist leichtsinnig! Warum bin ich nicht vorsichtiger? Ich denke in diesem
Moment gar nicht daran, daß ich hier von Kopf bis Fuß durchsucht
werden könnte. Ich denke allerdings auch nicht daran, daß wenn sie
mich hier durchsuchen, sie das heiße Dokument am wenigsten in dieser Tüte
vermuten würden, also zwischen den paar Papieren, die ich als erstes auf
den Schreibtisch lege.
Leimus, Nicaragua - das sind also 3 große Häuser, nicht Holzhäuser
auf Pfählen, sondern mit Beton-Fußboden und mit Mauern und so. Es
ist die Stelle, wo die Flüchtlinge ankommen, die von Honduras wieder nach
Nicaragua zurückgehen, in der Mehrheit Mískitos.
Ein paar Schritte gehe ich - da, einer in Tarnhose, so sehen sie auch hier aus,
die Militärs.
"Ja, warte mal", meint er, geht und holt seine Chefin. Die Chefin
von der Brigade hier. Sie ist auch nett.
"Gehn wir mal ins Haus, zu meinem Büro."
"Ja", meine ich, "para que hablamos."
"Para que platicamos.", verbessert sie mich. "Damit wir uns unterhalten
können" - die Wörterbücher sind auch nicht mehr das, was
sie mal waren.
Lauter Gerümpel im Haus, alle möglichen Kisten, Kartons, stehen überall
rum, irgendeine Kiste hat sie als Schreibtisch genommen. So, und jetzt muß
ich gut sein, denn Europäer brauchen ein Visum für Nicaragua, und
das hab ich mir in Tegucigalpa nicht geholt. Weil ich kein Bock dazu hatte,
weil das 60 $ kostet. Deshalb ist es auch mein 2. Anlauf, hier nach Nicaragua
reinzukommen, vor 3 Monaten hatten sie mich ja an der Grenze in den Bergen in
Las Manos bei Danlí kalt wieder zurückgewiesen. Im Regen. Ja, freiwillig
lassen sie einen nicht rein, da muß man schon besser sein als seine Papiere
- Ausreisestempel aus Honduras habe ich ja auch nicht.
"Ja, ich bin Schriftsteller und schreibe ein Buch, und muß hier in
Nicaragua einige Recherchen machen. Jetzt hab ich drüben in der honduranischen
Moquitia gearbeitet und bin aus diesem Grund jetzt hier in Leimus über
die Grenze gekommen.", diesen schlauen Spruch werde ich in diesem Land
noch etwa 15 mal bringen.
"Aha, interessant. Und wie heißt das Buch?"
"Die Welt und die Arbeit - El mundo y el trabajo.", man muß
sich ja den Gegebenheiten anpassen...
Ich hole einen Zettel raus, den ich schon in Wampusirpi dafür vorbereitet
hatte (mit den einfachsten Stiften) und der wirklich wie gedruckt aussieht.
Mit Stempel, Unterschrift und Briefkopf, von der "Solidaritätsgruppe
Nicaragua libre", wo in ein paar Zeilen erklärt wird, daß ich
hier höchst solidarisch engagiert bin, ein Buch schreibe und ein zuverlässiger
Typ bin. Macht jedenfalls nicht schlecht Eindruck, das Ding. Außerdem
bewundert sie, daß ich mískito spreche. Sie ist wirklich freundlich
und zuvorkommend.
"Bueno, also gut", meint sie, "hier haben wir leider keine Einreisestempel,
aber das kannst du in Puerto Cabezas regeln, das wird kein Problem sein."
Sie selber stellt ein Stück Geschichte Nicaraguas dar. Vor 10 Jahren als
Partisanin gegen Somoza mitgekämpft, verwundet, heute leitet sie die Brigade
in Leimus. Nicaragua hat offensichtlich ein anderes Verhältnis zu Frauen,
wenn ihr sogar die Soldaten unterstehen.
"Der einzige Weg für die Frauen, die Gleichberechtigung zu erlangen,
ist die Revolution.", meint sie zu mir.
Auch die Witze der Männer in der Brigade über Frauen sind nicht so
abschätzig wie die in Mexico.
Höherer Militär kommt an, im Jeep... wieder Papiere, wieder die ganze
Geschichte erzählen...
"Ja, das beste ist, wir schicken ihn morgen nach Puerto Cabezas.",
sagt er zu seinem Kumpel.
Sie sind auch recht freundlich, momentan ist nicht viel los im Krieg. Verhandlungen
mit den Contras. Er ist auch Mískito-Indianer.
"Ja, und die Autonomie, die wir uns erkämpft haben, werden wir uns
nicht mehr nehmen lassen."
Vor 2 Jahren, 1986, nachdem die Mískito-Indianer (YATAMA) zu den Waffen
gegriffen hatten (die waren natürlich wie die Contras von den USA gesponsort
worden), hat die Regierung in Managua ihnen die Autonomie zugestanden. Schlimme
Kämpfe soll's gegeben haben, die Sandinisten hätten ganze Dörfer
niedergebrannt, nicht von nichts gibt es soviele Flüchtlinge in Honduras.
Er betont, daß der Kampf der YATAMA nichts mit dem Krieg der Contras gegen
die Sandinisten zu tun hatte. Er und die meisten Guerilleros der YATAMA seien
hinterher in die sandinistische Regierungsarmee Nicaraguas integriert worden,
zusammen mit den Waffen übrigens. Wenn sie nicht gegen die Sandinisten
waren, was war dann der Grund, warum der Widerstand der Indianer, frage ich
mich. Und ihn.
"Die Sandinisten haben eingesehen, daß sie in den ersten Jahren ihrer
Regierung große Fehler begangen haben, hier in der Mosquitia."
Jetzt haben sie die Autonomie, daß heißt, daß die Regierung
Managuas hier innenpolitisch nichts mehr zu sagen hat. Er ist stolz darauf,
daß es eine besonders tolle und weitreichende Autonomie ist. Die weitreichendste
der Welt. Ja, wirklich.
Vielleicht hatten die Sandinisten die Mosquitia als eine Art Kolonie betrachtet.
Bis morgen kann ich mich noch ein wenig ausruhen und meine Füße kurieren.
Das Jod-Zeugs hilft zwar ein bißchen, aber 2 Wunden sind schon wieder
infiziert.
Am nächsten Morgen fahren mich die Militärs ein bißchen durchs
Land spazieren, bis zu einem größeren Ort an der Straße nach
Puerto Cabezas, wo es auch eine Klinik gibt, wieder Füße behandeln.
Die Militärs fahren wieder zurück nach Leimus, schreiben aber einen
Brief und geben den zusammen mit meinen Papieren drei Pastoren, die extra warten
müssen, die nehmen mich mit. Eigentlich wollten sie schon früher nach
Puerto Cabezas abfahren.
Die Piste nach Puerto Cabezas,
über den Llano
Total robuster 4türiger Pritschenwagen, Toyota, von der Moravischen
Kirche. Die Piste geht über'n Llano, sie heizen ganz schön lang. Spanisch
spricht nur einer. Ich sitze hinter dem Fahrer, mache das Fenster wieder zu,
es wird kühler. Bald wird's dunkel.
Die Schotterstraße ist an einigen Stellen ganz schön rutschig. Mensch,
der kann doch nicht mit 80 km/h diese Piste langheizen. Einmal kommt ihm der
Wagen an einer rutschigen Stelle fast aus, er bremst, fährt fast in den
linken Graben, dahinter steht alles voll mit Kiefern... kriegt die Kontrolle
aber im letzten Moment zum Glück wieder, er war nur 60 gefahren an der
Stelle.
"Ja mann, pass fei auf, das ist nicht so einfach hier.", meint der
neben mir.
"Ist das noch weit bis Puerto Cabezas?", frage ich. Normalerweise
frage ich ja so etwas nicht, aber bei dem Fahrstil weiß ich auch nicht
so recht...
"Stunde, 1½ Stunden", meint er, "bei Helligkeit werden
wir das wohl nicht mehr schaffen."
Der Fahrer scheint anderer Meinung zu sein. Die Piste wird wieder etwas besser,
übersichtlicher, die Kurven weniger eng, es sind keine Schlaglöcher
mehr da. Dauert nicht lange, und er pest wieder mit 70 über'n Llano. Oder
80. Ich schaue immer auf den Tacho.
Dann, nach einer unscheinbaren Kurve, passiert's. 80 km/h hat er drauf. Der
Wagen rutscht auf den Schottersteinchen rum, kommt auf die linke Straßenseite,
fast in' Graben, immer noch 80 km/h, er muß gegenlenken, weil da lauter
Kiefern stehen, kommt ins schleudern, schleudert auf die rechte Straßenseite,
dreht sich quer, überschlägt sich um 90°, mein Nachbar fällt
auf mich drauf, ich falle gegen das Fenster, natürlich ist keiner angeschnallt,
der Wagen kommt über dem linken Straßengraben zum Liegen. An dieser
Stelle wachsen nur ein paar kleine Kiefern. Moment Ruhe.
"Verletzt?"
"Nein -", und Fenster sind auch keine kaputt. Krabbeln wir aus dem
auf der Seite liegenden Wagen. Voll robust der Japaner, hat kaum paar Kratzer.
Scheint wohl für sowas gebaut zu sein. Toyota.
Es dauert eine Stunde, bis wir ihn wieder aus dem Graben haben. Es ist schon
längst dunkel. Jetzt fährt er vorsichtig.
Brücke über den Río Likus, wieder Posten, wieder Kontrolle,
alle Brücken werden bewacht. Sie wollen uns nicht weiterlassen, erst morgen
wieder. Alles diskutieren hilft nichts. Also gehen wir zum Ort, sie holen den
Pastor aus dem Bett.
Am nächsten Morgen kommen wir dann endgültig in Puerto Cabezas an,
der zweitgrößte Ort an Nicaraguas Karibikküste. Oder Atlantikküste,
wie sie es hier nennen. Im Häuschen der Migración ist noch keiner,
also fahren sie zum Haus des Pastors der Moravischen Kirche und setzen mich
da ab. Der ist auch sehr nett und bietet mit gleich an, die Nacht in seinem
Haus zu schlafen.
Der sympatische Ort
Puerto Cabezas
Um 10 aber erstmal zur Migración, mit dem Toyota-Pastor. Der Chef-Militär
zu den Pastoren:
"Was? In Leimus ist der rein? Das ist doch kein Grenzübergang für
Touristen, wieso schleppt ihr den hier an?"
"Ja, wir machen nur, was ihr Kollege in Leimus uns aufgetragen hat, nix
weiter."
"Jaja, schon gut... der spinnt wohl, wer war denn das?"
Sie geben ihm den Brief und die Papiere. Im folgenden Gespräch gelingt
es mir auch, aber nur mit viel Mühe und vor allem Geduld, den Militär,
der mit seiner Brille genau wie Sandinisten-Chef Daniel Ortega aussieht, zu
überzeugen. Von meiner wichtigen Arbeit als Schriftsteller. Der Militär
von Leimus ist wohl zufällig ein Freund von ihm. Am Ende drückt er
mit den Einreisestempel in den Paß: "6.5.1988, Leimus."
Ich habe es geschafft, ich bin nach Nicaragua reingekommen!! Obwohl, ganz zuende
ist die Geschichte noch nicht, denn sie haben meinen Paß noch dabehalten,
den soll ich morgen abholen, weil ich noch 60 $ umtauschen soll. Die Bank hat
aber leider schon zu, also auf morgen warten.
"Ach weißt du, das kannst du aber auch in Managua erledigen",
meint er, weil ich nach Managua soll, weil ich erst recht keine besondere Erlaubnis
für die nicaraguanische Mosquitia habe. Ich soll zum Flugplatz und mich
nach der nächsten Maschine erkundigen, er beschreibt mir den Weg dorthin.
Erstmal gehe ich aber wieder zum Haus vom Pastor.
Das erste, was ich jetzt machen muß, ist, mir neue Schuhe zu organisieren.
Ein tolles Gefühl, als freier Mensch durch Nicaraguas Straßen gehen
zu können. Ich koste es richtig aus, berechtigterweise, wie sich wenige
Stunden später herausstellen wird.
Vor einem Haus sprechen zwei mich an, Schuhe Größe 45 brauche ich,
sage ich ihnen.
"45?! Sowas gibt es hier nicht", meint die Frau, "die Läden
haben auch schon zu heute."
Er hat eine Idee.
"Hinten beim MinCon arbeitet doch ein Deutscher, da an der Straße
nach Managua raus, fast am Ende des Ortes ist das, in der Fabrik. Vielleicht
kann der dir weiterhelfen."
Sie beschreiben mir den Weg, nur immer die Straße nach Managua langgehen.
547 km nach Managua, aber die Straße ist nur in der Trockenzeit befahrbar.
Busse gibt es nicht, der Flugverkehr wird von der Regierung gesponsort. Zu Fuß
kann ich mit diesen Schuhen nicht losgehen, das ist klar.
"Hola, compañeros, arbeitet hier ein Deutscher?"
"Ja - da durch."
Hö, klappt ja gut. Uli ist Dreher und hat bis 1980 (wie ich!) in Mainz
gewohnt, war in der Gewerkschaft aktiv, seit etlichen Jahren ist er jetzt aber
schon in Nicaragua, ist mit 'ner Nicaraguanerin verheiratet, die haben 2 Kinder.
"Schuhe Größe 45? - Mann, hast du Pech, weißt du was?
Vor 2 Tagen habe ich ein Paar Schuhe Größe 45 verschenkt! 2 Jahre
gammelten die bei mir schon rum, ich konnte die nicht brauchen. Und der Willi
dem ich sie geschenkt hab, kann sie auch nicht brauchen..."
Heute ist viel Arbeit, aber er will nach Feierabend nochmal bei dem Typen vorbeischauen,
ich soll um 3 an seinem Haus sein. Gleich beim Flugplatz. Okay, bis dann.
Hoffentlich kriegt er den Typen nochmal, das wär ja super. Gut, ich gehe
langsam wieder in den Ort, richtung Flugplatz. "Ortega" kommt im Jeep
vorbeigefahren, ich soll morgen nochmal bei der Migración vorbeischauen.
Ja, ist ja klar, mein Reisepaß ist ja noch da. Der Flugplatz hat leider
auch schon Feierabend.
Zurück im Haus des Pastors, erfahre ich, daß in paar Tagen welche
mit dem Auto nach Managua fahren wollen. Da hätte ich Lust, mitzufahren,
das erlaubt Ortega bestimmt. Ich warte bei Ulis family, er kommt pünktlich
(was seltenes in dieser Gegend!) - und er hat die Schuhe! Und sie passen, ich
freue mich riesig.
"Mit dem Typen in der Migración hast du riesiges Glück gehabt,
weiß du das", meint er zu meiner Geschichte mit Ortega, "vorher
hatten sie da so einen Idioten, so'n Oberarsch, auf deutsch kann ich's ja sagen,
der hat nix durchgehen lassen und wie so'n Sack auf seinen idiotischen Vorschriften
bestanden. Dem hättest kein Kappes erzählen können. Kann sein,
daß se den endlich abgelöst haben. - Oder er hat seinen eigenen Chef
abgelöst, das ist eher wahrscheinlich. Der war nämlich auf der Abschußliste.
Der hatte aber was drauf. Den ham sie garantiert gelinkt. Aber was reg ich mich
auf. Diese Sorte Schleimer gibt's überall, das ist hier genauso wie anderswo..."
"Nee nee, Ortega, das kann der nicht gewesen sein. Der war anders drauf.
Der war Sandinist, der war mit Überzeugung dabei. Weißt du, so einer,
der für eine Sache kämpft, nicht für Vorschriften und Ordnung
und so'n Müll. Mit dem konnte man schon reden."
Uli erzählt mir viel über Nicaragua, über das Land, über
den Krieg, die Mosquitia. Ich erzähle ihm von den großen Friedensdemonstrationen
in Deutschland, ja, diese neue ökologische Bewegung da in Europa, da hat
er auch schon von gehört...
"Gewaltfreiheit, das ist wohl jetzt das neue Wort, das scheint da in Mode
gekommen zu sein. Aber das ist doch ein gewaltiger Irrtum, wenn du glaubst,
daß du in der Welt auch nur irgendeine Veränderung erzwingen kannst,
wenn du ausschließlich zu gewaltfreien Mitteln greifst! Die Pazifisten,
die halten nur ihr Gewissen rein, das ist alles, und verändern tun sie
in Wirklichkeit überhaupt nichts! Veränderungen setzen nur allein
die durch, die mit der Waffe kämpfen, und die sind es, die für den
Pazifismus ihren Kopf hinhalten! Das ist das, was ich erkannt hab, und daraus
hab ich die Konsequenz gezogen." Er war öfter schon bei Kampfeinsätzen
dabei, erzählt etwas über seine Aufgaben, die er bei den Einsätzen
hatte.
"Alle Revolutionen mußten bis jetzt mit der Waffe durchgesetzt werden,
und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Oder kannst du mir auch
nur ein einziges Beispiel nennen, wo mit gewaltfreien Aktionen irgendwelche
Weltmächte besiegt wurden? Du glaubst doch nicht tatsächlich, so ein
paar Pazifisten könnten die Herrschenden beeindrucken? Also von einem gewaltfreien
Befreiungskampf hab ich jedenfalls noch nie was gehört!"
"Gandhi."
"Das - Gandhi?? Was meinst du jetzt, - Indira Gandhi? Die hat doch nicht
nur friedliche Mittel eingesetzt."
"Na, nun sag bloß, du hast noch nie was von Mahatma Gandhi gehört.
In welcher Welt lebst du denn? Aber daß Großbritannien eine Weltmacht
war, ist dir schon bekannt, ja?"
"Großbritannien war eine Weltmacht, aber das gab damals überall
blutige Aufstände, auch in Indien. Und die waren es, die die Engländer
letztlich zum Abzug gezwungen haben, nicht der Pazifismus."
"Der Befreiungskampf Indiens war gewaltfrei. Ich meine, tut mir leid, aber
die Geschichte ist nicht anders gelaufen."
"Ach so, na gut, das mag vielleicht einmal geklappt haben, da kenn ich
mich jetzt nicht so gut aus, das... das ist dann wohl immer so das Beispiel.
Das war aber auch keine richtige Befreiung in dem Sinn... die Ausbeutung ist
dort ja nur in eine andere Form der Ausbeutung übergegangen. Du brauchst
dir doch bloß ankucken, wie Indien heute dasteht, also grade Indien kannst
du ja wohl wirklich nicht als Beispiel nennen."
Trouble mit den Sikhs, trouble mit den Moslems, trouble mit den Gurkhas, trouble
mit den Tamilen...
"Doch."
"Es ist gar nicht möglich, die Welt mit friedlichen Mitteln zu verändern.
Okay, anscheinend glaubst du ja, daß es doch möglich ist."
"Nun gut, ich persönlich bin der Meinung, daß es gar nicht möglich
ist, die Welt anders als mit friedlichen Mitteln zu verändern."
Ich frage ihn, ob die Sandinisten eine bessere Weltmacht wären, und warum
die YATAMA, die Guerilla der Mískitos, vor 3 Jahren zu den Waffen gegriffen
hat.
"Die wollten einfach nur mal Rabatz machen", ist seine Antwort, die
mich aber auch nicht ganz überzeugt.
"Andere haben mir gesagt, es könnte damit zusammengehängt haben,
daß die Sandinisten ihren campesinos nach der Revolution gemäß
ihren Versprechungen Land zugewiesen haben - ohne Rücksicht darauf zu nehmen,
daß es Land der Mískitos war."
"Ja, sicher, das mag alles mit reingespielt haben, aber für sowas
gehe ich noch lange nicht in den Krieg." - Vielleicht bist du kein Indianer...
"Es ging los, als die Sandinisten die Schulpflicht einführten, und
sie gezwungen wurden, spanisch zu lernen."
"Ja, das war so ein Anlaß, den haben sie gesucht. Das haben die Sandinisten
aber sofort wieder eingesehen, daß das ein Fehler war. Du mußt die
Mískitos verstehen, ich sag dir, du kennst die nicht - wenn da einer
von denen Panik macht, glauben alle, die Welt würde über ihnen hereinbrechen.
Die sind so leicht zu manipulieren!"
Da hat Uli aber auch recht, das hatte ich da in Wampusirpi ja auch erlebt, als
da auf einmal alle panisch fürchteten, die Sandinos würden nach Wampusirpi
kommen.
Am Abend bin ich wieder beim Pastor. Er zeigt mir die neue Kirche, die
sie neben seinem Haus auf einem Grundstück bauen. Es stehen erst die Grundmauern.
"Siehst du, die 20 Leute, die da arbeiten, das machen die alles freiwillig,
die kriegen kein Geld dafür. Nur das Essen geben wir aus. Jeden Tag arbeiten
die hier. Hier ist ganz hohe Arbeitslosigkeit und die Menschen sind arm."
Als wir im Haus auf der Terrasse sitzen, geht auf einmal das Licht aus, alle
Lichter im Ort gehen aus. Dann hören wir Schüsse oder Granaten in
der Ferne, sehen Lichter in der Luft. Militär-Lkw's rasen die Straße
entlang, nach Norden, zum Flugplatz. Nach einer Weile ist Schluß, die
Militär-Jeeps kommen wieder zurück, nach einer halben Stunde geht
auch das Licht wieder an.
"War wohl ein Flugzeug der Contras, das sie aufs Meer rausgejagt haben",
erklärt der Pastor.
Am späten Abend kommt uns nochmal ein Militärjeep besuchen, ich soll
meine Sachen alle packen und mitkommen, nochmal zur Migración.
Ein Comandante der üblen Sorte
Der Comandante, der Vorgesetzte von Ortega, ist da. Er sitzt hinter dem Schreibtisch
im Zimmer der Migración. Es ist der höchste Militär hier am
Ort. Hinterher erzählen sie mir, daß er einem Stab von 4 Ober-Militärs
vorsitzt, und weil Kriegszustand ist, ist er gleichzeitig praktisch der Bürgermeister.
Ich soll nochmal alles von vorne erzählen. Er macht mir die dicken Vorwürfe,
warum ich dahinten in Leimus über die Grenze bin. Woher ich das hätte,
daß das ein Grenzübergang für Touristen sei.
"Aber hombre, das hat mir doch der honduranische Militär gesagt, der
vom 5. Batallón, daß in Leimus der Grenzübergang ist."
Und das stimmt auch, denn Sánchez hatte mir genau das gesagt und nichts
anderes. Will er mir aber nicht glauben.
Nein, das werde ich jetzt nicht machen, den Sánchez-Brief aus der Plastiktüte
holen, der das bezeugen würde. Auch wenn ich die Tüte gerade in der
Hand halte. Sánchez mag Militär sein, aber er hat mir einen Gefallen
getan, und ich habe ihm versprochen, den Brief nicht den nicaraguanischen Militärs
zu zeigen.
Ortega hatte ja auch so gefragt, der hat aber dann etwas über meine Absichten
hier und über meine politische Meinung wissen wollen, und ließ mit
sich reden.
"Verstehen Sie es doch nicht falsch, Señor Comandante. Ihre Leute
haben mich doch hierhergeschickt, ich bin doch nicht auf eigene Faust nach Puerto
Cabezas gekommen. Ihre Leute haben die Pastoren angewiesen, mich hierherzufahren."
"Erst sagst du, die Hondureños hätten dich hierhergeschickt
- jetzt sagst du, unsere Leute wären's gewesen! Du widersprichst dir doch
selber! Bilde dir bloß nicht ein, daß ich dir auch nur ein Wort
davon glaube!" - mieser Rhetoriker. Kein Wunder, daß das Land nicht
weiterkommt, wenn es von solchen Leuten regiert wird. Der checkt ja nichts.
"Ich habe doch gar nicht versucht, hier grün über die Grenze
zu gehen."
"Komm mir bloß nicht mit der Tour! Damit kommst du bei mir nicht
durch, daß du's weißt! Was hast du gemacht, als du da rein bist?!""
"Ich habe mich sofort nach der Anlandung des Bootes an die örtlichen
bewaffneten Streitkräfte gewandt und gefragt, ob ich wohl einreisen dürfte.
Die haben gesagt, ja, und ich solle nur in Puerto Cabezas zur Migración,
das ließe sich ohne Probleme regeln. Wenn die nein gesagt hätten,
wäre ich doch ohne Widerstand wieder zurück nach Honduras gegangen.
Ich habe doch nur das gemacht, wozu Ihre Leute mich angewiesen haben."
Hilft alles nichts, er bleibt bei seiner Haltung und glaubt mir nichts, was
ihm nicht in den Sinn paßt. Er wird laut und sagt, ich würde eine
unglaubliche Geschichte erfinden.
Jetzt ist genau der Moment, wo ich kein' Bock mehr hab mit ihm. Na gut, dann
werden wir eben nicht einer Meinung. Er weiß ja gar nicht, daß ich
schon längst gewonnen habe. Er kann's doch gar nicht mehr vermiesen!
Ich frage mich, was will er eigentlich? Ich habe es geschafft, über Leimus
nach Nicaragua reinzukommen. Da kann er sagen, was er will. Und habe von Ortega
einen Stempel im Paß. Der Stempel ist da drin, den machst du nicht wieder
raus. Hat er anscheinend auch gar nicht vor. Mehr wollte ich doch gar nicht.
Was will ich denn hier? Entweder ich bleibe etwas in diesem Land oder ich drifte
weiter in das nächste.
Wenn ich Glück habe, schicken sie mich sogar nach Costa Rica und nicht
zurück nach Honduras, und ich könnte sogar weiter nach Südamerika.
Bin ich nicht schon am Ziel meiner Wünsche? Was will ich denn mehr? Ich
bin hier in Puerto Cabezas, in Nicaragua - er kann's gar nicht mehr vermiesen.
Na, mal kucken, wie die Diskussion ausgeht, ich bin ja selber gespannt.
"Du bist illegal über die Grenze, ist dir das nicht klar?!"
"Ja, jetzt, wo Sie mir es sagen, weiß ich es. Es tut mir ja auch
leid, Señor Comandante."
"Tut mir leid, tut mir leid - das kann jeder sagen!! Wenn wir das durchgehen
lassen, kommen nachher die Touristen scharenweise in Leimus über die Grenze!
- Ausreisestempel aus Honduras hast du auch nicht!" - und pfeffert mir
den Reisepaß auf den Tisch.
Oh nein, er hat wohl Ärger mit seiner Frau gehabt, genauo sieht er aus.
Was ich mit den Contras und den Flüchtlingen zu tun gehabt habe da drüben,
will er wissen, "oder arbeitest du am Ende noch für lasía?
- - Jetzt sag bloß nicht, du weißt auch nicht, was das ist!"
Ich weiß es tatsächlich nicht, scheiße, ich kann kein so gutes
Spanisch, und er spricht total schnell.
"¿Lasía?", ich frage ihn, ob ich das Wort richtig verstanden
habe.
Wahrscheinlich nicht, ist mir auch egal. Aber ich will doch wenigstens mitkriegen,
um was es geht, wenn er sich schon solche Mühe gibt, mir Vorwürfe
zu machen. Was heißt lasía? La sía? La ist der weibliche
Artikel, Silla heißt Stuhl... oder ist Lasía irgendein Contra-Chef?
Lazo heißt Seil, Lacilla könnte Bande heißen... oder ist es
eine Abkürzung? Hat er wirklich gesagt, ich arbeite für...? Oder meinte
er SIDA, das haben sie mir in Mexico beigebracht, was besseres hatten die da
nicht zu tun, als mir sowas beizubringen: La SIDA heißt AIDS.
Nein, ich krieg wirklich nicht raus, was er meinen könnte. Er schaut mich
an, als ob er von mir eine Stellungnahme erwarte. "Stell dich nicht dumm",
sagt sein Blick. Was hast du dazu zu sagen.
Also gut, soll ich jetzt einfach irgendeinen blöden Müll sagen? Es
wär sowieso egal, was ich sage, denn das, was ich sage, hat auf den Inhalt
des Gesprächs eh herzlich wenig Einfluß. Er wird mich entweder ausweisen
oder in den Knast stecken, das ist klar. Beides wär okay, ich bin eigentlich
zufrieden mit der Situation. Nicaragua erleben, unverfälscht, genauso wie
es ist, live, und auch noch steuerfrei... ich entscheide mich dafür, keinen
blöden Müll zu sagen, sondern höflich zu versuchen, herauszubekommen,
was der Inhalt des leicht einseitigen Gesprächs sein mag.
"Lasía? Wie wird denn das geschrieben?", frage ich. Bäh,
sagt er mir natürlich nicht. Ach, du bist gemein.
Erst viel später werde ich rauskriegen, daß in der spanischen Sprache
alle ausländischen Abkürzungen wie spanische Wörter ausgesprochen
werden - er meinte den amerikanischen Geheimdienst CIA, und der ist außerdem
weiblich.
Offensichtlich kann er sich keinen Reim drauf machen, warum ich "so tue",
als würde ich nicht wissen, was CIA bedeutet. Soll er mich für ober-verdächtig
oder für total doof halten? Auf einmal fängt er an, unsicher zu wirken.
Der Elan ist raus. Er nimmt seinen Kugelschreiber in die Hand, legt ihn wieder
weg. Sieht den anderen Militär an. Sieht wieder mich an.
"Was sollen wir jetzt mit dir machen? Mach mal einen Vorschlag! Wir schicken
dich zurück, nach Honduras!"
"Ja, in Ordnung, einverstanden. Schicken Sie mich nach Honduras -",
meine ich beruhigend, " - oder nach Costa Rica."
Der Trick war super. Zum ersten Mal hat er mir zugehört! Ich sehe ihm richtig
an, daß er über das gedankliche Kunststück Costa Rica nachdenkt.
Und mit Erfolg. Denn das mit Honduras läßt er natürlich gleich
wieder fallen, ich könnte ja dort was mit den Contras zu tun gehabt haben,
so undurchsichtig und verdächtig, wie ich mich hier benehme.
"Dich schicken wir nach Managua, sollen sich die mit dir rumärgern.",
ich soll ein paar Tage auf das Flugzeug warten, und zwar hier, im Häuschen
der Migración. Geil, Managua.
Er setzt einen Brief auf, der sich ihm entsprechend liest. Mit Schreibmaschine.
Dann gibt er ein paar Anweisungen an seine Untergebenen, wie und für wann
sie das Flugzeug zu organisieren haben. Ortega sagt ihm, ich könne auch
beim Pastor im Haus schlafen.
- "Nein, hier, hab ich gesagt."
Macht nichts, Ortega, war gut gemeint. 2 ½ Tage verbringe ich im Migrationshäuschen,
eingesperrt in einem ganz kleinen Zimmer mit lauter Müll und Gerümpel
drin. Klo haben sie auch nicht.
Kurze Zeit später bin ich mit Nelson, dem wachhabenden Teniente zusammen.
Ein einfacher Angestellter. Mit seinen Kumpels und mit mir spricht er englisch.
"Du mußt besser spanisch lernen, ohne spanisch zählst du hier
nichts", sagt er, und gibt mir ein spanisches Enid-Blyton-Buch zum Lesen.
Das ist Nicaraguas Atlantikküste. Die einfachen Leute sprechen englisch,
kein besonders gutes, denn in der Schule müssen sie spanisch lernen. Nach
der Revolution werden sie verstärkt dazu angehalten. Bis 1898 war dieses
Gebiet unter Kontrolle von Engländern, zuerst als Kolonie, später
als Piratenschlupfwinkel. Der größere Ort heißt Bluefields.
Die Sprache der Karibik ist englisch. Karibisches, kein amerikanisches Englisch.
Die Mískitos hatten immer Kontakt zu den Engländern, nicht zu den
spanischsprechenden Mestizen in den Bergen. Die englischsprachige Bevölkerung
lebt an der Küste, die Mískitos weiter landeinwärts. Viele
Wörter der Mískito-Sprache sind aus dem Englischen entlehnt, Wörter
wie "Arbeit, lernen, Schule, brauchen, wollen", nur die allermodernsten
Fremdwörter ("Auto, Straße, Satelliten") aus dem Spanischen.
Die Somoza-Regierung hat sich um die Region nicht gekümmert, aber die Sandinisten
haben zunächst wohl nichts besseres zu tun gehabt, als den Leuten zu sagen,
wer hier das Land regiert. Gut, sie regieren es, ich sehe es ja ein, aber was
haben sie davon? Die einzigen, denen es hier gut geht, sind die Comandantes.
Aus dem Müllkübel fische ich mir unauffällig ein auf einer Seite
unbeschriebenes Blatt Papier und verstecke es... als Vorrat, wenn ich mal was
schreiben will... 1000 km weiter werde ich mir dadrauf meine Panamá-Karte
malen, und noch 1000 km weiter, in Südamerika, einmal, aus Langeweile,
zufällig lesen, was auf der Rückseite mit Schreibmaschine geschrieben
steht: Es ist ein Brief von Nelson an irgendeinen Comandante, er versteht nicht,
warum sie ihm schon zum 2. Mal den Lohn kürzen, seit 6 Jahren arbeite er
schon für das Militär, müsse jetzt außerdienstlich jobben
und wisse nicht, wie er seine 6 Kinder weiter ernähren soll.
Manche Mískitos wollen gerne mal nach Honduras, Freunde oder Verwandte
dort besuchen, vielleicht mal paar Wochen dableiben. Einen Reisepaß hier
im Häuschen der Migración zu kaufen, kostet aber 1100 Córdobas
(über 100 US-$). Für die meisten Leute an der Atlantikküste sei
das nicht erschwinglich, sagt Uli. Was machen sie? Sie gehen über die Grenze,
melden sich als Flüchtling in irgendeinem Lager, und gehen mit repatriación
wieder zurück. Ein Flüchtling in Honduras sagte mir, es gebe Spezialisten,
die das schon 3mal gemacht haben.
Ab nach Managua
48 US-$ zahle ich für den Flug 3 Tage später nach Managua. Ich
werde sogar extra von einem Soldaten "begleitet", wir sitzen in der
letzten Reihe in der alten polnischen Maschine, die vielleicht 100 Leute in
die Hauptstadt fliegt. Ich "darf" am Fenster sitzen. Nicaragua von
oben, das ganze Land überfliegen, zunächst über den Llano, den
Wald, dann über die Berge... we look down on the mountains, this is the
song of the stars...
Managua. Sie fahren mich ans andere Ende der Stadt, auf eine Anhöhe, hier
steht ein Haus, eine Art Villa, Innenministerium, steht dran. Zwei Leute fragen
mich wieder zweimal das gleiche und ich erzähle ihnen auch wieder zweimal
das gleiche. Daß meine documentos über die große Solidaritätsarbeit
gefälscht sind, fällt ihnen auch nicht auf. Ich geb mich als Sozialist
aus. Schaden kann das nicht, sage ich mir, und sollen sie doch denken, was sie
wollen.
Alles, was im Rucksack ist, wollen sie genauestens aufschreiben, alle Sachen
werden genau notiert. Auch alles, was ich an Geld habe, alle meine Papiere,
alle Kleinigkeiten filzen sie genau durch. Nur eine Sache entgeht ihnen: ausgerechnet
der Sánchez-Brief aus Honduras. Nein, nein, den zeig ich euch nämlich
nicht. Gemessen an dem, was sie sonst noch für einen Müll aus meinem
Rucksack holen, wäre der Sánchez-Brief wahrscheinlich das einzige
gewesen, was sie interessiert hätte.
Eigentlich ist es kein Rucksack, sondern es ist nur ein alter Jute-Sack für
Erbsen, wo ich so Art Träger rangemacht habe. Ich lauf nicht gerade wie
ein Rucksack-Tourist rum, sondern eher ziemlich abgerissen, aber hier in den
Ländern fall ich nicht auf. Alle Leute, die hier die Straße als Reiseweg
nutzen und nicht das Flugzeug, sind nicht sehr reich.
Sie sind nicht groß böse, machen halt ihre Arbeit, für sie wohl
Routine. Sie scheinen zu honorieren, daß ich sie respektiere. Am Ende
der ganzen Fragerei fragen sie mich noch:
"Also? Und jetzt? Was denkst du wohl, was wir mit dir machen?"
Ich weiß auch keine rechte Antwort. Weiß nicht. Ihr könnt mich
ja freilassen, oder mich zurückschicken nach Honduras, ...oder eben nach
Costa Rica... das denke ich vor mich hin, während ich ihnen sage, daß
ich gerne in Nicaragua in einer Brigade arbeiten würde.
Ist ein bißchen verfahren, die Situation, und ich lege keinen großen
Wert darauf, das zu ändern. Sie scheinen irgendwie eine Art Paranoia draufzuhaben.
Alle haben sie Angst, ich könnte vielleicht doch irgendein getarnter Contra
sein. Nur der Ortega hatte da schnell von Abstand genommen, den anderen war
ich immer verdächtig. Andererseits mache ich einen ziemlich ahnungslosen
und auch unprofihaften Eindruck eines Einzelgängers, sodaß ich ihnen
wohl doch nicht gefährlich werden würde.
Sie sollen ruhig bis zu einem gewissen Grad glauben, daß ich was mit den
Contras zu tun gehabt haben könnte, dann schicken sie mich nicht nach Honduras,
sondern nach Costa Rica. Sie sollen aber auch nicht denken, ich sei Contra,
dann wär ich wohl schnell wegen Spionage dran. Das deuten sie mit etlichen
Fragen in diese Richtung an.
Wenn rauskäme, daß ich einfach nur cool über die Grenze bin,
nur einfach so, dann wäre ich ganz schnell wieder in Honduras, und dürfte
mich wegen überzogenem Visum mit denen rumärgern, das wär auch
mies. Also gebe ich mich offiziell als der große Sozialist aus, wenn sie
mich aber nach FBI oder sowas fragen, sage ich nur, ja, ich weiß, was
das ist, steht ja in allen Zeitungen.
Das Ergebnis ist, daß sie wohl wirklich nicht wissen, was sie von mir
halten sollen. Sie schließen Tür Nr. 29 auf, Abschiebeknast, da rein,
"kriegst Gesellschaft, damit's dir nicht zu langweilig wird", meint
er, aber abschätzig, zu dem bärtigen Typ, der gleich wieder im anderen
Zimmer verschwindet.
Ausbrechen verboten
Barfuß, in blauer kurzer Hose und blauem Hemd, dieselbe Kleidung krieg
ich auch. Behalten darf ich hier nur das Handtuch, keine anderen Sachen von
mir. Na gut, was brauche ich auch mehr als mein Handtuch.
Bevor sie gehen, fällt mir noch ein, sie zu fragen, ob sie nicht vielleicht
etwas zum Lesen hätten. Enid Blyton auf spanisch war nämlich gar nicht
so schlecht gewesen.
"Haben wir was zum Lesen... hm... wir haben nur Lenin, wenn dich das -"
"Ja", meine ich freudig, "das ist interessant, das wäre
nett, wenn Sie mir das bringen würden. Haben Sie auch Marx?", ich
muß ja den perfekten Sozialisten markieren.
Imperialismus - fortgeschrittene Phase des Kapitalismus, 85 Seiten, was anderes
darf er mir wohl nicht bringen. Schreiben is' nich'.
Es ist also die Villa irgendeines Somoza-Fans, den sie wohl enteignet haben,
und unser Gefängnis besteht aus 3 Zimmern und einem Bad. Der andere ist
in dem linken Zimmer, ich geh in das rechte, in beiden stehen je 2 Betten. Das
3. Zimmer ist eine Art Aufenthaltsraum, von dem die beiden Schlafzimmer abgehen.
Die Fenster und die Tür zum Innenhof haben sie mit Gittern dichtgemacht.
Es ist sogar ganz zivil möbliert, auch wenn die Couch und die Sessel schon
leicht ramponiert sind. Die Betten haben 2 Matratzen, recht gemütlich,
Schränke aus Holz (in denen verständlicherweise aber nichts drin ist...),
sogar Nachtschränke haben wir. Der Boden ist sauber gekachelt. Mich überrascht,
daß wir sogar einen Fernseher haben, der funktioniert auch. So können
wir uns jeden Abend die brasilianische telenovela "Final feliz" reinziehen,
die spielt in Porto Alegre.
Also gut, auch wenn es nicht gleich danach aussieht: hier bin ich also im Knast,
Abschiebehaft, Ausbrechen verboten. An der Terrassentür hängt extra
ein Zettel, eine Art Gefängnisordnung. Das Licht hat um 10 Uhr aus zu sein,
und das unaufgeforderte Verlassen der Räume ist den Gefängnisinsassen
untersagt. Da haben sie sich wohl einen kleinen Scherz erlaubt, denn wir werden
streng bewacht, außerdem ist ja alles vergittert.
Auf den Matratzen liege ich sehr bequem, als Zudecke reicht in den warmen Nächten
Managuas ein einfaches Bettlaken. Manchmal nerven die Mosquitos, in einer Nacht
zerklatsche ich einmal 8 dieser lästigen Insekten.
Am nächsten Morgen wechseln der andere und ich zum ersten Mal ein Wort.
"Haben sie dir auch dein Geld weggenommen?", will er wissen, "Hast
du denen dein Geld gezeigt?"
"Ja, hab ich, wieso, mußte ich doch. Die haben alles genau aufgeschrieben.
Nur den unsinnigen Flug gestern mußte ich bezahlen, weißt du, ich
komme von Puerto Cabezas. Wieso, haben sie dir Geld weggenommen?"
"Nein, ich hatte kein Geld, aber 2 anderen haben sie 200 $ weggenommen,
Mexikanern."
"Nein, so richtig weggenommen haben sie mir nichts. Du - bist Nicaraguaner?"
"Nein, Kolumbianer."
"Ah, Colombia. Und woher aus Kolumbien?"
"Aus Bogotá. Und wo kommst du her?"
"Ich bin Europäer. Aus Westdeutschland."
Er heißt Dagoberto und sitzt schon seit 2 Monaten, war aber nicht immer
alleine. Scheint diese Militärchefs nicht besonders gern zu mögen,
mit den Wachsoldaten kommt er besser klar. Obwohl ich noch nie im Knast war,
merke ich von der ersten Minute an diese eigene Atmosphäre, wenn jeder
jedem mißtraut. Das geht nur langsam vorüber.
3mal am Tag bekommen wir Essen, ich schätze, es ist dasselbe Essen, das
die Wachsoldaten auch bekommen. Reis, Bohnen, Yuca, Mais, immer etwas anderes,
manchmal Gemüse, Obst, dazu einen Becher Saft oder Kaffee. Yuca ist Maniok.
Wenn sie Bock haben, lassen sie uns am Tag einmal für eine Stunde auf den
Hof, an die Sonne. Alle 2 Tage müssen wir außerdem unsere "Wohnung"
saubermachen, dann geben sie uns Feudel, Besen und alles. Damit's uns nicht
zu langweilig wird.
"Funktioniert die Dusche?"
"Manchmal."
Nur mit Trick funktioniert sie. Aber immerhin. Die Klospülung ist auch
nicht ganz in Ordnung.
Dagoberto will wissen, wie es in den USA mit Arbeiten ist, er will nach Nordamerika.
"Das Grenzgebiet wird streng bewacht, du müßtest Connections
zu Mexikanern haben, die sich da auskennen. In Texas arbeiten viele Mexikaner
illegal, und in Kalifornien auch."
Am Mittag kommen zwei dazu.
Ein Salvdoreño, der ist 35 und lebt seit 9 Jahren in Managua, ist verheiratet
mit einer Nicaraguanerin. Seine Papiere sind ihm geklaut worden, jetzt müssen
sie ihm neue ausstellen.
Der andere ist aus der Dominikanischen Republik, und scheint von Beruf Witzbold
zu sein. 28 Jahre, schon in 23 Ländern gewesen, ist reich, das gibt er
offen zu, und labert ständig die Wachsoldaten voll. Er will seinen Botschafter
sprechen. Er will nur weg hier.
"Schicken Sie mich egal in welches Land, ja, nach Honduras oder Guatemala,
ist mit scheißegal, aber schicken Sie mich bloß raus hier",
in dem Ton.
Das Essen sei das letzte, was ihm bisher untergekommen sei. Irgendwann verlieren
sie die Geduld - Resultat: Fernseher jetzt um 8 Uhr ausmachen. Wir schaffen
es noch, sie auf 20.30 Uhr hochzuhandeln, weil wir unbedingt das sandinistische
Nachrichtenmagazin noch sehen wollen.
"War dein Botschafter schon hier?", fragen wir Dagoberto.
"Ja, schon paarmal war der hier."
"Und wenn sie dich freilassen, wo werden sie dich dann hinschicken?"
"Weiß nicht, keine Ahnung. Nach Kolumbien - ?"
Wir überlegen, ob es von Managua aus Flüge nach Bogotá gibt.
Wohl nicht...
Auch bei mir kann ich mir nicht richtig vorstellen, was sie mit mir machen wollen.
Zunächst genieße ich es, barfuß in diesen sauberen Räumen
meine zum Glück nicht wieder infizierten Füße auskurieren zu
können. Doch, meinen Füßen tut es wirklich gut. Aber was kommt
danach?
Genauso wie sie nicht zu wissen schienen, was sie von mir halten sollten, weiß
ich nicht, was ich von ihnen halten soll. Was haben sie mit mir vor? Wollen
sie mich einfach nur zermürben? Halten sie mich für spionageverdächtig
oder nicht? Fest steht, daß sie mich hier Vollpension verköstigen,
jeden Tag 3mal Essen, vielleicht wird es ihnen doch irgendwann mal zu dumm.
Dagoberto sagt, ein Bolivianer soll einmal ein halbes Jahr gesessen haben, ein
Italiener sogar einmal 2 ganze Jahre. Aber die hat er nicht gekannt. Vielleicht
ist es nur ein Gerücht.
Salvadors Fall kommt uns am komischsten vor.
"Du lebst also schon seit 9 Jahren hier in Managua, bist mit einer Nicaraguanerin
verheiratet, hast 2 Kinder, warum stecken sie dich dann in Knast, wenn sie dir
nur die Papiere nochmal neu ausstellen müssen?"
Zuckt mit den Schultern, "así son ellos", so sind die halt.
Irgendwie haben sie wohl echt 'ne Paranoia.
Dagoberto und der Dominicano haben ein eigenes Gesprächsthema - beide sind
von Costa Rica aus grün über die Grenze. Und dann sind sie weiter
innen im Land irgendwann mal bei einer Kontrolle nach Papieren gefragt worden,
was in dieser Gegend keine weiter große Schwierigkeit ist.
"Ich bin in Costa Rica bis kurz vor den Grenzübergang", erzählt
der Dominicano, "so'n Feldweg rein, und hab den nächsten Bauern nach
dem grünen Weg über die Grenze gefragt. Hat er mir beschrieben, ich
geh also los, durch den monte", so nennen sie den Urwald, "und auf
einmal steh ich auf dem Pfad so'm Riesen-Wolfshund gegenüber. So groß
-"
"Wolfshund? In Mittelamerika gibt es doch keine Wolfshunde."
"Natürlich gibt das hier Wolfshunde, hombre, so groß war der,
und hatte Zähne, aber was für welche -"
"Wölfe gibt das nur in Rußland -"
"Nein, Wolfshund, ich sag doch, das war kein Wolf, sondern der war größer,
und schwarz -"
"Schwarz? Wenn, dann gibt das hier höchstens ein paar Coyoten, die
sind aber nicht schwarz, und schon gar nicht größer als ein Haushund
-"
"Nein, ein Wolfshund, ich sag dir, der war pechschwarz, und etwa, also
- so groß -"
"Jetzt erzähl doch nichts, in Mittelamerika gibt es doch keine -"
"Mann, laß ihn doch mal ausreden! Wir wollen das jetzt zuende hören
-"
"Also, ich steh da also auf dem Pfad, und der Wolfshund, also - so groß
- und -"
"Aha, gewachsen in der Zwischenzeit."
"Nein, so groß, hab ich gesagt. Na gut, so groß. Wir stehen
uns gegenüber und mir ist also vom ersten Augenblick an klar, was der von
mir will. -"
"2 Pesos für'n Bus bestimmt nicht -"
"Ich kuck ihm also scharf in die Augen, und sage: 'Weiche von mir!', und
auf der Stelle - nein, das heißt, da hat er sich noch nicht gerührt,
also ich nochmal: 'Geh hinfort!' - und dann ist er ab, in den monte, und ich
konnte unbehelligt weitergehen."
Vom nächsten Abend an nennen wir ihn "El Niño", und das
hat er sich aber verdient. Wir dachten uns also, er labert besser uns voll,
als die Wachsoldaten... aber manchmal übertreibt er es schon ein wenig.
Den ganzen Tag will er uns weismachen, daß die überhaupt beste Demokratie
der Welt in der Dominikanischen Republik sei, mit dem bekanntesten Präsidenten
der Welt, die beste Musik käme von daher, und so weiter. Natürlich
unterbrechen wir ihn ständig, wenn er es zu weit treibt. So haben wir auf
einmal Stimmung im Knast.
"Einmal hatte ich ein Erlebnis. Ich lag zuhause, auf meinem Bett, so wie
hier auf der Matratze jetzt -"
"Aber nicht mit Hund, stimmt's?!" - alle lachen. Vorher wollte er
uns nämlich erzählen, daß es in der Dominikanischen Republik
keine Hunde gäbe, genauer, daß die dort nicht auf der Straße
rumlaufen würden, wie hier in den Städten von Mittelamerika.
"Nein, nicht mit Hund."
"War auch wirklich kein Hund in der Nähe?" - Haben sogar die
Wachsoldaten gelacht, als Dagoberto ihnen diese Geschichte erzählt hat.
Überall in Lateinamerika gibt es Hunde...
"Nein, mann, echt nicht."
"Auch nicht ein fernes Bellen?"
"Nein, mann, da war kein Hund! Ich lag alleine auf meinem Bett -"
"Auch nicht mit Wolfshund - ?"
"NEIN. Ich war allein, also, es war schon dunkel, nur eine Kerze, ich lag
also da - so - kucke nach oben, und auf einmal höre ich eine Stimme. Ja,
wirklich, eine Stimme. Und es war niemand da, woher die Stimme hätte kommen
können! Sie kam von genau über mir, von oben, direkt über mir,
etwa 10-12 m hoch, und die Stimme sagte: 'Niño, ¡levántate!'"
- wir liegen am Boden und lachen uns schlapp. Der spannendste Moment, und dann
kommt das!
Niño, ¡levántate! ist bibelspanisch und heißt "Kind,
erhebe dich". Außer der "Stimme" würde in Lateinamerika
jedenfalls keiner mehr Niño zu ihm sagen.
"Niño, das sagt doch kein Mensch!"
"Doch, in der Dominikanischen Republik ist das so'ne Redewendung, niño,
das sagt man halt so -"
"Ja, zu Kindern vielleicht, aber nicht zu dir!
"Doch, niño, das sagt man auch zu Erwachsenen -" - ich an seiner
Stelle hätte gesagt, wieso, da war ich 8 Jahre, aber das war ja nicht das
letzte Ding, das er gebracht hat.
Wir haben natürlich nichts besseres zu tun, also gleich darüber zu
diskutieren, ob die Stimme nicht vielleicht doch von einem Hund kam, weil die
Hunde in der Dominikanischen Republik ja bekanntlich sprechen können...
eigentlich war es nur eine Einleitung zu einer viel längeren und viel phantastischeren
Geschichte, aber El Niño hat keine Lust mehr, weiterzuerzählen.
Impressionen aus El Salvador
El Niño will seinen Botschafter sprechen, unbedingt, wegen der Genfer
Konvention und so.
"Das ist internationales Recht, jeder ausländische Gefangene hat das
Recht, innerhalb von 3 Tagen seinen Botschafter oder Konsul zu sprechen."
Ernesto, der Salvadoreño: "Hombre, du bist hier nicht irgendwo,
du bist hier in Nicaragua. Das sind keine Diplomaten hier, das sind Guerilleros,
die haben keine Ahnung von sowas. Wir können froh sein, daß sie uns
so gut behandeln. Guerilleros sind das! Das einzige, was die können, ist
Krieg führen, und nix weiter."
"So, wie wir hier behandelt werden, würden sie uns in keinem anderen
Land behandeln!"
"Hombre, hast du 'ne Ahnung, wie die Abschiebeknäste in Deutschland
aussehen? Geh mal nach West-Berlin, da redest du anders."
"Aber das ist doch ein demokratisches Land, Deutschland."
"Dieses Argument ändert aber nichts am Zustand der Abschiebeknäste
dort."
"Also in der Dominikanischen Republik ist das anders. Dort sind die -"
"Ja, klar, wir wissen, da sind das 5-Sterne-Luxushotels mit swimming pools
-"
"Nein, mann, aber so, wie sie uns hier behandeln, würden sie uns da
nicht behandeln, das weiß ich. Und in deinem Land doch auch nicht, oder,
Ernesto?"
"Das Gefängnis in San Salvador ist so groß wie - komm, wir gehn
mal zum Fenster. Du siehst dieses große 6stöckige Hochhaus da hinten?
So groß ist ungefähr das Gefängnis von San Salvador. -"
"Wirklich so groß?"
"Das weiß niemand so genau, wie groß das wirklich ist, weil
es vollständig in die Erde eingebunkert ist. Da ist nur ein Stockwerk oben,
das ist anders als hier."
"Aber du kannst doch auf der Straße laut sagen, wenn dir etwas nicht
paßt, das ist doch eine Demokratie da."
"Aber paß auf, daß du nichts falsches sagst. Sonst ist es aus
mit der Redefreiheit."
"Auf der Straße abschleppen können sie mich nicht, ich sage
ihnen, ich arbeite als Reporter."
"Die schleppen dich nicht auf der Straße ab. Die kommen nachts, in
dein Hotel, ohne daß das einer sieht, und holen dich raus, ohne daß
das einer sieht... und im Hotel bist du nie gewesen. Sie radieren deinen Namen
aus, das sind Profis, die wissen, was sie machen."
"Wenn ich aber nicht da bin?"
"Die wissen, wo deine Frau wohnt. Oder deine Kinder. Wenn du erst einmal
auf der Liste der Todesschwadronen stehst, die kriegen dich, das ist ein ungleiches
Spiel, du hast keine Chance."
"Und wenn ich meinem Botschafter vorher bescheid gesagt hab -"
"Die kriegen dich, du hast keine Chance. Wer will denn beweisen, daß
sie dich haben? Wer will denn draußen wissen, in welchen unterirdischen
Gängen sie dich wohin verschleppt haben? Denen kannst du 10mal erzählen,
daß du aus der Dominikanischen Republik kommst, das kümmert die kein
bißchen."
Es ist nicht zuletzt Ernestos Einfluß, daß sich El Niño mit
der Zeit etwas besser ins Knastleben einfügt.
Cárcel de Lujo - Luxus-Knast
Einer der Wandschränke ist unauffällig aufgebrochen, mit Kreidestein haben sie ein Gedicht reingeschrieben.
Cárcel de Lujo
Nunca he visto una cárcel así
pero siempre es cárcel
televisor
muebles
buenas camas
closeth
buen baño tipo turista
pero somos presos
y es la misma mierda.
"Ich habe noch nie so ein Gefängnis gesehen, trotzdem ist es ein Gefängnis. Fernseher, Möbel, gute Betten, Klo und Dusche wie für Touristen... aber wir sind Gefangene, und es ist dieselbe Scheiße."
Vielleicht bekommen wir deshalb nichts zum Schreiben, weil sie fürchten,
daß hier hinterher alles voller Schmiereien ist.
Manchmal lassen sie uns länger fernsehen, das kommt immer auf die Wachen
an, und so kriegen wir an einem Abend einen guten Woody-Allen-Film mit, Teil
1, und noch nicht mal von Werbung unterbrochen. Sonst ist auch in Nicaraguas
staatlich-sandinistischen Fernsehen alles von Werbung unterbrochen (Final feliz
also auch), sie wollen ja nicht hinter den USA zurückstehen. Allerdings
ist es meist irgendwelche staatliche Werbung, für irgendwelche staatlichen
Banken oder ein Regierungsprojekt, Programmhinweise oder sowas.
Am nächsten Abend um halb 9 kommt Teil 2, und wo's grad am lustigsten wird,
sagen die Wachen, wir sollen den Fernseher ausmachen. Hombre. Aber alles diskutieren
hilft nichts. Ja, ist gut, Licht aus.
Bis er wieder weg ist, dann holen wir uns die Glotze ins Klo, da ist kein Fenster,
Tür zu, Ton ist nicht so wichtig: Original mit spanischen Untertiteln.
Aber die Wachen honorieren, daß Niño nicht mehr über's Essen
mosert. Besteck zum Essen bekommen wir aber immer noch nicht, das scheint Befehl
von oben zu sein, wir müssen unseren Reis immer noch mit den Fingern essen.
Wir teilen uns das Essen immer auf. Ich vertrage die Bohnen nicht, Niño
mag Yuca nicht, Dagoberto bekommt die Früchte von Ernesto.
Wir bekommen sogar ein Brett zum Dame-spielen, Niño verliert dauernd
gegen Kolumbien. Zeitungen von vor 3 Tagen bringen sie uns hin und wieder auch.
"Wollen wir unsere Adressen austauschen?" - ja, genau, das wollen
wir machen, das ist eine gute Idee.
Mal sehen, wie man an einen Bleistift rankommt.
"Hier in der Zeitung ist dieses gute Kreuzworträtsel, das würden
wir gerne machen. Können Sie uns dafür einen Stift bringen?"
Bringt er uns tatsächlich einen kleinen Bleistift an, was nicht alles möglich
ist.
Es ist sehr warm, auch abends noch lange, und manchmal spendieren die Wachen
uns Melonen. Reichen sie uns an durch das Fenster im hinteren Zimmer rein, das
brauchen die Chefs nicht unbedingt zu sehen. Ernesto organisiert sich Zigaretten,
die aber gegen harte Córdobas. Er hat ein bißchen Geld behalten,
hat er trickreich angestellt.
Die Entlassung
Die Wachen wußten nie zu sagen, wie die Sachen für uns stehen.
Es kommt ganz plötzlich. Eines Morgens in der 2. Woche kommen sie zu uns
rein, bringen meine Klamotten, ich soll die anziehen. Aha, es ist soweit. Ich
weiß immer noch nicht, was sie jetzt mit mir machen, aber es könnte
sein, daß sie mich freilassen. Niño beschreibt mir noch, wo seine
Botschaft in Managua ist.
"Was machst du danach?", fragt Dagoberto.
"Weiß nicht, vielleicht nach Südamerika."
"Nach Bogotá?"
"Warum nicht, kann auch sein, vielleicht komme ich irgendwie mal nach Bogotá."
"Da zu dieser Adresse, die ich dir geben habe, kannst du immer hingehn,
das sind nette Leute. Da kannst du immer anrufen, die helfen dir."
Sie lassen mich nicht frei, sondern sie fahren mich im Bullenwagen durch Managua
durch, verlassen die Stadt und fahren nach Süden, wobei sie sogar eine
Frau mit ihrem Kind als Anhalterin nach Granada mit reinnehmen. Einige Stunden
später sind wir an der Grenze von Costa Rica.
Den südamerikanischen Kontinent werde ich zu Fuß über den
Urwaldpfad von Panamá aus erreichen, und einen Monat später werde
ich in Bogotá eine Frau am Telefon haben, die mir sagt, ja, sie kenne
einen Dagoberto, der in Nicaragua im Knast sitzt.
"Die Adresse hat er mir auch gegeben."
"Dann komm doch einfach mal mit dem Taxi hier vorbei."
"Okay, dann komm ich jetzt gleich vorbei. Para que platicamos."
"Para que hablamos.", verbessert sie mich. Jaja, die Wörterbücher
sind auch nicht mehr das, was sie mal waren...
Ich werde 3 Monate in Bogotá bleiben und lernen, wie man Schuhe
macht, und manchmal bekommen wir einen Anruf von Dagoberto.
Dagobertos Tour
Ernesto und Niño werden sie nach wenigen Tagen auch wieder entlassen,
Dagoberto erst nach einigen Wochen.
Dagobertos Tour steht meiner auch nicht nach. Er kam illegal auf dem Land- und
Seeweg über Panamá bis nach Costa Rica, wurde dann in Nicaragua
erwischt. Abgeschoben wurde er danach wieder nach Costa Rica. Paar Wochen später
sitzt er mit einem kubanischem Kumpel im Boot und wird durch die Karibik gefahren.
Irgendwann nachts liegen sie vor einer Küste, von der sie denken, es wär
die von Florida, sie springen ins Wasser und schwimmen an Land.
Die Leute, die sie empfangen und zur Polizei bringen, sind Schwarze. Aber sie
sprechen kein englisch, auch wenn es sich so anhört, sondern garífuna.
Weil sie nämlich in Honduras gelandet sind, bei den Garífunas. 2
Tage werden sie festgehalten. Danach entlassen sie sie wieder, vielleicht über
Belize, nach Guatemala. Die Spur des Kubaners verliert sich wieder...
In Guatemala lernt er ein paar Mexikaner kennen, die ihn über die Grenze
nach Mexico helfen.
Den nächsten Anruf kriegen wir aus Monterrey, Mexico, 100 km vor Texas,
und wenig später meldet er sich aus Brownsville, Texas, USA. Haben ihm
wohl ein paar Mexikaner rübergeholfen.
Später meldet er sich noch einmal aus Houston, Texas, und nach einem Jahr
muß er es nach New Jersey geschafft haben, wo er dann blieb. Auch Dagoberto
hat immer wieder gearbeitet, und sich Geld für die Weiterfahrt zu verdienen.
Tarea in Oruro
Brief FORUM 14
15. Januar 1989, Oruro, Bolivien.
(...)
Ich kam von La Paz nach Oruro getrampt, das ist eine Großstadt etwa 200
km südlich von La Paz, auf dem Altiplano, dem Hochland von Bolivien.
Von Oruro gibt es einen befahrbaren Weg über die große Salz-Ebene
an die Grenze von Nord-Chile, der kommt an der Pazifikküste in Iquique
raus. Der Grenzort auf dem Paß in den Anden heißt Pisiga. Oruro
ist aber größer als ich dachte - nach 2 Stunden Laufen bin ich immer
noch nicht aus der Stadt.
"Buenas tardes", frage ich ein älteres Ehepaar, "ist das
hier der Weg nach Pisiga?"
"Pisiga? Ach so, ja, nach Chile, ja, das ist die Straße." -
Na endlich hab ich diese dumme Straße gefunden, wurde aber auch Zeit.
"Du willst nach Chile?"
"Ja, will ich, ist die Straße befahren?"
"Ja, da fahren Busse, aber die fahren immer morgens ab, jetzt um diese
Zeit fährt kein Bus mehr."
"Na, es muß ja nicht unbedingt der Bus sein. Ich mein, ob vielleicht
ab und zu ein paar Lkw's vorbeikommen?"
Kämen ja, aber die würden nicht anhalten. Wenn dir das die Leute sagen,
stimmt das oft auch. Zumindest, was die Einheimischen betrifft.
"Wenn sie mich nicht mitnehmen, dann geh ich eben zu Fuß."
Die Frau: "Zu Fuß? Aber es ist doch schon spät, wo willst du
da in der Pampa übernachten? Heute nacht wird es bestimmt wieder regnen."
- Auch er ist pessimistisch:
"Besser du verbringst die Nacht hier in Oruro, und morgen früh, vom
Walter-Khon-Platz, da fahren die Busse ab." - Was will ich denn im Bus?
"Ich glaube, es ist besser, ich geh zu Fuß. Vielleicht nimmt mich
ja doch ein Lkw mit." - Daß der Bus teuer sei, meine ich noch.
Sie erzählen von einem Chilenen, der wohl auch nicht sonderlich viel Geld
hatte, der 2 Wochen hier in Oruro gearbeitet hatte, um sich das Geld für
die Busfahrt zu verdienen.
"Ja wie, heißt das, das gibt hier Arbeit?"
"Ja, die bauen hier die Kanalisation, Gräben ausheben, das ist aber
harte Arbeit..."
"Und das geht, einfach eine Woche da mitzuarbeiten?"
"Ja, oder 2... wenn die einverstanden sind. Schwerarbeit ist das aber,
würdest du so etwas machen wollen?"
"Mit Spitzhacke und Schaufel?"
"Ja."
"Hm, in Mexico habe ich das auch schonmal gemacht... warum eigentlich nicht..."
"Heute ist Weihnachtssonntag, da arbeiten die nicht, morgen auch nicht,
du müßtest also bis zum Dienstag warten... du kennst natürlich
niemand hier in dieser Stadt?"
"Nein, ich komme gerade vom Titicaca-See. Ich müßte ja wo übernachten..."
"Du gehst hier 2 Blocks weiter, links rein, ein Haus mit der Nummer 34.
Sag denen, du bist ein Freund von Victor Felípez. Da kannst du bleiben,
das ist kein Problem."
Kein Problem. Eine solche Offenheit in einer Stadt habe ich bisher selten erlebt.
Victor hat 12 Kinder, 6-33 Jahre, 8 davon wohnen im Haus, darunter Hugo, der
arbeitet auch manchmal mit beim Gräben ausheben. Es ist wohl eines der
ärmeren Stadtviertel von Oruro - es gibt zwar fließend kalt Wasser
und Strom, aber was fehlt, ist Abwasser, es gibt kein Klo im Viertel. Die Straßen
sind nicht befestigt, und bei Regen verwandeln sie sich in sowas wie Schlammpisten.
Aber trotz des Geldmangels sind die Leute alle aufgeschlossen und fröhlich,
die Atmosphäre ist ganz anders als in vielen Gegenden in Peru.
Dienstag. Hugo geht mit mir zu den Arbeitern, 2 Blocks weiter. Ein paar Worte
werden mit dem Chef gewechselt - alles klar, mitarbeiten, aber immer doch, kein
Problem. Etwa 15 Leute sind es, Hugo selbst hat aber diese Woche keine Lust.
Ein bißchen erstaunt sind sie, als sie merken, daß ich gut spanisch
spreche. Manche unterhalten sich auf quechua, diese Sprache habe ich in Ecuador
gelernt, als ich einige Monate bei Hochlandindianern verbracht habe. Das bolivianische
Quechua wird nur etwas härter ausgesprochen, ich kann es aber verstehen.
Als sie sehen, daß ich ihre Indianersprache auch kann, sind sie völlig
überrascht. Aber sie haben natürlich nichts Schlechtes gesagt, als
sie sich über mich unterhalten haben.
Lección 1, wie in Mexico also: "Ziehen Sie einen Graben. Unbeirrt
und kühn entschlossen..." Aber 70 cm breit, nicht 50 cm, wie in Mexico.
Außerdem viel tiefer, teilweise bis 2 m tief. In Mexico hatte ich das
eine Woche mitgemacht, hier werden es dafür 2 Wochen sein. Es ist doch
immer ein ganz anderes Gefühl, mit Spitzhacke und Schaufel zu sehen, was
alles in eim drinsteckt.
Lección 2: Arbeitszeiten. In Mexico hatten sie die Pausen von der bezahlten
Arbeitszeit abgezogen, 7-17 Uhr, Samstag nur bis 12.00, machte etwa 45 Stunden
in der Woche. Hier in Bolivien gibt es außer mittags eine Stunde gar keine
Pausen, gearbeitet wird von 8-17 Uhr, samstags genauso, macht 48 Stunden in
der Woche. Obwohl, sie machen es so, daß sie täglich eine Stunde
mehr arbeiten (8-18 Uhr), dafür haben sie am Samstag nachmittag dann frei.
Lección 3: Akuli. Keiner hält diese harte Arbeit 4 Stunden hintereinander
ohne eine Pause durch - also wird eben eine bezahlte Pause gemacht, eine um
zehn und eine um vier, so 15 Minuten. Je nachdem, wie hart die Arbeit ist, oder
eine halbe Stunde. Akuli ist quechua und heißt soviel wie "Kau-Zeit",
das kommt daher, weil sie früher in der Pause immer Coca-Blätter gekaut
haben. Muß früher weit verbreitet gewesen sein. Das Grün in
der bolivianischen Flagge hängt auch mit der Coca-Pflanze zusammen.
Lección 4: Tarea. Wörtlich übersetzt heißt das etwa "Aufgabe".
Das ist mies, wenn das kommt. Das gab's in Mexico nicht: Bezahlung nach Leistung,
nicht wie sonst nach Arbeitszeit. Am zweiten Tag werden ein paar Linien auf
die nächste Straße gezogen, und jeder bekommt ein 3,50 m langes Stück
- und soll dann das Stück Graben ausheben. 1,30 m tief. Die Arbeit gilt
für einen Tag. Wer fertig ist, kann also heimgehen. Oder aber, und das
machen Solís und die anderen Strongies, gleich noch eine tarea machen
- das macht dann also 2 Tageslöhne.
Wer es aber nicht schafft, muß am nächsten Tag noch an der alten
tarea weitermachen und bekommt also für den nächsten Tag keinen Lohn.
Was das Gemeine bei der Sache ist, ist, daß die tarea-Abschnitte nicht
alle gleich schwer sind, weil der Boden unterschiedlich ist, und nur Solís
und solche Spezialisten, die schon länger dabei sind, sehen, wo leichter
Sandboden drunter ist, und suchen sich gezielt diese Stücke aus. Bei Sandboden
muß man nicht mit der Spitzhacke erst alles lockermachen, da kann man
einfach alles mit der Schaufel rausnehmen, das ist wesentlich einfacher. Zum
Glück gibt es diese tareas nur etwa einmal in der Woche.
Blasen an den Händen, wie in Mexico, habe ich hier nicht, weil ich hier
von Anfang an mit Taschentüchern arbeite. Trotzdem bin ich am Mittwoch
total fertig und bin froh, daß Hugo kommt und mir den Rest der tarea macht.
Ab 1 m Tiefe steht Wasser, das ist dann besonders toll.
Bezahlt werden wir aus La Paz, vom Sozialministerium, weil es sich um irgend
so ein Sozialprogramm handelt. Die strongsten Arbeiter sind hier jetzt schon
über ein Jahr dabei, es sind ehemalige Minenarbeiter, die entlassen wurden,
als die Minen dichtgemacht wurden, unter der neuen Regierung. Da hatten sie
ihnen diese Alternative angeboten. In den Minen hatten sie etwa das doppelte
verdient. Angeblich liegt die Arbeitslosigkeit in Bolivien bei 11,5 %.
Lohn: 7,- Bolivianos Tageslohn. Macht für mich also 35,- Bs. die Woche,
wir haben beide Montage nicht gearbeitet. Das sind etwa 24,- DM Wochenlohn,
in Mexico waren es etwa 10,- DM. Die Inflation ist in Bolivien mit 20 % im Jahr
sogar überraschend gering, in Peru und Brasilien sind es über 800
%, in Argentinien waren es letztes Jahr 370 %. In den letzten 2 Monaten lag
die Rate in Bolivien sogar unter 1 %, das ist in Lateinamerika wirklich außergewöhnlich.
Es ist ohne weiteres möglich, auf der Straße Dollar zu tauschen:
pro Dollar 2,51 Bs. im Ankauf und 2,49 Bs. im Verkauf. Auch diese geringe Differenz
ist sehr ungewöhnlich.
Der Schutzhelm aus La Paz
Die Höhe über dem Meeresspiegel liegt bei 3720 m, und ich dachte,
mir würde vielleicht irgendwann die Luft mal ausgehn - aber dieser Moment
kam irgendwie nicht.
Wer aber kam, war viel schlimmer - aus La Paz: Félix, der andere Chef.
Der, der uns auch auszahlt und sehen will, ob wir auch gut arbeiten. Félix
heißt er nur, wenn er dabei ist. Sonst nennen sie ihn Casco - "Schutzhelm"
heißt das, weil er der einzige ist, der weit und breit dick mit leuchtend
gelbem Schutzhelm rumläuft. Daß der Casco beliebt ist, kann nicht
gerade behauptet werden: er bringt es fertig, stundenlang neben uns zu stehen
und zuzuschauen, wenn wir den Graben wieder zuschaufeln.
Der Casco läßt keine Pausen zu, der andere Chef hatte das mit dem
akuli irgendwie noch toleriert und nichts gesagt und war auch öfters mal
weggegangen. Wenn er da war, hat er auch öfter mal selber mitgeschaufelt.
Es ist ein richtig mieses Gefühl, sich beim Graben-zuschaufeln von einem
Typen beobachten zu lassen, der nur bezahlt wird, um neben uns zu stehen und
uns zu überwachen. Und natürlich nichts selber arbeitet und dafür
dann mehr Lohn bekommt.
Endlich sind wir mit dem Zuschaufeln fertig, er teilt die Gruppe auf, 9 von
uns sollen alleine nach oben gehen, 5 Blocks weiter, und dort den Graben von
gestern zuschaufeln. Dieser Casco macht einen total fertig.
"Ja, hopp, ist doch gut, gehn wir nach oben."
Ich soll mit. Na gut, gehn wir eben nach oben.
Wenn sie nicht so schnell gehen würden, könnten sie 10 Minuten für
den Weg brauchen... warum gehen die denn so schnell, der Casco ist doch mit
den anderen Arbeitern unten geblieben. Vielleicht haben sie Angst, daß
er nachkommt und sie beim Trödeln erwischt. Komischen Weg gehen sie. Ich
wäre ja jetzt links gegangen.
Sagmal, warum bin ich eigentlich total fertig und langsam und tierisch froh
über die paar Sekunden Pause, und die freuen sich, daß sie nach oben
gehen dürfen und dort weiterarbeiten?
Noch ein Block quer -
"Hier?"
"Ja, hier, das ist gut."
"Alles hinsetzen, akuli !"
"Hopp, hol die Liste raus!" - Lima hat pastelitos dabei, Gebäck
von zuhause, bezahlt wird am nächsten Zahltag...
Ich wußte doch, daß die nicht so geil auf's Arbeiten sein können.
Wenn der Casco weg ist, werden die Pausen nachgeholt. Deshalb haben sie sich
also so gefreut, daß sie nach oben gehen durften. Wenn der Casco zum Kontrollieren
kommt, ist er schon von weitem in der Menschenmenge auf der Hauptstraße
auszumachen: seinen gelben Schutzhelm hat er immer auf.
Anfang der zweiten Woche kommt es dann ganz dick: jetzt gibt der Casco uns die
tarea : keine 3,50 m langen Stücke, sondern 5 m, wenn auch nur 1,10 m tief.
Hugo und ich wollen zusammenarbeiten und 10 m machen.
Wir wechseln uns ab, es ist wirklich sehr schwere Arbeit. Wir haben bei der
Vergabe wieder Pech gehabt, die Erde ist sehr schwer, mit blöden Steinen
drin, die erhoffte Sandschicht kommt und kommt nicht. Bis ganz unten müssen
wir mit der Spitzhacke arbeiten, es wird halb 8 Uhr abends, aber wir schaffen
es.
Hugo hat am nächsten Tag keine Lust mehr, das mit dem Casco ist ihm zu
schwer. Er will sich woanders Arbeit suchen. Ich habe das Gefühl, daß
ich am Ende sogar etwas mehr geschafft habe als Hugo, der 4 Monate hintereinander
mit Spitzhacke und Schaufel gearbeitet hat.
Das muß ich mir mal reinziehn, ich hab da 4 Kubikmeter feuchte, schwere
Erde an einem Tag rausgeholt, so schwer hab ich wohl noch nie gearbeitet. Und
das ausgerechnet in fast 4000 Meter Höhe.
Den ganzen Donnerstag sind wir dabei, Gräben zuzuschaufeln. An sich ist
das keine sehr harte Arbeit, von Natur aus ist das viel leichter als Gräben
auszuheben. Aber fast den ganzen Tag ist der Casco dabei - es kann ihm nicht
schnell genug gehen. Bescheuert ist das - du bist gezwungen, den Moment abzuwarten,
wenn der Casco mal wegkuckt oder vielleicht mal für 5 Minuten woanders
hingeht - kein Mensch arbeitet dann mehr. Schon am Mittag bin ich vollkommen
groggy, es ist bei ihm einfach nicht möglich, auch nur einen kleinen Ansatz
von Arbeitsrhythmik zu entwickeln.
Es spricht sich das Gerücht rum, daß wir morgen wieder tarea bekommen.
Nee - so jedenfalls nicht. Ich gehe nach Hause und pack mich erstmal, vollkommen
fertig, in den Schlafsack.
"Wenn sie morgen wieder tarea geben, dann kommst du um 12, dann helfe ich
dir am Nachmittag", meint Hugo.
"Ich weiß nicht. Es kommt auf die Tiefe an. Ich glaub, wenn er uns
mehr als 1 m gibt, werd ich gar nichts machen. Ich bin absolut fertig. Naja,
muß mal sehn, wie ich morgen drauf bin... "
Der Casco gibt immer 5 m lange Stücke, und 70 cm breit müssen sie
auch immer sein. Nur die Tiefe variiert. Allerdings wäre 1 m oder noch
weniger nicht sehr wahrscheinlich.
Spannung am Freitag morgen
"Also, mit dir und mit dir, wir gehn nach oben, ja, Vicente, auch mit
dir, Francisco auch mit nach oben...", manchmal spricht der Casco ein bißchen
komisch. Er sagt auch "taréu" statt "tarea".
8 Leute sollen also mit nach oben kommen. Der Casco selber will mit den Arbeitern,
die Gummistiefel haben, unten bleiben und im Wassergraben arbeiten. Vicente
beschreibt er kurz, wohin wir gehen sollen, wir gehen schön brav hoch,
aber wir wissen immer noch nicht, was wir da machen sollen. Spannend. Vielleicht
Gräben zuschaufeln, das wäre gut. Hoffentlich Gräben zuschaufeln.
Es ist ein Stadtviertel, das am Hang liegt. Also 3740 m NN.
5 Minuten später wissen wir bescheid, als ein Typ mit Metermaß und
Leine ankommt... der Casco kommt dann auch - klar, anders konnte es nicht kommen:
"taréu."
Tiefe: 1,10 m.
Warum akzeptiere ich ein 5 m langes Stück Tarea, wo schon vorher klar ist,
daß hier am Hang alles voll mit Steinen ist, die man nur mit der Spitzhacke
rausklopfen kann? Warum bin ich so blöd und akzeptiere 5,00 x 1,10 x 0,70
= 3,85 Kubikmeter Steineklopfen? Auf fast 4000 Meter Höhe, die ganze Zeit
unter der Sonne, die hier am Mittag senkrecht steht?
Weil ich ein Trottel bin. Am Mittag habe ich vielleicht 20 oder 30 cm Tiefe
geschafft, aber es zeichnet sich kein bißchen Besserung ab, der Boden
ist voller Steine. Also, so bringt's das jedenfalls nicht.
Mittagspause, ab nach Hause - Hugo ist gar nicht da, ach, vergiß es doch.
Also alleine weitermachen. Eine halbe Stunde mach ich noch weiter, dann hab
ich keine richtige Lust mehr. Die Kinder aus der Nachbarschaft helfen mir, denen
bringt das richtig Spaß, mit wesentlich mehr Ehrgeiz sind die dabei.
"Wir machen hier weiter, bis unten" - bei dem Boden, ich weiß
nicht.
Ach, das bringt's nicht, ich geh runter zu Vicente, der hat sich gleich 2 tareas
= 10 m abmessen lassen, weil er dachte, der Boden wäre leicht. Ist er aber
auch bei ihm nicht. Nee, das bringt's doch nicht, da oben ohne Hoffnung auf
die Steine einzuhauen für die 7,- Bolivianos, dann schon lieber hier unten
Vicente ein bißchen helfen.
Auch wenn Vicente etwas leichteren Boden hat als ich - die 10 m wird er heute
auch nicht mehr schaffen, das ist klar. Also sind wir zu zweit dabei. Es scheint
zunächst ganz gut zu gehen, aber nach einer etwas leichteren Schicht kommen
wieder Steine, und zwar die ganz dicken. Das sind die miesesten. Da kann man
den Boden mit der Spitzhacke nur ganz langsam und vorsichtig bearbeiten. Wenn
man mit der Spitzhacke voll auf einen großen Stein haut, ist das der schnellste
Weg, sich offene Blasen an den Händen zuzulegen. Es fängt aber trotzdem
fast an, Spaß zu machen, der eine klopft solange Steine, bis er nicht
mehr kann, der andere räumt sie dann mit der Schaufel alle raus. So hat
man immer gut Zeit, sich auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln. Arbeitsrhythmik.
Hin und wieder wechseln wir die Geräte, weil das Hacken anstrengender ist.
Um 6 Uhr hören wir auf - 5 ½ oder 6 m haben wir heute geschafft,
fehlen immernoch gut 4 m. Na, wenigstens etwas. Die Kinder sind da oben bei
meiner tarea immer noch dabei, sind aber wie erwartet nur wenig weitergekommen.
Logo. Vielleicht kann man ja mit dem Casco reden, daß er uns die Arbeit
von heute als Tageslohn anrechnet.
Kann man nicht.
Also am nächsten Morgen wieder hoch, Samstag, die tarea zuende machen.
Es ist also klar, daß wir für die 2 Tage Arbeit nur einen einzigen
Tageslohn bekommen, den Samstag arbeiten wir also umsonst. Nur Vicente nicht,
weil der bekommt ja Lohn für 2 tareas.
Ach, was solls, aus irgendeinem Grund hab ich heute trotzdem noch Bock, zu arbeiten,
ob der Casco jetzt zahlt oder nicht. Außerdem ist es mein letzter Arbeitstag,
das muß ich doch ausnützen, wer hat denn schon wie ich die Gelegenheit,
in Bolivien mit Spitzhacke und Schaufel Gräben ausheben zu können?
Also erstmal zu meiner eigenen tarea gehen.
Oh - die Kinder sind tatsächlich ein bißchen weitergekommen. Vielleicht
50 cm tief sind sie jetzt oder sogar etwas mehr, aber leider sieht der Boden
immernoch genauso hart aus. Nein, komm, laß es, ich geh lieber wieder
runter zu Vicente, der schon seit 7 Uhr morgens dabei ist. Die letzten 4 Meter
sind noch schwerer als der Murks von gestern.
Kommt der Casco, kuckt sich die Arbeit an, geht zu meinem Stück hoch, weil
ich ihn ja gestern angesprochen hatte, weil es so schwer war... - ich gehe auch
hin und sehe die Überraschung: er ist mit der Spitzhacke in meinem Stück
dabei, "was willst du denn, der Boden ist doch hier ganz leicht",
hackt auf die Steine ein, als wär's Butter.
Ja, das gibt's ja tatsächlich nicht. Es ist wiklich viel leichter als gestern,
auch ist es viel leichter als bei Vicente. Die ersten 50 oder 60 cm waren wie
einbetonierte Steine, aber in der Schicht darunter liegen die Steine total locker
drin - es dauert keine 2 Stunden und ich habe die tarea fertig! Ha, das macht
immerhin einen Tageslohn für 2 Tage Arbeit!
Lohnauszahlung in den Anden
Danach geh ich wieder runter zu Vicente. Ein bißchen machen wir noch,
kommen nur ganz langsam vorwärts... es bleibt ein Stück von etwa 2
Kubikmetern, als Vicente um halb 1 einpackt und geht - er will am Montag wiederkommen
und das Ding zuendemachen. Na okay, dann geh ich eben auch, erstmal was essen.
Die meisten anderen gehen auch heim oder sind schon gegangen. 5 m weiter ist
Alex noch dabei, er sagt, er will weitermachen, bis er durch ist, vielleicht
2 oder 3 Stunden wären das noch.
Vicente ist zwar wirklich ziemlich fertig, das ist aber nicht der Grund, weshalb
er keinen Bock mehr hat:
"Wenn sie uns nicht auszahln... -", weil angeblich "kein Geld
da" sei.
Das gab es in Mexico nicht. Samstag gab es immer Lohn, 18000 Pesos, für
jeden. Ohne Zahlungsverzögerung. Hier in Oruro zahlen sie mit Glück
alle 2 Wochen mal was, letzten Samstag haben sie aber nur den halben Lohn ausgezahlt
und die Leute auf heute vertröstet, diesen Samstag haben sie aber angeblich
gar nichts... müßten sie nächsten Samstag also 2 ½ Wochenlöhne
zahlen. In Peru muß das natürlich noch viel mieser sein, wenn sie
den Arbeitern in den Minen monatelang die Löhne schulden, bei einer Inflation
von 1300 % im Jahr.
Es ist von daher etwas verständlich, daß sie in Bolivien die Regierung
gut finden, die zwar die Minenarbeiter hier alle entlassen hat (auf Druck vom
Währungsfonds), dafür aber die Inflation gestoppt hat. So wirkt es
sich nicht ganz so katastrophal aus für die Arbeiter, wenn sie ihre Löhne
einen Monat später bekommen, wie das in den Anden so Sitte zu sein scheint.
Viele Unternehmen halten das so, und machen bei der hohen Inflation ihre Geschäfte
damit.
Nach dem Essen geh ich nochmal hoch, zu Alex, der wirklich ganz schön schlapp
ist, und mach mit ihm seine (auch zweite) tarea zuende. Klar ist er schlapp
- wie will er denn den ganzen Samstag volle Pulle arbeiten, ohne was dazwischen
zu essen? Und mehr als ich hat er bestimmt nicht gefrühstückt - eine
Tasse Tee und ein Brötchen, selbstverständlich trocken.
Alex ist noch keine 2 Monate dabei. Vicente rödelt hier schon seit 6 Monaten,
hat aber auch woanders schon mit Spitzhacke und Schaufel gearbeitet. Ist auch
Anfang 20. Ich gehe nochmal zu dem Stück von Vicente und schaue es mir
an, in der Mittagssonne...
... und 4 Stunden später schaue ich es mir nochmal an. Und stelle fest,
daß ich einen Arbeitsanfall bekommen hatte und Vicentes tarea zuende gemacht
hatte. 2 Kubikmeter Erde in 3 ½ Stunden Arbeitszeit auf fast 4000 Meter
Höhe. Ich hätte nicht gedacht, daß ich das schaffen würde.
Die Kinder haben mir allerdings beim Schaufeln wieder geholfen, und ein Nachbar
hatte mich zum Tee eingeladen.
Eine Woche blieb ich noch in Oruro, ich mußte ja auf den Lohn warten,
auf nächsten Samstag. Vicente muß am Montag morgen ein gutes Gesicht
gemacht haben. Er war wirklich total fertig und war froh, daß er wieder
nach Hause gehen und sich noch einen Tag ausruhen konnte.
Den Lohn haben sie am nächsten Samstag ausbezahlt, für mich vollständig,
weil ich ja nach Chile wollte, aber den anderen blieben sie wieder 1 ½
Wochenlöhne schuldig...
nur bis hier, Rest raus (?)
Noch 2 Kubikmeter Bolivien
2 Kubikmeter fehlen Vicente. Macht er die am Montag zuende, hat er 2 tareas
in 3 Tagen geschafft, also einen Tag praktisch umsonst gearbeitet. Es ist Samstag
nachmittag, 2 andere Arbeiter sind ein paar Meter weiter oben aber auch noch
bei ihren tareas dabei, verdammt schwerer Boden... wie es bei mir zuerst auch
war... sie wollen bis 6 Uhr arbeiten. Vicentes Stück hat nicht ganz so
schweren Boden... 2 Kubikmeter... hm, rechnen wir mal nach.
10 m lang mal 1,10 m tief mal 70 cm breit = 7,7 m3... gestern vormittag er allein,
danach mit mir, haben wir vielleicht 4 ½ m3 geschafft. Heute vormittag
hat Vicente, größtenteils allein, in 5 ½ Stunden, noch 1 oder
1,2 m3 rausgeholt - und will die restlichen 2 m3 am Montag rausholen, müßte
also mit etwa 8 oder 9 Stunden rechnen.
2 Kubikmeter... eigentlich hab ich noch ein bißchen Lust. Ich habe auch
gut zu Mittag gegessen. Diese Spitzhacke hier, da steht sie so einladend...
Ach, gehst her. Doch, ich mache in Vicentes Stück noch ein bißchen
weiter. Ich fange an, in den Steinen rumzumurksen... nach einer halben Stunde
habe ich vielleicht 10 Schaufeln rausgekriegt, das ist wenig. Irgendwie bin
ich noch von gestern fertig. Oder von heute vormittag? Oder von der ganzen Woche...
oder von Donnerstag, wo uns der blöde Casco beim Zuschaufeln so gescheucht
hat... vielleicht liegt es auch an der Sonne, wie gestern hat es fast keine
Wolken.
Von einem Haus hole ich mir einen ganzen Eimer voll Wasser (das ist trinkbar
hier in dieser Stadt), ich trinke einen halben Liter aus, jetzt geht's besser.
Vielleicht war es ja das, was mir gefehlt hatte.
2 von den Kindern kommen wieder an, und damit irgendwann auch die Frage:
"Können wir dir helfen?"
"Wenn ihr wollt..." - einer nimmt die Spitzhacke, der andere die Schaufel,
und so hacken sie ein wenig auf den 2 Kubikmetern herum. Das ist gar nicht so
einfach, die Spitzhacke richtig zu gebrauchen... ja, das sieht so leicht aus,
wenn die Arbeiter das machen, aber ihr seht, das muß man auch gelernt
haben.
Wart mal, die da oben wollen bis 6 Uhr durchmachen, das sind noch 4 Stunden...
ich glaub, ich entschließ mich auch, bis vielleicht um 6 hier rumzurödeln,
dann muß Vicente am Montag vielleicht nur den halben Tag arbeiten, das
wird ihm guttun.
Nee, mit der Spitzhacke können sie wirklich nicht umgehn, da kann ja kein
Mensch zuschaun. Also nehm ich wieder die Spitzhacke und hacke ihnen ein bißchen
was raus, und sie wechseln sich im Schaufeln ab. Das ist jetzt der Augenblick,
wo ein kleines bißchen Kopfarbeit gefragt ist: es ist hier wichtig, daß
die Schaufel ständig im Einsatz ist, die Spitzhacke kann ausruhn. Nur die
Schaufel bringt die tarea wirklich weiter. Sie müssen ständig was
zum Rausschaufeln haben.
Also hacke ich an 2 Stellen, hinten und vorne, immer abwechselnd, solange, bis
sie gegenüber zuende geschaufelt haben, dann gehe ich auf die andere Seite.
Und ich habe sogar etwas Glück: der Boden wird eine Idee leichter, ich
halte mit ihnen gut mit, kann ihnen immer genug zum Schaufeln raushacken.
Inzwischen ist Nachmittag, einer der Nachbarn lädt mich zum Tee mit Brötchen
ein, genau wie gestern nachmittag die eine Frau 3 Häuser weiter oben. Mir
kommt eine Idee... das wär doch ein Riesen-Gag, wenn ich jetzt Vicentes
tarea komplett zuende machen würde! Ich stell mir sein Gesicht am Montag
vor, wenn er am Morgen da völlig lustlos angelatscht kommt und seine tarea
fertig gemacht sieht. Hey, das wär doch der volle Gag. Ich glaub, ich hab
mir schon lang kein wirklich guten Gag mehr geleistet. 2 Kubikmeter, es wäre
vielleicht tatsächlich zu schaffen...
Brötchen und Tee (mit Zucker!) und paar Minuten ausruhn - das ist jetzt
das genau 1A-Richtige, was mir momentan passieren kann. Diese Gegend hier oben
taugt wirklich mehr als das graugelbe, staubige, verkehrsreiche Stadtviertel
weiter unten. Wo die Typen, die an der Straße entlaggetrottelt kommen,
jedesmal einen halben Genickbruch kriegen, wenn sie mich da als einzigen blonden
Weißen unter den Arbeitern sehen. Ich kam mir bald vor wie im Zoo da unten.
Am härtesten war der eine Typ, da haben sich sogar Lima und die anderen
an den Kopf gefaßt, die das mitgekriegt hatten: das war, als wir wieder
mal mit unseren Geräten über den Schultern die Straße langgelatscht
kamen. Irgendso ein Typ sah mich da also, und zwar als ich schon vorbeigegangen
war, drehte sich um, rannte ins Haus: "Mami, Mami!"
So, genug ausgeruht, weiter an der tarea. Ein Riesen-Monster-Stein liegt drin,
den brauchen wir aber nicht rausholen, das machen die, die nächste Woche
die Rohre legen. Die Kinder haben zwar bald keine Lust mehr - nur einer ist
noch gekommen, vielleicht 12 ist er, er bleibt noch.
Dafür lege ich jetzt erst richtig los. Jetzt wird diese Erde einmal richtig
in Grund und Boden gehackt, anders hat sie es doch gar nicht verdient. 2 Kubikmeter
nicht schaffen, das wäre ja noch schöner. Das werden wir ja noch sehn.
Dieses miese Tarea-System. Dieser miese Casco. Vicente die dicke tarea aufbrummen,
und vor allem: mir auch! Uns umsonst arbeiten lassen!
Die glauben wohl, was sie mit mir machen, können sie mit Vicente auch machen.
Dieser Graben scheint also zum Casco zu halten und glaubt wohl, er könnte
meinem Arbeitsanfall standhalten. Nichts, getäuscht hast du dich! Glaub
ja nicht, daß du mit der Tour durchkommst! Du solltest schleunigst die
Seiten wechseln, du bist nämlich auf der Verlierer-Seite.
So, aha, er überlegt sich was Neues. Noch schwerere Erde. Soso, mich also
auf die Probe stellen wollen. Aber nicht mit mir. Wenn du es doppelt so schwer
machst, dann hau ich eben doppelt so hart auf dich ein. Ich hasse Gräben,
besonders solche mit einer Einstellung wie du.
Du denkst wohl, ich bin irgendso ein dahergelaufener Depp. Wenn du glaubst,
du könntest dieses miese Tarea-System auch noch aktiv durch besonders festen
Boden unterstützen, dann bist du falsch gewickelt! Ist dir überhaupt
klar, auf wessen Seite du da stehst?! Die Löhne zahlen sie noch nicht mal
aus! Dich mach ich fertig!
Oder glaubst du, daß ich nicht richtig arbeiten kann? Du bist wohl der
Meinung, die Deutschen seien alle Trottel und nicht richtig klar in der Birne?!
Gut, das mag sein, aber davon hast du jetzt auch nichts, hehehe. Und noch ein
Schlag, und noch ein Schlag, so, jetzt zeig ich's dir, und noch ein Schlag,
und...
"Ich kann nicht mehr, kannst du mal die Schaufel nehmen ?" - oh, jetzt
merke ich ja erst, daß ich den jungen Freund da voll in Trab halte.
"Ja, genau, gib die Schaufel her, das kriegen wir auch noch hin... wir
machen das so: ich schaufel immer diese Seite, und du danach die andere, okay?"
"Ja, gut, das ist glaub ich besser."
So, und raus mit der Erde, raus damit, raus damit, und damit auch, und damit
- warum bist du so ein mieser Stein? Du hast hier gar nichts zu melden! Mach
hier keine Faxen, du kommst genauso raus wie alle anderen auch... so, und der
Rest auch. Hier, Junge, hast du die Schaufel, und jetzt wird wieder weitergehackt.
2 Kubikmeter, das wäre doch gelacht.
Und noch eine Runde, und noch eine, bis es schließlich soweit ist:
"Und jetzt paß gut auf, jetzt kommt der Moment: jetzt hacken wir
da oben rauf, siehst du...- zack! - siehst du, wie das geht? - Zack! - und zack!
und nochmal: zack! - so einfach war das - so, das war der Durchbruch, jetzt
hat er verloren! ¡Perdió! Der Rest ist nur noch Technik, in einer
halben Stunde können wir einpacken und nach Hause gehn."
Um halb 6 (!!) werde ich 2 Kubikmeter Erde zusammengehackt haben! Und etwa
ein Viertel davon nur selber rausgeschaufelt, den Rest haben die Kinder gemacht.
So, das mußte einfach mal sein.
Wow! Vicentes tarea ist fertig! Und er weiß es noch gar nicht! Dieser
Gag !
Eine Woche blieb ich noch in Oruro, ich mußte ja auf den Lohn warten,
auf nächsten Samstag. Vicente muß am Montag morgen ein gutes Gesicht
gemacht haben. Er war wirklich total fertig und war froh, daß er wieder
nach Hause gehen und sich noch einen Tag ausruhen konnte.
Den Lohn haben sie am nächsten Samstag ausbezahlt, für mich vollständig,
weil ich ja nach Chile wollte, aber den anderen blieben sie wieder 1 ½
Wochenlöhne schuldig...
Impressionen aus dem Hochland
Brief FORUM 15
28. Januar 1989, Puente Alto bei Santiago de Chile.
(...)
Bolivien ist irgendwie das urigste der Länder Südamerikas. Wie bei
allen Ländern in diesem Kontinent ergaben sich die Staatsgrenzen als Erbe
der Kolonialmächte (hier Spaniens), und denen war es ziemlich egal gewesen,
was für Völker in den einzelnen Verwaltungsgebieten lebten.
So werden in den bolivianischen Regionen vor allem 3 Indianersprachen gesprochen:
quechua und aimará vor allem im Hochland, und im Tiefland im Südosten
guaraní. Als sich die ersten Staatsmänner Boliviens (spanische Militärs
waren das) dann die Landessprache aussuchten, nahmen sie spanisch. Und das war
gar kein so schlechter Zug, denn spanisch mußten alle Indianer neu lernen,
und kein Indianervolk war bevorteilt worden. So erzählen sie mir die Geschichte
in Oruro, wo etwas mehr quechua als aimará gesprochen wird. In La Paz
dagegen wird vor allem aimará gesprochen.
Die Menschen hier im Hochland sind alles ganz dunkelfarbige Indianer. Was für
Südamerika auch außergewöhnlich ist, ist, daß vor allem
bei den Aimarás die Frauen den wirtschaftlichen Mittelpunkt der Familie
bilden. Sie sind es also, die die Produkte des Landes handeln; der ganze Markt
von La Paz wird von Frauen bestimmt, die morgens mit allen möglichen Waren
aus den Provinzen in die große Stadt fahren. Sie sagen mir, die Ehemänner
bekommen ihr Geld von den Frauen zugeteilt.
So dürften die Frauen auch für einen Großteil der staatlichen
Einkommen verantwortlich sein. Es scheint mir, daß die Frauen in diesem
Land, das offenbar vom spanischen Machismo nicht ganz so viel mit auf den Weg
bekommen hat, im Vergleich bessere berufliche Aufstiegschancen haben als in
anderen Ländern des Kontinents. Eine Nachbarin sagt mir in Oruro, sie möchte,
daß ihre Tochter auf die höhere Schule kommt, deutsch lernt und später
vielleicht in Deutschland studieren kann. Sie erzählte mir auch, daß
sie stolz darauf sei, daß Bolivien einmal etwa ein Jahr lang von einer
Präsidentin regiert worden war. Ein Jahr sei gar nicht so schlecht gewesen,
in einer Zeit, wo die durchschnittliche Zeit, die bis zum nächsten Militärputsch
verging, bei 8 Wochen lag.
Worüber ich beim Gräben ausheben auch erstaunt war, war, daß
die technische Leitung über das Kanalisationsprojekt der Stadt bei einer
Frau lag. Die Architektin kam einmal in der Woche aus La Paz und begutachtete
die Arbeiten, ließ sich genau erklären, wieweit sie schon gekommen
waren, überprüfte, ob sie sich an die Pläne gehalten hatten...
und es schien für die Arbeiter und die Chefs eine Selbstverständlichkeit
zu sein, daß sie alle unter der Leitung einer Frau arbeiteten.
Vielleicht haben sie im Sozialministerium ja die Erfahrung gemacht, daß
die Frauen tatsächlich verantwortungsbewußter und zuverlässiger
arbeiten, und daher einem weiblichen Architekturbüro in La Paz den Auftrag
erteilt.
Der Weg in die Anden
Nachdem ich 3 Wochen in Oruro verbracht habe, gehe ich zu Fuß die Straße
nach Chile raus, die Sandpiste, die über den vertrockneten Salzsee über
den Altiplano nach Pisiga führt... und siehe da, der erste Lkw, der die
Straße entlanggefahren kommt, hält an und nimmt mich mit. Zu irgendeiner
Kreuzung, ab da gehe ich zu Fuß weiter, eine Stunde in der Sonne, dann
kommt wieder ein Lkw, der nimmt mich bis Ankarabe mit. Das ist so eine Art Truck
stop, von da geht es weiter mit einem anderen Lkw bis Huachacallo, wir kommen
in der Dämmerung an, hier haben wir den Altiplano hinter uns, und es fangen
die Berge an. Diese kleinen Lkw's vom Altiplano fahren nicht weiter, ich muß
im Militärhäuschen warten. Um Mitternacht sollen die großen,
robusten Trucks hier durchkommen, die einzigen Fahrzeuge, die der harten Tour
durch die Berge standhalten.
Hier in dieser Gegend fahren nur Lkw's. Sie transportieren Waren von der chilenischen
Küste über die Pässe in den Anden und über die Salzebenen
in das Innenland von Bolivien. Huachacallo liegt schon über 4000 m hoch,
ein bißchen am Hang, so daß die Ebene ganz gut zu überblicken
ist.
Mitternacht. Lichter in der Ferne. Da kommen die ersten Trucks. Einer, zwei,
drei, da ganz hinten noch zwei... ein ganzer Konvoi, mit weißen und bunten
Lichtern, der sich bedächtig über die Ebene dem kleinen Ort nähert.
Vor der Schranke müssen sie anhalten. Große alte Laster mit verbeulten
Blechschnauzen, der ganze Lade-Aufbau aus Holz, in bunten Farben angemalt, violett
und blau einige, gelb und grün andere, alle über und über mit
Dreck bespritzt, und überall leuchten rote, grüne oder blaue Lichter
von den Seiten. Sie kommen aus dem Hinterland, viele hundert Kilometer aus dem
Osten, und sind bestimmt alle schon viele Stunden, Tage und Nächte unterwegs.
Hier müssen sie alle anhalten, die Papiere und die Ladung werden kontrolliert.
Die Motoren hören sich trotz ihrer Lautstärke nicht aggressiv an,
das haben sie gar nicht nötig. Sie klingen eher wie sich konzentrierende
Raubtiere, die genau wissen, daß sie gleich dran sind. Sie beziehen das
widerhallende Echo der Berge in ihr Ritual mit ein. Ohne jede Diskussion scheint
ihnen die Stille der Nacht respektvoll den Vorrang zu lassen.
Die ersten, die vorbeikommen, nehmen die Leute mit, die schon am längsten
gewartet haben. Irgendwann bin ich auch an der Reihe, es ist ein ehemals weißer
Lkw, aber über und über voll mit lehmiger Erde. Die beiden Fahrer
nehmen mich zu sich nach vorne in die Kabine. Und los, Huachacallo bleibt hinter
uns.
Fernfahrer in Bolivien
Sie finden es ganz interessant, sich mit mir zu unterhalten. Später
merke ich, daß ich vergessen hatte, sie zu fragen, bis wohin sie eigentlich
genau fahren. Ich hoffe mal, bis runter an die Küste. Soll ich sie fragen
oder nicht? Nein, ich frag sie lieber nicht, das wäre nicht meine Art,
sowas zu fragen. Ich kann mir denken, daß sie irgendwo hinfahren, und
mehr brauch ich auch nicht zu wissen. Ich hoffe einfach mal, daß sie nach
Chile fahren.
Der eine ist doch kein Fahrer, sondern ein Geschäftsmann aus Cochabamba,
der nach Iquique an die Küste reisen will. Das bedeutet, daß der
Fahrer alleine fährt, und zwar schon seit Cochabamba. Und das sind vielleicht
1000 km von hier. Bei diesen Straßen.
"Ach, 2 Tage, das ist nichts, das bin ich gewohnt. Es ist ja nur eine Tour
von Cochabamba. Die Straßen von da gehen ja noch. Oft bin ich ja schon
die Strecken hinter Cochabamba in den Osten gefahren, nach Santa Cruz de la
Sierra und noch weiter, mit voller Ladung, das ist richtig hart."
In Deutschland dürfen die Trucker nicht länger als 4 Stunden oder
so am Steuer sitzen, mich würde mal interessieren, wie das hier ist.
"Wieviele Stunden fährst du denn so an einem Stück?"
"Das längste sind 4 Tage, kommt auf's Wetter an. Ich selber fahre
ungern länger als 3 Tage, ich finde, das ist ungesund..."
"Wow, 4 Tage! - Nein, ich meinte, wieviele Stunden fährst du an einem
Stück, ohne zu schlafen?"
"Ja, wie gesagt, ich fahr 3 Tage. Ich fahr nicht gerne länger."
"Aber ich meinte, von einer Schlafpause zur anderen, wie lang du da fährst,
das meinte ich."
"Ich sag doch, 3 Tage."
Er lächelt mich an.
Jetzt versteh ich erst. Er sitzt also schon seit 2 Tagen ununterbrochen am Steuer,
und fährt die zweite Nacht durch. Das muß mit dem Coca-kauen zusammenhängen.
"Warum wirst du nicht müde?"
"Ich weiß nicht, wir werden nicht so schnell müde, wir sind
das gewohnt. Der hier", er deutet auf meinen Nachbarn, "ist mir schon
zweimal eingeschlafen! Die meiste Zeit vom Weg hat der verschlafen! Mit wem
soll man sich denn unterhalten, wenn er alle 4 Stunden wieder einschläft...
ich hätte mir einen anderen Nachbarn aussuchen sollen..."
"Ja, das stimmt, ich werde so leicht müde in der Kabine... auch jetzt
bin ich schon wieder ganz müde..."
"Weißt du, warum der immer einschläft? Der mag die Coca nicht.
Hier, magst du? Das ist Magenmedizin, hier, versuch mal ein paar Blätter.
Das ist keine Droge, das sind nur die Blätter von der Coca. Die machen
nicht süchtig."
"Na gut, ich probier's mal", sieht aus wie Lorbeerblätter, die
nach fast nichts schmecken, "Ist das wirklich nicht schädlich?"
"Du darfst das nur nicht Tag und Nacht machen, das ist schädlich,
da hast du recht. Ich versuch, das möglichst wenig zu machen. Man darf
sie nicht dauernd kauen, es ist besser, sie länger im Mund zu behalten.
Einen Tag lang geht es auch ohne. Ich sag ja, länger als 3 Tage fahre ich
ungerne am Stück..."
Planet pur
Die Natur ist bezaubernd. In der Truck-Kabine in Bolivien, das ist wirklich
der Logenplatz für den Tramper. Auch wenn es Nacht ist - wir haben hellen
Mond und können sie gut sehen, diese Einöde aus felsigen Bergen, mit
trockenem Gras bewachsenen Hochebenen und glänzend weißen, im Mondlicht
schimmernden, ausgetrockneten Salzseen. Je höher wir kommen, desto mehr
wird das Gras von einer schwarz-grün-weiß gefleckten Flechtenvegetation
abgelöst, in der ab und zu ein paar rote oder gelbe Punkte hervorscheinen.
Aber es wird auch feuchter, je höher wir kommen. Die Schotterstraße
ist schon lange nicht mehr befestigt, der Boden oft schlammig... der Konvoi
der 6 oder 8 Lkw's sucht die Spuren des Vorgänger-Konvois von vor paar
Tagen, die sich zwischen die fahl dunkelgrünen Silhouetten der hügelartigen
Berge schlängeln.
Einmal müssen wir eine Pause machen - einer der Trucks ist im Schlamm steckengeblieben,
sie haben es aber schon geschafft, ihn wieder herauszuziehen. Die Trucks fahren
oft mitten durchs Gelände, wenn die Piste zu tiefe Pfützen hat. Jeder
Fahrer sucht sich seine eigenen Spuren, von der Nacht in den Morgen.
Es hat angefangen zu dämmern. Die Berge bekommen Konturen. Sie erscheinen
viel größer als im fahlen Mondlicht, viel majestätischer, sie
sind viel weiter weg. Die Vegetationsgrenze liegt nur wenige hundert Meter höher,
darüber sind die Berge dann in einem gräulich rotbraunen Ton gefärbt.
Der Himmel ist im Westen noch tiefblau, aber im Horizont wird er schon grün,
bald gelb, bald geht er in ein fahles Orange über. Im großen Salzsee
vor uns spiegelt sich dieses faszinierende Naturschauspiel. Eigentlich, wenn
ich es so betrachte, ist es doch ein wunderschöner Planet...
Ich stubse meinen Nachbarn an, deute auf den leuchtend roten Kreisansatz am
wolkenlosen Himmel, hinter den schneebedeckten Gipfeln im Osten:
"Die Sonne, da, endlich!"
Kalt: 4650 m über NN. Trotzdem liegt hin und wieder ein Ort an der Piste.
"Von was leben die Leute hier?", frage ich den Geschäftsmann
aus Cochabamba.
"Weiß nicht. Quinoa. Die Leute leben schon seit immer hier in dieser
kargen Einöde, das ist der einzige Grund, warum die hier leben..."
Der Fahrer, während er weiter seine Coca-Blätter kaut: "Die ham
Lamas. Und bauen Habas an. Verkaufen außerdem Salz."
Quinoa ist eine Art Getreideersatz, eine sehr robuste Pflanze aus den Anden.
Habas sind dicke Bohnen, die sind auch von hier. Bei den ganzen Salzseen könnte
man meinen, Salz gebe es hier jede Menge. Das sind aber meist Sulfatsalze, das
eßbare Kochsalz ist relativ selten.
Am Vormittag erreichen wir die Paßhöhe. Wir kommen erst nach Colchrane,
die bolivianische Seite der Grenze, erledigen dort die Papiere, dann geht es
nach Pisiga, das ist Chile.
Einreise nach Nord-Chile
Die erste Überraschung kommt, als ich erfahre, daß die bolivianischen
Trucks gar keine Erlaubnis haben, die letzten 100 km bis zur Küste auch
noch runterzufahren. Es läuft so, daß vom Küstenort Iquique
chilenische Laster die Waren bis auf den Paß fahren, dort alles abladen,
und die bolivianischen holen sich die Sachen dann ab. Da hier der Eingang zur
chilenischen Küstenwüste ist und es nie regnet, werden alle Waren
einfach unter freiem Himmel deponiert. Also bin ich wieder auf der Straße,
muß mir einen neuen Tramp suchen, denn auch unser Truck fährt nur
bis hier.
Der Geschäftsmann aus Cochabamba und ich gehen gemeinsam zum Grenzübergang.
Chile braucht nicht stolz zu sein auf seinen Stempel in meinem Reisepaß.
Der Militärtyp, der mir jetzt eigentlich einen Einreisestempel in den Paß
geben sollte, anstatt rumzulabern:
"So, du willst also hier rein. Weißt du schon, mit was für einem
Lkw du nach Iquique fährst?"
"Nein, noch nicht, Señor, ich werde die gleich mal fragen, ob mich
von denen einer mitnimmt. Es sind ja viele Wagen hier."
"Ja, dann mach das mal."
Der Bolivianer: "Die nehmen aber in der Regel 15 Dollar."
"Ach so. Ach was, ich glaube, ich gehe einfach mal zu Fuß los, hab
ja 'ne gute Landkarte, und Dörfer sind ja auch am Weg."
Nix zu Fuß.
"Nein, die Einreise geben wir hier nur, wenn du jemand vorweist, der dich
runter nach Iquique fährt." - weil's ja so kalt wär in der Nacht,
"das können wir nicht verantworten."
Wir finden einen Fahrer, der's für 5 Dollar macht. Gut, mich läßt
er rein. Gnädigst, nachdem ich noch gut rumgeschleimt hab. Daß er
ja wirklich ein sehr verantwortungsvoller Coronel sei. Den Bolivianer will er
nur reinlassen, wenn er ihm (eine ziemliche Menge) Geld umtauscht. Hilft ihm
nichts.
Wieder an der Panamericana
Die Militärs müssen hier in der Gegend sowieso eine ganze Menge
verantworten. Aber nur bis Antofagasta, 500 km weiter südlich, ab da soll
sich das ein bißchen ändern. Weil es hier immer noch nicht richtig
Chile zu sein scheint, erklärt mir eine Frau, unten nahe der Küste
an einem Militärposten an der Panamericana, sie will auch wie ich Richtung
Süden weitertrampen:
"Hier wohnt keiner, hier sind nur Wüste und paar Küstenorte.
Antofagasta und Iquique waren bis vor 100 Jahren noch bolivianisches Gebiet,
bis wir den Krieg mit Bolivien hatten, danach war's chilenisch."
Chile liegt zur Zeit noch in den letzten Zügen der Militärdiktatur,
die das Zeitliche schon gesegnet hat, aber dessen Apparat noch überall
präsent ist. Sie glauben anscheinend immer noch, daß, wenn sie nicht
wie die Schießhunde aufpassen und hier nicht überall Straßensperren
einrichten und den ganzen Verkehr von Nord-Chile penibel kontrollieren, dann
kommen eines Tages die Bolivianer und holen sich das Gebiet hier wieder zurück.
Um 10 Uhr nachts nimmt mich ein Lkw mit, bei Vollmond durch die Tamarugal-Wüste,
bis Antofagasta. Am Morgen kommen wir an. Antofagasta ist eine Hafenstadt.
Die Panamericana geht aber nicht direkt durch die Hafenstadt, sondern geht am
Ort vorbei, hält sich oben in der Wüste, und so warte ich am Ortsausgang
von Antofagasta erstmal darauf, daß mich einer die 20 km nach oben zum
Truck stop La Negra an die Panamericana mitnimmt. 2 andere Tramper warten auch
an derselben Stelle, schon seit 8 Uhr. Aber es ist wenig Verkehr, es kommen
nur paar Container-Trucks, die fahren nicht bis La Negra, und Kieslaster, die
fahren nur zur Kiesgrube. Mal die beiden fragen, vielleicht trampen sie die
Strecke ja öfters:
"Seid ihr Chilenen?"
"Nein, wir sind Argentinier."
Schade, sie kennen sich hier auch nicht aus. Kommen gerade aus Peru runtergetrampt.
Meine Karte finden sie gut.
"Hier, bis kurz vor Santiago fahren wir die Panamericana runter, und dann
über diesen Paß, nach Argentinien..."
Genau in dem Moment, als ich mich entschließe, zu Fuß die 20 km
durch die Wüste zu gehen, hält ein Pkw an, der nach La Negra fährt
und noch einen Platz frei hat.
Am Truck stop von La Negra
La Negra, das ist ein staubiges Zementwerk in der Wüste, ein Truck stop,
also Militärkontrolle und Tankstelle, und die Panamericana. Erstmal müssen
alle Autos beim Militärposten anhalten und ihre ganzen Papiere zeigen,
und die Trucks fahren dann meistens zur Tankstelle, gleich dahinter, da kann
man dann mit den Fahrern reden. Kommen aber recht wenig, und die fahren entweder
"nicht weit", oder "die Firma erlaubt nicht", daß
sie Anhalter mitnehmen. Das gab es in Bolivien oder Peru nicht. Es ist staubig,
ich habe bald einen trockenen Mund. Von Zeit zu Zeit weht ein sandiger Wind.
Nach 3 Stunden kommen auch die Argentinier mit ihren Rucksäcken. Ja, das
ist gut, dann übernehmen sie die Tankstelle, und ich stell mich bei der
Straße hin. Das hat mich nämlich schon die ganze Zeit genervt, manche
fahren ja nicht auf die Tankstelle, sondern gleich wieder auf die Straße,
die sind mir dann natürlich immer ausgerissen.
Noch eine Stunde, dann haben sie es wohl geschafft, der Tankwart winkt mich
her:
"Hier, frag den Fahrer da, der nimmt die beiden anderen mit!" - Welchen
Fahrer meint er? Ach, den da.
"Ja, also, ich komme aus Deutschland und will nach Süd-Chile... nehmen
Sie mich ein Stückchen mit, Chef?"
"Ja - kletter hinten drauf."
Yeah, super. Geschafft! Lkw mit Anhänger. Er nimmt uns alle mit. Die Argentinier
sind natürlich auch total happy.
"Hey, bis wohin fährt er eigentlich, habt ihr ihn das gefragt?"
"La Serena!"
"Wow! Das sind 900 km !"
Wir unterhalten uns ein wenig, hinten auf der Ladefläche des Lastwagens,
der halbvoll mit weißen Säcken ist, Reis aus Uruguay. Den Argentiniern
haben sie in Peru das Geld geklaut, deshalb fahren die wieder heim.
Auch der Anhänger ist halbvoll mit den weißen Säcken. Da ist
gar kein Reis drin, das steht nur drauf, da ist Salz drin. Die beiden haben
sogar ein Zelt mit, das spannen wir über die vordere erste Hälfte
des Laderaumes, wegen der Hitze, die Mittagssonne ist ja mörderisch.
Durch die Atacama-Wüste
Sie hatten es sich in der Hafenstadt gespart, den Lastwagen mit Planen abzudecken,
sie haben die Planen zusammengefaltet und nur einfach hinten reingelegt. Es
wäre auch Schwachsinn gewesen, den Lkw extra noch abzudecken: er wird jetzt
einen Tag und eine Nacht durch die Atacama-Wüste fahren, das ist die trockenste
Wüste der Erde, da braucht er keinen Regenschutz.
Der Fahrtwind bringt ein bißchen Kühlung, gegen Abend wird es angenehmer.
Der Lkw fährt angenehm ruhig und monoton, die asphaltierte Straße
durch die Wüste ist gut instand. Für die Nacht richte ich mir etwas
aus Schlafsack und Lkw-Plane her und nehme den Rucksack als Kissen. Allzu kalt
wird es nicht werden, es bilden sich sogar ein paar Wolken. Es ist natürlich
nicht besonders gemütlich, pennen wir hier auf den Salzsäcken, aber
was soll's jetzt. Ich bin noch müde von gestern, ach ja, stimmt ja, das
war ja in Bolivien, ich habe ja die Nacht durchgemacht.
Es sind tatsächlich Wolken am Himmel, das ist interessant... ich schlafe
aber schnell ein. Jaja, die Wolkenzeit. Die Küstenwüsten von Peru
und Chile haben eine Sommerzeit und eine Wolkenzeit. Die Wolken sind aber nur
da, manchmal verdecken sie den ganzen Tag die Sonne, dann ist es ziemlich kühl
in der Wüste, aber sie regnen nie ab.
Die Salzsäcke sind sehr hart auf die Dauer; immer, wenn ich mich umdrehe,
wache ich auf. Aber eine Federkernmatratze haben sie leider nicht mit reingepackt
in den Lkw. Die ersten paar Male fahren wir noch, irgendwann steht der Lkw dann.
Ist aber danach wieder weitergefahren. Das Außenzelt wird noch abfetzen,
wenn das so weiterflattert. Wieso nehmen die das denn nicht rein, das sind doch
Trottel. Ach, egal. Ich penn wieder ein.
Jetzt stehn wir. Ich geh kurz pissen. Die beiden murksen irgendwo bei ihren
Sachen rum. Der eine macht das Außenzelt wieder fest. Sind wohl auch grad
erst aufgewacht.
"Wieviel Uhr?", fragen sie mich.
"Weiß nicht... 4 vielleicht...", sind ja Wolken da, ich kann
nicht sehn, wo der Mond steht.
Ach, weißt was, ich leg mich wieder pennen. 4 war das glaub doch noch
nicht.
Warum sollten die Bolivianer denn da einmarschieren in Nord-Chile, das ist doch
der größte Schwachsinn. Bolivien erhebt in seinen Landkarten auch
gar keinen Anspruch auf das Gebiet, ebensowenig Peru auf Arica, das ist die
nördlichste Küstenstadt von Chile, die war vor 100 Jahren peruanisch.
In Bolivien haben sie mir das mit den ehemaligen bolivianischen Küstengebieten
auch erklärt, haben aber immer gesagt, daß das jetzt chilenisch ist,
weil die doch den Krieg gewonnen haben und es wurde ein Vertrag unterzeichnet.
Ecuador dagegen erhebt in allen offiziellen Landkarten Anspruch auf einen guten
Teil von Nord-Peru, und Guatemala reklamiert das ganze Land von Belize. Ecuador
bezieht sich im Ernst auf irgendso'n Vertrag von 1830... Guatemala auf einen
von 1859... die Briten hätten diesen Vertrag gebrochen, indem sie es unterlassen
haben, irgendeine bestimmte Straße in einer festgesetzten Zeit zu bauen...
wahrscheinlich hätte sich Belize also gar nicht unabhängig erklären
dürfen. Komisch, aber die USA erkennen sie alle an, obwohl deren Geschichte
auch nur eine Aneinanderreihung von gebrochenen und völkerrechtlich ungültigen
Verträgen ist...
Überraschung am Morgen
Ich wache wieder auf, dreh mich nochmal auf den Rücken, oh, es ist schon
hell. Aber der Lkw steht immer noch. Ich mache ganz kurz die Augen auf. Toll.
Ich kann gar nichts sehen.
Das Außenzelt haben sie jetzt doch losgemacht, endlich haben sie das gecheckt,
daß das sonst noch zerreißt im Fahrtwind. Jetzt habe ich es als
zweite Zudecke, und über der Fresse. Steh ich auf oder schlafe ich weiter?
Ich glaube, ich werde nicht mehr weiterschlafen. Ich bin viel zu gespannt, wo
wir schon sind.
900 km... bis jetzt ist das mein weitester Tramp in Südamerika. Nur von
Griechenland nach Österreich bin ich einmal eine längere Strecke mitgenommen
worden, von einem französischen Trucker.
Er hat den Motor angelassen. Fährt aber noch nicht los. Ich dös weiter...
miese Salzsäcke... ich bin, wie nennt man das, wenn die Muskeln auf die
Großhirn-Befehle nicht ansprechen wollen... dezentralisiert bin ich. Der
Rücken..., die Schultern... mann, bin ich fertig. Dös...dös...
das machen die immer, die Trucker, lassen den Motor erst eine Weile laufen,
bevor sie losfahren... dös... dös... da, jetzt ist er losgefahren.
Es dauert mindestens noch 10 Minuten, bis meine Beinmuskeln sich endlich mal
mit einer positiven Antwort melden. So, die Beine sind also da. Ein Bein, ein
anderes Bein. Stimmt, beide bewegen sich. Hab ich voll unter Kontrolle jetzt.
Ich sollte es nun mal mit meiner Hand versuchen.
Also, los. Na bitte, Hand, es geht doch. Erstmal dieses blöde Außenzelt
von der Fresse - ah, es ist immer noch bewölkt. Und jetzt hinsetzen...
oh, Leute, ich sag euch, wenn ihr mal die Wahl habt zwischen einer weichen,
flaumigen Matratze und Salzsäcken zum Pennen - nehmt die Matratze. Ihr
werdet's nicht bereuen...
Was mich erstmal nervt, ist, daß der Typ da neben mir gar nicht mehr daliegt,
Gemeinheit. Einfach nicht mehr dazuliegen. Extra mit Rücksicht auf ihn
hab ich mich immer besonders umständlich und vorsichtig umgedreht, um ihm
nicht meine Knie an den Kopf zu hauen. Und jetzt liegt er gar nicht mehr da.
Hey, der andere ist ja auch nicht da. Wo sind denn die? Ihre Schlafsäcke
sind noch da, ihre Rucksäcke auch, da hinten, das kann ich sehen... bei
denen sind sie aber auch nicht. Ich bin zwar vollkommen fertig, aber soviel
check ich auch so: ich bin der einzige auf der Ladefläche.
Ah - natürlich, ganz klar, das ist nicht schlecht, die werden vorne beim
Fahrer in der Kabine sein. Ja, das ist gut, dann unterhalten sie sich mit dem,
dann wird der vielleicht etwas gesprächiger. Viel mehr als "Ja - kletter
hinten drauf" hat er uns gestern ja wirklich nicht berichtet. Fährt
mit seinem kleinen Sohn.
Nein, der gesprächigste war er gestern wirklich nicht. Beim zweiten Truck
stop, als er weiterfuhr: steigt ein, läßt den Motor an, fährt
los. Andere sagen ja noch "hopp, geht weiter" oder sowas, aber da
war nix, wenn wir nicht schnell raufgeklettert wären, wären wir da
stehengeblieben... Komisch, wieso läßt er dann auf einmal beide zu
sich nach vorne in die Kabine... das verstehe ich nicht... eh, halt mal, es
gibt ja ein ganz einfaches Mittel, rauszukriegen, ob sie wirklich in der Kabine
sind oder nicht. Ich bräuchte mich dazu nur umdrehen und vorne in seinen
Rückspiegel schauen.
Ach ja, UMDREHEN... nein, wart mal, noch liege ich, erstmal überlegen,
nur nichts übereilen. Könnte Energieverschwendung sein. Also: wenn
sie da vorne nicht drin sind, wäre die Sache langsam spannend, weil dann
könnten sie praktisch nur noch im Anhänger sein. Ja.
Ja. - Ja, mann, also los jetzt, umdrehn.
Rückspiegel hat er. Aber da sehe ich nur den Jungen und den Fahrer in der
Kabine. Das gibt's doch nicht. Jetzt bin ich aber wach. Hopp - hinter zum Anhänger.
Hinten sind sie jedenfalls nicht, aber ich muß noch warten bis eine Kurve
kommt, daß ich in den toten Winkel kucken kann.
Tatsächlich - im Anhänger sind sie auch nicht. Aber ihre Rucksäcke
sind doch noch da! Ich versteh das nicht. Meine Sachen sind auch noch alle da.
Wo sind wir eigentlich? Irgendwo in der Wüste.
Aha, da sind wir: Kilometerstein 820. Also ich seh da kein Sinn drin.
Eine Stunde später hält er wieder an einem Truck stop, Frühstück.
Ich frag den Fahrer. Der hat tatsächlich keine Ahnung, was mit denen ist!
Ich kletter nochmal rauf, schau in den Rucksäcken nach - und finde beide
Reisepässe, "República de Argentina". Ihre Landkarte und
ihre Jacken sind aber nicht da. Obwohl der Fahrer natürlich auch nichts
anderes kann als lachen - er ist ganz schön erschrocken.
"Die müssen da bei dem letzten Truck stop runter sein!"
Ja, anders geht's nicht. Aber warum? Das sind doch Trottel, da nimmt man doch
seine Papiere mit, ihre Karte haben sie ja auch mit. Außerdem hatte er
den Motor lange laufenlassen, bis er dann abfuhr, das hätten sie doch mitkriegen
müssen.
"Und was machen wir jetzt?"
"Mal in ihren Papieren rumlesen."
Ihr Geld ist ihnen in Cusco tatsächlich geklaut worden - sind sie extra
zur Polizei. Beide heißen sie Nestor, sind Studenten an der Uni von La
Plata, das liegt am Atlantik, bei Buenos Aires. Der eine ist auch aus La Plata,
der andere ist aus Villa Maria, das ist eine Stadt bei Córdoba, mitten
in Argentinien.
Der Fahrer ist ziemlich ratlos:
"Was machen die jetzt ohne Reisepässe?"
"Wie, was sollen die machen?"
"Na, die gehn doch zur Polizei, am besten, wir geben die Sachen bei der
Polizei ab."
"Ach, nix werden die machen, die fahrn zur Grenze, haben paar Probleme,
und fahren heim."
Villa Maria liegt gar nicht so weit weg von der Grenze, vielleicht 1000 km von
hier. Denk, denk.
"Weißt du was? Am besten, wir fahrn einfach erstmal weiter. Ich selber
weiß nämlich auch nicht, wo ich hinsoll. Dann fahr ich eben nach
Villa Maria und bring die Rucksäcke zu dem seiner Familie, und die Reisepässe
kann ich ja an der Grenze den Beamten geben. Hier die Polizei jedenfalls wird
mit denen ihren Pässen auch nichts anfangen können."
"Naja, gut, fahrn wir erstmal weiter."
Fahrn wir erstmal weiter, ich kletter wieder hinten rauf. Dem einen sein Rucksack
ist ziemlich schwer, die beiden anderen sind aber leicht. Mann, das ist ja der
absolute Witz. Jetzt muß ich mir das erstmal in der Karte anschauen.
Kurz vor Santiago muß ich von der Panamericana runter und in die Anden,
über einen Paß, vorbei am Aconcagua, dem mit fast 8000 m höchsten
Berg der Gebirgskette, und zu einer Stadt, die Mendoza heißt. Und dann
noch paar 100 km weiter... ich weiß nicht, wie ich das mit dem ganzen
Gepäck schaffen soll. 1000 km durch den Kontinent mit 4 Rucksäcken,
die werden mich alle für bescheuert halten.
Aber mir gefällt die Aussicht, bei seiner Familie in Villa Maria mit dem
ganzen Gepäck anzukommen - freuen sie sich bestimmt und spendieren mir
ein ganz dickes Essen. Doch, das lohnt sich, die Idee gefällt mir.
Es macht Spaß, hinten auf dem Truck zu stehen, nach vorne zu schauen und
den Wind in den Armen zu halten. Oh, was ist das da hinten für eine große
weiße Kugel auf dem Berg? Das ist doch bestimmt diese eine berühmte
Sternwarte, die größte für den südlichen Sternenhimmel.
Bei der Sternwarte
von La Silla
Ja, isses tatsächlich, La Silla, stehen Schilder dran. Der Lkw hält
wieder an, am Truck stop, wo die Schotterstraße zur Sternwarte abzweigt.
Es ist Mittag geworden, die Sonne brennt heiß vom Himmel. Ich setz mich
in den Schatten vor das eine Haus und betrachte mir die Panamericana, an der
hin und wieder einige Trucks entlangfahren, und die 15 km entfernte Sternwarte,
im Osten auf einem der Hügel vor der Andenkette.
Die Sternwarte haben sie mit Absicht hier in die Wüste gebaut, wegen der
guten Sicht. Hier sind nur sehr selten Wolken, und die Luftfeuchtigkeit ist
sehr gering.
Es kommt ein Truck von Norden an, mit sehr großer Geschwindigkeit. Die
Trucks von Norden sind immer schon über 10 km zu sehen. Oh, er fährt
wirklich sehr schnell, schneller als die anderen, kommt ganz schnell angefahren,
aber jetzt bremst er, fährt auf unseren Truck stop... - 2 Typen steigen
aus und kommen zu mir rübergelaufen... oh nein, es sind die beiden Argentinier,
diese Witzbolde!
"Hallo Nestor! Wie geht's ?!"
"M - ähh - was ist mit - den Reisepässen?"
"Na, das ist mal gut, daß wir die nicht zur Polizei gebracht haben...
!"
Sie sind da tatsächlich an der einen Tankstelle vom Wagen runter, hatten
im Lokal gefrühstückt und erst zu spät gemerkt, daß der
Lkw losfuhr. Bei den Bullen seien sie zwar gleich gewesen, die hatten aber anscheinend
auch keinen großen Bock, ihnen weiterzuhelfen. Aber dieser Trucker hat
sie mitgenommen und sich überreden lassen, den Salztransport einzuholen
- mensch, ham die ein Schwein gehabt.
Der Rest der Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, am Nachmittag hatten wir
die Wüste hinter uns und waren wieder an der Küste, in La Serena.
Dort trennten sich unsere Wege wieder.
(...)
Per Anhalter durch Patagonien
Brief FORUM 16
26. März 1989, Estancia Sara, Feuerland, Argentinien. (Nur der Anfang.
Danach in Göttingen weitergeschrieben, August 1993).
Die Carretera Panamericana (The Pan American Highway) geht nach allgemeiner
Auffassung von Alaska nach Feuerland. Tatsächlich tut sie das zwar nicht,
aber in den meisten Gegenden auf der Strecke ist diese Kleinigkeit eher nebensächlich
und kann daher meist auch mit gutem Gewissen vernachlässigt werden.
Unumstritten ist, daß die auf diese Weise längste Straße der
Welt in Südamerika durch die Anden von Kolumbien und Ecuador und danach
durch die Küstenwüsten von Peru und Nord-Chile geht. Und die meisten
Chilenen sind der Meinung, daß die Straße, die von Santiago de Chile
nach Süden rausgeht, auch weiterhin die Panamericana sei. In Wirklichkeit
scheint es von der jeweiligen Regierung, von den jeweiligen Verträgen mit
anderen südamerikanischen Staaten, von der Konjunktur und in erster Linie
vom Geld abhängig zu sein, ob die Panamericana nun wirklich südlich
von Santiago rausgeht oder ob sie genau das nicht tut.
Ich selber jedenfalls tat es. Ein Trucker nahm mich in den Süden von Chile
mit, er mußte auf der Chiloé-Insel abladen, und nahm mich sogar
spaßeshalber für einen Tag auf die Insel mit. Von Puerto Montt sind
wir da mit der Fähre rüber.
In der Gegend von Puerto Montt hört Chile dann langsam aber sicher auf,
befahrbar zu sein, weil die Küste nach Süden hin immer mehr von steilen
Fjorden durchfurcht wird. Wer mit dem Auto an die Orte an den Fjorden oder nach
Feuerland will, oder nach Punta Arenas, muß durch argentinisches Gebiet
fahren, also auf die andere Seite der Andenkette, durch Patagonien.
In Punta Arenas leben nochmal 100.000 Einwohner, es gehört zu Chile und
liegt an der Magellan-Straße. Es ist die südlichste Stadt auf dem
Festland des südamerikanischen Kontinents, der sich in lauter Fjorden,
Gletschern, Seen, Wasserstraßen, Kanälen und vielen vielen Inseln
langsam nach Süden verliert.
Die größte dieser Inseln ist die Große Feuerland-Insel, die
ist zwischen Argentinien und Chile aufgeteilt. Etwas größer als Bayern
ist die. Feuerland heißt die Insel deswegen, weil es dort Erdgas gibt,
und die Indianer hatten das auch schon entdeckt und hatten das an ein paar Stellen
an der Küste immer abgefackelt. Das fiel den ersten Europäern, die
hier vorbeikamen, auf, und dann nannten die das Tierra del Fuego.
Auch ich mußte also über einen der Pässe über die in der
Gegend von Puerto Montt nicht sehr hohen Anden, komme an einer Straßenabzweigung
in der Nähe des argentinischen Ortes Esquel an, und versuche wieder mal
weiterzukommen.
Abzweigung Esquel
Es ist nichts los, ein paar karge Berge am Rand der Pampa, ich gehe ein bißchen
die Straße entlang. Trockenes Grasland, es ist Sommer, rechts geht es
nach Esquel in die Berge, geradeaus tut sich die weite Ebene auf.
Es ließen sich 2 Möglichkeiten denken, wie der Verkehr von hier nach
Feuerland kommen könnte. Es gibt eingezeichnete Straßen, die entlang
der Anden führen, über 1000 km nach Süden, bis sie bei Puerto
Natales wieder befahrbares chilenisches Gebiet erreichen. Der andere Weg wäre
folgender: 600 km an die Atlantikküste und von dort aus weiter auf der
Ruta 3, der argentinischen Nationalstraße von Buenos Aires nach Feuerland.
Die Leute sagen, die Straßen entlang der Anden seien zwar schön eingezeichnet,
aber praktisch nicht befahrbar, und deshalb entscheide ich mich, an die Ruta
3 zu trampen.
Was ich nicht ahne, als ich in der Stille des Nachmittags die Straße in
die Ebene hinausgehe, ist, daß das genau die Stelle ist, an der die meisten
Tramper nicht weiterkommen. Später werde ich Leute treffen, die genau an
dieser Abzweigung etliche Tage gewartet haben und die sagen, es sei einfach
hoffnungslos gewesen.
Es ist auch wirklich wenig Verkehr. Patagonien ist ein weites Land. Auf der
Strecke zwischen hier und der Atlantikküste liegt nur eine einzige Siedlung,
Paso de Indios, nach 300 km auf halbem Weg.
1 km weiter ist eine Art Bahnübergang, und vom Tal kommt ein Personenzug
mit alten Waggons und Dampflok in die Ebene geschnauft. Doch, das will ich mir
jetzt reinziehn, denk ich mir, und bleib vor den Gleisen stehen... der Zug wird
noch gut 10 Minuten brauchen.
Warum bleib ich auf dieser Seite stehen? Warum gehe ich nicht rüber und
vielleicht noch ein Stückchen weiter? Nein, ausgerechnet hier direkt vor
den Gleisen bleibe ich stehen.
Eine Teerstraße, ein Tramper mit schäbigem Rucksack und Schlafsack,
und hinten aus den kargen Bergen ein Zug mit schnaubender Dampflok auf dem Weg
in die weite Ebene Patagoniens.
Früher haben Indianer diese Steppe bewohnt, aber das ist lange her. Das
Land gehört heute großen Estancias. Na, ob es der Zug wohl noch schafft?
Er quält sich ganz schön. Wo mag er wohl hinfahren? Nach Buenos Aires?
Wieviele hundert Kilometer sind das? Wieviele Tage mag er brauchen?
2 Autos kommen mir entgegen und halten auch vor den Gleisen an, warten auch
die paar Minuten ab, wollen sich's wohl auch nicht entgehen lassen. Die Züge
kommen hier wohl nicht gerade im Stundentakt vorbei.
Und dann kommt ein Auto auf meiner Straßenseite an, das erste seit einer
halben Stunde. Älteres Modell, voll, 3 Leute, und Gepäck. Vielleicht
hätten sie gar nicht angehalten, aber genau in diesem Moment kam der Zug
nun doch endlich auf die Straße. Ein Tramper, ein Auto, ein Zug und die
karge Landschaft.
Der Zug fährt vorbei. Tja, weiter.
"Wo willst du hin?", fragt der Fahrer.
"Auf die Ruta 3."
"Hm, wart mal, ja, ich glaub wir können dich mitnehmen."
Sie räumen hinten die Sachen zusammen und fahren mich tatsächlich
durch die Nacht quer durch ganz Patagonien nach Trelew, an die Atlantikküste!
Und setzen mich, wie im Reisekatalog gefordert, an der für Tramper zuständigen
Tankstelle an der Ruta 3 ab, nachts um 4 Uhr.
Die Ruta 3 ist gut befahren. Es ist die Straße, die etwa 3000 km südlich
von Buenos Aires (es sind immer Kilometerschilder dran) in Ushuaia rauskommt.
Sie kommt zunächst zur südlichsten argentinischen Stadt auf dem Kontinent,
das ist Río Gallegos. In Río Gallegos hört sie auf, geteert
zu sein, und nur noch sehr robuste Trucks kommen dann noch mit der Schotterpiste
zurecht. Die Pick-ups und Autos, die südlich von hier fahren, haben alle
Gitter vor den Lichtern und den Scheiben, wegen der Steine, die durch die Luft
fliegen, wenn ein Truck entgegenkommt.
Nach 60 km kommt dann die Grenze, der Grenzort heißt Monte Aymond, die
Straße führt ab da durch chilenisches Gebiet, denn der Küstenstreifen
um die Magellan-Straße ist chilenisch. Nach weiteren 30 km ist die Abzweigung
zur Truck-Fähre nach Feuerland, die Schotterpiste selber geht noch viel
weiter nach Punta Arenas, das sind etwa 150 km. Auch von Punta Arenas gibt es
eine Fähre nach Feuerland, da ist die Magellan-Straße aber viel breiter,
sieht aus wie das offene Meer.
Die Fähre für die argentinischen Trucks aber kreuzt die Wasserstraße
an der engsten Stelle zur Feuerland-Insel, braucht eine halbe Stunde und nimmt
Tramper kostenlos mit. Auf der anderen Seite geht unsere "Panamericana"
dann durch den chilenischen Teil der Feuerland-Insel weiter, bis sie irgendwann
an die argentinische Grenze kommt und noch 300 km durch Argentinisch-Feuerland
geht, bis Ushuaia.
Nach der zweiten Grenze sind es zunächst 80 km durch eine karge Grasland-Einöde
bis zur Stadt Río Grande, das ist die Hauptstadt von Argentinisch-Feuerland.
Danach führt die Straße in die Berge, durch eine schöne bewaldete
Landschaft. Sie geht über einen Paß, wo sie zum letzten Mal "die
Anden" kreuzt, und endet wenige Kilometer weiter im Ort Ushuaia.
Ushuaia ist eine kleine Stadt am Beagle-Kanal, hat den Flair eines norwegischen
Fischerortes mit kleinen bunten Häuschen und ist die südlichste Stadt
der Welt. Südlich davon gibt es nur noch eine chilenische Militärbase,
auf einer anderen Insel. Und auf der Antarktis, die 1000 km weiter anfängt,
gibt es noch Forschungsbasen.
Vor dem Reisebüro in
Río Gallegos
4 Monate war ich schon in dieser Gegend, habe in Punta Arenas gewohnt, habe
mir Ushuaia angeschaut, habe die meiste Zeit auf einer Estancia auf Feuerland
verbracht und gelernt, wie man Schafe zählt, und war zuletzt in Río
Gallegos gewesen, wo ich ein paar Leuten , die auf dem Bau arbeiteten, geholfen
habe.
Argentinien stürzte im Winter 1989 in eine ganz katastrophale Wirtschaftskrise,
und da die Inflation im Monat über 100 % lag, schwanden auch die Bauaufträge,
und ich mußte bald wieder woanders hin. Ich traf ein paar Tage vorher
vor einem Reisebüro am Busbahnhof 2 aus Buenos Aires, die wollten nach
Feuerland und hatten kein Geld mehr, um den Flug zu bezahlen.
"Warum fahrt ihr nicht per Anhalter? Die Trucker sind so nett in dieser
Gegend, die nehmen euch bestimmt mit. Das Trampen in dieser Gegend bringt richtig
Spaß."
"Nein, che, über die Straße können wir nicht nach Feuerland,
das geht nicht."
"Natürlich könnt ihr per Anhalter fahren, da ist recht viel Verkehr.
Hier nimmt dich jeder mit! Die freuen sich alle über eine Begleitung. Hier
ist doch nichts los sonst."
"Nein, es geht deswegen nicht, weil sie erst 20 ist und erst in 4 Monaten
21 wird, und sie darf noch nicht alleine ins Ausland... wir müßten
doch in Monte Aymond über die Grenze nach Chile, che, und da werden sie
uns nicht rüberlassen, weil sie nicht in Begleitung ihrer Eltern ist."
Das mit dem che kannte ich schon lange. In Argentinien sagen sie nach jedem
3. Satz "che". In der Indianersprache der Mapuches heißt che
"Mensch". Es sei schon seit über 100 Jahren eine argentinische
Eigenart, hab ich in einem Lexikon gelesen. In Mexico und Mittelamerika sagen
sie alle "hombre".
"Ach was, das kann doch nicht sein. Ihr könnt doch nach Feuerland,
das ist doch Argentinien."
"Doch, das ist so, che. Sie bräuchte eine notariell beglaubigte Erlaubnis
ihres Vaters, mit Stempel der Gemeinde, in der sie wohnt. Und die hat sie nicht."
"Weißt du, wir sind von Buenos Aires abgehauen, weil wir uns verliebt
haben und die haben uns das Leben unmöglich gemacht. Weil er doch von der
japanischen Gemeinde ist und ich bin von der italienischen. Mich wollten meine
Eltern mit einem Italien-Argentinier verheiraten."
"Was, echt ?"
"Ja, und an dem Tag, an dem das passieren sollte, haben wir uns entschlossen,
einfach zusammen abzuhauen."
"Was, das glaub ich nicht, daß es sowas hier noch gibt. Das klingt
ja verrückt. Wo kommt ihr denn her, Buenos Aires? Aus der Stadt?"
"Ja, aus einem Vorort der Hauptstadt."
Das muß man in Argentinien immer extra fragen, wenn "Buenos Aires"
erwähnt wird. Es könnte die Hauptstadt und es könnte die Provinz
gemeint sein. Die Provinz Buenos Aires ist eine Region südlich der Hauptstadt,
die halb so groß wie Deutschland ist und in der halb Argentinien wohnt.
Von daher ist die Angabe "Buenos Aires" immer etwas sehr Schwammiges.
Ich hatte mir bei der Hauptstadt Buenos Aires bis jetzt immer eine moderne westliche
Millionenstadt vorgestellt.
"Aber du wirst doch selber entscheiden dürfen, mit wem du zusammen
sein willst und wen du heiraten willst. Es gibt doch sowas wie - das Selbstbestimmungsrecht
der Persönlichkeit, oder das Recht auf -"
"Ja, che, wie denkst du, wie das läuft? Ich bin 20! Die entscheiden
das, ich hab da nicht mitzureden."
"Hm. Das ist ja cool. Und wie ist das bei den Japanern? Wollten sie auf
dich auch Druck ausüben?"
"Als sie erfuhren, daß ich mit einer Italienerin zusammen war, haben
sie mir zweimal eine Japanerin zum Heiraten angeboten. Danach haben sie mich
von meiner Arbeitsstelle entlassen."
"Und wo hast du gearbeitet?"
"In einem Supermarkt."
"Aber warum, irgendwo seid ihr doch beide Argentinier. Man kann doch auch
mal zwischen den Rassen heiraten. In anderen Ländern ist das ganz normal."
"Ja, aber nicht hier in Argentinien, che. Das ist das schlechte hier an
diesem Land! Die Argentinier halten nicht zusammen, weißt du. Hier lebt
nur jede Gemeinde für sich. Die Italiener leben unter sich, die Deutschen
leben in ihren Kolonien, die Japaner leben unter sich, die Basken leben unter
sich... das Land ist hier nur eine Ansammlung von Kolonien, die alle nur in
ihre eigene Tasche wirtschaften. Das ist schlecht, aber das ist so. Dazwischen
heiraten ist nicht akzeptiert. Naja, manchmal gibt's das schon, und wenn ich
sie geheiratet hätte, das hätten einige auch stillschweigend akzeptiert.
Aber einfach so zusammenleben, das ist noch viel schlimmer. Außerdem ist
Claudia größer als ich, darüber haben sie sich auch tierisch
aufgeregt."
"Was, bist du echt größer als er?"
"Na klar bin ich größer als er! Er steht nur auf der Treppe.
Hier, che, stell dich mal hier hin, Leo."
Stimmt, Claudia ist größer.
"Und die hatten echt schon alles angesetzt, um dich mit diesem Italiener
zu verheiraten?"
"Ja, das war alles fertig. Ich hab am Morgen meine Oma angerufen und gesagt,
daß ich nicht komme."
"Und was hat die gesagt?"
"Sie wußte das schon, oder sie hat's geahnt. Sie sagte, daß
ich mich jetzt zuhause nicht mehr blicken lassen kann. Aber ich versteh mich
ganz gut mit ihr. Sie hat mich nochmal heimlich reingelassen, damit ich meine
Sachen holen konnte."
"Haben die dich eigentlich nicht gefragt ob du den Italiener auch wirklich
heiraten willst? Ich mein, nur mal so, interessehalber."
"Das war etwa 1 oder 2 Jahre nach unserer Geburt von den beiden Familienclans
abgemacht worden, daß wir beide heiraten sollen. Alles hatten sie von
Anfang an so eingefädelt. Es war richtig auffällig. Ich wollte es
immer rauszögern. Aber sie akzeptierten nicht, daß ich über
21 wär und noch nicht verheiratet. Ja, klar, che, sie wußten, daß
sie es gegen meinen Willen machen. Wenn Leo nicht gewesen wär, hätte
ich es auch gemacht. Naja, das ist jetzt 6 Tage her."
Sie schauen sich an.
"Nein, 5 Tage. - Erst sind wir nach Bariloche, mit dem Zug, dann nach Bahía
Blanca..."
Ich kneife mich in den Arm. Es tut weh. Also ist das kein übler Traum,
der mich verarschen will. Es ist vor allem die Selbstverständlichkeit,
mit der die beiden die Details aus der Geschichte erzählen. Das ist doch
wirklich nicht zu glauben, daß es so etwas in einem modernen westlichen
Land noch gibt. Ich schaue zur Sicherheit nochmal auf den nächstbesten
Kalender. Tatsächlich: 1989. Steht da drauf. Im Reisebüro. Das muß
stimmen. Die müssen pünktlich sein. Zumindest soweit.
"Ja, dann ist mir klar, daß du diese Erlaubnis von deinem Vater nicht
kriegen wirst."
"Erst wenn ich 21 bin, darf ich gegen den Willen meines Vaters über
die Grenze."
"Aber du willst doch nur nach Feuerland! Das ist doch argentinisch! Was
ist denn das für ein komisches Land hier!?"
"Das macht nichts, che, Grenze ist Grenze. Mit den Scheiß-Grenz-milicos
ist da nichts zu handeln. Wieso wundert dich das so? Ist das in Europa anders?
Kannst du da einfach ohne Erlaubnis ins Ausland, wenn du noch nicht 21 bist?"
"Ja, das wär ja noch schöner, wenn die da so drauf wären.
In Deutschland bist du mit 18 volljährig, aber che, auch vorher darfst
du doch schon alleine über die Grenzen. Jedenfalls mußt du nicht
erst dick aufs Rathaus, wenn du 16 bist und mal nach Österreich willst."
"Hier mußt du zum Notar und zur Gemeinde - mit deinem Vater, der
muß persönlich anwesend sein, che. Sonst ist nix mit Österreich.
Einmal wollte ich nach Paraguay, die hätten mich da nicht rübergelassen,
wenn wir diesen Zettel nicht gefunden hätten."
"Warum wollt ihr eigentlich nach Feuerland? Ich mein, was treibt euch dahin?
Einfach nur weit weg zu sein? So weit wie möglich weg von Buenos Aires?"
"Naja, vielleicht auch das. Ein Onkel von mir wohnt in Río Grande,
da werden wir erstmal bleiben. Hoffe ich zumindest."
Kanadische Dollars
"Es ist ja nicht so, daß wir kein Geld für den Flug hätten,
aber Claudia hat nur Kanada-Dollar, und die wollen sie hier nicht eintauschen.
Die hier im Reisebüro haben sogar gedacht, das wär gefälscht
oder sowas, weil da eine Frau auf dem Geldschein ist."
"Eine Frau? Auf den kanadischen Geldscheinen? Was ist denn für eine
Frau? Zeig mal her. - Oh, denen fehlt ganz augenscheinlich der nötige Respekt
vor der Königin von England!"
"Ja."
"Wieso wundert die das, sind auf den ganzen argentinischen Scheinen, die
alle paar Jahre mit neuen Motiven rauskommen, nicht auch mal Frauen drauf?"
"Auf den argentinischen Scheinen sind doch immer nur irgendwelche bescheuerten
Militärs drauf, auf was anderes kommen die hier doch nicht. Uns hat das
sehr gewundert, daß die hier den Kanada-Dollar nicht kennen. Die Kurse
sind da günstiger als beim US-Dollar, deshalb haben wir die. In Buenos
Aires geht das immer ohne Probleme."
US-Dollar ist oft ungünstig. Die Differenz zwischen Ankauf und Verkauf
ist zum Teil enorm: Ankauf 650 Austral, Verkauf 240 Austral und so'ne Dinger.
"Ja, aber das hier ist nicht Buenos Aires, che. In den meisten Gegenden
wissen sie nicht mal, das es andere westliche Währungen gibt außer
US-Dollar. Na, was ist die Währung von Deutschland?"
"Was, Deutschland? Was war das noch, Franco, Corona..., nein, Marco war
es, genau, Marco Alemán."
"Ha, ihr wißt das sogar! Die meisten Leute sagen nämlich Dollar."
"Ha, wir wissen das. So, und wissen die in Deutschland auch, was die Währung
von Argentinien ist?"
"Welche? Die von diesem Jahr oder die vom letzten Jahr?"
"Stimmt, den Austral gibt es ja erst seit einem halben Jahr, davor warn's
Pesos. Che, was war der Austral am Anfang noch wert. Und jetzt... -"
"Hier im Reisebüro tauschen sie das bestimmt nicht. Warum geht ihr
nicht mal zur Bank?"
"Ja, warn wir schon, das hat nichts gebracht, das ist ja unser Problem.
Dort sagen sie, sie wissen den aktuellen Kurs nicht."
"Ach was, die sollen sich nicht anstellen, die rufen einmal bei ihrer dummen
Bankzentrale in Buenos Aires an und dann haben sie den Kurs."
"Ja, aber das geht nicht, überleg doch mal, das Telefon ist doch kaputt."
"Was - ?"
"Ja, denk doch mal nach. Seit 2 Tagen kann man hier doch nicht mehr nach
Norden telefonieren."
"Was - ??"
"Weißt du das echt nicht?"
"Nein, ich weiß das echt nicht. Was denn?"
"Che, du bist der erste, den wir hier treffen, der das nicht weiß!
Die Telefongesellschaft streikt doch seit 4 Wochen, weil sie denen die Löhne
nicht gezahlt haben, und die Inflation so hoch ist, und die keine Zinsen kriegen.
Und jetzt ist da was an der Leitung kaputtgegangen, und keiner ist da, der es
repariert."
"Ich wußte, daß die Lehrer seit Monaten streiken und die Schulen
alle geschlossen sind, weil sie denen auch die Löhne nicht gezahlt haben."
"Ja, die Lehrer streiken sowieso immer, das ist nichts neues, ha."
"Ja, jetzt versteh ich das, dann können sie ja nur den Kurs vom US-Dollar
wissen, den geben sie ja inzwischen alle 2 Stunden im Radio durch."
Bei Chilenischen Pesos ist der Kurs auch günstiger, nur da hatte ich nicht
mehr viel. US-Dollar hatte ich auch noch ein paar. Wir einigten uns darauf,
daß ich ihnen den Flug in US-Dollar und chilenischen Pesos bezahle, und
sie gaben mir 6 Kanada-Dollar.
"Und du? Wo willst du eigentlich hin?"
"In paar Tagen wollte ich nochmal nach Punta Arenas, danach nochmal nach
Feuerland, zu so'ner Estancia."
"He, wir können dir unsere Adresse in Río Grande geben."
"Ja, du mußt uns unbedingt mal besuchen, wenn du da bist! Wann kommst
du denn nach Feuerland?"
"So in 2 Wochen. Vorher will ich noch auf der einen Estancia vorbeischauen,
auf der ich gewesen bin. Die ist in der Nähe von Río Grande."
Sie fragten mich genauer nach der Estancia und kamen auf die Idee, daß
sie dort vielleicht Arbeit finden könnten.
"Glaubst du, das geht?"
"Wahrscheinlich nicht, ihr seid Argentinier. Auf der Estancia Sara arbeiten
nur Chilenen und Bolivianer. Der Chef meinte zu mir mal, Argentinier, die er
nicht selber kennt, würde er gar nicht nehmen, hat er wohl schlechte Erfahrungen
mit gemacht."
"Wieso?"
"Ja, er sagte, die wären faul oder sowas. Hier in der Gegend leben
viel mehr Chilenen als Argentinier. Auf den ganzen Estancias arbeiten fast nur
Chilenen."
"Und wem gehören dann diese Estancias?"
"Engländern. Na gut, offiziell sind es argentinische Gesellschaften,
aber dahinter stehen die Engländer, denen das ganze Land hier gehört,
schon seit 100 Jahren. Vor 100 Jahren kamen sie von den Falkland-Inseln hier
rüber, mit ihren Schafen, kauften sich das ganze Land, und seitdem ist
hier alles englisch. Die Engländer halten von Haus aus nichts von den Militärs
hier. Das stand ja auch hinter dem Falkland-Krieg. Die argentinischen Militärs
sind sauer, daß ganz Patagonien irgendwelchen Engländern gehört.
Die würden die am liebsten alle enteignen."
"Wir mögen die dummen milicos genausowenig. Wie, und dann haben sie
die doch nicht enteignet, im Krieg?"
"Nein, konnten sie nicht, weil die Engländer kurz vorher auf den Trick
mit den argentinischen Gesellschaften gekommen sind. Da hätten die Enteignungsverfahren
paar Jahre gedauert... und jetzt sind ja die milicos ja nicht mehr dran."
"Ja, zum Glück auch für uns..."
Auf die Militärs sind sie überhaupt nicht gut zu sprechen, in Argentinien.
Wieder nach Feuerland
Die einzigen Argentinier, die auf den Estancias arbeiten, sind die Scherer,
in der Schersaison im Sommer. Den Rest der Zeit leben die aber in Buenos Aires.
Die Scher-Zeit ist jetzt schon lange vorbei, es ist Mai, der Winter steht vor
der Tür, kalt und windig ist es, die Tage sind kurz geworden. Ich will
noch ein paar Wochen in dieser ruhigen Gegend bleiben, aber irgenwann will ich
mich nach Norden aufmachen, vielleicht nach Brasilien.
Die Leute sagen mir, bis vor 10 Jahren habe es hier jeden Winter immer viel
Schnee gegeben, aber seit einiger Zeit werde es wärmer hier... die Auswirkungen
des Ozonlochs über der Antarktis. Andere sagen, inzwischen sei es in Feuerland
so warm, daß sie ohne weiteres Kartoffeln anbauen könnten. Aber die
Engländer wollen das Land dafür nicht hergeben, weil sie mit der Schafswolle
an hartes westliches Geld kommen.
Die südlichste Stadt der Welt, Ushuaia, befindet sich auf knapp 55°
südlicher Breite, liegt also nicht südlicher, als Flensburg, Glasgow
oder Moskau nördlich liegen. Wo hier die Antarktis, ein vollkommen vereister
Kontinent, anfängt, ist in Europas Norden Skandinavien noch lange nicht
zuende.
Erst bin ich nach Punta Arenas, ein paar Leute besuchen, danach nach Feuerland,
auf "meine" Estancia.
Auf der Estancia
Die Estancia Sara, auf der ich also einige Monate gearbeitet hatte, liegt
direkt an der Panamericana (oder der Ruta 3), auf der argentinischen Seite der
Feuerland-Insel, und zwar genau auf halbem Weg zwischen dem chilenischen Grenzübergang
(San Sebastián) und der Hauptstadt Río Grande. 2 Tage bleibe ich
nochmal hier, und genieße es, mich nochmal an meine Zeit auf der Estancia
zu erinnern.
Eins ist immer ganz witzig gewesen: ab und zu kamen Radfahrer "aus Alaska"
hier vorbei, auf dem Weg nach Ushuaia. Die chilenischen Arbeiter kannten das
schon.
"Ja ja, die Radfahrer, jedes Jahr kommen ungefähr 20 oder noch mehr
hier in Feuerland an. Die meisten machen hier auf unserer Estancia Pause, weil
es doch die einzige Siedlung zwischen San Sebastián und Río Grande
ist. Die kommen immer zum Mittagessen, Schafsfleisch haben wir hier ja genug."
Sie kommen meist von Nordamerika mit dem Rad die Anden runter, sind jahrelang
unterwegs und haben alle vor, bis in die südlichste Stadt der Welt zu kommen.
Franzosen, Holländer, Schweizer, Italiener, Deutsche, Belgier, Japaner.
Eine Französin meinte, sie hätte in Chile mal einen mexikanischen
Radler getroffen, aber das war sei die Ausnahme gewesen. Die, die hier im Kontinent
selber wohnen, machen sowas normalerweise nicht. Auch die Nordamerikaner seien
nicht so verrückt. Mit dem Rad von Alaska nach Feuerland.
An Schafsfleisch ist auf der Estancia wirklich kein Mangel, bei den 75.000 Tieren
dieser "Ranch". Es gibt es zum Frühstück, zum Mittagessen
und am Abend. 1 kg Schafsfleisch ist in den Läden Patagoniens billiger
als 1 kg Nudeln oder 1 kg Reis. Noch teurer sind Kartoffeln.
Die Estancia, das sind vielleicht 20 Häuser an der Schotterstraße,
und 2 riesengroße Scheunen, in denen im Sommer die ganzen Schafe geschoren
werden. Die Schafe werden nicht wegen Fleisch, sondern hauptsächlich wegen
Wolle gehalten, die Wolle wird nach England verkauft. Auf Feuerland ist Sara
die größte argentinische Estancia, mit einer Fläche von über
700 km2. Im Vergleich zum Festland sei das aber noch klein.
Die Energie bezieht die Estancia aus eigenen Erdgas-Quellen, den Überschuß
gibt sie an den argentinischen Staat ab. Die von der Erdöl-Gesellschaft
(YPF) fahren öfter mit ihren Pick-ups durch die Gegend und nehmen
alle Anhalter mit. In Chile gibt's das auch, da sind sie von der COPEC. Beide
Länder haben hier Erdöl. Für den Eigenbedarf. Deshalb ist es
hier überhaupt auch erschlossen, mit Straßen und so.
Morgens fuhren wir mit dem alten Lkw irgendwo in die Gegend, sortierten oder
zählten im Feld dann irgendwelche Schafe, abends kamen wir immer zurück
und freuten uns auf die warme Dusche. Um 5 Uhr gab es außerdem immer Tee...
ganz klar, five-o'clock-tea, es ist ja ein englisches Unternehmen.
José ?
Einmal, das war witzig, waren wir in der casa grande, dem großen Haus
vom Verwalter, dabei. Wasserrohr war durchgebrochen und mußte freigelegt
werden, 4 Leute von uns sollten das machen. Das war nicht ganz so einsam wie
im Feld draußen, immer mal wieder kam jemand vorbei, ich kannte die meisten
hier in der casa grande gar nicht.
Ging wieder irgendeine Tür auf -
"¿¡ José - !?"
Schauten ihn an, drehten sich um, paar verlegene Blicke von den 3 Chilenen,
kannten wohl keinen José. Der Typ verschwand wieder hinter der Tür...
aber das war dann natürlich erstmal das Gesprächsthema.
"Wer ist José?"
"Keine Ahnung."
"Also ich kenn hier keinen José."
"Wen kann er'n damit meinen?" - Anderer Typ kommt vorbei, Argentinier.
"He, kennst du einen José?"
"José? Nee, wer ist das?"
"Wissen wir nich, aber dahinten suchense einen, der José heißt."
"Weiß nicht, wer das sein kann, che." - Geht wieder. Wir schaufeln
weiter.
"Oder vielleicht der von der Heizung?"
"Nee, der heißt anders."
"Nein, ich glaub, hier arbeitet kein José."
"Vielleicht war das ja genau, was er wissen wollte." - Lächeln.
"Ich glaub, José... nein, hier ist gar keiner zur Zeit."
"Nein, das gibt hier keinen."
Kleine Pause.
"Doch, das hat hier einen. - Aber der heißt nicht José."
Ich glaub, der Typ hat das am Anfang selber gar nicht gecheckt. Ich wiederhole
es nochmal vor mich hin:
"Sí, hay uno por acá. Pero no se llama José. Ja, so
ein Schmarrn -", und fang an zu lachen.
Lucho dann auch. Kurz danach lachen wir alle.
"Sí, hay uno. Pero no se llama José. Ha, der ist ja wirklich
gut!"
"Aber es gibt einen!"
"Ja, geben tut's einen! Aber der heißt nicht José!"
Río Grande
Ein Pick-up von der YPF fährt mich nach Río Grande rein, morgens,
Viertel vor 11, und läßt mich bei der ISLAS MALVINAS Ecke VIEDMA
raus. Ich soll mich mal durchfragen, wo die CABO DE HORNOS ist, die Straße,
die auf meinem kleinen Zettel steht, den mir Claudia und Leo vor 12 Tagen in
Río Gallegos gegeben haben, mit ihrer Adresse.
Die argentinischen Straßennamen sind recht einfallslos, die Namen wiederholen
sich in jeder Stadt. Kommen wie es scheint von irgendso'ner zentralen Militär-Liste.
Sie sind selten an der Gegend oder der Natur ausgerichtet, sondern meist nach
irgendwelchem Militärkram. Irgendwelche Generäle (wie BELGRANO, SAN
MARTIN, RIVADAVIA oder VIEDMA oder wie sie alle heißen), oder Gebiete,
die oft gar nicht zu Argentinien gehören, wo die Militärs aber drauf
Anspruch erheben, wie das Kap Horn (Cabo de Hornos), das chilenisch ist, oder
die "Argentinische Antarktis", die den Pinguinen gehört, oder
die Islas Malvinas (Falkland-Inseln) usw..
Die CABO DE HORNOS sei in der Chacra 2, meinte der Fahrer, der sich aber auch
nicht so gut auskannte. Chacra 2, das ist das Neubauviertel im Norden von Río
Grande. Feuerlands Hauptstadt hat vielleicht 30.000 Einwohner.
Die ISLAS MALVINAS ist die Ruta 3, also die Panamericana, geht im Westen nach
Ushuaia raus und sie teilt das Zentrum im Süden von der Chacra 2 im Norden
ab.
Mist, ist das mies organisiert hier, überall irgendwelche Neubaublocks,
wie leergefegt, und kaum ein Schild an den Straßen... ah, da hinten, ein
Taxistand. Mal fragen.
"Entschuldigen Sie, ich suche die ...- CABO DE HORNOS, Nummer - C S eins
-"
"Wo willst du denn hin, zeig mal her... ach, das, ja, dahinten ist das,
ungefähr 7 Blocks weiter, links rein, und nochmal links... was du suchst,
ist ein hellblaues Haus."
Erstmal merke ich mir den Straßennamen hier vom Taxi-Stand: SANTA ROSA.
Gut, und jetzt 7 Blocks weiter... sieht alles ziemlich gleich aus hier... und
jetzt eine Querstraße links... hellblaue Häuser gibt es hier überall...
Links. Meinte er jetzt diese oder diese hier... Jetzt such ich schon 20 Minuten
nach dieser dummen -
"Hey, warte mal, kannst du mir sagen, ob das hier die CABO DE HORNOS ist?",
frage ich einen Blonden, der mir gerade dahinten um die Ecke entwischen wollte.
Er weiß es auch nicht so genau, ist auch nicht von hier, wir kommen ein
wenig ins Gespräch.
"Deutscher bist du? - Ich habe doch auch deutsche Vorfahren! Ich heiße
Hormann. Omar Hormann. Ich wohne in einem Haus da hinten an der AEROPOSTA, ein
gelbes Haus."
Ich soll heute Nachmittag mal vorbeikommen. Gut, mach ich gerne, aber erstmal
Claudia und Leo finden.
12 Uhr. Endlich hab ich dieses Haus in der CABO DE HORNOS gefunden. So, jetzt
wird's spannend. Dingdong.
Ihre Tante ist da. Sie ist alleine.
"Ach, die Claudia? Ja, vor paar Tagen müssen die mal hier gewesen
sein, da war mein Mann hier, der hat die wohl einmal übernachten lassen
hier. Ich weiß da nichts von, ich war da nicht da..."
"Und wo könnten die beiden jetzt sein?"
"Das weiß ich nicht, mein Mann wüßte das vielleicht, aber
der ist jetzt nicht da. Wenn du glaubst, du könntest hier übernachten,
dann sag ich dir gleich, daß das nicht geht hier."
"Nein, nein, ich bin nur auf der Durchreise. Ich würde nur gerne wissen,
was aus den beiden geworden ist und ob sie noch in Río Grande sind."
"Ja, ich weiß von nichts, wir haben seitdem nichts wieder gehört.
Du kannst es ja mal beim Radio oder beim Fernsehen versuchen."
"Naja, dankeschön jedenfalls für die Auskunft."
"Ja, tut mir leid, aber du siehst ja, ich muß wieder an die -"
"Ja, aber natürlich. Auf wiedersehen, Frau Basanetti."
Tür zu, tschüß.
Ach, so eine Scheiße. Mich würde aber schon interessieren, was aus
den beiden geworden ist.
Na gut, aber es ist eine Spur. Die waren tatsächlich hier. Hm. So groß
ist die Stadt auch nicht. Es müßte doch möglich sein, die trotzdem
zu finden, wenn sie noch hier sind... ich kann es zumindest mal versuchen.
Ich wollte schon immer mal Privatdetektiv sein. Jetzt hab ich die Chance dazu.
Ausgerechnet in Feuerland.
Inspector Columbo
Gut, erste Handlung: Zusehen, daß ich unauffälliger aussehe. Mit
Rucksack und Schlafsack auf dem Rücken, das ist wirklich schlecht. Vielleicht
kann ich den bei Omar lassen.
Also zur AEROPOSTA, zu der Wohnung von Omar Hormann. Gelbes Haus, das hier könnte
es sein. Ein Typ ist da.
"Ist Omar gar nicht da?"
"Omar? Nein, der war heute noch nicht hier... wieso, was willst du von
ihm?"
"Ich habe ihn vorhin getroffen, und er meinte, daß er kommen wollte
und daß ich ihn hier treffen sollte."
"Du hast ihn getroffen? Was hatte er denn an?"
"Na, seinen blauen Anorak natürlich, bei der Kälte. Ach, dann
kommt er wohl gleich noch. Ich bin Deutscher, weißt du, Ausländer.
Bin erst gerade hier angekommen, und wollte bei ihm meine Sachen lassen, für
paar Stunden. Ich muß kurz noch in die Stadt."
"Ach so, deine Sachen hierlassen, ja, das ist bestimmt kein Problem. Stell
sie hier hin. Du kommst ja heute Nachmittag wieder."
"Ja, klar. Er sagt, er kommt ja spätestens am Nachmittag."
"Ja, tschüß bis dann."
Gut, die Sachen sind sicher. So, was mach ich jetzt.
Erst mal schaun, ob ich in meinem Notizbuch noch irgendwelche Adressen von Río
Grande habe. Als Tramper schnappt man immer lauter Adressen auf. - Oh, da, tatsächlich,
die von diesem Ringo, den ich mal vor 4 Monaten beim Trampen getroffen hatte,
das ist in der ROSALES, das hörte sich aber nicht sehr solide an... und
hier steht die von Eusebio, der wohnt in der FAGNANO.
Ach ja, und stimmt ja, hier, der Künstler aus Río Gallegos, José
Francisco, der hatte mir ja die Adresse von diesem Dichter Julio Leite gegeben,
der ihm noch ein Schachspiel schuldet. Warte mal, José Francisco hatten
Claudia und Leo doch auch gekannt, vielleicht hat er denen ja dieselbe Adresse
gegeben... Julio Leite, da muß ich unbedingt hin.
Auf der Suche nach Julio Leite
SARGENTO CABRAL heißt die Straße. Am besten, ich gehe zum Taxi-Stand
und frage die wieder, wo das ist. SANTA ROSA war das, also hier die CABO DE
HORNOS runter. Tatsächlich, hier ist er, der Taxistand.
"Na, hast du's immer noch nicht gefunden?"
"Doch, das ist erledigt, aber ich brauche jetzt eine andere, die heißt
SARGENTO CABRAL."
"Uii, du bist nicht schlecht. Du wirst immer besser, che. Das ist wirklich
eine von den ganz komplizierten. Das ist 'ne Nebenstraße."
"Ja, ich bin hier der Taxifahrer-Tester. Ich werde dafür bezahlt."
"Paß gut auf, du mußt jetzt ins Zentrum, über die ISLAS
MALVINAS, und dann ..."
Diesmal hatte er es sehr gut beschrieben. Um 1 Uhr bin ich bei dem Mietshaus
in der SARGENTO CABRAL. Ich treffe eine Nachbarin, die sagt mir, daß das
hier die Wohnung von Leite sei, zur Zeit ist aber leider niemand da.
"Wissen Sie, wo Julio Leite arbeitet?"
"Genau weiß ich's nicht, aber du kannst es mal bei der Municipalidad
versuchen."
Das muß das Rathaus sein.
"Wie komm ich denn da am schnellsten hin von hier?"
"Ach, das ist ganz einfach. Du gehst einfach die SAN MARTIN runter, und
wenn du über die BELGRANO bist, fragst du nochmal jemanden."
SAN MARTIN runter, BELGRANO... hätt ich mir denken können.
Ich sammel Militärs. Bald hab ich sie hier alle beieinander. Diese Straßennamen
wiederholen sich wirklich in jedem Ort. Mal schauen, wo hier die RIVADAVIA und
die PIEDRABUENA sind... ach nein, das gibt es doch nicht, die sind ja tatsächlich
hier alle, eine Querstraße nach der anderen.
Als guter Detektiv muß ich mir erstmal einen Stadtplan machen. Das geht
ganz schnell. Karo-Papier hab ich dabei: es ist alles ganz schachbrettartig
angeordnet in Río Grande. Wie überall. Man weiß nur immer
vorher nicht, auf welche Linie man BELGRANO, SAN MARTIN oder RIVADAVIA schreiben
soll.
Halb 2 Uhr. Ich klopfe an eine bestimmte Tür im ersten Stock der Casa de
Cultura an (gehört zum Rathaus), wo ich eben die freudige Entdeckung machte,
daß sie hier 2 Türen weiter sogar ein sauberes Klo mit warmem Wasser
haben!
Das hatte ich auch redlich verdient. Immerhin habe ich 6 verschiedene Leute
in 3 verschiedenen Häusern Löcher in den Bauch gebohrt, und das Ergebnis,
daß das hier Julio Leites Zimmer ist, kann sich sehen lassen.
"Julio Leite? Ja, das ist hier sein Zimmer, das ist richtig... er war bis
um 9 Uhr hier. Heute nachmittag ist er vielleicht nochmal hier. Ist es denn
dringend?"
"Ja, das ist nichts dienstliches, wissen Sie, ich bin ein Freund von ihm,
und er sagte mir, er wäre hier und ich sollte unbedingt versuchen, ihn
hier irgendwo zu erreichen, und ich solle seine Kollegin fragen."
"Ach so, ich dachte, das war dienstlich."
"Nein nein, das ist es bestimmt nicht."
"Ja, aber ich weiß auch nicht, wo er jetzt ist. Das tut mir jetzt
leid... Vielleicht ist er im Haupthaus... geh mal zum Haupthaus, vielleicht
können die dir weiterhelfen. Also ich würde es beim Haupthaus versuchen,
wenn ich ihn jetzt kriegen wollte."
"Ich versuch das mal. Und besten Dank!"
Mehr war beim besten Willen nicht drin. Alles, was sie wußte, hab ich
aus ihr rausgeholt. So, ab zum Haupthaus.
"Julio Leite? Ja, der war hier, der ist wohl zum Holzhacken, frag am besten
mal in der Casa de Financias nach. Das ist gleich hier um die Ecke, das Haus."
Casa de Financias. Eine Ecke weiter. Der vierte Typ weiß bescheid.
"Julio Leite? Ja, der ist mit denen da zum Holzhacken rausgefahren, der
ist jetzt erstmal weg. Paß auf, ich sag dir, wie du den erreichen kannst.
Um 5 Uhr ist hier eine Auszahlung, hier im Foyer, da kommen alle, die Geld haben
wollen. Da kommt Julio Leite auch. Du kommst um 5 Uhr hier her, und fragst dich
einfach durch. Den kennt jeder."
Gut. Halb 3 ist es inzwischen. Noch weiß ich auch nicht, wo ich schlafen
soll, mal ganz nebenbei. Letzte Nacht waren es -15 Grad, und erst jetzt über
Mittag fängt es ein bißchen an zu tauen. Mein Schlafsack hält
keinen Frost. Ich hoffe, ich muß hier nicht draußen pennen.
Jetzt muß ich meine beiden Adressen abklappern, die von Ringo und Eusebio,
ich habe noch Zeit.
Ringo und Eusebio
Die ROSALES ist zufällig gleich in der Nähe, und die Pension von
Ringo hab ich auch gleich gefunden. Das ging verdächtig schnell.
"Ringo? Ach so, der eine Chilene. Nein, der ist nicht mehr hier, der ist
vor 2 Monaten schon nach Viña del Mar..."
Das ging auch verdächtig schnell. Viña del Mar liegt bei Santiago,
das ist 3000 km von hier. Mal sehen, ob Eusebio sich in der FAGNANO länger
gehalten hat. Der war auch so drauf, daß er mich bei sich übernachten
lassen würde.
Die FAGNANO ist die Parallelstraße zur RIVADAVIA, welche wiederum die
zur BELGRANO ist... ich bin mir sicher, daß die armen Kinder in der Schule
die ganzen Militärs auswendig können müssen. (Kein Wunder, daß
die Lehrer streiken!) Dieses Haus muß es sein, die Nummer stimmt.
"Ja, weißt du, der Eusebio wohnt nicht mehr hier. Der ist schon vor
2 Monaten umgezogen. Die Mieten sind hier ja auch so teuer, stell dir mal vor,
wir müssen hier für eine kleine Wohnung mit zwei kleinen Zimmern schon
4000 - nein, jetzt sind es ja schon 6000 Australes -"
"Ja, die Mieten sind hier in der FAGNANO besonders teuer, das ist bekannt,
da erzählen Sie mir wahrhaftig nichts Neues. Wissen Sie denn, wo der Eusebio
hingezogen sein könnte, wo ich ihn vielleicht treffen könnte?"
"Ja, der ist doch in die BELGRANO con OBLIGADO gezogen, aber das ist jetzt
auch schon 2 Monate her..."
"Na, ich werde es einfach mal da versuchen. Recht schönen Dank...
und wissen Sie... wegen den Mieten hier, da würde ich mich wirklich einmal
bei der Stadt beschweren."
Ich werde mich gleich revanchieren.
BELGRANO, also 2 Straßen weiter, und Ecke OBLIGADO muß ich jetzt
noch... noch 2 Straßen quer, und irgendwo am Eckhaus klingeln. Es gibt
nur eine Klingel.
"Guten Tag, Señora, einen Eusebio suche ich, wohnt der zufällig
hier?"
"Wer? Eusebio??"
Das hat nichts tolles zu bedeuten.
"Einen Chico, der vorher in der FAGNANO gewohnt hat und da ausgezogen ist,
weil da doch die Mieten so teuer geworden sind, wissen sie, die müssen
da jetzt 4000, nein, 6000 Australes für ein -"
"Ach so, der Eusebio, jetzt weiß ich, wen du meinst. Ja, der hat
wohl mal hier gewohnt."
"Und jetzt ist er nicht mehr hier?"
"Nein, nein, schon seit Monaten ist der nicht mehr hier... ich weiß
auch nicht genau, wo er jetzt wohnt..."
Gut, vergessen wir das auch.
Dämmerung in Feuerland
Das Wasser auf den Straßen ist schon wieder zu Glatteis gefroren. Ich
stehe auf der BELGRANO und genieße für einige Momente diesen unbeschreiblich
schönen Himmel über Feuerland, heute ist es wieder einmal wie aus
dem Geo-Magazin. Mit den ganzen bizarren, bald orange, rot, violett und sogar
grün gefärbten Cirrus-Wolken ganz hoch über uns... und der Himmel
hat auch ganz exotische Farben, komplementär zu den teils sogar von unten
von der Sonne angeleuchteten Wolken. Ein Naturschauspiel, daß sich hier
jeden Abend wiederholt.
Was mach ich jetzt noch? Soll ich zuerst zu Omar in die Chacra 2, oder zur Casa
de Financias wegen Julio Leite? Bei beiden gibt es ein bißchen eine Chance,
daß ich da übernachten könnte. Ich muß aufs Klo, das spricht
erstmal für die Casa de Cultura.
Mist, muß mich ausgerechnet die Sekretärin da erwischen. Na, was
soll's. Ich habe es wenigstens noch geschickt überspielt und nochmal bestätigt
bekommen, daß da um 5 tatsächlich eine Auszahlung ist. Es ist schon
halb 5, also geh ich rüber und warte im warmen Foyer der Casa de Financias.
Diese Auszahlungen müssen sie wirklich alle paar Tage machen, immer in
bar, weil doch die Inflation so hoch ist. Das Geld hält zur Zeit etwa 3
Tage bis eine knappe Woche, bevor es wieder im Wert sinkt. Holzhacken waren
sie übrigens, weil die, die die Erdgas- und Wasserversorgung instandhalten
sollen, auch streiken, und auf der anderen Seite vom Fluß haben sie kein
Gas mehr. Die Wirtschaftskrise hat einen neuen Tiefstand erreicht. Auch die
Wasserversorgung wird immer kritischer. Bei der Kälte brechen die Rohre.
Das Foyer beginnt sich langsam zu füllen. Mein Job ist es hier zunächst,
überall möglichst laut rumzuerzählen, daß ich Julio Leite
suche und daß ich den nicht kenne. Und es stimmt tatsächlich, Julio
Leite scheint hier bekannt wie ein bunter Hund zu sein, und jeder will ihn mir
genauer beschreiben. So, ab jetzt dürfte sich's von alleine weiter rumsprechen,
ich setze mich mit einer druckfrischen Zeitung zu ein paar Leuten auf die Treppe.
Estado de sitio
Was, die spinnen wohl, die wollen den Ausnahmezustand verhängen! Das
ist ja die letzte Scheiße. Wie war das jetzt noch, es gibt estado de sitio
und estado de guerra, Ausnahmezustand und Kriegszustand. Wo die Unterschiede
sind, weiß ich auch nicht, hängt wohl nur mit der Mobilisierung zusammen.
Paar Supermärkte haben sie geplündert, in einigen nordargentinischen
Städten. In Buenos Aires nicht. Die Inflation war gestern bei 12 %, vorgestern
bei 8 %. Vom selben Tag der letzten Woche bis heute waren es 50 %.
Ein paar Leute kommen zu mir auf die Treppe, sie haben ein Radio dabei, und
versuchen, einen Sender reinzukriegen. Sie sind ziemlich aufgeregt, diskutieren,
sind auf einmal aber ganz still und hören zwei Minuten dem Radio zu.
Tatsächlich, sie haben vor einer Stunde den estado de sitio verhängt,
landesweit. Einer regt sich besonders darüber auf.
"Bloß weil sie in Rosario und Córdoba ein paar dumme Supermärkte
geplündert haben, wird landesweit der estado de sitio verhängt! Die
ham sie doch nicht mehr alle! Unsere Politiker, che, das ist doch nichts als
ein Haufen Schwachköpfe, die sind doch alle unfähig, man sollte sie
alle zusammenpacken, und auf den Mond schießen!"
"Che, nicht so laut, hinter dir steht der Bürgermeister", meint
einer lächelnd.
"Der kann das ruhig hören!"
"Warum soll ich das nicht hören? Er hat doch recht!"
"Nun ja - "
"Wir sind doch ein freies Land, hier kann doch jeder laut sagen, was er
denkt. Mich kann er ja damit nicht meinen. Ich hab ja nichts zu sagen hier."
Oh, Respekt.
"Wieso verhängen sie den Ausnahmezustand? Ist das wirklich so gefährlich
hier?", frage ich einen.
"Ja, merkst du das denn nicht? Du brauchst doch nur auf die Straße
zu gehen, da ballern sie doch rum wie die Cowboys!"
"Che, der kann das doch nicht wissen, der ist Ausländer."
"Ach so."
"Der sucht Julio Leite, deswegen ist der hier."
"Was heißt denn das jetzt genau für uns, estado de sitio?"
"Sonderrechte für die Militärs. Das heißt, daß alle
ab 10 im Bett sein müssen. Wer dann noch auf der Straße ist, kann
erschossen werden."
"Und warum haben sie die Supermärkte geplündert?"
"Na, weil sie alle arbeitslos geworden sind, und weil sie kein Arbeitslosengeld
und nichts hier kriegen, und die Banken kommen mit den Zinsen natürlich
auch nicht mit der Inflation mit. Was sollen die denn anderes machen, als die
Supermärkte plündern?"
"Und hier in Feuerland, ist es also nicht gefährlich jetzt?"
"Naja, man kann es nie wissen -"
"Ach, der größte Schwachsinn ist das! Südlich von Chubut
passiert doch nie was! Das ist nur Schikane hier. Quatsch, hier in Feuerland
wird nichts passieren, das ist vollkommen ruhig hier. Da brauchst du keine Angst
haben hier. Trotzdem solltest du dich nach 11 nicht mehr auf der Straße
blicken lassen."
"Offiziell ist es glaub ich schon ab 10, aber hier machen sie's ab 11.
Du kannst ja nie wissen, wo hier irgendwelche besoffenen Militärs rumfahren..."
Chubut ist eine Provinz 1000 km weiter nördlich. Der Bürgermeister
hat deswegen nichts zu sagen, weil Feuerland kein gleichberechtigtes argentinisches
Gebiet ist, sondern die Verwaltung direkt den Militärs untersteht. Es ist
ein Militärterritorium hier. Die Wahlplakate von Menem fordern, daß
das hier eine Provinz wird.
Julio Leite kommt auf mich zu, und erwähnt, daß ihm mindestens 8
Leute gesagt haben, daß ich ihn suche. Ein kleiner, sympatischer lieber
Dichter, mit Halbglatze, der mit seiner Insel verbunden ist.
Das Gespräch mit Julio Leite
Sie haben ihm auch erzählt, daß ich von José Francisco
käme, und er will genau wissen, wie es ihm so geht in Río Gallegos,
alle möglichen Einzelheiten... na klar, das Telefon ist ja kaputt.
"Ja, das Schachspiel, ich weiß, ich hätte ihm das schon längst
mal zurückgeben sollen. Das hab ich aber selber zur Zeit gar nicht, das
hat ein anderer Typ, dem ich das..."
"Was ich noch fragen wollte, José Francisco kannte auch zwei chicos
aus Buenos Aires, hast du von denen vielleicht mal was gehört? Claudia
und Leo hießen die."
"Ach, diese beiden. Ja, die waren so vor einer Woche da, die haben einmal
bei mir - ich wollte sagen, die haben sich einmal kurz bei mir gemeldet. Seitdem
hab ich sie leider nicht mehr wieder gesehen... Stell dir vor, heute haben sie
den estado de sitio verhängt, da siehst du mal, was wir für unfähige
Politiker haben..."
Schade. Er hat sich versprochen, er wollte fast sagen, sie hätten zuhause
bei ihm geschlafen, so hat es sich angehört. Er vermutet, daß ich
auch nicht weiß, wo ich schlafen soll, und hat sich im letzten Moment
zurückgehalten, das Thema zu erwähnen. Damit ich nicht auf die Idee
komme, ihn auch danach zu fragen. Doch, das war ganz klar. Gut, daß mir
das aufgefallen ist.
Oder hat er aus einem anderen Grunde so reagiert? Fest steht, aus irgendeinem
Grunde scheint er das eben gemacht zu haben. Verschweigt er etwas? Was? Warum
bloß?
Wir unterhalten uns über die Wirtschaftskrise, über die Telefongesellschaft
und über den estado de sitio. Ich sehe, er fühlt sich sicher, daß
ich das eben nicht rausgehört habe. Ich spreche mit Absicht etwas schlechteres
Spanisch, mit deutschem Akzent. Währenddessen überlege ich, wie ich
in der Frage weiterkomme. Wo kann ich zum Beispiel übernachten?
Direkt werde ich ihn nicht fragen, ob es bei ihm geht. Wenn ich rauskriegen
will, warum, muß ich sehr vorsichtig sein. Ich habe ein komisches Gefühl.
Von irgendwoher spüre ich, daß das irgendwas mit Leben und Tod zu
tun hatte. Ich kann mir nicht helfen, es ist nur so ein Gefühl, daß
mich auch im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht losläßt.
Von Natur aus mißtrauisch ist er nicht, das muß ein anderer Grund
sein. Es scheint da etwas zu geben, das ich nicht wissen soll, etwas, das er
nicht erzählen will. Ich muß sehr vorsichtig sein. Nach etwa 5 Minuten
Gespräch entscheide ich mich, daß ich das Thema wieder anschneiden
kann, ohne ihn auf den Gedanken zu bringen, ich könnte Verdacht schöpfen.
Ich erzähle ihm ein wenig von den Kanada-Dollars und daß ich ihnen
das Geld für den Flug geliehen habe.
"Wo könnten die beiden eigentlich jetzt sein? Ich mein, wenn sie hier
in Río Grande waren, was haben sie hier gemacht?"
"Ja, ich weiß nicht genau, was sie hier gemacht haben. Er wollte
arbeiten... er wollte im Blanco y Negro arbeiten, kennst du das?"
"Nein, ich bin das erste Mal in Río Grande, ich kenne mich überhaupt
nicht aus. Ist es ein Restaurant?"
"Ja, eine Art Restaurant."
"Wo ist das?"
"Die Adresse ist DON BOSCO 1200. Da kannst du es ja mal versuchen."
"Ich war bei ihrer Tante, bei denen sind sie auch nicht, sodaß ich
vermute, daß sie auf der Straße sind. Weißt du, wo die Leute
schlafen, die kein Geld für das Hotel haben?"
"Ja, bueno, jetzt im Winter, damit die nicht erfrieren, lassen sie die
von der Straße immer im Ortskrankenhaus schlafen. Da könnten sie
sein. Aber die Stadt ist groß, sie könnten überall sein. Ich
habe sie seitdem auch nicht wieder gesehen. Ich würde nicht weiter nach
ihnen suchen. Wenn es dir gefällt, kannst du ja im Blanco y Negro nachfragen."
Ich verabschiede mich kurz, drehe mich um, gehe ein paar Schritte Richtung Tür
und weiß, er schaut hinter mir her. Dann drehe ich mich noch einmal um,
erfasse seinen Blick, drehe mich endgültig zur Tür um und grüße
ihn dabei gleichzeitig mit der rechten Hand, und gehe dann zur Tür raus.
Genau wie Inspector Columbo. Wenn er so tut, als würde er sich endgültig
verabschieden, aber in Wirklichkeit sagen will: "Du glaubst, du wärst
mich jetzt los, aber wir sehen uns nochmal wieder".
Das Ortskrankenhaus. Das kann sein. Vielleicht wollte er aber nur ausweichen.
Einerseits ist es ein ganz lieber Mensch, vom ersten Moment an sympatisch. Andererseits
habe ich dieses beunruhigende Gefühl... sein Verhalten paßt irgendwie
nicht zu ihm.
Ich muß zum Blanco y Negro, was das auch immer sein mag. DON BOSCO 1200,
das ist eine der Straßen, über die ich eben rüber bin und die
schon in meinem Stadtplan sind. Ich muß da sofort hin. Noch bevor ich
zu Omar gehe.
DON BOSCO 1200
Es ist weit und die Straßen sind schlecht beleuchtet. Die Nummer 1200
ist eine Art Etablissement oder sowas, da steht "Aquelarre" auf dem
Haus, aber nicht "Blanco y Negro". Es sieht sehr verdächtig aus.
Ich gehe einmal daran vorbei, komme dann von der anderen Seite. Es sieht wirklich
sehr verdächtig aus. Aber die Adresse stimmt. Na, vielleicht meinte er
das ja trotzdem. Ich gehe rein.
Oh nein, das ist ja tatsächlich genauso, wie ich mir immer einen Puff vorgestellt
habe! Alles in weinroter Seide und Samt ausgekleidet, überall rote Lampen,
und um die verhangenen Fenster hängen kleine grüne, rosa und blaue
Lichter. Der Raum ist leer, nur zwei Frauen sind hinter der Bar. Ich gehe zum
Thresen zu einem der samtbezogenen Barhocker, spiele Inspector Columbo und frage
die ältere der beiden, ob sie eine gewisse Claudia aus Capital Buenos Aires
hier kennen würde, die würde ich suchen, es sei wegen etwas Dringendem.
Ich versuche, etwas panik-mäßig oder wie ein Privatdetektiv zu erscheinen,
damit sie nicht auf andere Gedanken kommen. Kommen sie aber trotzdem.
"Was für eine chica meinst du denn? Hier, im Aquelarre? Aus Buenos
Aires, bist du da sicher?"
"Ja, aus der Hauptstadt Buenos Aires, da bin ich mir ganz sicher."
"Nee, unsere sind meistens aus Córdoba und der Gegend. Aus Capital
Buenos Aires haben wir hier nur eine einzige, die heißt Claudia Liliana,
eine moracha, meinst du die?"
Mist, was heißt denn moracha? Ich glaub, es heißt dunkelhaarig mit
paar Locken.
"Ja, genau, moracha, hat so etwas längere Haare, schwarz, bißchen
lockig, eine Italienerin, ist ein bißchen kleiner als ich...", ich
stelle mich blöd an, aber anders geht es irgendwie nicht.
Meine exakte Beschreibung paßt nämlich auf weit über 50 % aller
Argentinierinnen. Vielleicht sollte ich noch die Begriffe "nett, jung,
gutaussehend" und sowas bringen, ich laß es mal sein.
Aber halt mal, sagte sie nicht "Claudia Liliana"? Hatte meine Claudia
nicht auch einen Zweitnamen? Ich hole den Zettel mit der Adresse schnell hervor
- tatsächlich, meine heißt auch Claudia Liliana. Ja, dann wird es
die wohl sein. In diesem Milieu. Ich bin überrascht.
"Die ist aus Buenos Aires, das ist richtig, die ist aber erst seit 3 Tagen
hier. Ja, weißt du, bei uns gibt es viele schöne Mädchen...-"
"Seit 3 Tagen erst hier? Die ich suche, kam vor etwa einer Woche hierher
nach Río Grande..."
"Ja, wann sie genau hier ankam, weiß ich jetzt auch nicht, es kann
sein etwas früher... Aber kann das denn so wichtig sein?"
"Ja, das ist sehr wichtig für mich."
"Aber warum denn? Siehst du, morgen oder an einem anderen Tag wirst du
sie bestimmt wieder sehen. Warum möchtest du es heute nicht mal mit einer
anderen versuchen? Mit mir zum Beispiel. Schau, ich bin wenigstens hier. Und
ich bin bestimmt auch nett zu dir."
"Das glaub ich dir ganz bestimmt, daß du auch so nett bist wie sie,
ihr seid ganz bestimmt alle gleich nett. Aber ich wollte eben trotzdem gerne
die Claudia."
"Was hat die Claudia, das ich nicht habe? Komm schon, mit mir kannst du
doch auch -"
"Laß ihn doch, du siehst doch, er will es nicht."
"Na gut. Also im Moment ist sie nicht da, sie kommt erst um 12 hierher."
"Um 12 erst? Aber es ist doch estado de sitio."
"Ja, das nehmen die hier im Viertel nicht so genau."
Die andere Frau amüsiert sich über meine Frage. Das ist hier wohl
das Ausnahmeviertel zum Ausnahmezustand. Wirklich peinlich, sowas nicht zu wissen,
Inspector Columbo.
Claudia Liliana können immer noch viele heißen. Ich kann es mir trotzdem
irgendwie nicht vorstellen, daß Claudia als Prostituierte arbeitet. Gut,
so komm ich aber nicht weiter. Ich versuch's mal mit einer anderen Tour.
"Die ich meine, die ist mit einem Japaner zusammen. Deshalb bin ich hier.
Dieser Japaner ist mein Freund. Wir sind zusammen in die Schule gegangen. Gestern
habe ich erfahren, daß er auch hier in Río Grande ist. Ich würde
gerne wissen, wie's ihm geht. Ich krieg nur nicht raus, wo er wohnt. Claudia
könnte seine Adresse wissen."
"Ach, jetzt versteh ich. Ja, das tut mir leid, ich kenne ihre amigos auch
nicht so genau... aber sie wohnt hier, du kannst sie ja mal selber fragen. Aber
erst nach 12."
Zurück in die Chacra 2
So, jetzt aber ab zur Wohnung von Omar Hormann, in die AEROPOSTA, in die
Chacra 2. Es ist 6 Uhr. Hoffentlich finde ich das in der Dunkelheit noch. Hierum
muß ich erstmal gehen. Nein, ich geh zuerst hoch zur SAN MARTIN, das wird
sicherer sein.
So, was haben wir jetzt rausgekriegt? Erstmal ist es verwunderlich, daß
dieser Julio Leite die exakte Adresse von diesem Bordell wußte! Er machte
auf den ersten Blick nicht den Eindruck, als würde er sich damit so genau
auskennen. Das ist verdächtig.
Andererseits ist noch etwas verdächtig. Er sagte "Blanco y Negro",
und so hieß das Ding eindeutig nicht. Außerdem meinte er, der Japaner
habe da arbeiten wollen, und nicht Claudia. Und wo sollte er hier arbeiten?
Ich hatte Julio so verstanden, irgendwie als Kellner oder sowas. Das gibt keinen
Sinn.
Hier ist die SAN MARTIN, jetzt links. Die müssen mit Julio Leite längere
Zeit als nur ein paar Minuten Kontakt gehabt haben. Die müssen Julio Leite
immerhin über ihre Probleme erzählt haben, und es hatte möglicherweise
etwas mit diesem Milieu zu tun. Und dann ist da noch mein komisches Gefühl
von vorhin... Leben und Tod...
So, jetzt bin ich bei der ISLAS MALVINAS, ab jetzt hab ich keinen Stadtplan
mehr, und es ist schwierig, weil die Chacra 2 so chaotisch organisiert ist.
Hoffentlich finde ich diese AEROPOSTA.
Eines scheint sich herauszukristallisieren. Meine beiden Leute von Río
Gallegos scheinen in einem Milieu zu verkehren, das ich am Anfang nicht vermutet
hatte. Ich bin etwas überrascht.
Nein, in meinen Gefühlen kann ich mich aber doch nicht so täuschen.
Claudia war nett zu mir, und Leo auch, sie haben sich ganz lieb mit mir unterhalten,
und ich sollte sie besuchen kommen. Das hatten die auch ehrlich gemeint. Nein,
Claudia, auch wenn du eine Prostituierte bist oder zumindest so tust, da gibt's
nichts, ich werde auch weiterhin zu dir halten.
Scheiße, dieses Neubauviertel sieht nachts ganz anders aus als tagsüber.
Nichts erkenne ich wieder, aber auch gar nichts. Ich irre irgendwo herum, auf
der Suche nach einer bekannten Ecke. Es ist wie in einer völlig fremden
Stadt. Wie finde ich meine Sachen wieder? Wie bin ich hierhergekommen? Bin ich
überhaupt die richtige Querstraße gekommen, von der ISLAS MALVINAS?
Wart mal, keine Panik. Immer ruhig bleiben. Im Notfall gehe ich zurück
zur ISLAS MALVINAS, und suche mir dort die VIEDMA.
Was steht auf dem Straßenschild dahinten? - CABO DE HORNOS steht hier
drauf. - Wow, ich habe die CABO DE HORNOS gefunden! Die AEROPOSTA war eine der
Querstraßen davon. Welche, das haben wir gleich, da gab's nur 6 oder 7.
Vielleicht hat Julio Leite sie einmal bei sich übernachten lassen, und
dann hat er sie anscheinend nicht mehr bei sich übernachten lassen. Schlecht
auf sie zu sprechen war er nicht. Trotzdem stimmt irgendwas nicht, und das muß
ich rauskriegen. In Río Grande scheinen sie auch noch zu sein. Bloß
wo?
So, da hab ich sie, die AEROPOSTA, und da hinten ist Omars Haus. Na, war das
nichts? Es ist 20 vor 7.
Omar ist wieder nicht da. War er den ganzen Tag wohl nicht.
"Ja, Junge, ich bin hier der dueño von dem Haus, Omar wohnt hier
nur zur Untermiete, und der darf auch gar keine fremden Leute hier übernachten
lassen. Das weiß er aber auch."
"Kommt er morgen nochmal?"
"Das weiß ich nicht. Kann ich nicht sagen. Hier sind deine Sachen
-"
"Naja, dann grüß ihn nochmal schön, mein Name ist Francisco.
Und vielen Dank, daß ich hier meine Sachen lassen durfte heute nachmittag."
"Ja, keine Ursache. Tschüß."
Und wieder auf der Straße. Das war vorauszusehen.
Die ersten paar Schritte gehe ich recht zielstrebig irgendwohin, einfach nur,
um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wüßte nicht, wohin. Das habe
ich mir irgendwann mal angewöhnt in Lateinamerika, es ist langsam so eine
Art Paranoia von mir. Nur nicht den Eindruck erwecken, ich wüßte
nicht genau, wohin. Nur nicht nachdenklich erscheinen, nur nicht verdächtig
erscheinen.
Wie durch einen Zufall, der so tut, als ob er keiner wär, stehe ich auf
einmal vor einer Häusergruppe in diesem Neubauviertel, die mir komischerweise
bekannt vorkommt.
Ach ja, sehr verdächtig, hier war doch die Wohnung von der Tante von Claudia,
wo war das jetzt noch genau... Hier, Nummer 9, genau, das war's. Es brennt Licht.
Was mach ich eigentlich jetzt noch? Bald wird es 7 Uhr. Ja genau, was mach ich
überhaupt?
Auf einen blöden Gedanken kommen, das mache ich. Ich könnte den Rucksack
irgendwo verstecken, und einfach nochmal bei der Frau Basanetti klingeln, vielleicht
ist der ihr Macker ja da. Vielleicht verrät der mir noch ein paar Einzelheiten,
ein paar Puzzleteile, die ich noch brauche. Vielleicht fügt sich ja endlich
mal was zusammen.
Doch, das wäre noch eine Chance. Es könnte sein, daß der Typ
etwas besser drauf ist als die Tante. Immerhin steht fest, daß die bei
ihm mindestens einmal übernachtet haben. Er hat sie offensichtlich nicht
gleich hochkant rausgeschmissen. Was die Tante aber garantiert getan hätte,
und zwar sofort, da hab ich keinen Zweifel. Wenn an der Geschichte wirklich
etwas faul ist, dann werden sie sich früher oder später verraten.
Eines ist ganz klar: in dem Haus wissen sie mehr, als die Tante mir gesagt hatte.
Paco
Umdrehn, ob keiner schaut... und schon sind Rucksack und Schlafsack im Bauschutt
versteckt. 7 Uhr. Und jetzt hoffentlich nicht wieder sie. Dingdong.
Leider doch.
"Ja, guten Abend, Frau Basanetti, entschuldigen Sie nochmal die Störung,
so spät noch. Wissen Sie, ich habe da einen Verdacht, was die Claudia angeht.
Irgendetwas scheint ihr passiert zu sein. Vielleicht könnte ich Ihren Mann
sprechen, wenn das möglich ist?" - 1:0 für mich. Wenn sie zumacht,
hat sie verloren.
"Was willst du denn noch? Hier kannst du auch nicht mehr erfahren als vorhin.
Mein Mann ist nicht da. Hier ist keiner da außer mir." - 1:1. Ausgleich.
Wenn mir jetzt nichts einfällt, kann sie zumachen.
"Ich hatte nur noch eine Sache vergessen zu fragen, und dachte, vielleicht
könnte er mir da weiterhelfen. Aber vielleicht wissen Sie das ja auch.
Es tut mir ja ausgesprochen leid jetzt, das müssen Sie mir glauben, wenn
ich damit Ihre kostbare Zeit so sehr in Anspruch nehme, es ist ja auch schon
spät und ich komme auch sicher sehr ungelegen für Sie-"
"Ja, du kommst wirklich sehr ungelegen, wir sind gerade am Abendessen."
- Juhuuu, sie hat sich verraten! 2:1 für mich!
"Ah, ist ihr Mann inzwischen da? Das ist ja gut, vielleicht könnte
ich mit ihm ja mal sprechen, er weiß doch sicher mehr als Sie."
"Na, wenn du meinst, daß das was bringt... - Paco! Kommst du mal
- ?!"
Wie ich fast schon vermutet hatte, ist der Typ zehnmal lockerer drauf als sie.
Fast tut er mir ja leid. Río Gallegos, die Kanada-Dollars, und schon
sind wir beim Thema Wirtschaft und Politik. Irgendwann wird es ihr zu dumm,
neben uns zu stehen und zuzuhören, wie wir uns über den estado de
sitio im besonderen und die Probleme Argentiniens und Deutschlands im allgemeinen
unterhalten. Vor allem, uns macht es beiden langsam Spaß. Und sie geht
in die Küche. Und bleibt da auch. Er schaut nochmal um die Ecke. Die Luft
ist rein.
"Die waren insgesamt 4 Nächte hier, die beiden. Dann mußten
sie gehen - du verstehst vielleicht, warum."
"Ja, klar, nur wo sind sie dann hin. Zu Julio Leite?"
"Ja, eine Nacht haben sie bei Julio Leite geschlafen. Ihre Sachen haben
sie noch längere Zeit bei Leite gelassen."
"Warum mußten sie da weg, bei Leite?"
"Bei Leite? Das kann ich dir nicht sagen. Aber die mußten da weg.
Aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht."
"Wo sind sie jetzt?"
"Das weiß ich nicht, seit einer Woche haben sie sich nicht wieder
gemeldet hier."
"Seit einer Woche jetzt?"
"Ja, seit ziemlich genau einer Woche jetzt."
"Kennst du irgendwelche Leute, die mir sagen könnten, wo ich sie jetzt
finden kann?"
"Ja. Paß auf, du gehst zur Anónima, das ist der Supermarkt,
das ist 3 Blocks von hier. Hier die CABO DE HORNOS hoch - GOBERNADOR CAMBACERES
heißt die Straße. 3 Blocks von hier, ein großer Supermarkt,
kannst du nicht verfehlen. Da sind Leute, die dir weiterhelfen können -"
"Hat der Supermarkt nicht geschlossen? Es ist doch schon nach 7 Uhr."
"Die Anónima hat bis um 9 auf. Das ist überall in Argentinien
so. Da arbeiten immer ein paar pibes, weißt du, die Kinder, die Einkaufswagen
zusammenstellen, Leuten beim Tragen helfen und sowas -"
"Ja, ich verstehe."
"Gut, momentan sind da Pedro und Luis. Luis ist mein Sohn. Und dann ist
da noch ein dritter pibe, dem seinen Namen weiß ich nicht. Aber der arbeitet
da auch. Ich war eben kurz da, der war da nicht, aber der Pedro kennt die Adresse
von dem."
"Und der kann mir da weiterhelfen?"
"Ja, Claudia und ihr Freund haben mindestens einmal bei ihm im Haus übernachtet,
und er dürfte auch wissen, wo sie sich jetzt aufhalten. Vielleicht sind
sie immernoch bei ihm."
"Sie sind also noch in Río Grande?"
"Ja, und soweit ich weiß, sind sie auch noch hier in der Chacra 2."
Das war ein gutes Match. Paco hat sich gut gehalten. Es könnte sein, daß
das stimmt, was er sagte.
Supermarkt Anónima
Meine Sachen habe ich wirklich sehr gut versteckt. Wirklich, unter welche
Bretter hatte ich sie denn jetzt hin? Der Countdown gegen den estado de sitio
läuft, ich muß zur Anónima. Ich muß den mutmaßlichen
dritten pibe finden. Wenn der die beiden übernachten hat lassen, läßt
er mich bestimmt auch nicht draußen erfrieren. Das ist meine Chance. Trotzdem
- ich habe seine Adresse noch nicht. Na endlich, da ist ja der Schlafsack.
3 Blocks weiter, tatsächlich, riesengroßer Supermarkt. Halb 8 Uhr
ist es inzwischen.
"Ihr beiden, seid ihr Pedro und Luis?"
"Ja. Woher weißt du, daß ich Luis heiße?"
Ich erzähle ihm von seinem Vater, und von Claudia... erstmal muß
ich antesten, wieviel die beiden wissen, besonders Luis. Und ob das stimmte,
was Paco sagte.
"Ja, Claudia ist meine prima, na klar kenn ich die, die war bei uns -"
"Die hat bei euch geschlafen, eine Nacht, stimmt's?"
"Nee, paar Nächte war die bei uns, irgendwie, ich weiß nicht
mehr so genau, nicht nur eine -"
"Ich will rauskriegen, wo die jetzt ist. Wißt ihr, wo die jetzt sein
könnte? Dein Vater sagte, du weißt das recht gut, er wußte
das nicht so gut."
"Weiß ich jetzt nicht mehr, die sind zu so'm Dichter -"
"Ach, und dann sagte er noch, daß mit euch noch ein dritter pibe
arbeitet, von dem wußte er den Namen nicht."
"Ach, Beto meint er wohl -"
"Ja, Beto heißt der? Von dem sollt ihr mir die Adresse geben. Er
sagte, Pedro, du wüßtest die Adresse von dem. Der Beto weiß,
wo die Claudia ist."
"Der Beto?"
"Ja, genau, der Beto."
"Hm, der Beto. Soll der das wissen?"
"Ja, sagt dem Luis sein Vater. Der sagt auch, daß du weißt,
wo der Beto wohnt."
"Der Beto. Also ich glaub nicht, daß der das weiß."
"Sag mir halt mal, wo der wohnt, da kann ich ihn ja selber fragen."
"Ja, Pedro, dann sag's ihm doch."
"Weiß nicht, che."
"Komm, dann kann er die endlich finden. Du kannst es ihm doch ruhig sagen."
"Che, ich weiß das echt nicht!"
"Weißt du das wirklich nicht?"
"Nein, ich hab wirklich keine Ahnung, wo der wohnt!"
"Scheiße."
"Woher soll ich das denn wissen? Luis weiß das."
"Che, das war doch PREFECTURA NAVAL, wart mal, 1162 oder 1152, ich weiß
das jetzt nicht mehr so genau..."
Trabantenstadt
Mehr war nicht drin. Und das hörte sich überhaupt nicht an, als
ob es viel wär. Mehr kommt aber nicht raus, es hat keinen Sinn.
Ja, dieses Match habe ich anscheinend verloren. Die PREFECTURA NAVAL geht hinten
beim Supermarkt lang und geht einmal ganz quer durch die Chacra 2. Als erstes
stelle ich ziemlich schnell fest, daß die 11er Serie bei dieser Straße
gar nicht bebaut ist. Also nichts mit 1152 oder 1162. Schade.
Der 10er Block ist bebaut. Es sieht echt wie in einer Trabantenstadt aus, 6-
bis 8stöckige Hochhäuser stehen hier, eins neben dem anderen, Wohnklos,
einige sind offensichlich überhaupt nicht bewohnt. Sehr verdächtig
das alles. Niemand geht auf der Straße. Ein fast vollkommen totes Stadtviertel.
Ich finde ein Haus mit der Nummer 1052. Vielleicht meinte er ja das. Scheiße,
hier sind 8 Klingeln dran, wo soll ich denn jetzt klingeln. Ach, vergiß
es doch. Ich könnte auch nicht nach "Beto" fragen, weil das ein
Spitzname ist und die Erwachsenen ihn im Haus, wenn überhaupt, dann unter
einem anderen Namen kennen. Es ist 8 Uhr.
Ein paar 100 m weiter finde ich im Parterre von einem der großen Hochhäuser
eine Art Laden drin, und dahinter sind Leute. Oh, es sind Bullen. Es ist tatsächlich
ein Bullenrevier.
In Texas geht das, du kannst in jeder Stadt zum Sheriff gehen und den fragen,
ob er dich eine Nacht im Knast schlafen läßt. Gibt's sogar Frühstück
am Morgen. Vielleicht geht das ja hier auch. Ich will ja nur nicht erfrieren.
Es wird tierisch kalt.
"Na, was willst du?"
"Naja, ich wollte eigentlich zwei Freunde finden heute, aber das habe ich
nicht geschafft, bei denen hätte ich halt schlafen können. Ihr wißt
nicht zufällig, ob es bei der PREFECTURA NAVAL eine 1162 oder 1152 gibt?"
"1162 oder 1152?"
"Ja."
Oh nein, sie haben einen dicken Stadtplan von der Chacra 2, voll perfekt jedes
einzelne Haus genau eingezeichnet, und brauchen fast 10 Minuten und 4 Leute,
um rauszukriegen, daß die 11er Nummern in dieser Straße nicht vergeben
sind. Trotzdem, es wird mir ein bißchen wärmer. Ich erzähle
ihnen von Texas und von den Trampern und frage sie, ob es hier sowas ähnliches
gebe. Später werden mir alle mild lächelnd sagen, daß die Bullen
und milicos hier "andere Aufgaben erfüllen" als sich um die Leute
von der Straße zu kümmern.
"Ich meine, ich frage nur so, ich bin Ausländer, ich kann das ja nicht
wissen hier. Wo könnte ich denn schlafen, wenn es hier so kalt wird in
der Nacht?"
"Nein, hier geht das nicht, du könntest höchstens zum Ortskrankenhaus
gehn und es da versuchen."
Oh, hatte das Julio Leite nicht auch gesagt? Dann scheint da was dran zu sein.
Adalberto
Um halb 9 bin ich wieder an der Anónima. Es ist nicht mehr viel los,
Pedro ist schon weg, Luis weiß noch weniger als vorhin... aber einer,
der uns vorhin schon beobachtet hatte, kommt hinzu und interessiert sich für
meine Geschichte. Ich erzähle ein bißchen von Río Gallegos,
wo ich die beiden kennengelernt habe, daß ich sie finden wollte, daß
die Sache an diesem Beto hängt, und daß ich jetzt außerdem
bei -15 Grad auf der Straße häng mit einem besonders gut an tropische
Temperaturen angepaßten Schlafsack.
Und das Blatt wendet sich wieder.
"Ich heiße Adalberto, ich arbeite hier. Die kennen mich alle. Wenn
du willst, kannst du heute nacht bei mir schlafen, das ist kein Problem. Für
eine Nacht geht das. Weißt du was, die findest du noch, mach dir mal keine
Sorgen. Wir warten jetzt noch bis 9 Uhr, dann fahre ich zu mir, und wenn du
willst, kannst du mitkommen."
"Ja, klar."
Er wohnt in der BELGRANO, aber ziemlich weit draußen. Wir unterhalten
uns ein wenig auf der Fahrt, und es stellt sich heraus, daß er den Dichter
Julio Leite zufällig auch kennt. "Die Stadt ist groß, sie könnten
überall sein", fällt mir unweigerlich ein...
Es ist Nacht, und er fährt wie selbstverständlich über alle roten
Ampeln. Sowas muß mir natürlich auffallen, als Deutscher.
"Macht das nichts, wenn dich die milicos jetzt erwischen würden? Müßtest
du nicht immer anhalten, wenn rot ist?"
"Aber es ist doch nichts los hier, das wäre doch Schwachsinn."
"Und die milicos sagen da nichts?"
"Nein, dann müßten die doch selber auch anhalten, die sind doch
nicht blöd! Wieso, halten die in Deutschland etwa an, nachts, wenn es so
leer ist wie hier?"
"Ja. Wenn die Ampel rot ist, müssen die immer anhalten. Die Bullen
machen das auch."
"Was, auch nachts, wenn echt nichts los ist? So wie hier jetzt, an dieser
Kreuzung?"
"Ja. Auch wenn du 10 km siehst, das ist egal. Wenn rot ist und da steht
irgendwo'n Bullenwagen, mußt du Strafe zahlen. Sogar mit dem Fahrrad,
du mußt anhalten und solange warten, bis es grün ist. Auch nachts."
"Was - ?? Auch mit dem Fahrrad - ?"
"Ja, auch mit dem Fahrrad."
"Was - ?! Sowas hör ich ja zum ersten Mal! Also, wenn du kein Deutscher
wärst, würd ich dir das nicht glauben. Che, jetzt mal ohne scheiße:
die halten dich an, wenn du bei Nacht mit dem Fahrrad bei rot über eine
leere Kreuzung fährst?"
"Ja. Auch wenn Totenstille ist."
"Ist das in den anderen Ländern in Europa auch so?"
"Nein, nein, das ist nur in Deutschland. In den anderen Ländern ist
das nicht."
"Naja, okay, ich will dir das mal glauben. Wenn du das so sagst."
"Das ist wirklich kein Scheiß, den ich dir erzähl. Das ist echt
so."
"Ich habe gelesen, die Deutschen seien so wenig stolz auf ihr Land. Das
würde mir jetzt dazu einfallen."
"Vielleicht verstehst du jetzt, warum."
"Wenn ich das jemand weitererzähl, werden die mich alle für blöd
halten. Vor allem, mit dem Fahrrad. Nachts. Die müssen ja verrückt
sein, eure Bullen. Wo ist denn da der Sinn?"
"Klarzumachen, was Deutschland ist."
"Naja, Argentinien ist ja auch nicht besser. Du weißt, daß
sie heute den estado de sitio verhängt haben?"
"Ja, ich habe es mitgekriegt."
"Diese Politiker sind alle Idioten. Da denkt man, wir wären die milicos
endlich los, und jetzt lassen die diese Scheiß-Militärs auch noch
freiwillig ran. Wird Zeit, daß die Peronisten endlich drankommen, ich
bin für Menem."
Menem hat vor 2 Wochen die Wahlen gewonnen. Sie planen, die Amtsübergabe
auf einen früheren Zeitpunkt zu verlegen, weil die Wirtschaft kein Vertrauen
mehr in die alte Regierung hat.
In Feuerland sind auch überall Parteibüros von der Justizialistischen
Partei ("die Peronisten") von Menem. Die von der Revolutionären
Partei, der von Alfonsín, die zur Zeit noch regiert, haben hier das Handtuch
geworfen.
Spaziergang im Ausnahmezustand
Wir kommen bei Adalbertos Wohnung an, ich lasse meine Sachen hier, wir essen
ein wenig, Adalberto selber muß noch woanders hin. Er gibt mir einen Schlüssel
und sagt mir nochmal eindringlich, daß ich mich nicht erwischen lassen
darf, und ich solle sofort sagen, daß ich Deutscher bin und vom estado
de sitio noch nichts gehört habe.
Um halb 12 gehe ich los. Es ist weit, es ist eine halbe Stunde zum Aquelarre.
Auf den Straßen ist nichts los. 2 Blocks hinter mir fuhr eben ein Militärjeep
um die Ecke. Hat mich zum Glück nicht gesehen. Hoffentlich kommt hier keiner
vorbei. Wenn ja, dann darf ich keine auffälligen Bewegungen machen. Auf
keinen Fall versuchen, mich zu verstecken. Sonst schießen sie.
Ab der DON BOSCO 1400 gehen doch noch einige auf der Straße. Hier fängt
also das Bordellviertel an. Doch, das scheint hier tatsächlich eine Art
Oase zu sein, wo es lockerer zugeht.
Im Aquelarre ist die eine Frau von heute nachmittag wieder da. Sie sagt, im
Sol de Mayo sei auch eine Claudia aus Buenos Aires. Ihre Claudia Liliana sei
noch nicht da, ich könne es später aber nochmal versuchen. Sie beschreibt
mir, wo das Sol de Mayo ist, 2 Blocks von hier.
Das Sol de Mayo ist eine Art Lokal, wie eine Pommesbude, es ist mir symatischer
als dieses Bordell in der DON BOSCO 1200.
"Ja, das gibt hier eine Claudia Liliana, die arbeitet im Aquelarre, das
ist richtig. Die ist jetzt noch nicht da. Im Chi-Chis arbeitet aber auch eine
Claudia aus Buenos Aires, hast du's da schon probiert?"
Oh gut, gehe ich zum Chi-Chis. Das ist auch eine kleine Bude, stehen 3 oder
4 Tische drin, es ist nichts los. Nicht, weil estado de sitio ist, sondern einfach,
weil es noch zu früh ist. Ein Mädchen ist da, und siehe da, es ist
- nicht Claudia.
"Heißt du Claudia?"
"Ja, warum?"
"Ach, schade. Ich suche eine, die hat den selben Namen wie du. Die kommt
aus Capital Buenos Aires."
"Ich komme auch aus Buenos Aires, aber aus der Provinz. Kennst du Necochea?
Das liegt zwischen Mar del Plata und Bahía Blanca."
"Aber ich war doch noch nie in Buenos Aires."
"Bist du Chilene?"
"Ich bin kein Chilene, nein, ich komm von Europa, weißt du, aus Deutschland."
"Oh, und was machst du hier?"
"Nicht viel. Ich suche diese eine Claudia aus Capital Buenos Aires, und
man hat mir heute nachmittag gesagt, daß ich sie im Blanco y Negro in
der DON BOSCO 1200 finden würde."
"DON BOSCO 1200? Aber da ist doch das Aquelarre."
"Ist das nicht dasselbe?"
"Nein, das ist nicht dasselbe. Das Blanco y Negro und das Aquelarre sind
verschiedene Unternehmen."
Sie beschreibt mir, wo das Blanco y Negro ist, ich gehe hin. Es ist dicht. Offenbar
schon seit einiger Zeit. Muß auch eine Art Bordell gewesen sein. Der Besitzer
hat wohl pleite gemacht.
Leite wußte die Adressen von den einzelnen Bordells hier also doch nicht
so genau. Vielleicht war das Blanco y Negro früher ein ganz renommierter
Laden, und Leite hatte Leo das vorgeschlagen, es da zu versuchen, ohne zu wissen,
daß dieser Betrieb nicht mehr lief. Oder Leite wußte ganz genau,
was er sagte, und wollte mich loswerden. Mich zum Aufgeben bringen. Ich sollte
nicht weiter nachforschen.
Ich gehe nochmal zum Sol de Mayo, wo sie mir einen gewissen "Padrino"
beschreiben, der in einem Lokal, das "Thorne" heißt, arbeiten
soll, und der wisse, was für Leute hier im Viertel arbeiten. Scheint irgendso
ein Zuhälter oder sowas zu sein.
Es ist inzwischen schon nach 12, ich komme wieder zum Aquelarre, sie sagen mir,
inzwischen sei sie da, ich klopfe an ihrer Tür, und ist sie's? - Nein.
Es ist eine andere Claudia Liliana.
Später erfahre ich, Claudia ist tatsächlich einer der häufigsten
Namen in Argentinien. Sogar Claudia Liliana sei schon so häufig, daß
es in den Schulklassen oft mehrere davon gebe. Ich habe eine andere Idee und
gehe zum Thorne. Der Japaner müßte doch auffälliger sein als
sie. Der "Padrino" ist tatsächlich da.
"Nein, die du beschreibst, die arbeiten hier nicht. Hier arbeitet auch
kein Japaner. Überhaupt im ganzen Viertel arbeitet kein Japaner zur Zeit.
Das würde ich wissen."
Eine der Frauen, die um uns herumstehen, schaltet sich in das Gespräch
ein.
"Ein Japaner, sagst du? Wart mal, hier war doch so ein Japaner gewesen,
vor einer Woche. Der war eine Nacht da, mit einem Mädchen. Die wußten
nicht, wo sie schlafen sollten. Haben hier aber nicht gearbeitet, aber die waren
einmal hier."
"Wo wollten sie denn noch hin? Wo könnten sie heute sein?"
"Das weiß ich nicht, das ist ja auch schon eine Woche her. Sie wollte
Babysitten oder sowas machen. Versuch es doch mal bei der Zeitung oder beim
Radio."
Eine kurze Nacht bei Adalberto
Auch beim Rückweg zur BELGRANO hatte ich zum Glück keine Probleme.
Die Nacht tat gut und war angenehm warm.
Es war noch eine Überraschung gewesen, daß sie auf einmal doch von
dem Japaner wußten im Thorne. Ich hatte am Ende geglaubt, einer Geisterspur
hinterherzulaufen, aber dann war die Spur urplötzlich doch wieder real
da. Sie habe es mit Babysitten versucht, das hörte sich realistischer an.
Ich werde es morgen bei den Zeitungen versuchen. Warum hat eigentlich die Prostituierte
von ihnen gewußt und der Padrino nicht?
Doch, stimmt, es fügt sich noch etwas zusammen. Die meisten Prostituierten
haben hier Kinder und sind alleinstehend. Es liegt nahe, bei den Prostituierten
nachzufragen, wenn du Babysitten willst. Dazu kommt, daß in Zeiten der
Wirtschaftskrise die Prostituierten zu den wenigen gehören, die weiterhin
an Bargeld kommen. Ich sollte Volkswirtschaft studieren.
Aufstehen um 20 vor 6, Adalberto muß früh raus. Meine Sachen kann
ich nicht bei ihm lassen, und wie er schon angekündigt hatte, es ging nur
für diese Nacht, weil sein Mitbewohner nicht da war heute nacht.
Um 20 nach 7 bin ich beim Hospital Local, dem Ortskrankenhaus. Diesen Raum,
wo die Obdachlosen übernachten können, gibt es tatsächlich. Es
ist eines der Wartezimmer im Eingangsfoyer, das sie nachts auflassen. Ein paar
Obdachlose sind da, aber sie haben alle nie einen Japaner hier gesehen.
Gleich 2 Blocks weiter, in der EL CANO, das ist die Straße, die unten
an der Atlantikküste langgeht, ist das große Truck-Terminal. Ich
frage einen im Kiosk und einen anderen, der an der Tankstelle arbeitet, aber
einen Japaner haben sie hier alle nicht gesehen. Der im Kiosk gibt mir die Adresse
von der Zeitung "El Tiempo" und meint auch, ich könne es beim
Radio versuchen.
Ana Leite
Um 20 nach 9 Unr stehe ich vor der Wohnungstür von Julio Leite, diesmal
ist jemand da.
Es ist Ana Leite, seine Frau. Sie ist sehr nett und lädt mich zu einem
Tee ein. Sie spricht nicht laut, und bittet mich, ich solle auch nicht so laut
sein.
"Warum denn nicht? Werden wir hier abgehört? Hat es was mit
der Militärregierung zu tun? Wir können uns auch Zettel schreiben,
wenn dir das sicherer ist."
"Aber nein... -", meint sie, lächelt über meine komischen
Gedanken, "komm, ich zeig es dir."
Leise öffnet sie eine Tür. Oh. Ein kleines Baby schläft in der
Wiege.
"Wie alt?"
"14 Tage. Vor einer Woche hatten wir noch sehr große Angst, es hatte
sich erkältet. Aber jetzt ist es vorbei. Zur Zeit schläft es sehr
viel. Der Arzt sagt, das sei ein gutes Zeichen."
"Lassen wir es lieber schlafen."
Das war also der Grund gewesen. Leben und Tod. Ein kleines Baby! Deshalb konnten
sie nicht weiter bei Leite bleiben. Ana sagt, es tat ihnen so leid, daß
sie die beiden rausschmeißen mußten, aber es ging um das Leben des
Babys.
"Ja, der Leo wollte doch als Kellner im Blanco y Negro arbeiten."
"Aber das existiert doch gar nicht mehr."
"Ja, irgendwie wurde da nichts draus. Ach, das hat dichtgemacht?"
"Es sieht aus, als hätte es pleite gemacht. Wo mögen sie jetzt
sein?"
"Sie sind bestimmt noch in Chacra 2. Die wollten hier bleiben und arbeiten.
Ich glaube, sie haben über eine Unidad Básica der Peronisten ein
Zimmer bekommen. Irgendwie eine kleine 2-Zimmer-Wohnung. Ich bin mir aber nicht
sicher."
"Was ist das, eine Unidad Básica?"
"Das sind die Parteibüros der Peronisten, die von Menem. Seitdem sie
die Wahl gewonnen haben, sprießen die Unidades Básicas hier wie
die Pilze aus dem Boden. Gibt es bald in jedem Stadtviertel. Ich weiß
jetzt auch nicht, an welche die sich gewendet haben, frag halt mal rum."
"Ach du meinst, diese Büros, wo die Plakate von Menem immer dranhängen?"
"Ja, genau."
"Aber das sind ja tierisch viele. Die gibt's ja alle 3 Blocks eins."
"Oder versuch, sie über das Radio zu finden..."
Meine Sachen könne ich selbstverständlich bei ihr lassen. Den ganzen
Nachmittag sei sie da. Gestern sei sie nur kurz einmal beim Arzt gewesen mit
dem Baby. Deswegen war sie nicht da. Ich bin froh.
Bei der Zeitung
Das Anzeigenannahme-Büro der Zeitung El Tiempo war mir schon vorher
aufgefallen und ich hatte es in meinen Stadtplan eingetragen, in der PERITO
MORENO.
"Ein Japaner, sagst du? Ach ja, stimmt, da war einer dagewesen. Das ist
aber schon gut eine Woche her jetzt. Stimmt, der war mal hier, mit einer chica,
so einer -"
"Italienerin? Einer moracha?"
"Ja, genau. Ja, die taten mir leid. Sie sagten, sie wußten nicht,
wo sie schlafen sollten. Sie wollten eventuell zurück nach Buenos Aires
mit Aerolineas."
"Haben sie hier eine Anzeige aufgegeben?"
"Nein, ich glaube nicht, aber ich kann ja zur Sicherheit noch mal nachsehen.
- Nein, haben sie nicht. Ich glaube, sie sagten, sie hätten kein Geld."
"Warum hatten sie kein Geld?"
"Ja, die kamen ja aus Buenos Aires. Und die Banken hatten die ganze letzte
Woche für Giros dicht. Wir sind praktisch abgeschnitten von Buenos Aires.
Sie hätten hier ein Konto haben müssen."
"Gibt es hier Unidades Básicas in der Nähe?"
"Unidades Básicas? Hier in der Nähe? Ja, sicher, allein in
der PERITO MORENO gibt es schon zwei, eine ist hier gleich nebenan, eine andere
ist 3 Blocks hier runter."
Heute liegen die Dinge besser. Werde ich sie heute finden? Ich habe mehrere
Chancen.
Schlecht ist die Idee, es an den Unidades Básicas zu versuchen. Das sind
zu viele. Ich gehe zur ersten, dort ist nur eine Person, die sagt mir, sie kenne
keinen Japaner.
Die andere ist auf dem Weg zum Reisebüro von Aerolineas Argentinas, und
dieses interessiert mich jetzt mehr. Denn der Typ bei El Tiempo war der erste,
der mir sagte, sie wollten wieder zurück nach Buenos Aires fliegen. Alle
hatten bisher gesagt, sie wären noch in Río Grande, und zwar in
Chacra 2.
An der zweiten Unidad Básica weiß auch keiner was von einem Japaner.
In der Chacra 2 gebe es eine Unidad Básica, die hieße "Juan
Perón". Vielleicht würden die da mehr wissen.
Im großen, modernen Reisebüro von Aerolineas suchen sie mir die Namen
aller Passagiere, die in der vergangenen Woche nach Norden geflogen sind, raus.
Die Nachnamen der beiden seien nicht sehr geläufig, das müßte
rauszukriegen sein, meint die Angestellte. Nach einer Weile und nach mehreren
Überprüfungen meint sie zu mir:
"Also, von hier sind sie diese und vergangene Woche mit Sicherheit nicht
weg."
Sehr gut, das wollte ich wissen.
Es gibt noch zwei andere Reisebüros, Lade und Austral, die sind auch im
Zentrum, da gehe ich auch hin und bekomme dasselbe Ergebnis. An einen Japaner
können sie sich nicht erinnern. Da sie nicht über Land aus Río
Grande wegkönnen, habe ich damit eine ziemliche Sicherheit, daß sie
noch in der Stadt sind. Jetzt muß ich sie nur noch finden.
Viertel nach 10 ist es, jetzt kommt meine Stunde, jetzt gehe ich zum Radio.
Die Sendestation von Radio Nacional ist auch mitten in der Stadt. Von den ganzen
Büros her bin ich inzwischen schon geübt, mein Problem in wenigen
Worten vorzutragen, auch der Moderator der laufenden Musik-Sendung versteht
schnell, worum es geht. Wir sitzen im Senderaum, er spielt leichte Musik, am
Ende des Liedes sagt er mir, jetzt soll ich nichts sagen, und gibt einen Aufruf
an die Bürger, wer den Japaner und seine Freundin gesehen habe, solle beim
Radio anrufen.
Er selber meint, die Chancen seien wohl nicht so groß, daß sich
da jemand meldet. 20 Minuten später macht er es nochmal und bezieht mich
sogar im Gespräch mit ein. Das erste Mal, daß ich im Radio war. Und
auch noch live... Gebracht hat es aber wohl nichts. Leider.
In einer anderen Unidad Básica sagen sie mir, sie kennen auch keinen
Japaner, aber in der Chacra 2 gebe es zwei Unidades Básicas. Was da auch
immer stimmen mag. Die Angaben der Leute hören sich nicht sehr zuverlässig
an. Da kann ich irgendwie meine Erfahrung als Anhalter einbringen. Das hör
ich raus, daß die Angaben der Leute über die hiesige Mikrogeographie
nicht viel taugen.
Und wieder in die Chacra 2, ich muß diesen Beto finden. Von einer Unidad
Básica, die Juan Perón heißen soll, weiß hier in diesem
Wohnviertel jedenfalls keiner. Ich habe hier auch selber keine Menem-Plakate
gesehen gestern, nur im Zentrum sind sie an jeder Ecke. Die im Zentrum haben
keine Ahnung, was hier in der Chacra 2 ist.
Beto
12 Uhr, ich bin wieder an der Anónima. Der Laden ist fast leer. Aber
die pibes sind da - oh, ja, und Beto auch, tatsächlich. Jetzt wird es nochmal
spannend. Jetzt oder nie. Luis und Pedro haben ihm schon erzählt, warum
ich hierbin.
"Hey, Beto, du bist der einzige, der mir weiterhelfen kann. Du weißt
die Adresse von denen. Die sind doch noch in Chacra 2, oder?"
"Ja, die sind noch hier, glaub ich."
"Kannst du mir die Adresse geben?"
"Hm. Weiß ich jetzt nicht, die Adresse."
"Aber du weißt, wo die wohnen?"
"Ja, kann sein. Aber den Straßennamen weiß ich jetzt nicht."
"Che, ich häng hier auf der Straße rum, und weiß nicht,
wie ich die finden soll. Seit 24 Stunden such ich die jetzt schon, bin bei allen
möglichen Leuten gewesen, war beim Radio, bei der Zeitung, den Reisebüros,
die haben mir alle nicht weiterhelfen können, und du weißt, wo die
wohnen, dann kannst du mir es doch wenigstens mal zeigen."
"Ja, gut. Komm am Montag mal vorbei."
Dieser Kerl! Ich faß es nicht! Adalberto kommt hinzu.
"Was ist denn, che? Weißt du jetzt, wo die wohnen oder nicht?"
"Ja, er weiß es."
"Nein, ich selber weiß es nicht. Mein Vater weiß es, aber ich
weiß es nicht."
"Ja, dann bring ihn doch zu deim Vater!"
"Ja, ich hab ja gesagt, er soll am Montag mal vorbeikommen. Hab keine Zeit
jetzt -"
"Was, du hast keine Zeit?! Wie lang soll der denn noch warten?! Che, du
bringst den jetzt zu deim Vater, und zwar auf der Stelle, sonst gibt's hier
Zoff, ja?! Du gehst mit ihm zu deim Vater, fragst, wo die wohnen, und bringst
ihn dann dahin, ja? Er kennt sich hier nicht aus. Und vorher brauchst du hier
gar nicht wiederzukommen."
Mann, hat das jetzt gebraucht, bis dieser Typ in die Latschen kam. Ich sag mal
lieber nichts auf dem Weg, ist sicherer. Jetzt oder nie.
Final feliz
Wir kommen bei seinem Haus an, es ist die PREFECTURA NAVAL 1052. Er klingelt.
Dritte Klingel von unten. Und ist sein Vater da? - Ja, er ist da!
Noch einmal muß ich die ganze Geschichte erzählen, nicht von vorne,
sondern alles durcheinander, solange, bis es ihm zuviel wird und er mich möglichst
schnell wieder los sein will.
Wir gehen ein paar Blocks weiter durch die Trabantenstadt und zu einem Haus,
wo ich gestern nacht den Eindruck hatte, hier würde keiner wohnen. 20 nach
12 Uhr. An einer Tür klingelt er. Wer macht auf?
Claudia und Leo! Ich habe sie gefunden!
2 Wochen werde ich bei ihnen bleiben. Wir haben uns viel zu erzählen. Die
2-Zimmer-Wohnung im Neubauviertel haben sie tatsächlich über Kontakte
mit einer der Unidades Básicas im Zentrum bekommen - natürlich einer
von denen, wo ich am Vormittag noch nicht gewesen bin.
Ich erfahre, daß es in Argentinien sehr wohl erlaubt ist, ein leerstehendes
Haus oder eine leerstehende Wohnung zu besetzen, man darf sogar das Schloß
dazu aufbrechen. Genau das haben sie gemacht hier. Sie leben mit 3 anderen Leuten
von dieser Unidad Básica hier.
Miete brauchen sie nicht zu zahlen, weil das Haus leerstand. Gas (Heizung) und
Wasser stehen ihnen auch zu, brauchen sie auch nicht zu bezahlen. Nur Strom
müßten sie bezahlen. Weil keiner Geld hat, gibt es also auch keinen
Strom. Wasser gibt es nur noch 2 Stunden am Tag, wir drehen alle Wasserhähne
auf, stellen Eimer drunter und warten. Die Wasserwerke werden noch wochenlang
weiterstreiken, und die Temperaturen bleiben so kalt.
Leben am Rande des
Existenzminimums
Claudia arbeitet tatsächlich als Babysitterin bei einer Prostituierten,
Susana, die ebenfalls hier im Haus wohnt. Auf die Weise ist Claudia die einzige,
die Bargeld in den Haushalt einbringt. Wirklich fast die gesamte restliche Wirtschaft
im Ort liegt brach, keiner findet auch nur für 5 Minuten einen Job.
Abends gehen wir manchmal zu Susana runter, unterhalten uns mit ihr über
die Probleme des Alltags. Ihr "Freund" kommt jeden Tag um 3 Uhr betrunken
nach Hause und würde nicht auf die Kinder aufpassen, wie er es verspricht.
Leider zahlt sie Claudia auch nur am Anfang zuverlässig aus, aber das läßt
nach. Claudia, Leo und ich wechseln uns im Babysitten ab, wir freunden uns mit
den Kindern an und machen es am Ende vor allem, weil die Kinder uns leidtun.
Schade, daß Susana am Ende anfängt, das auszunützen.
Essen müssen wir uns "organisieren". Jeder geht woanders hin.
Beim Supermarkt geben sie uns ein wenig Gemüse, oder ein paar Konserven.
Manchmal gibt es Reis, Mehl, Tee oder sogar Zucker bei einem der Lager, wo die
Trucks ankommen. Claudia schnappt sich eines der Kinder und geht zur Caritas,
dort gibt es auch Rationen, die an die armen Leute, vor allem an die Frauen,
vergeben werden.
Alles, was reinkommt, wird geteilt. Am meisten mangelt es an Zucker.
Die zwei Jungen von der Menem-Partei sind auch noch nicht lange in Río
Grande. Irgendein gewählter Politiker hat ihnen versprochen, ihnen in der
Verwaltung später einen Job zu verschaffen. Doch die idealistischen Ansprüche
unserer mit den gewonnenen Wahlen frisch gebackenen justizialistischen "Spring-auf-den-Zug-Politiker"
mit dem Traum von einer neuen Welt finden in der engen Wohnung schon nach wenigen
Tagen eine Ernüchterung. Schnell müssen sie erkennen, daß es
offenbar doch nicht ganz so einfach scheint, die Welt zu verbessern.
Die Konflikte drehen sich vor allem um den Zucker. Zucker ist eine ganz eigenartige
Ware. Etwas Zucker wird zum Kochen gebraucht. Der meiste Zucker wandert aber
in den Tee. Zucker als Luxusgut. Ein Rest von Luxusgefühl am Existenzminimum.
Am Anfang wurde er geteilt. Aber Zucker war immer knapp. Dann regten sich die
einen auf, die anderen würden zuviel Zucker in den Tee nehmen. Wir mußten
uns am Ende einigen, daß Zucker jeder sich seinen eigenen organisieren
muß. Es lief darauf hinaus, daß Claudia, Leo und ich immer genug
davon hatten, weil wir es gut einteilen konnten. Was zwangsläufig den Neid
der anderen provozierte, denn die hatten oft gar nichts mehr, haben auch nicht
soviel organisiert.
Einmal bin ich auf die Estancia gefahren, danach gab's ein paar Tage lang nur
Schafsfleisch. Am schönsten war, mitzuerleben, wie Claudia, die in Buenos
Aires aufgewachsen war, zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee sah. Mitten in
der Nacht im gespenstisch beleuchteten Neubauviertel, wir waren gerade beim
Babysitten in der Parterrewohnung von Susana, ein scheußliches Sauwetter
draußen, kalt, stürmisch, es fängt sogar an zu schneien. Claudia
sieht das, rennt raus und kriegt sich eine halbe Stunde lang nicht mehr ein
vor Freude.
Die Woche darauf war ganz Río Grande unter einer dicken Schneedecke
versunken, ganz Feuerland war weiß. Auf den Straßen der Stadt war
eine Woche lang Glatteis, einen Streudienst gibt es in Río Grande nicht.
Irgendwie habe ich die Stadt liebgewonnen, auch wenn es keine Zukunft gab.
Wenige Wochen später ging ich einige 1000 km weiter nördlich im
tropischen Wald bei den Iguazú-Wasserfällen über die Grenze
nach Brasilien... Final feliz ist der Titel einer brasilianischen Telenovelle
und heißt übersetzt: Happy End.
Anfang 1990 - mit dem
Fahrrad durch Brasilien
Brief FORUM 21
2. April 1990, Cayenne, Französisch-Guyana.
(...)
Wann fing dieses Jahrzehnt an? Richtig, am 1. 1. 1990. Wir befinden uns irgendwo
im Norden Brasiliens, vielleicht 100 Kilometer von der Küste entfernt.
Dort, wo die Bundesstraße BR 316 den Rio Gurupi überquert,
die Bundesstaatsgrenze zwischen Maranhâo und Pará.
Und so blenden wir uns am 1.1.1990 einmal in das Leben ein, ein Posto , eine
Überlandstraße und irgendein europäischer Radfahrer, der um
5.30 Uhr dabei ist, aufzustehn und langsam seine Sachen auf's Fahrrad zu packen.
1.1.90 - Montag, 10. Tag.
Los 6.00 Uhr vom Posto "Paramar", Tacho 772 km, wo ich gestern bei
stockdunkler Nacht (ohne Licht) angekommen war. Wunderschöner stiller Sonnenaufgang
über dem ebenen Land. Mein Schatten (vor mir) ist am Anfang noch 30 m lang.
Auch nach einer halben Stunde immer noch kein Auto.
Erst fahr ich recht langsam, die Straße nimmt jetzt wieder ein paar Hügel,
ist aber auch im neuen Bundesstaat vom Teer her ganz gut. Nur ab und zu kommt
eine etwas schwerere Steinteerstrecke.
Um 7.00 Uhr halte ich auf einsamer ebener Strecke an, zieh mir den Rest vom
Fleisch von gestern abend rein, zum Frühstück, und die Sonne ist jetzt
schon ziemlich warm, hier, so nah beim Äquator.
20 km bleibt es noch eben, aber vor Cachoeira geht es den dicken Berg hoch,
ganz steil, 15 Minuten schiebe ich hoch. Das Dorf liegt genau auf der Spitze
eines einsamen Berges, der sich hier aus irgendeinem Grunde in die Ebene verirrt
hat.
8.25 an Cachoeira, Tacho 802 km, erstmal Pause, kühles Wasser am Posto
"Marichal II". Ich komme mit einem aus Belém ins Gespräch...
mit dem Fahrrad aus Bahia, das findet er gut, das sei mutig, und er spendiert
mir einen Saft irgendeiner tropischen Frucht, er sagt mir auch den Namen dazu.
Aber mir jedesmal den Namen der unendlich vielen tropischen Früchte hier
zu merken, habe ich in den vergangenen Monaten in Brasilien langsam aufgegeben.
Ich hatte in Bahia bald das Gefühl, daß es jeden Tag einen anderen
Fuchtsaft gab, wo sie mir jedesmal den Namen sagten, ohne daß sich das
einmal wiederholte. Tagesfrüchte: weil's jeden Tag andere sind.
Weiter 9.20, und auch nicht zu schnell. Erstmal den Berg wieder runter, laß
ich rollen, dann in der Ebene weiter, mit vielleicht 20 km/h. Das Vorderrad
sagt heute überhaupt nix mehr, nicht mal der Tacho quietscht: weil sie
mir gestern im Posto "Maranhâozinho" fast einen halben Liter
Lkw-Schmierflüssigkeit auf die Achse gekippt haben, seitdem quietscht wirklich
nichts mehr. Ein ruhiges zufriedenes Surren von Kilometerzähler.
Es ist kein besonders gutes Fahrrad. Nachdem ich einige Monate in einem Sägewerk
im Bundesstaat Bahia verbracht und ihnen ein paar architektonische Zeichnungen
angefertigt hatte, bekam ich quasi als Lohn ein gebrauchtes Fahrrad für
umgerechnet 80,- DM geschenkt, mit dem ich weiterfahren konnte, durch das Hinterland
Brasiliens. Per-Anhalter-fahren bringt in Brasilien keinen Spaß, es ist
auch sehr gefährlich. So fahre ich mit dem Rad weiter.
Die Straße ist gut zu fahren, fast kein Verkehr, nur heiß wird es
jetzt. Um 9.00 kamen ein paar Wolken auf, wie jeden Tag, nur sind die leider
nie da, wo ich fahre, und irgendwann im Lauf des Vormittags schluckt sie die
Hitze auch wieder weg, langsam wird es wirklich unerträglich heiß.
Tagesklima: weil's jeden Tag gleich ist.
Tacho 822, kurz vor 11.00 Uhr - Posto "Com. Baviera" auf der linken
Seite, ich mache halt und setze mich in das Café in den Schatten. Der
Ort hier heißt "Quilómetro 74", weil's noch 74 km bis
Capanema sind. In der Mittagssonne durch die Hitze zu fahren, wäre wirklich
keine gute Idee. Ich döse ein bißchen rum, schlafe vielleicht eine
Stunde... ein Kleinbus aus Belém kommt an, muß Reifen wechseln.
Mir fällt die Musik aus Picnic at Hanging Rock ein. Ich weiß nicht,
irgendwie.
15.00 Uhr weiter. An den brasilianischen Bundesstraßen sind immer Kilometerschilder.
2 Stunden später bin ich in Santa Luzia auf Km 47, Tacho 849, Wasser auftanken,
gleich weiter. Die Straße nimmt wieder schwere Steigungen, ich schaffe
nur noch einen Schnitt von 15 km/h. Langsam wird es Abend, die Straße
wird nicht besser, ab und zu kommen jetzt Schlaglöcher, und das ist gefährlich
in der Nacht. Ich habe kein Licht. Ich fahre soweit, wie ich komme. Ab 872 sehe
ich auch den Tacho nicht mehr. Irgendwie ist der Verkehr stärker geworden.
Etwas später kommt wieder ein Ort, leider ist hier kein Posto, aber ein
netter Mensch läßt mich im Kindergarten schlafen, sogar zu einer
Dusche komme ich. Tacho 877.
109 km waren's heute, wenig, wegen der Sonne. An manchen Tagen regnet es auch,
dann kann ich mittags durchfahren, einmal habe ich schon 155 km gemacht.
Das mit den Postos ist gut organisiert in Brasilien. An jeder Bundesstraße
ist alle 20-30 km eine Tankstelle für die Überland-Trucker. Jeder
Posto hat einen Namen, meistens ein Restaurant, Duschen, und einen Platz, wo
ein Radfahrer halbwegs sicher übernachten kann.
Gestern, in Nova Olinda, habe ich einen Radler getroffen, an einem Posto, das
hatte ich nicht erwartet. Er kam mir praktisch die Strecke entgegen, fuhr von
Belém nach Fortaleza. Seine Eltern waren US-Amerikaner, er selber war
in Nordbrasilien aufgewachsen, genauer, in einem Indianerreservat an der Grenze
zu Französisch-Guyana. Es schrieb mir eine Nachricht in der Indianersprache
palikúr auf einen Zettel, falls ich einmal nach Oiapoque und Saint Georges
kommen sollte.
Oiapoque heißt der Grenzfluß, und heißt auch der Ort, wo sprichwörtlich
die letzte Straße Brasiliens endet. Saint Georges heißt der Grenzort
auf der französischen Seite, mitten im Urwald. Dort gibt es keine Straßen
mehr, nur den Fluß und das Flugzeug.
Ich weiß nicht, ob ich bis nach Französisch-Guyana will, aber jetzt,
mit dieser Nachricht für die Indianer in der Tasche, gefällt mir die
Idee immer besser. Ich kenne Rugatto, einen Deutschen, in Macapá, das
liegt an der Mündung des Amazonas, und das ist zunächst mein Etappenziel.
Macapá liegt genau auf dem Äquator.
Was ich danach will, weiß ich noch nicht, vielleicht den Amazonas hoch...
aber vieleicht auch zu diesen Indianern an den Oiapoque. Ich werde es schon
sehen, das Jahrzehnt hat ja erst angefangen.
Die letzten 150 km bis Belém
2.1.90 - Dienstag, 11. Tag.
Der Ort, den ich um 6.00 morgens mit dem Sonnenaufgang verlasse, heißt
Jacamim. Es ist leider nicht so ruhig wie gestern, hier ist mehr Verkehr. Aber
es geht ja noch. Um 7.15 bin ich in Capanema. Wasser, weiter.
Straße: Steigungen. Asfalt: geht noch so. Aber nicht mehr optimal. Wird
ab Capanema noch schwächer. 150 km sind es noch bis Belém. Von dort
muß ich mit der Fähre nach Macapá.
Immer mehr Verkehr. Ein kleiner naïver Radfahrer aus Mitteleuropa würde
sagen: "diese Lkw-Fahrer hier fahren aber sehr rücksichtslos".
Mir aber hatten sie das schon in Bahia erklärt: auf einer stark befahrenen
Straße in Brasilien fährt das Fahrrad nicht auf dem Rand der rechten
Fahrspur, sondern auf dem Straßenrand der entgegenkommenden, also der
linken Spur. Das mache ich jetzt.
Das ist keine Verkehrsregel (sowas dürfte es in Brasilien nicht geben),
sondern purer Pragmatismus: was dir entgegenkommt, kannst du sehen - was hinter
dir kommt, nicht. Die Privatautos weichen in der Regel zwar aus, aber nicht
so die Lkw-Fahrer, Hell drivers, die drängen dich ab, in den Straßengraben.
Ich habe extra lauter bunte Fahnen hinten auf dem Gepäck, damit es etwas
exotisch aussieht, und damit die wenigen, die wissen, daß es andere Länder
gibt, erkennen, daß ich Ausländer bin.
Nur wenn die Straße einsam ist, fährst du auf der rechten Spur. Ist
etwas mehr Verkehr, fährst du auf der linken Seite, und wenn ein Lkw kommt,
schaust du dich schnell um, ob von hinten etwas kommt. Ist frei, wechselst du
auf die rechte Spur, läßt den Gegenverkehr passieren und wechselst
danach wieder auf die Gegenspur. Und so fahre ich praktisch Slalom zwischen
den Trucks und den Schlaglöchern. Es ist schlecht, daß ich keinen
Spiegel habe.
Ab 8.00 brennt die Sonne vom Himmel herab. 8.25 an Posto "Gaucha",
Tacho 916, noch 130 km bis Belém. Wolken kommen wieder auf, verdecken
die Sonne aber wieder nicht, jeden Tag dasselbe.
9.20 fahre ich weiter, Slalom, und es wird immer heißer. 10 km weiter
ist ein einladendes Becken mit Wasser, ich tauche meinen Kopf ganz ein, fahre
weiter und schaffe es sogar noch, nun ständig auf der linken Fahrspur,
bis zum Posto "Santa Maria", wo ich um 11.00 ankomme. Tacho 942 =
noch 102 km bis Belém. Mittagspause.
Die, die mir gesagt haben, das sei mutig, mit dem Fahrrad durch Brasilien, die
wußten, was sie damit meinten.
Auch das mit dem Slalom-fahren, das ist ganz schön gefährlich. In
Deutschland würde es als "grob leichtsinnig" bezeichnet werden
- hier ist es bisweilen die sicherste Möglichkeit, mit dem Fahrrad von
A nach B zu kommen. Aber du kannst es natürlich nur bis zu einer gewissen
Verkehrsdichte treiben, du bist ja nicht Rosi Mittermaier.
Wird es also noch etwas dichter, mußt du ganz auf der linken Spur bleiben,
so wie ich eben, dich haarscharf am Straßenrand halten und dich mit dem
Gegenverkehr arrangieren.
Wenn es dann noch dichter wird, ist es wieder sicherer, auf der rechten Fahrspur
zu fahren. Das ist dann das allerschlimmste, was dir passieren kann, und als
ich noch im Posto "Santa Maria" Mittagspause mache, ahne ich schon
fast, daß mir in den nächsten knapp 100 km genau das bevorsteht.
Wenn der Verkehr dann allerdings noch dichter wird, wird er langsamer, dann
ist es wieder weniger gefährlich. Dann steigt auch die Anzahl der Pkw's,
die Anzahl der Frauen, die fahren, dann wird wieder vorsichtiger und etwas rücksichtsvoller
gefahren. Der Stadtverkehr ist vergleichsweise harmlos.
Um 14.00 kommen ein paar Wolken, es regnet fast, die Hitze ist weg, ich kann
weiterfahren. Und tatsächlich, ab "Santa Maria" die 102 km bis
Belém die Strecke ist mörderisch. Sofort sehe ich, daß ich
auf die rechte Fahrspur muß. Der Abstand zwischen den entgegenkommenden
Fahrzeugen ist so kurz geworden, daß sie mich nicht mehr rechtzeitig erkennen
können. Dazu kommen noch die Kamikaze-Überholer, die dich ohne Rücksicht
auch auf dem Rand der linken Fahrspur von hinten nehmen würden.
Also radel ich auf der rechten Spur, oder besser am Rand, immer mit irgendwelchen
beteigeuzischen Abschiedsformeln auf den Lippen, und ständig weiche ich
auf den Randstreifen aus, muß stehenbleiben. Wenn ein Mensch auf einer
Überlandstraße von einem Lkw totgefahren wird, passiert in Brasilien
übrigens folgendes: gar nichts. Kein Auto würde anhalten. Die Toten
werden von der Landbevölkerung am Straßenrand vergraben... und das
vielleicht auch nur, damit keine Seuchen verbreitet werden. Es gibt zu viele
Menschen in Brasilien, und es überleben nur die besten.
Immer häufiger muß ich auf den nicht existierenden Randstreifen ausweichen.
Die Lkw-Fahrer drängen mich oft sogar mit Absicht ab, machen richtig Jagd
auf mich. Es ist klar: sie wollen keine Radfahrer auf dieser Strecke. Aber es
gibt keine andere Straße nach Belém, die ich fahren könnte.
Noch ein halber Kilometer, noch ein halber Kilometer... um 15.45 komme ich,
total fertig, an einem Texaco-Posto an. Mich erstaunt, daß ich trotz des
dauernden Anhaltens einen Schnitt von 14 km/h gemacht habe.
Einen Moment überlege ich, ob ich einen Kleinbus oder einen Pick-up anhalten
sollte, aber niemand würde hier anhalten. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit
auf 90 oder 85 %, daß ich die Fahrt bis Belém lebend überstehe.
Aber gut, so sind die Spielregeln, wenn du draufgehst, dann gehst du eben drauf.
Es gibt keinen anderen Weg, weiter.
200 m, abbremsen, von der Straße runter, weiter... 100 m, wieder'n Lkw,
wieder abbremsen, anhalten, wieder in' Graben... weiter... noch 200 m, wieder
runter... jeder Kilometer will hart erkämpft sein, ein erbitterter Kampf
gegen den Tod auf der brasilianischen Straße. Warum mache ich sowas? Wie
komme ich dazu, sowas zu machen? Egal, nicht überlegen, weiterfahren.
In Pernambuco vor 2 Wochen an einem Posto meinten einige Trucker, die mich zum
Essen eingeladen hatten:
"Du siehst, heute spendieren wir dir das Essen, aber hinterher, auf der
Straße, werden wir dich nicht kennen. Das mußt du wissen. Auf der
Straße gelten eigene Gesetze."
Ich fange an, mit den Lkw's zu spielen. Ich fahre etwa 1 m vom Rand entfernt,
und kurz bevor er angerast kommt, im letzten Moment, weiche ich auf den äußersten
Rand aus. So muß ich nicht abbremsen und komme schneller voran. Die Lkw's
fahren dann mit etwa 50 cm Abstand an mir vorbei, weichen also weiter aus, als
wenn ich von vornherein auf dem äußeren Rand fahren würde.
Es ist ein lebensgefährliches Spiel, denn ein zu knapp hinter dem Truck
fahrender Wagen würde mich nicht sehen. Und was ist, wenn einer betrunken
ist?
17.20 - ich komme in Castanhal an, fahre langsam durch, schaffe es noch bis
zum Posto "Ipanema" auf Km 57. Ausnahmsweise Esso, das sind in der
Regel die unfreundlichsten, aber das ist hier wohl die Ausnahme von der Regel.
Sogar mit Fenseher, draußen auf der Terrasse.
115 km waren's heute. Brasilien hat 5 % am Welt-Straßenverkehrsaufkommen,
haben sie eben im Fernsehen gesagt. Aber 11 % Anteil an den Schwerunfällen
in der Welt. Sie fahren wie die Hölle. Mir fallen die Augen zu.
Überall erzählen sie mir von Radfahrern, auch Europäern, die
sie totgefahren haben.
Wir machen auch die Augen zu und befinden uns einige Tage später, lebend,
mit Fahrrad, aber leider ohne Hängematte, auf einer ziemlich überfüllten
Fähre und überqueren einen kleinen Fluß, der hier an seiner
Mündung so etwas über 200 km breit ist. Das Boot sucht sich seinen
Weg zwischen den Inseln, Belém - Macapá.
Auf der Fähre nach Macapá
"Klein" meine ich natürlich im Verhältnis zu anderen
Flüssen in der Galaxis, im Universum... hier auf diesem Planeten ist allerdings
keiner größer als der Amazonas.
Ich schreibe ein bißchen "Tagebuch eines Radfahrers", oder sitze
vorne am Bug, sehe mir die Inseln an, und lerne einen Argentinier kennen, Omar,
aus Buenos Aires. Er ist zufällig aus genau demselben Stadtviertel in der
12-Millionen-Stadt, wo ich im Juli 2 Wochen verbracht hatte. Ich muß öfter
an seinem Haus vorbeigelaufen sein.
Was mich wundert, ist, daß er (mit den Leuten) schlechter portugiesisch
spricht als ich. Omar haben sie als blinden Passagier auf's Boot gelassen, weil
er kein Geld hat und das brasilianische Territorium wieder verlassen muß,
über Macapá nach Französisch-Guyana.
5 US-$ kostet die Überfahrt, die über 30 Stunden dauert. Omar will
ein paar Tage in Macapá bleiben, dann nach Oiapoque, und von dort, irgendwann
nachts, mit irgendeinem brüchigen Einbaum voll mit Brasilianern, in die
französischen Gewässer, wo sie die "boat people" in der
Nähe von Cayenne um Mitternacht an die Küste lassen. In Cayenne will
er Arbeit finden.
Unsere Fähre ist voll mit garimpeiros, Goldgräbern, die wissen nicht,
daß es außer portugiesisch noch andere Sprachen gibt. Sie sehen
uns an mit einem Gesicht, als würden sie sagen wollen: "Hä, warum
reden die denn so verdreht?" Ganz so Unrecht hätten sie dabei nicht:
ich mix in mein Spanisch immer wieder portugiesische Vokabeln mit rein, und
der Witz ist: bei Omar genau dasselbe. Er spricht tatsächlich kein reines
spanisch mehr, es ist kaum zu glauben. Omar ist auch schon länger in Brasilien,
1 Jahr etwa, und in Französisch-Guyana war er auch schon.
Frankreich
Nach einer sehr abenteuerlichen Lkw-Fahrt über das, was sie die Straße
zwischen Macapá und Oiapoque nennen, komme ich 2 Wochen später mit
dem Boot in einem Land an, das aus einem letzten Endes absolut unergründlichen
Zufall Frankreich heißt.
Französisch-Guyana ist keine Kolonie, sondern ein gleichberechtigtes französisches
Départment, genauso wie Puy-de-Dôme, la Seine-et-Marne oder les
Alpes maritimes. Ist auch Teil der EG und alles. Es gelten dieselben Gesetze,
dieselben Löhne, Steuern...
Die Indianer freuen sich über die Nachricht von ihrem Freund. Sie sprechen
portugiesisch, sind auch aus Brasilien, wohnen aber seit einiger Zeit in Saint
Georges. Das dürfen sie, weil die Palikúr-Indianer seit jeher beiderseits
der Grenze wohnen. Die Kinder lernen französisch in der Schule.
Es gibt Briefkästen, die auch geleert werden, Telefonzellen (mit Karten),
Sitzbänke, die gepflegt werden, die einfachen Leute (auch die Indianer)
kennen auf einmal so Sachen wie Bankkonten (bei der Post), Sozialversicherung,
es gibt eine medizinische Versorgung, geregeltes Schulsystem mit Schulpflicht...
alle diese Kleinigkeiten, die Südamerika soweit weg von Europa machen.
2 Wochen bleibe ich dort, dann nehme ich das Flugzeug nach Régina. Ich
weiß auch nicht, warum genau. Irgendwie hatte ich keine Lust, diese Schlammpiste
zurück nach Macapá zu fahren, und außerdem hatte ich zwar
ein neues Land kennengelernt (ich war noch nie in Frankreich gewesen), aber
ich habe trotzdem immer noch nichts richtiges erlebt. Da kann ich ja noch nicht
wieder zurück nach Macapá.
Von Oiapoque nach Régina sind es 80 km Luftlinie, aber der Urwaldpfad
ist in der Regenzeit nicht passierbar. Eine Straße bauen sie nicht: die
Industrieländer haben es ganz gerne, wenn es keinen billigen Weg von der
3. in die 1. Welt gibt...
Von Régina gibt es eine Straße nach Cayenne, die laufe ich entlang.
Eine Stunde, dann fängt es an zu regnen. Das darf es, es ist Regenzeit.
Noch eine Stunde weiter im Regen. Ein regnerischer Donnerstag. Regen Typ 17.
Was will ich in Cayenne? Stimmt, ich habe vergessen, mir zu überlegen,
was ich überhaupt in Cayenne will.
Eigentlich hätte ich Lust zu arbeiten. Ja, das wär doch 'ne Idee.
Ich hätte richtig Lust, einen ganzen Monat, nein, mehr, 2 Monate zu arbeiten.
Mit morgens aufstehn, zur Arbeit gehn, regelmäßig essen, abends nach
Hause kommen und fertig sein... ich hätte Lust, einmal richtig wie die
Arbeiter zu leben. Irgendwelche harte Arbeit, hätt ich richtig Bock drauf.
In Macapá meinten etliche Leute, daß es möglich wäre,
in Cayenne Arbeit zu finden.
Ein (schwarzer) Einheimischer hält an, aus Mitleid, und nimmt mich die
restlichen 130 km bis nach Cayenne mit. Der Rest der Story spielt in Cayenne.
Er setzt mich im Zentrum am Place des Palmistes ab.
Cayenne
Witzigerweise bin und bleibe ich der einzige in dieser Story, der per Anhalter
in dieser Stadt angekommen ist. Nicht mit dem Boot und nicht mit dem Flugzeug.
An einem regnerischen Donnerstag.
Und mir fällt wieder die Musik von Picnic at Hanging Rock ein. Es ist die
Musik von diesem Brief.
Der Regen hört langsam wieder auf. Ich latsch ein bißchen durchs
Zentrum und setz mich an einen Tisch vor ein Straßencafé, Chez
Mathilde, in der Avenue Charles de Gaulle. Es ist tatsächlich Frankreich
hier.
Ein wenig unterhalte ich mich mit einem Franzosen aus Paris. Er findet es witzig,
daß ich das erste Mal in Frankreich bin, ausgerechnet in dieser Ecke des
Landes. Sehr viel ist nicht los auf der Straße, hin und wieder kommen
ein paar vorbei.
Und jetzt? Warum sitze ich eigentlich hier? Wieviel Uhr es wohl ist? 2 Uhr?
Oder schon 4? Wo soll ich - he, dieses Gesicht kenn ich doch - halt - nicht
vorbeilatschen! - ha, das ist ja Omar, der Argentinier von der Fähre vom
Amazonas!
"Ola, Alemán, che, was machst du denn hier?!", er hat mich
auch gleich erkannt und setzt sich dazu. Ja, jetzt haben wir uns aber was zu
erzählen.
"... und du, bist du schon lange hier in Cayenne?"
"Paar Wochen. Heut ham sie uns aus unsrer alten Wohnung geschmissen...
besser gesagt, wir sind freiwillig raus - kurz bevor ein Bulldozer kam und das
Haus abgerissen hat."
"Wieviele seid ihr denn?"
"Ach, nicht viele. Ein Chilene, ein Peruaner, ich, und 2 Italiener. Aber
wir haben schon wieder ein neues Haus gefunden."
"Und das - wird nicht vom Bulldozer abgerissen?"
"Nein. Ich hoffe, nicht... aber gegen Bulldozer versichert isses natürlich
auch nicht..."
"Ist das weit von hier?"
"Nein, weit ist das nicht. Du weißt auch nicht, wo du jetzt bleiben
sollst, wenn du gerade erst angekommen bist und niemand kennst hier... wenn
du willst, können wir gleich mal hingehn, ich bin grad auf dem Weg dahin."
"Ja, klar, wenn ihr da noch einen Platz bei euch habt..."
"Na, auf einen mehr oder weniger kommt's auch nicht so an. Die Italiener
gehen sowieso morgen wieder, erst nach Kourou, und dann nach Italien."
Ich erklär's dem Franzosen am Tisch, Omar spricht kein Französisch
und der Franzose kein Spanisch.
"... ach, und da habt ihr euch jetzt genau hier zufällig wiedergetroffen?"
"Ja, genau."
"Und er ist Argentinier, und du bist - Franzose?"
"Oh, merci beaucoup pour les fleurs - vielen Dank für die Blumen für
mein katastrophales Französisch - ich bin aus Westdeutschland."
Marie
Ungefähr in diesem Moment kommt Marie vorbei.
"A, wie geht's, Argentinier, pardon", setzt sich dazu, "so, heut
hab ich kein' Bock mehr, mann, bin ich fertig, jetzt will ich erstmal ein Bier...
e, madame, une bière, s'il vous plaît..."
"Ah, Marie, was, du arbeitest?", Omar fällt in so'n flaches Portugiesisch,
wie er es schon auf der Fähre draufhatte.
"Ja, klar, was hast du gedacht?"
"In was arbeitest du denn?"
"Wie heißt das, ménagère -"
"Menagé... was ist das, versteh ich nicht -" (zu mir)
"Wenn sie saubermacht, wie heißt das auf spanisch... Wohnung saubermachen
und so -"
"¿Quehaceres domésticos?"
"Ja, genau."
"Und das ist so hart?"
"Red nicht davon, ich will nichts mehr davon wissen. Wer ist das?",
meint sie mich. Marie redet so ein Französisch-portugiesisch-Gemix.
"Ach, darf ich vorstellen: das ist Alemâo - das ist Marie."
"Hallo Allemand. Du bist Deutscher?"
"Ja. Und du bist Französin?"
"Mais non! Brasileira. Warum? Spreche ich so gut französisch? - Ey,
Argentinier, stimmt es, daß sie euch heute rausgeschmissen haben? Hat
mir Nicolas erzählt..."
Das Schönste ist die Sprache. Der Franzose gibt sogar einen aus - bleiben
wir also noch ein wenig sitzen und unterhalten uns noch darüber, ob es
für mich wohl eine Chance gibt, in Cayenne Arbeit zu finden. Wenn ich den
Dialog auf deutsch schreibe, geht die Hälfte schon wieder bei raus.
4 Nationen sind also am Tisch, 2 Kontinente und 4 Muttersprachen. Der Franzose
spricht französisch und ein wenig englisch. Omar spricht spanisch, und
sagen wir, leicht gebrochenes Portugiesisch. Marie spricht portugiesisch und
französisch, das heißt, sie spricht eigentlich beides gleichzeitig.
Während ich sonst mit Omar spanisch spreche, nehme ich nun portugiesisch,
dann versteht es Marie auch, dann ist der Franzose außen vor. Marie, der
Franzose und ich können zusammen auf französisch, dann muß es
für Omar am Ende übersetzt werden. Englisch verstehen weder Omar noch
Marie.
Es dauert nicht lange, dann reden wir alle so ein Mischmasch aus den 3 lateinischen
Sprachen, so eine Art Ultra-neu-Latein... ein Außenstehender würde
nur den Kopf schütteln, aber es geht erstaunlich gut, sich so zu unterhalten.
Ultra-neu-Latein
Ich werde diesen historischen Dialog jetzt im Original hinschreiben, wer
ein paar Sprachen kann, wird vielleicht ein bißchen draus verstehn. Es
ist keine hochgeistige Diskussion.
Französisch, portugiesisch, spanisch, englisch & deutsch. Es geht also
damit los, daß ich nicht check, was artisan heißt, "Künstler"
ja offenbar nicht.
Ich: Artisan? O que é?
Marie: Artisan - artesano.
Ich: Je ne comprend pas ça. Qu'est-ce que c'est?
Franzose: Artisan, tu ne sais pas ce que c'est, un artisan?
Ich: Non.
Omar: Artesano.
Ich: Sí, ¿pero qué es? ¿Algo para comer?
Omar (lacht, Marie lacht auch): No -
Franzose (zu Marie): Qu'est-ce qu'il a dit?
Marie: Si c'est quelque chose à manger!
Omar: No, no é pra comer. Artesano. Te pode dar trabalho.
¿No sabés que es un artesano?
Ich: Que dá trabalho? ¿Pero no en artesanía?
Omar: Nâo, no hace artesanías. El te da travalho.
Maire: Oui, trabalho. Olha, tu viens hoje la nuit às sete
horas a mia casa. Ahi tu parle avec David. David é artesano. Ele vem
às sete horas, porai. Lá tu parle avec lui, que tu cherche du
travail, que tu es allemand, que tu viens d'arriver ici... tout ça -
Ich: El vive em tua casa?
Marie: Dans mon apartamento, sim. E Nicolas aussi mora lá,
nous sommes trois: Nicolas, David e eu. Nicolas aussi travaille là, no
même chantier. Tu viens às sete horas, eu vou estar ahi, ahi te
vou presentar à David, ahi tu parle avec David, que tu cherche du travail,
et ça, ahi tu vai ver, ahi tu vai ter trabalho.
Ich: E - trabalho de que?
Marie: Trabalho em chantier.
Ich: O qué é que vou ter que fazer?
Marie: En chantier. Nâo sei que é o tabalho que têm
lá - quelque chose en chantier.
Ich: O qué é, enchantier?
Marie: Chantier -
Ich: Mas o qué é isso? É francés?
Marie: Sim, é français - chantier.
Ich (zum Franzosen): Qu'est-ce c'est, un chantier?
Franzose: Alors, un chantier, où l'on travaille, où travaillent
beaucoup de gens... tu connais pas le mot?
Ich: Eh - non. Chantier... Do you know the english word?
Franzose: Chantier... non, je ne sais pas. Je ne le parle pas très
bien. Par exemple, si l'on construit une maison, où travaillent beaucoup
de gens...
Ich: Construction place?
Franzose: Ah, c'est l'expression anglaise?
Ich: Eh - je ne sais pas... Baustelle vielleicht, tu ne parle rien
d'allemand?
Franzose: Ah, non, je regrette, et surtout pas pour traduir Fehler! Verweisquelle
konnte nicht gefunden werden..
Ich (zu Marie): O qué é chantier em português?
Marie: Bah, je ne sais pas. Tudo mundo disse chantier.
Omar: Chantier - lugar de construcción.
Ich: Also doch Baustelle, sag das doch gleich. E é seguro
que lá têm trabalho?
Marie: Ah, bon, seguro nâo sei... mas tu fala pra ele, que
tu cherche du travail, ele é artesano, ele ahi te dá trabalho.
Ich: Qué? Será fácil isso?
Marie: Oui, il dá travail pra muita gente...
Daß ich's nicht glaube, hab ich zu ihr noch gemeint. Daß ich's
einfach nicht glaube, daß es so einfach sei, in einer wildfremden Stadt
so schnell Arbeit zu finden.
So, und was heißt jetzt artisan? - Ganz einfach, das heißt artesano.
David ist also artesano.
Um 7 soll ich heute abend zu ihrer Wohnung kommen, sie sei da und würde
mich David und Nicolas vorstellen. David würde mir "ganz bestimmt"
Arbeit geben können. Wir gehen ein paar Straßen weiter, sie zeigt
uns ihre Wohnung, sogar mit Dusche - Omar und ich nutzen es gleich aus - und
dann gehen Omar und ich erstmal zu "seinem neuen Haus" in die Rue
Becker. Also mein erstes Zuhause in Cayenne.
Durch die knarzende Türe und über Bauschutt nach hinten, und dann
so'ne morsche Holztreppe hoch, in den ersten Stock. Das Haus ist ganz aus Holz.
Glasfenster hat es auch nicht.
Die Italiener sind nicht da, haben aber einen Besen organisiert, mit dem wir
also erstmal ausfegen. 2 kleine Räume, keine Möbel. Aber ein mieser
Köter im Nachbarhaus, der kein Bock hat, mit seiner dummen Rumbellerei
aufzuhören.
Im Appartment bei David
und Nicolas
Abends um 7.00 dann wie verabredet zu Maries Appartment-Wohnung, ich klopf
an die Tür, und - gleich die erste Enttäuschung: Marie ist nicht da.
"Du - bist David?"
"Nein, das ist Nicolas. Ich bin David."
Was soll's, dann erzähl ich's halt selber... wo ich herkomme, das
mit Marie, daß ich Arbeit suche, und so... die beiden machen Abendessen.
Wo Marie abbleibt, wollen sie wissen. Wir unterhalten uns noch ein wenig, und
ziemlich schnell meint David zu mir, "Ja, ab Montag hast du Arbeit. Ich
geb dir Arbeit."
Übrigens alles auf französisch - daß David von Geburt her Chilene
ist, erzählen mir andere Leute erst viel später. Seit 15 Jahren hat
er die französische Staatsbürgerschaft.
Post hat er, irgendwas aus Paris, scheint ihm gar nicht zu gefallen. Endlich
kommt Marie, total betrunken, legt ihnen 12.- Francs auf den Tisch, und macht
der Welt Vorwürfe, wie wenig sie doch verdienen würde, alles sei so
teuer hier. Kennen die beiden offenbar schon. Nicolas ist enttäuscht, hatte
er aber geahnt. David sorgt sich immer noch wegen dem Brief aus Paris.
"Sag, die Post hier, ist die heute angekommen? - Ist die von heute?"
"Hä?"
"Ist die von heute, die Post?"
"Hä, was -?"
"Ach, laß sie doch, du siehst doch, sie ist -"
"Nein, ich will das jetzt wissen - Marie, he, die Post, sicher das kam
heute hier an?"
"Hä, die Post?"
"Ja, dieser Brief? War der heute früh hier im Briefkasten?"
"Ja, klar, wann denn sonst..." - gefällt ihm überhaupt nicht.
"Was ist denn das? Wieso ist das denn so wichtig?", fragt Nicolas.
"Mit dem Gericht in Paris. Gibt Probleme. Scheiße ist das..."
Auch das noch. Sie haben schon genug Probleme. Sie werden wahrscheinlich zum
25. oder so aus dem Appartment müssen. Haben vor paar Tagen wohl 'ne zu
laute Fete gemacht, und der Vermieter schmeißt sie jetzt raus.
Eins bringt Marie aber noch raus:
"Hab ich's dir nicht gesagt - mit David kannst du Arbeit finden! Hab ich
nicht gesagt, David gibt dir Arbeit!"
Marie, blonde, kurze, gelockte Haare (deshalb hatte ich sie für eine
Französin gehalten, heute nachmittag) ist aus Bahia. Keine 100 km von dem
kleinen Ort Wenceslau Guimarâes entfernt, wo ich 4 Monate in einem Sägewerk
gewohnt, Architekt gespielt und portugiesisch gelernt hatte. Und sie hat ein
Haus an der Küste, südlich von Salvador, in Morro de Sâo Paulo...
ja, stimmt, das hatten mir die Leute in Bahia auch immer gesagt, daß ich
da unbedingt einmal hinsollte, das sei so schön da. Am Ende bin ich nur
einmal auf der Insel Itaparica gewesen... oh, ich träume ja.
Pato
"... pero chucha, en esta casa no hay ni luz ni agua ni nada - esto
es un escuat de emergencia -" Jetzt fällt's schon zum dritten Mal.
"¿Escuat? Was heißt escuat?"
"¿Escuat? - Skwat!"
Pato, Chilene, lange Haare, geborener Jesus Christ Superstar, ist kaum zu erkennen
im dunklen Zimmer: nur die Straßenbeleuchtung der Rue Becker scheint ein
bißchen durch's Fenster.
"Was, ist das englisch, squat - oder italienisch?"
"Nein, englisch, squatt. Das hier - ist ein squatt."
"Wie, diese Art Holzhäuser, die werden squatt genannt?"
"Nur in bestimmten Fällen", meint Omar, und lächelt.
"Was ist das jetzt, squatt?"
"Squatt - das hier, compadre, wie soll ich sagen, casa abandonada, wo welche
illegal wohnen, keine Miete zahlen...", Pato hat sichtlich Schwierigkeiten
mit der Definition.
Hausbesetzung würde ich sagen, das scheint in Südamerika aber so etwas
wie normal zu sein: wer keine Miete zahlt, lebt im squatt.
Die Augen gewöhnen sich nur langsam an das dunkle Licht. Wir sitzen zu
viert in einem kleinen Zimmer: Pato, Omar, ein Peruaner und ich, und unterhalten
uns, auf spanisch.
Irgendwas geht von Pato aus, und es hat mit "fast immer guter Laune"
und zufriedener Unzufriedenheit zu tun. Der Chilene ist seit über einem
halben Jahr in Cayenne, und arbeitet zur Zeit auch im chantier beim Madeleine-Krankenhaus.
"Ach, im Krankenhaus-chantier, da arbeitest du?"
"Ja -"
"Mir hat grad so'n Typ gesagt, daß ich da morgen vorbeischauen soll.
Montag würde ich da anfangen zu arbeiten."
"Im Krankenhaus an der Madeleine? Dieser riesige chantier?"
"Ich kenn das noch nicht. Was machst du denn da?"
"Ha, Gräben ausheben, mit Spitzhacke und Schaufel... und was sollst
du machen?"
"Weiß ich noch nicht so genau, er hat gesagt, irgendwas mit Maurer
oder so -"
"Ach, dann ist es bestimmt mit David. Kannst du gut mauern?"
"Nein, ich habe keinen blassen Schimmer davon, aber ich muß es ihm
sehr überzeugend verklickert haben, daß ich der Crack dafür
bin. - Hab kein Geld, hab keine Ahnung, ich hab nur ein großes Maul...
bin nur gespannt, wie lange es dauert, bis er das checkt. Und solange muß
er mich ja ausbezahlen."
"Das könnte David sein. Weißt du, wie der heißt, der artesano?"
"Ja, David heißt der, wieso, kennst du den?"
"Ja, klar, jeder kennt den hier. Hey, Omar, hast du gehört, der arbeitet
mit David! Ich hab auch schonmal für den gearbeitet. Vor paar Wochen...
aber nur 3 Tage, danach hatte ich kein' Bock mehr."
"War es bei dir wohl genauso? Oder zahlt er dann nicht?"
"Doch, er zahlt. Doch, mich hat er ausbezahlt, anstandslos. Du mußt
aufpassen mit den artesanos, es gibt da im chantier einige huevones , die zahlen
einen nicht aus. Aber keine Angst, David zahlt."
200,- Francs am Tag, und nach 3 Tagen hatte er sich mit David verkracht,
dann war Sense. Sollte das mit mir jetzt anders werden? Na, wenn schon. Auch
mit 600,- Francs könnte ich mich eine Zeitlang über Wasser halten.
Die Italiener kommen rauf. Buona sera, comment ça va, welche Sprache
wollen wir sprechen... was ihr wollt, italienisch, portugiesisch, englisch,
französisch... also portugiesisch. Sie waren die ganze Zeit in Brasilien,
morgen wollen sie nach Kourou , und dann nach Italien. Die Nachbarn hätten
übrigens rumgemosert, weil wir hier sind, meinen sie.
Omar gefällt vor allem der miese Köter nicht, der wird auch die halbe
Nacht weiterbellen. Omar und Pato gehen zu einem anderen squatt, sie nennen
es den escuat latino. Dort leben noch andere Spanisch-Südamerikaner.
Mit dem Peruaner bleibe ich heute nacht in der Rue Becker, und mit den beiden
Italienern, die zu zweit in der Hängematte schlafen. Mücken hat's,
die Italiener fühlen sich auch genervt.
Und so klingt der 8. Februar 1990 mit einem langsam müder werdenden Hundegebell
aus... was bleibt, ist die Musik von Picnic at Hanging Rock, und das Gesiepe
der Moskitos... Cayenne, Französisch-Guyana.
Squatt in der Rue Becker, heute mit vernagelten Türen
... ziiiiiiiiiji...ziiiiiiih... ziiiii - iiiiji - ziiiii... ih ...ziiiiiiji...ziiijiiii... weniger sind's als in Saint Georges... ziiiijiii - jiiiih... ziiiiii... ziiiiiiiiiiiii - ziiii... In Saint Georges hatte ich auch kein Moskito-Netz, blöd war das. 20 % der Bevölkerung hatten dort Malaria. Als ich da war, hat's zum Beispiel den Pastor aus dem Nachbarhaus erwischt. Malaria ist mies... ziiiii... iiiijiiii... ziiiijii... ziiiiihiiih - iiiihiii... ziiiiiiiji... Die Moskitos hier kommen am Abend raus und sind die ganze Nacht aktiv, bis Sonnenaufgang, dann ist Ruhe. In Saint Georges hatte ich mich fast schon dran gewöhnt... ziiiii... ziiii - iiii... ziiiiii - iiiii - iih ... iiii ... jiiii ...
Freitagmorgen, 9.2.1990. Ein sonniger Tag. Ich gehe zuerst mal zu Marie,
es gibt Frühstück, sogar mit Kaffee, dann beschreibt sie mir den Weg
zum chantier an der Madeleine, wo Nicolas und David arbeiten.
Auf dem chantier
Es ist eine riesengroße Baustelle mit 3 Kränen - und erstmal finde
ich den Eingang nicht. Es ist gar nicht so einfach, zu erkennen, was bei so
einer riesigen Baustelle hinten und vorne ist.
Während ich noch überlege, was ich sagen soll, wenn sie fragen,
"was für'n David", kommt einer genau auf mich zu - es ist der
Gabelstapler-Fahrer... ein Weißer, hat blonde, kurze Haare... oh, Nicolas!
"Ja, warte hier am Eingang, ich komme gleich!", ruft er mir zu, er
scheint wenig Zeit zu haben.
Dennoch, er sagt gleich David bescheid, nie hätte ich den gefunden, und
David zeigt mir, wo ich am Montag anfangen soll.
Ein Maurerjob, mit sehr großen Ziegeln, carrobrics nennen sie die,
er will mir zeigen, wie das geht.
"Ich nehme dich auf Probe. Wenn du nicht gut arbeitest, fliegst du sofort
wieder raus, das muß dir klar sein. Also bis Montag!"
Danach latsche ich noch ein bißchen über den chantier, und treffe
Pato, beim Gräben ausheben, irgendwas im Kanalsystem. Er arbeitet zusammen
mit Fernando, der ist auch Chilene, und wohnt auch im escuat latino.
"Hey, Pato! Tatsächlich, mit der Spitzhacke in der Hand!"
"Ja, das hast du wohl nicht erwartet, wir sind hier das Monument der Arbeiterklasse!"
"Die arme Arbeiterklasse! Ihr macht euch ja nicht gerade kaputt hier."
"Nein, der Chef ist gerade nicht da, dann ist hier immer lockere Welle...
wenn dir der Job bei David nicht paßt, kannst du ja bei uns mitmachen."
Komisch, dazu hätte ich irgendwie gar keine Lust. Vielleicht wird das mit
dem Gräben ausheben langsam zu alt, es scheint hier ja nicht anders abzugehen
als in Bolivien. Ich entscheide mich, am Montag mit David anzufangen und zu
versuchen, so lange wie möglich durchzuhalten, bis er mich in hohem Bogen
rausschmeißt.
Das absolute Ziel meiner Träume wäre hier, tatsächlich eine feste
Arbeitsstelle zu finden, mit geregelter Arbeitszeit und so weiter. Alltag eines
Arbeiters, einfach mal mitmachen, und dafür noch Geld kriegen. Ich finde,
es ist eine sehr ausgefallene Idee. Nun gut, ein Wuschtraum, fern von jeder
Realität.
Und zwar gar nicht so wenig Geld: 200,- Francs dürfte der höchste
Tageslohn im ganzen Kontinent sein, den du für Gräben-ausheben oder
Mauern-hochziehen bekommen kannst.
Pato hat eine Freundin in Mannheim, Julia, und würde ihr gerne einen
Brief schreiben. Hat aber keine Briefmarken, und Geld dafür erst recht
nicht.
"Aber Pato, du bist hier doch nicht irgendwo, du bist hier in Frankreich,
EG, Europa... Zivilisation! Du kannst doch einfach Fehler! Verweisquelle konnte
nicht gefunden werden. draufschreiben! Du brauchst keine Briefmarken."
"Was - ??"
"Gebühr bezahlt Empfänger. - Taxe paie destinateur. Schreibst
du drauf - fertig." - er glaubt gar nicht, daß es so etwas überhaupt
gibt.
"Du meinst, einfach draufschreiben, daß der Empfänger das bezahlt?
Und nichts weiter?"
"Ja, genau."
"Nein, also in Chile geht das jedenfalls nicht. Dort wäre sowas undenkbar..."
Fragt er extra bei der Post nach. Natürlich geht das.
Pato und die anderen Latinos sind auch sehr mißtrauisch gegenüber
dem Briefkasten an der Avenue Charles de Gaulle, obwohl die Entleerungszeiten
genau angegeben sind. Bis sich einer einmal mal hinstellt, wartet und überrascht
ist, als der Kasten tatsächlich pünktlich geleert wird.
Inzwischen ist Sonntag, und ich bin nun auch mit Pato, Omar und Fernando
im escuat latino. Rue Lallouette, Ecke Boulevard Jubelin. Im oberen Stockwerk
eines dreistöckigen Hauses, es wohnen etwa 20 Spanisch-Amerikaner in den
4 Zimmern des wackligen Holzhauses mit Wellblechdach und einer sehr brüchigen
Holztreppe, die außen angebracht ist.
Glasfenster, Strom oder fließend Wasser hat es natürlich auch
nicht. Dafür hat es im luftigen 2. Stock auch keine Moskitos. Und es sind
lauter bunte Bilder an den Wänden in unserem Zimmer, in Ölfarben mit
Fingern gemalt. Sie sehen sehr wild aus.
Der erste Arbeitstag,
mit David
Montag, 12. Februar.
Aufstehen mit Pato und Fernando, wir gehen zusammen zum chantier. Wir sind ein
wenig spät, aber egal, es ist Montag.
David kommt um halb 8. Er zeigt mir, wie Türrahmen im Mauerwerk fixiert
werden, macht mir vor, wie es geht, danach bin ich den ganzen Tag über
bei dieser Arbeit. Ich habe Glück gehabt, daß ich nicht mauern muß,
nur Mörtel in Türrahmen reinschmieren.
Einen Arbeitsvertrag scheinen die Leute hier ja nicht zu bekommen. Wie das mit
der Bezahlung aussieht, frage ich ihn.
"Kommt drauf an."
"Wie? Auf was kommt das drauf an?"
"Kommt drauf an. Wenn du gut arbeitest, zahl ich gut - wenn du schlecht
arbeitest, zahl ich schlecht."
Pato meinte aber, 200,- Francs sei das mindeste, weniger dürfte er mir
gar nicht zahlen. Den ganzen Vormittag pest David um mich rum, organisiert eine
elektrische Mischpistole, und verschwindet irgandwann von der Bühne. Am
Nachmittag um 3 will er nochmal vorbeischauen.
Nun, daß ich "gut" arbeite, glaube ich ja wohl nicht im Ernst.
Ehrlich gesagt, bin ich froh, daß er um 3 nicht kommt, und um 4 auch nicht,
um sich den Murks anzusehen, den ich hier fabriziere. Scheiße, ich kann
es tatsächlich nicht.
Ein Brasilianer aus Paraná zeigt mir ein- oder zweimal, wie ich es machen
soll. Und daß ich auf mein Werkzeug gut aufpassen muß, und es nach
5 Uhr gut verstecken muß. Weil alles geklaut wird. Die Mischpistole nicht,
das sei Davids Job, die zu verstecken oder anzuschließen. Nur mein Werkzeug.
Ein paar Schwarze arbeiten auch für David, sie unterhalten sich in einer
Sprache, die taki-taki heißt, verstehen aber auch deutsch (sie können
holländisch) und englisch. Aus Surinam sind sie, und zwar genauso illegal
wie die ganzen Brasilianer, die überall in chantier arbeiten.
Die Surinamies gehen um 5, ich gehe dann auch, wasche meine Kellen ab. Ich lege
sie in den Eimer, den ich zwei Stockwerke tiefer in irgendeinem Raum im dunklen
Kellergeschoß verstecke. Die Mischpistole lasse ich da. Paraná
meint nochmal zu mir, ich solle sie stehenlassen.
Dienstag, 13. Februar.
2. Arbeitstag, diesmal bin ich pünktlicher, schließlich will ich
wissen, ob David nochmal dagewesen ist und sich meinen Schrott angesehen hat.
Keiner im squatt hat eine Uhr, aber kurz nach 6 schalten sie die Straßenlampe
vom Boulevard Jubelin aus, dann müssen wir hoch.
7 Uhr. David ist nicht da. Er ist anscheinend auch tatsächlich nicht mehr
gekommen, denn seine Mischpistole steht immernoch da. Aber ich weiß ja,
was ich zu tun habe, ich mache also meinen Murks mit den Türrahmen weiter.
Es ist die letzte Scheiße, aber ich muß durchhalten.
Der Paraná meint, das sei sehr ungewöhnlich, das sei nicht Davids
Art, seine Geräte einfach liegenzulassen.
Praim
David meinte gestern zu mir, erst eine Tür, dann sollte ich 2 machen,
dann 3 - am Ende meinte er, ich solle alle Türen in diesem Durchgang machen,
8 oder 9 sind das. Ein Scheißjob, ein mieser Fummelmurks, er selbst hatte
es mir gestern wirklich bei der leichtesten Tür vorgemacht... "good
morning, do you speak english?"
"Was? Do you speak electrish - yes, a paar Funken..." - mann, ich
bin ja schon vollkommen blöd.
Ob ich der Chef hier sei, will Praim, ein Inder aus Guyana wissen. Irgendwie
verstehen wir uns vom ersten Moment an.
"Nein, ich bin zwar Weißer, aber es ist nicht direkt so, daß
ich hier der Boss wär. Du mußt mit einem Typen sprechen, der David
heißt, der ist jetzt nicht da... und das ist auch besser so."
"Was machst du denn da für einen Murks?"
Müll mache ich, das sehe ich auch selber, aber solange David nicht da ist,
kann er mich ja nicht rausschmeißen.
Praim erzählt, daß er erst gestern aus Surinam gekommen sei, mit
dem Boot, nachts, über den Grenzfluß. Er wohne in Surinam, in Paramaribo.
Jetzt war er ein halbes Jahr in Surinam, aber davor habe er auch schon etliche
Monate hier im Krankenhaus-chantier gearbeitet.
" - diese Wand hier habe ich gemacht, schau mal, und diese hier auch, und
diese 2 Ecken..., paß auf, gib mir mal die Kelle, da kann ja kein Mensch
zusehn, was du da machst. So macht man das, die Masse muß ein bißchen
weniger feucht sein... wieso ist da Sand drin?"
"David hat mir das so vorgemacht."
"Das ist ein Depp, der dir das gesagt hat, daß da Sand reinsoll.
Das hier - das heißt lacol", er rührt kurz was an, "gib
mir mal den Spachtel -", nun versucht er sich an der Türe. Es gelingt
ihm aber offenbar auch nicht so gut, wie er es sich vorstellte.
"Der Spachtel ist scheiße, du brauchst einen dünneren, wenn
du das machen willst, mit dem hier geht das schwer. Kennst du Gilbert?"
"Gilbert? Who's that?"
"Das war mein Boss. Vor einem halben Jahr. Aber vielleicht ist der ja wieder
weg hier."
Ein wenig spachtelt er noch rum, dann überläßt er die Türen
wieder mir und geht. Auf einmal kommt er jedoch wieder, mir einem freudestrahlenden
Gesicht:
"Da - du siehst die zwei da vorne in dem Gang?! Das war mein Boss, Gilbert,
der eine, und der andere ist sein Sohn, mit dem habe ich ein Jahr lang gearbeitet!
Gilbert ist ein guter Boss!"
Er geht zu ihnen hin, oh, sie kennen ihn tatsächlich, sprechen kurz mit
ihm, und suchen dann den Paraná. Praim kommt nochmal zu mir:
"Ab morgen habe ich hier Arbeit! Gilbert kauft mir bis morgen die Geräte,
und Schuhe und Schutzhelm, morgen fange ich hier an! Ich arbeite für Gilbert!
Gilbert ist ein guter Boss!"
Pato meinte, das sei obligatorisch, jeder artesano müsse den Arbeitern
Sicherheitsschuhe und Schutzhelm zur Verfügung stellen. Ich arbeite zur
Zeit so, wie ich in Macapá mit dem Fahrrad angekommen bin: in Shorts,
T-Shirt und Strandsandalen.
Das Rätsel um David
Der Paraná kommt an, mit Gilbert und Patrick, seinem Sohn. Sie suchen
mich. Ich kann französisch und soll übersetzen, was Gilbert dem Paraná
sagt.
"Also, David hat Probleme. Alle, die für David gearbeitet haben, arbeiten
ab sofort für mich. Alles klar?"
"Wie, kommt David nicht mehr? Wir haben für David gearbeitet! Seit
Monaten schon!"
"Ich sage, David hat Probleme. Ich weiß nicht, ob er noch kommt -
ich bin Davids Chef. Und solange er nicht da ist, arbeiten die von David für
mich. Wir müssen jetzt gehen, ich komme vielleicht um halb 5 nochmal wieder."
Tja, das war dann wohl die Nachricht des Tages. Mir ist selber in dem Moment
noch gar nicht klar, was für eine Lawine an Reaktionen die jetzt auslösen
wird. Die große Befürchtung, die dem Paraná sofort hochkam,
lag darin begründet, daß David uns jetzt wohl nicht mehr ausbezahlen
würde.
Cayenne ist nicht groß und die Nachrichten um David verbreiten sich schnell.
David, seit über einem halben Jahr als artesano in Französisch-Guyana,
hat tatsächlich Probleme mit der Justiz in Paris: er ist heute morgen von
der Polizei festgenommen worden und wird noch diese Woche nach Paris geflogen
werden. Die Nachricht schlägt überall ein wie eine Bombe.
Niemand kann sich vorstellen, was für Probleme er dort genau hat. Einige
vermuten, Drogen. Nicolas, der 3 Wochen mit ihm zusammengewohnt hat, kamen einige
Sachen verdächtig und rätselhaft vor. David habe eindeutig mehr Geld
verbraucht als er überhaupt ausgegeben haben könne. Er müsse
große Mengen Geld irgendwohin überwiesen haben. Von Nicolas hat er
sich zum Beispiel einmal 3000 Francs geliehen, und die sind weg, das weiß
Nicolas. David schuldet allen möglichen Leuten hier Geld.
Der artesano David arbeitet für die Nord-France, das ist eine multinationale
Baufirma, die chantiers auf der ganzen Welt hat. Nicolas weiß, daß
David vorhatte, in einigen Monaten nach Kenia zu gehen. Er selber war auch schon
in Afrika gewesen, er in Senegal. Er meint, es sei sehr unwahrscheinlich, daß
David wieder hierher zurückkäme.
Für mich wird es praktisch bedeuten, daß ich gestern und heute vormittag
hier umsonst gearbeitet habe, und ab jetzt arbeite ich für Gilbert und
Patrick. Möglicherweise ist das aber sogar noch besser, denn Praim meint,
Gilbert sei immer sehr anständig und zuverlässig gewesen mit der Bezahlung.
Den Lohn zahle er monatlich, und schon nach 2 Wochen gebe es einen Vorschuß.
Bis 5 arbeiten wir weiter, Gilbert kommt nicht mehr. Aber Patrick, und bringt
ein wenig Geld, vielleicht als Zeichen des guten Willens. Ich freue mich, denn
bis jetzt hatte ich fast ohne zu essen gearbeitet.
Nicolas und Marie müssen innerhalb von 24 Stunden aus dem Appartment, sie
kommen kurzfristig bei einem Franzosen unter. Nicolas und Marie hatten vor 3
Wochen auch in dem squatt mit Pato und Omar gewohnt, aber als das mit den Abrißdrohungen
dort akuter wurde, sind sie dann zu David. Den kannte Nicolas von chantier.
Pato ging in dieser Zeit zu Fernando in den escuat latino, nur Omar und der
eine Peruaner blieben dort bis zum bitteren Ende, mit Bulldozer, vom 8. Februar.
Mittwoch, 14. Februar.
3. Arbeitstag. Gilbert hat also alle Arbeiter von David einfach übernommen
- ich erzähle natürlich niemandem, daß ich für David nur
auf Probe gearbeitet habe. Und erst recht nicht, daß er mich ohne jeden
Zweifel schon längst wieder gefeuert hätte, wenn er meinen Müll
gesehen hätte.
Die Gruppe, das sind etwa 10 Leute. Ein paar Brasilianer, die Surinamies, ich,
und Rafael. Rafael ist Peruaner, aus Iquitos.
Und Praim. Praim fängt heute an, sie haben ihm tatsächlich auf der
Stelle Geräte, einen gelben Schutzhelm und Schuhe besorgt. Er macht das
mit den Türen weiter, er sagt, das sei zu schwer für mich. Ich bin
sehr froh, daß ich woanders hinkomme und carrobrics schleppen soll. Danach
soll ich Schutt aus irgendwelchen Räumen beseitigen, das geht auch einfach.
Es ist gut, daß Praim mich von den Türen erlöst hat.
Die Mehrheit auf dem chantier sind Haïtianer und Brasilianer. In unserer
Gruppe sind aber keine Haïtianer.
Bei Pato und Fernando ändern sie das System: nicht mehr Tageslohn, sondern
nach Leistung wird jetzt bezahlt - sie geben beide auf. Pato will sich neue
Arbeit suchen: "Lieber frei und arm sein, als Sklave mit Gold", ist
einer seiner Lieblingssprüche, die er in solchen Situationen draufhat.
Fernando will sein Geld abwarten und dann ab, nach Brasilien, Kolumbien, wer
weiß es.
Donnerstag, 15. Februar.
4. Arbeitstag. Heute wieder Bauschutt wegräumen. Alles saubermachen. Es
fängt fast an, mir Spaß zu machen... Aber es liegt irgendwas in der
Luft... die Musik von Picnic at Hanging Rock... es scheint nur noch eine Frage
der Zeit zu sein, bis wir alle rausfliegen. Und ich als erster. Auch Rafael
gefällt die Situation überhaupt nicht. Rafael arbeitet schon bald
seit einem Jahr in Cayenne, meistens hier auf dem chantier.
Langsam verstehe ich auch das System hier. Die Baufirma, also die Nord-France,
vergibt immer gewisse Aufträge an die artesanos. Sachen, die in wenigen
Wochen oder Monaten zu erledigen sind. Ein Vertrag wird abgeschlossen, eine
Summe wird festgelegt. Wie und mit welchen Leuten die artesanos dann ihren Teil
erfüllen, ist ihre Sache. Wenn die Firma sieht, daß die Arbeit gut
vorankommt, zahlt sie einen Vorschuß.
Gilbert wird jetzt wohl Davids Vertrag übernehmen. Wieviel Vorschuß
David wohl schon bekommen hat? Blöder Gedanke. Er hätte die letzten
Stunden tatsächlich nutzen können, das ausgezahlte Geld noch schnell
auf die Seite zu schaffen. Lieber nicht dran denken.
Um 5 sind wir wieder fertig, und am Abend sitzen Pato, Fernando, Omar und ich
wieder zusammen im escuat latino und unterhalten uns.
Ein bißchen Geschichte.
Pato und Marie kennen sich von Bahia, von Morro de Sâo Paulo, schon 1986
war er einmal dagewesen. Marie hat dort ein Ferienhaus. Pato lernte dort Julia
kennen, die nach dem Abitur nach Brasilien gegangen war, und mit ihr ist er
dann viele Monate quer durch ganz Südamerika gezogen, bis in die Karibik.
Sie ging irgendwann wieder nach Mannheim, Sprachen studieren - er kam bis nach
Kalifornien, blieb dort einige Zeit, und ging dann wieder nach Südamerika.
Marie ist in Bahia verheiratet, in Iaçu, mit einem Chilenen. Der arme
Typ, meint Pato, und sie hat sogar 2 kleine Kinder. Vor ein paar Jahren ist
sie auch schon einmal einfach los, eines Morgens, sie wollte nur schnell Zigaretten
holen gehen, und kam ein halbes Jahr später aus Paraguay wieder.
Nicolas arbeitete in Senegal, hatte aber irgandwann keinen Bock mehr auf Afrika
und ging nach Brasilien. Und hatte dort nichts besseres zu tun als sich in Marie
zu verlieben, ausgerechnet in Marie, das Leben ist ja gnadenlos.
Letzten April oder wann, es muß eine Romeo-und-Julia-Szene gewesen sein
in Iaçu, als Nicolas Marie praktisch entführt, dem Ehemann entrissen
und mit nach Französisch-Guyana genommen hat. Wo sie dann im Juli ankamen.
Pato kam im August nach Cayenne, auch mit dem Boot vom Oiapoque. Nicolas und
Pato kannten sich vorher nicht.
Ich betrachte immer wieder diese unruhigen Bilder an den 4 Wänden im Zimmer
- doch sie sagen mir irgendwie nichts. Sie müssen von einer einzigen Person
gemalt worden sein.
Freitag, 16. Februar.
Wir arbeiten hart, bis um 11.00 Uhr, und dann ist es soweit. Gilbert kommt,
mit Patrick. Er hält die Arbeit an, Ende der Vorstellung, die Arbeitsgruppe
wird aufgelöst, Bezahlung heute nachmittag. Eigentlich hatten wir schon
gestern damit gerechnet, dafür kommt es aber noch schlimmer, als wir befürchtet
hatten.
Große Diskussion. Ich muß wieder übersetzen. David sei mit
über der Hälfte des ihm anvertrauten Geldes in den Knast gegangen.
Nur das Rest-Geld habe Gilbert behalten, und das werde er jetzt versuchen, halbwegs
gerecht aufzuteilen.
Paraná und Rafael werden über 1000,- Francs verlieren. Mir
zahlen sie 600,- Francs für 4 Tage Arbeit, und die Show für heute
war umsonst. Und damit sind wir alle in hohem Bogen rausgeflogen.
Ein wenig Hoffnung
Nicht, ohne daß ein schwacher Schimmer Hoffnung bleibt: am Montag soll ein neuer artesano anfangen, ein Brasilianer, Carlos. Morgen um 10.00 Uhr will der hier mit Gilbert den Vertrag abschließen. Das erfährt Paraná, und übernimmt gleich die Initiative, will auch da sein, morgen. Ja, ich könne auch mitkommen, "zum übersetzen". Doch - er hat recht, es ist eine Hoffnung. Es ist nicht alles aus, ich kann wieder mit einer Hoffnung nach Hause gehen.
David kam im September. Niemand anders als Gilbert selber hatte ihn hierhergeholt,
aus Frankreich. Er hatte ihm die Flugreise bezahlt, die Appartment-Miete, alle
Ausgaben. David arbeitete von Anfang hier im Madeleine-Krankenhaus.
Rafael erzählt mir, David sei am Anfang der einzige gewesen, der Ahnung
hatte, als das mit den großen carrobric-Ziegeln losging. Alle anderen
hier - er, der Paraná, die anderen Brasilianer, alle hätten das
von David gelernt.
Pato hatte ein paar Tage mit David, Nicolas und Marie im Appartment gewohnt,
da sei er aber schnell wieder raus, weil sie nachts immer bis 2 Uhr wie die
Löcher gesoffen hätten, und es ihnen dann allen bei der Arbeit entsprechend
schlecht ging. Alle sagen, David sei starker Alkoholiker.
"Vielleicht hat er das Geld in Alkohol umgesetzt?", meine ich zu Nicolas.
"Nein, das war zuviel. Er kann es nicht alles in Alkohol umgesetzt haben.
Ich habe gesehen, was er für ein Zeug säuft, das war nie so teuer.
Das Geld muß woanders hingegangen sein."
Die Einheimischen hier sind Schwarze, und es ist ganz schön was los
auf den Straßen. Ich gehe wieder zum squatt.
Ich bin glücklich, daß sie mir heute 600,- Francs ausbezahlt haben.
Mein Etappenziel habe ich erreicht: mit dem Geld komme ich, wenn ich sparsam
bin, etliche Wochen aus. Und ich habe eine Hoffnung. Eine Hoffnung für
die Zukunft... für eine bessere Zukunft, in Gleichheit und Gerechtigkeit...
ich sollte feiern, doch das tun heute abend genug andere für mich: in Südafrika
ist heute Nelson Mandela freigelassen worden.
Am Samstag vormittag komme ich zu spät zum chantier, und habe das Glück
eines Anfängers: ich komme zu Gilbert, Carlos und Paraná, die sich
gerade zusammensetzen, den Job auszuhandeln. Paraná meint, er nehme sich
3 Brasilianer und Rafael, also 4 als Maurer, und einen Helfer. Carlos meint,
das sei okay, aber als Helfer, da will er seinen cunhado für. Ich weiß
nicht, was das auf deutsch heißt, wörtlich ist es irgendwas angeheiratetes
Verwandtes, aber Carlos meinte "Freund".
Paraná gefällt das aber mit mir, weil ich ihm immer übersetze,
was Gilbert sagt. Er meint zu Carlos, es gehe ja auch mit 2 Helfern, und setzt
mich eigenmächtig mit auf die Liste für Montag. Er fragt Carlos aber
nicht nach seinem Einverständnis dafür.
Die Spannung am Sonntag besteht jetzt also darin, ob ich am Montag tatsächlich
da anfangen kann, und ob sie mich behalten. Carlos meinte übrigens, er
würde am Montag nicht kommen. Hoffentlich kommt er auch wirklich nicht.
So erwarten wir mit Spannung den Beginn der nächsten Woche. Fünf sind
wir inzwischen im squatt, und keiner hat Arbeit. Marcelo, ein 20jähriger
Chilene, kam am Dienstag, frisch aus Santiago. Auch er kam mit dem Boot vom
Oiapoque. Langsam geht es ihm wieder etwas besser. Er liegt immer noch in Patos
Hängematte, wir bringen ihm das Wasser hoch und ein wenig zu essen.
Es fällt mir schwer, die Bilder an den Wänden zu verstehen. Zu Pato
passen sie irgendwie auch nicht. Sie würden auch gar nicht passen zu der
Musik von Picnic at Hanging Rock.
Der zweite Montag in Cayenne
Montag, 19. Februar.
Die erste Überraschung gleich am frühen Morgen: Carlos' cunhado kommt
nicht. Das ist mein Glück, so kann heute erstmal ich als Helfer arbeiten.
Von den Surinamies, die am Freitag auch alle nach Hause wanderten, läßt
der Paraná keinen einzigen mit in die Gruppe. Weil er rassistisch ist,
die Schwarzen seien alle faul und würden nicht arbeiten.
Praim läßt er auch nicht. Ich sage ihm, daß Praim doch Inder
sei, und von Gilbert die Sachen bekommen hat, aber er will ihn trotzdem nicht.
Reine Vorurteile, dieser Rassist hat nie was mit Indern zu tun gehabt. Schade,
es tut mir leid für meinen Freund aus Guyana. Praim spricht sogar hindu,
bei sich zuhause sprechen sie das.
Der Paraná spricht auch englisch, gebrochen. Überall ist der schon
gewesen, als Seemann, in Hamburg war er auch mal ein paar Monate. Einmal überrascht
er mich voll, als er plötzlich mit griechisch anfängt: er hat 1 Jahr
in Athen gearbeitet, und auf griechischen Schiffen. Nur französisch kann
er nicht.
Die Arbeit gefällt mir besser als letzte Woche. Immer wenn ich Zement aus
dem Lager organisiere, fährt mir Nicolas den mit dem Gabelstapler rüber.
Hoffentlich kommt der cunhado auch morgen nicht. Praim kommt hin und wieder
vorbei, mit Schutzhelm, Arbeitsschuhen und Werkzeug, schaut sich auf dem chantier
um. Unter Gilbert direkt kann er leider nicht arbeiten.
Die schwarze Stunde im
Nachbar-squatt
Am Abend gehe ich, wie immer in Strandsandalen, nochmal kurz zu einem anderen
squatt, einen Block weiter, wo auch lauter Chilenen wohnen. Es ist dunkel, die
Wege um die Häuser sind nicht beleuchtet. Wir trinken etwas Tee, dann stehe
ich auf und will aus der Türe gehen, bleibe stehen, drehe mich um, als
hätte ich etwas vergessen, und gehe noch einmal in das Zimmer.
Nein, vergessen habe ich nichts. Ich gehe wieder hinaus, den dunklen Weg entlang,
und kurz vor der Gartentür passiert es.
Ich haue in der Dunkelheit voll mit dem großen Zeh gegen eine Betonschwelle.
Es tut sofort höllisch weh, ich krümme mich vor Schmerzen. Pato und
Marcelo sind auf der Stelle da, tragen mich wieder in das Zimmer. Scheiße,
hoffentlich ist das jetzt nicht gebrochen, denke ich, ich wüßte gar
nicht, was ich da machen sollte.
Aber der Schmerz läßt nicht nach, der Zeh schwillt ganz rot an, ich
kann die ganze Nacht nicht schlafen. Oh je, jetzt ist es wohl aus. Alle meine
Träume.
Dienstag, 20. Februar.
Bald wird es dämmern. Kann ich auftreten? - Ja, ich glaube, es geht. Mach
ich's? - Ja, komm, was hab ich zu verlieren. Ich stehe extra früher auf,
und humpel mit dem total schmerzenden Fuß die 3 Kilometer die Route de
la Madeleine entlang, zum chantier.
Zunächst hänge ich ein bißchen bei Rafael rum, der Paraná
sieht mich die ersten 2 Stunden zum Glück gar nicht. Daß ich fast
nicht laufen kann, fällt ihm erst noch später auf.
Aber es kommt noch besser: Weder Carlos noch sein langsam schon berüchtigter
cunhado lassen sich blicken. Und irgendwann schließlich meint der Paraná
zu mir:
"Ja, es sieht ja so aus, als ob der cunhado nicht kommt. Also machst du
das jetzt an seiner Stelle."
Es ist nicht zu glauben: ausgerechnet heute, wo ich fast nicht laufen kann,
nichts gefrühstückt habe, nach einer Nacht ohne Schlaf, ausgerechnet
heute habe ich einen sicheren Arbeitsplatz.
Und Praim auch! Er versucht es heute wieder, hängt die ganze Zeit bei uns
rum. Solange, bis ihn der Paraná, wohl um ihn loszuwerden, probeweise
etwas fieses, schwieriges hinbauen läßt. Aber Praim kann die Chose
- und zwar besser als der Paraná selber. Und seitdem hat auch Praim einen
sicheren Arbeitsplatz.
Die Schmerzen im Fuß lassen in den nächsten Tagen langsam nach, sehr langsam nur, aber gebrochen ist der Zeh zum Glück nicht. Am nächsten Tag komme ich, wie vorgeschrieben, an ein Paar Arbeitsschuhe, am Donnerstag bringt mir Gilbert einen weißen Schutzhelm mit. Es gefällt mir immer besser auf den chantier. Ich als Arbeiter.
Jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang aufstehen, Wasser aus der Flasche ins
Gesicht, losgehen, 3 Kilometer, und auf dem Weg zieh ich mir ein Baguette mit
Ölsardinen rein. Fließend Wasser gibt es auf dem Friedhof, 2 Blocks
vom squatt.
Gearbeitet wird von 7-17 Uhr, Samstags genauso. Zu Mittag mache ich mir Müesli.
Das kennen die Latinos nicht, und klauen mir auch nicht die Zutaten, während
ich im chantier bin. Haferflocken, Nüsse, Rosinen, Maniokmehl, Milchpulver.
Nur der Zucker wird immer geklaut. Abends eine schöne kalte Dusche im chantier,
ich ziehe das gewaschene T-Shirt naß wieder an, es trocknet auf den Nachhauseweg.
Es ist immer sehr warm hier. Nachts kühlt es nicht unter 25° C ab.
Zum schlafen genügt ein Bettlaken als Decke.
Unterwegs gehe ich noch bei einer Bäckerei vorbei, wo ich zu meiner Freude
eine Marktlücke entdeckt habe: für 1 oder 2 Francs geben sie mir die
alten Baguettes von gestern, wenn welche übriggeblieben sind. Manchmal
ist es ganz schön viel, dann hat der ganze squatt was davon. An sowas kommst
du natürlich nur, wenn du die Verkäuferin auf französisch fragen
kannst.
Besonders Pato und Marcelo leben tagelang nur von diesem Brot. Marcelo hat
es schwer, Arbeit zu finden, weil er nur spanisch spricht. Und Pato...
Pato wartet erst ab, bis sie ihm seine 2000,- Francs ausbezahlen. Dann sehen
wir ihn 10 Tage lang praktisch nicht... nein, weniger als 10, dann ist das Geld
weg. Nix mehr übrig, er muß sich neue Arbeit suchen.
Fernando kassiert auch, holt sich aber für das Geld ein paar Dollar und
ein Ticket nach Saint Georges, und reist weiter, nach Belém... nach Manaus
und vielleicht nach Kolumbien. Oder nach Sâo Paulo und vielleicht nach
Chile, sagen andere.
Der Besitzer des Hauses, in dem Marie und Nicolas wohnen, kommt kurzzeitig nach
Cayenne. Es ist ein Franzose, der auf der Karibikinsel Martinique zuhause ist.
So müssen sie beide schnell raus. Nicolas nimmt seine Hängematte und
pennt etliche Tage im chantier, und Marie kommt am
Samstag, 24. Februar
zu uns ins Zimmer. Marie und Nicolas hatten in den vergangenen Wochen, aber
auch bei David schon, sich öfter gestritten, sogar geschlagen. Vor allem
Marie.
Nicolas erzählt, Marie würde unmöglich, wenn sie betrunken sei,
richtig aggressiv. Und das hat wohl mit der Zeit immer mehr die Beziehung verletzt.
Vielleicht hat es mit Französisch-Guyana zu tun: es ist kein nettes, freundliches
Land hier, das sagen hier alle Ausländer. Du hast wirklich auf Schritt
und Tritt das Gefühl, du bist hier bei den Nachfahren der Gefängniswärter.
Das Land war französische Strafkolonie, bis Anfang dieses Jahrhunderts.
Nein, es ist kein gutes Land zum Leben.
Marie ist am Samstagabend ziemlich blau und pennt sich den ganzen Sonntag über
erstmal aus. Am Montagvormittag wird sie wieder zur Arbeit gehen.
Ehemalige Strafkolonie
Ja, was ist das, Französisch-Guyana? Was die Atmosphäre macht,
sind die Ausländer. Kaum einer in den ganzen squatts hat Kontakt zu Einheimischen.
Die mögen die Ausländer auch gar nicht.
"Wo kommst du her, was willst du von uns", diese Einstellung begegnet
auch den Franzosen aus Paris. Die nennen es Rassismus. Aber nur die Schwarzen
sind so drauf, nicht die Indianer aus dem Hinterland. Die sind viel freundlicher.
Ein französischer Unternehmer aus Nizza meinte zu mir, Paris wäre
besser dran, die einfach frechweg in die Unabhängigkeit zu entlassen. Das
war zynisch, denn auf einen Schlag würden sämtliche Ausländer
(das ist die Mehrheit der Bevölkerung), Franzosen und ein Großteil
der Einheimischen Schwarzen das Land verlassen, vielleicht 90 % der Bevölkerung.
Andere nennen sie die reichsten Schwarzen der Welt, weil sie alle Autos haben.
Produziert wird in diesem Land außer einigen wenigen Milchprodukten, die
den Eigenbedarf nicht decken, nichts. Rein gar nichts. Die Supermärkte
sind voll mit Importwaren aus allen Ländern der Erde.
Nicht nur die Raketenbasis in Kourou, sondern auch alles andere wird mit Geldern
aus Paris gebaut. Die Latinos und Brasilianer regen sich auch auf. Pato:
"Wer baut ihnen zum Beispiel das neue Krankenhaus in ihrer Hauptstadt?
Alles Ausländer! Ich hab noch nie einen Einheimischen im chantier gesehen!"
Doch, einer ist da, ein Kranfahrer. Der ist auch ganz nett. Ein Einheimischer
unter vielleicht 200 Arbeitern. Das heißt, einen zweiten gibt es noch,
aber der ist Indianer.
Sprachenvielfalt auf dem Bau
Wer sich die Geschichte mit dem Turmbau von Babylon ausgedacht hat, die haben
wohl auch keine Ahnung gehabt, wie es auf einer Großbaustelle zugeht,
wo Leute aus allen denkbaren Nationen arbeiten. Die Lösung des Sprachproblems
ist viel einfacher, als ich es mir vorgestellt hätte.
Zunächst sind die Arbeiter allein aufgrund des Konkurrenzsystems gezwungen,
sich gegenseitig zu verstehen. Und dann gibt es immer einige, die mehrere Sprachen
sprechen. Trotz des ganzen Sprachwirrwarrs auf dem chantier beeinträchtigen
Sprachschwierigkeiten die Arbeit so gut wie überhaupt nicht.
So sprechen nur die Franzosen und die Brasilianer meist nur eine Sprache (französisch,
portugiesisch). Einige Franzosen sprechen auch englisch, Nicolas portugiesisch,
der Chef vom chantier spricht spanisch.
Die aus Haïti sprechen kreol und französisch. Die aus Surinam sprechen
taki-taki, englisch und holländisch. Die aus Guyana englisch, viele auch
taki-taki, manche hindu, wie Praim. Die Spanisch-Amerikaner sprechen spanisch
und portugiesisch. Einige sind aus Santa Lucia (Karibikinsel), die srechen englisch,
können aber auch kreol. Die Architekten und Bauchefs sind Portugiesen,
sprechen portugiesisch und englisch oder französisch, und gewisse Abenteurer,
wie der Spanier oder der Deutsche, die sprechen alles zusammen.
Einige Brasilianer sind schon lange hier, die sprechen dann auch kreol. Kreol
ist auch eine lateinische Sprache, das haben die Schwarzen aus französisch
entwickelt, in Haïti. Taki-taki ist eine Mischung aus 30 % englisch, 30
% holländisch, afrikanischen und indianischen Elementen. Praim macht es
Spaß, mir ein wenig davon beizubringen, weil der Paraná das nicht
versteht.
Der Anschlag auf Marie
Montag, 26. Februar.
Um 12.00 Uhr - ich bin im chantier, und Nicolas natürlich auch - kommt
Marie von der Arbeit, geht hoch, in unser Zimmer im squatt. Omar und Marcelo
sitzen in einer Ecke des Zimmers und unterhalten sich.
Es kommt eine Chilenin in das Zimmer im zweiten Stock. Diese Chilenin wohnt
im anderen squatt: dort, wo ich mir an dem Montag den Zeh angehauen hatte. Sie
beschuldigt Marie, ihr ziemlich viel Geld gestohlen zu haben. Die Chilenin ist
recht bekannt, aber nicht sehr beliebt. Sie arbeitet als Prostituierte in Stadtviertel
"La Crique". Es gehe um etwas über 10000 Francs.
Es kommt zu einer Streiterei, die Chilenin wird lauter, Omar und Marcelo verlassen
das Zimmer, und gehen runter. Irgendwann zückt die Chilenin plötzlich
eine Waffe, und Marie stürzt sich in ihrer Not blitzartig aus dem Fenster.
Polizei, Krankenwagen - Marie schwerverletzt mit Schock ins Krankenhaus. Die
Chilenin kommt für einen halben Tag in den Knast... jedoch ist Marie, wie
sich herausstellt, zwar blond, aber "nur" Brasilianerin, dazu noch
illegal hier, da machen sich die Bullen keine große Arbeit mit, und lassen
die Chilenin wieder raus. Marie ist auf der Seite aufgekommen, hat sich einige
Knochen gebrochen und wird jetzt mehr als 4 Wochen im Krankenhaus bleiben.
Sonst kommt nicht viel nach. Die Chilenin weicht dem Druck, muß aus dem
squatt, und verschwindet in die Crique... und ein Peruaner flüchtet nach
Kourou: die Polizei entdeckt die Waffe, die er bei sich im Zimmer versteckt
hat, in dem Zimmer unter uns im escuat latino. Marie hatte übrigens absolut
nichts mit dem geklauten Geld zu tun.
Sofort hat es sich herumgesprochen und ganz Cayenne weiß es. Nur der chantier
ist weit weg: Nicolas erfährt es von mir erst am nächsten Morgen.
Pato kommt irgendwann auch.
Nicolas regt sich im ersten Moment ziemlich auf. Er besucht Marie danach regelmäßig
im Krankenhaus. Aber irgendwie war das Verhältnis zwischen den beiden schon
vorher gebrochen gewesen, mit Maries Trinkerei war das kaputtgegangen. Nicolas
spürt immer mehr Distanz zu ihr und entscheidet sich schließlich,
zu gehen. Er will nach Ecuador aufbrechen, alleine.
Rafael entscheidet sich, nach Peru zu reisen, sich dort einen Reisepaß
zu besorgen und 2 Monate später mit Gilbert auf die Karibikinsel Guadeloupe
zu gehen. Auch Rafael, er ist 26, kam illegal nach Cayenne. Mit dem, was er
jetzt nach einem Jahr auf die Bank getan hat, könnte er in Peru etwa 20
Jahre leben, meint er.
Pato nimmt eine Arbeit in Matoury an, 20 km von Cayenne, kommt aber nach einer
Woche wieder zurück und zieht es wieder vor, seiner Lieblingsbeschäftigung
nachzugehen: auf die Bezahlung warten.
Marcelo und - kaum zu glauben - Omar nehmen ein Arbeitsangebot von einem Chilenen
an, der zuverlässig 30,- Francs die Stunde zahlt. Am Anfang arbeiten sie
sogar nachts, Fliesenlegen, in einem Supermarkt. Der sonst doch so faule Omar
steigt richtig im Kurs, französisch lernt er auch, ganz fleißig.
Aber irgendwann ist es auch wieder vorbei und er fängt wieder an, Fahrräder
zu klauen, oder im Supermarkt. Schließlich zieht er mit ein paar Gleichgesinnten
in einen neuen squatt nach Montjoly, 10 km weiter.
Samstag, 24. März.
Heute ist Nicolas' letzter Arbeitstag. Nächste Woche holt er seinen Lohn
ab und für den 2. April kauft er sich ein Ticket nach Brasilien. Er will
den Amazonas hoch, nach Ecuador, Kolumbien, Antillen...
Vor zwei Tagen hatten sie Praims guten Hammer geklaut. Der Paraná meinte,
das wäre verschwendete Zeit, und ich solle den nicht suchen. So tat ich
es heimlich, und war richtig stolz, daß ich ihn nach einigen Stunden Suchen
entdeckt hatte, bei irgendwelchen Haïtianern. Praim hat sich riesig gefreut
- nur der Paraná wirkte sehr zerknirscht, weil ich seinen Anweisungen
nicht Folge geleistet hatte.
Inzwischen ist ein wenig durchgesickert, was mit David gewesen war. Gilbert
erzählt mir hin und wieder, wenn er etwas erfährt. Die Methode, den
Leuten den Lohn nicht auszuzahlen, sondern kurz vorher mit dem Geld zu verschwinden,
ist nicht nur auf Französisch-Guyana beschränkt.
Nur EG-Bürger haben einen gesetzlichen Schutz, es gibt Arbeitsschutzgesetze,
und solche Methoden sind in Europa kriminell und werden hartnäckig von
der Justiz verfolgt. Leute, die nicht illegal arbeiten, können das in Anspruch
nehmen. Von David müssen auf einem chantier vor über zwei Jahren aber
einmal zwei Spanier um den Lohn geprellt worden sein, die ihn daraufhin wohl
angezeigt haben.
Sie zahlen Rafael nicht aus
Montag, 26. März.
Rafaels letzter Arbeitstag. In 3 Tagen geht auch sein Flug, nach Macapá.
Rafael kämpft in den 2 folgenden Tagen um seinen Lohn: Gilbert ist anständig
und zahlt ihn voll aus, aber Carlos bleibt ihm noch 700,- Francs schuldig. Das
ist Paranás Einfluß, der einiges Geld von Carlos für sich
behält. Rafael kann sich nicht wehren, wie alle ist auch er illegal hier.
Paraná hat sich in den letzten Wochen immer unbeliebter gemacht im chantier
mit seinen Mätzchen und unsauberen Methoden. Den Job behält er nur,
weil Carlos keinen anderen findet, der es macht. Mit den 700,- Francs von Rafael,
das war aber das fieseste bis jetzt.
Carlos' cunhado kam nachher doch noch, und so waren wir 2 Helfer, Jimmy und
ich. Der Paraná war sehr überrascht, daß der Junge Surinami
war und kein Brasilianer. Als erstes zeigte ich ihm, wie man sich hier Schuhe
besorgt, seitdem waren wir Freunde. Der Paraná mochte es überhaupt
nicht, wenn wir uns auf deutsch/holländisch unterhielten, und versuchte
erfolgreich, ihn aus der Gruppe herauszuekeln. Nach 2 Wochen hatte der Schwarze
keine Lust mehr.
Carlos, der nur hin und wieder vorbeischaut, ist nordbrasilianischer Indianer.
Er hat keine Rassen-Vorurteile und mag den Paraná, der aus Südbrasilien
stammt, auch nicht besonders. Aber sich gegen ihn durchsetzen kann er auch nicht.
Der Paraná führt sich auf wie der King. Praim und ich nennen ihn
pang-pang, das ist taki-taki und heißt "Schwein": weil er die
Arbeit sehr ungerecht einteilt. In Brasilien verdient der Boss 10000, und die
anderen Arbeiter zusammen 1000. Und seit David weg ist, hält er sich selbst
für den Boss. Leider meint er, er könne mit seinen brasilianischen
Ideen auch hier ankommen. Er ist sehr unzufrieden, daß er nicht mehr als
doppelt so viel verdient wie wir.
Dienstag, 27. März.
Nur ich weiß natürlich vorher nicht, wann mein letzter Arbeitstag
ist. Der Paraná braucht den ganzen Nachmittag, um ein paar lächerliche
Mauern zu messen. Er labert ständig mit Carlos über irgendwelchen
Müll, macht Rafael mies, wie schlecht er gearbeitet hätte, trödelt
rum, und kann nicht rechnen. Er hat das Rechnen in der Grundschule gelernt,
und seitdem anscheinend nie wieder was davon gehört.
Es kommt, wie es nicht anders zu erwarten war: ob ich heute "ausnahmsweise"
bis "halb 6" (soll heißen, bis 6 oder noch später) arbeiten
könne. Es sei so dringend.
Nee, Junge, also bei aller Geduld, aber den Kram hätte er auch in 2 Stunden
erledigen können.
"Ich arbeite bis 5 Uhr. Hättest du gearbeitet anstatt dumm rumzulabern,
wären wir jetzt schon längst fertig. Das jetzt als dringend hinzustellen
ist nicht."
"Was, soll das heißen, du willst nicht?"
"Genau das. Ich gehe jetzt nach Hause."
"Du willst jetzt gehen? Und ich soll das wohl hier alleine weitermachen?"
"Wir arbeiten hier bis 5 Uhr. Es ist jetzt 5 und ich habe Feierabend."
"Gut, amanhâ você nâo precisa vir mais. Você é
dispensado."
Entlassen.
Und mit einem irgenwie zufrieden strahlenden Gesicht, mit einer unerklärlichen
inneren Freude gehe ich durch den chantier, zur Dusche, und nach Hause. The
winner takes it all...
Ja, es hat Spaß gemacht. Der letzte Nachhauseweg, die Arbeit ist zuende.
Etwas Neues fängt an. Mich hat überrascht, daß es so schnell
ging, aber ich bin sehr zufrieden. Für 2 Monate war ich ein Arbeiter. Meinen
Schutzhelm werde ich als Andenken behalten.
Pierre hält neben mir, fragt, ob er mich mitnehmen kann. Nein, ich habe
es nicht eilig. Ich gehe gerne zu Fuß, mache einen Umweg, gehe zum Hafen,
gehe am Place des Palmistes vorbei... es fängt an zu dämmern - und
da ist sie wieder: die Melodie von Picnic at Hanging Rock.
Ich spendiere den Chilenen, die in der Nachbarwohnung bei uns oben im squatt
wohnen, eine große Flasche Bier (sie honorieren's nicht mal, die Saufköppe),
und Pato fragt:
"Was? Entlassen?"
"Ja, richtig! Entlassen, weil ich mich geweigert habe, außerhalb
der vorgeschriebenen Zeit zu arbeiten!"
"Echt? Er hat dich entlassen, weil du um 5 nach Hause bist?"
"Genau! Weil ich nicht mehr als 54 Stunden in der Woche arbeiten wollte,
Pausen schon abgezogen. Für den gesetzlichen Mindestlohn. Deswegen hat
er mich entlassen."
Auch die E-Werke streiken jetzt. Nicht mal mehr die Straßenbeleuchtung
haben wir.
Seit fast 2 Monaten hat die Post gestreikt - dieser Streik ist heute zuendegegangen.
Ich gehe zum Place des Palmistes, wo heute die andine Folkloregruppe "Boliviamanta"
spielt. Doch zuvor bringt mir Marcelo die Krönung des Tages: ich habe Post
aus Deutschland. Mein Freund Jörg lädt mich nach Europa ein, und ich
werde die Einladung annehmen.
Marcelo ist schon lange aus unserem Zimmer raus. Er wohnt heute im anderen squatt,
einen Block weiter, in dem Zimmer, wo damals die Chilenin rausmußte.
In den nächsten Tagen habe ich endlich einmal Zeit, mir die Straßen
bei Tag anzuschauen. Die Flüge nach Paris sind nicht sehr teuer, und sie
sagen, in ein paar Wochen sei etwas frei.
Praim arbeitet ohne mich auch nur noch einige Tage mit pang-pang, er sucht sich
so schnell wie möglich eine neue Arbeitsgruppe und einen besseren Boss.
Donnerstag, 29. März.
Rafael ist nach Brasilien geflogen, wir haben ihn zum Flughafen begleitet.
Heute ist Marie aus dem Krankenhaus gekommen. Bezahlen wird es die Sozialkasse.
Marie meint, sie sei immer gut behandelt worden. Sie weiß, daß sie
Glück gehabt hat, daß es ausgerechnet in Frankreich passiert ist
- in Brasilien hätte es kaum einen Unterschied gemacht, ob sie den Sturz
überlebt hätte oder nicht. Eine Sozialkasse gibt es dort nicht. Behandelt
wird dort nur gegen Bargeld.
Ich habe tatsächlich keine Arbeit mehr. Hin und wieder komme ich innerhalb
der nächsten Wochen beim chantier vorbei, weil ich möchte, daß
Carlos mir den Lohn auszahlt. Wie gesagt, das ist nicht selbstverständlich
in diesem Land.
Nach etwa einer Woche bittet mich der Paraná in einem ganz freundlichen
und fast reumütigen Ton, doch wieder in die Gruppe zu kommen und wieder
zu arbeiten.
"Es tut mir leid mit der Sache von letzte Woche. Vergessen wir das. Wir
brauchen jemand, der organisieren kann - und seit du weg bist, klappt hier gar
nichts mehr."
Der Paraná hat nie mitbekommen, wo ich die ganzen Sachen immer organisiert
hatte. Er hielt es für selbstverständlich, daß Wasser da war,
wenn es gebraucht wurde, oder Zement, Sand, Ziegel, Stangen, Trolleywagen. Ich
habe ihm natürlich nicht verraten, wo ich das immer her hatte. Er tut mir
aber auch nicht sehr leid, wenn er sich jetzt den Zement selber mit der Hand
holen muß.
Carlos zahlt mir nur sehr wenig, bis ich zu Gilbert gehe, und mit Gilbert zur
Bauverwaltung. Dort erreichen wir, daß ich wenigstens einen Teil ausbezahlt
bekomme, zum Ärger des Paraná. Doch Carlos bleibt mir am Ende noch
1500,- Francs schuldig.
Aber ich habe keine Lust, mir das gefallen zu lassen. Pierre, der Zimmermann,
ein Franzose, erklärt mir, wo die Inspection de Travail ist - denn als
Europäer habe ich das seltene Glück, nicht illegal hier im Land zu
sein. Ich brauche nur bescheid zu sagen - die von der Inspection de Travail
kümmern sich um alles weitere. Zwei Monate später wird mir Carlos
den fehlenden Betrag per Postanweisung nach Deutschland schicken.
Im squatt sind neue Leute, neue Gesichter. Oscar, ein Argentinier, kam vor
einigen Wochen aus Buenos Aires hier an. Eine Haïtianerin aus der "Crique"
kommt manchmal, wenn sie dort Ärger hat, und schläft sich bei uns
aus.
Leonel, ein Franzose, blieb 2 Wochen, auch ein Amerikaner wartete auf seinen
Flug, danach ein Kanadier, ein Spanier, zwei aus Guyana... Pato schleppt immer
alle möglichen Leute an. Das macht er solange, bis er fühlt, daß
seine Gutmütigkeit ausgenutzt wird.
Besonders, daß Rickie, der Surinami, der auch schon seit 5 Wochen bei
uns im kleinen Zimmer ist, nichts anderes zu tun hat, als dauernd ausgerechnet
in Patos alter Hängematte rumzuhängen. Pato selber bekam zwar eine
bessere von Fernando, trotzdem hatte er seine alte nicht verschenken wollen,
auch nicht an Rickie.
Rickie hat in der ganzen Zeit nur 2 Tage gearbeitet, und das ist selbst unter
Patos Durchschnitt, der wahrhaftig nicht der fleißigste ist. Und das regt
Pato auch auf. Schließlich findet er in der "Crique" einen,
der ihm die alte Hängematte abkauft - und es tut dem langhaarigen Chilenen
nicht leid, daß Rickie ab dann, genauso wie ich es auch gewöhnt bin,
auf dem Fußboden schlafen muß.
Irgendwann reist Rickie wieder ab, nach Surinam. Ich begleite ihn noch ein paar
Kilometer, er war ein netter Junge. Ein wenig naïv vielleicht. Er hat meinen
Zucker geklaut. Okay, was soll's, ist ja egal, das hat Pato ja auch gemacht.
Immer dieser Zucker, ein komischer Stoff ist das.
Nicolas fliegt am 2. April nach Brasilien und zieht von dort allein weiter, steuert die Anden an. Nicolas begleiten 6 Leute zum Flughafen, nur Marie nicht.
Marie hat genug von Französisch-Guyana. Nach dem langen Krankenhaus-Aufenthalt
nimmt sie der Franzose wieder auf, wo sie vor einem Monat rausmußte. Ich
glaube, es tat ihm leid, was passiert ist.
Aber auch Marie will nicht mehr bleiben. "Nicolas ist weg", meint
sie zu mir, sie will wieder nach Brasilien, nach Bahia. Irgendwann gehen wir
zu den Bullen, die deportieren einige hundert Brasilianer im Monat: stecken
sie alle ins Flugzeug nach Belém. Das ist praktisch, denn so bräuchte
sie den Flug nicht zu bezahlen. Die Bullen sind freundlich und verständnisvoll,
und wollen sich bei ihr melden, wenn ein Platz frei ist.
Es ist traurig mit Marie, denn sie weiß, daß sie auch in Bahia keine
Zukunft hat. Sie arbeitet wieder, in einem vietnamesischen Restaurant, vielleicht
kann sie dort ja bleiben.
Die Spanisch-amerikanischen Ausländer sind zwar alle illegal, doch solange
es nicht stört, kümmern sich die hiesigen Behörden nicht um sie.
Der Flug in ihre Länder, den die Regierung bezahlen müßte, wäre
zu teuer. Nur nach Europa dürfen sie nicht. Abgeschoben werden nur immer
wieder einige Brasilianer - und davon offenbar nur die, die nicht arbeiten.
Omar ist in einen squatt nach Montjoly gegangen, einmal besuchen wir ihn dort.
Er versucht, Tätowieren zu lernen, das ist seine neueste Idee. Das Haus
liegt in der Nähe vom Strand. Wenn schönes Wetter ist, das kommt hin
und wieder vor, gehe ich mit Pato und ein paar Chilenen aus der Nachbarwohnung
zum Strand, baden. Das Wasser ist hier immer noch gelblich-trübe und nur
wenig salzig, obwohl die Amazonas-Mündung schon 1000 km südlich liegt.
Pato hat wieder Arbeit gefunden, mit diesem Chilenen. Sonst wäre er
wieder nach Brasilien. Über 7 Monate ist er jetzt schon hier. Irgendwo
tut er mir ein bißchen leid, er ist zu lange hier hängengeblieben,
"ja, zu lange, viel zu lange".
Aber er hat eine neue Perspektive: Julia aus Mannheim kommt nach Brasilien,
in einem Monat will sie nach Recife fliegen, und dort wollen sie sich treffen.
Das scheint ihn wieder zu motivieren, er strengt sich an zu arbeiten, etwas
Geld zu verdienen. Auf einmal ist Pato wieder lebendig, auf einmal hat er wieder
Energie, das Leben macht ihm wieder Spaß. Eigentlich strahlt er immer
gute Laune aus, nur in der letzten Zeit war er nachdenklicher geworden.
Dort wo Marie wohnt, gibt es sogar ein Telefon, und Julia ruft ihn hin und wieder
an.
Einmal, ganz am Ende meiner Zeit, habe ich sie auch mal am Apparat... oh, das
ist wirklich weit weg: ein lachendes, verliebtes Mädchen am Telefon zu
haben. Wie ein Gruß aus einer anderen Welt...
Y así, viajaremos por el infinito... steht auf der Tür zu unserem
Zimmer im squatt. Neben diesen wilden Bildern an den Wänden.
Und so reisen wir durch die Unendlichkeit... manchmal ohne Perspektive, aber
vielleicht lohnt es sich ja trotzdem.
Daneben habe ich einen Spruch von Zaphod Beelebrox an die Wand geschrieben:
"Ihr wißt ja, ich flippe ganz schön rum. Mir fällt irgendwas
ein was ich machen will und - he! warum nicht? ich mach's einfach."
Ich habe mir ein Flugticket für den 12. April geholt. Marcelo wird mich
zum Flughafen begleiten. Er will noch etwas in Cayenne bleiben, später
möchte er dann in die Karibik, auf einer Insel Arbeit finden.
Pato wird ein oder zwei Tage nach mir fliegen, nach Belém, und von dort
nach Recife, ein halbes Jahr später mit Julia nach Chile.
Abend
Heute ist der 10. April, Dienstag. Euch diese Zeilen zu schreiben, habe ich mich noch einmal zu Marie auf die Veranda gesetzt. Die Veranda, die mit einer alten, vermoosten Plastikplane überdacht ist, auf die der Regen trommelt. Es ist Regenzeit, immernoch.
Und an manchen Abenden, Pato in der Hängematte und ich im Sessel, erzählen
wir uns was, vom Leben. Von Marie, von Bahia, von David, ja, vom berühmten
David, von Julia, vom squatt...
"Wer hat die ganzen Bilder gemalt, hier an den Wänden?"
"Ach, die... ein Franzose, der hier war. Der hat hier gewohnt, hier im
Zimmer. Eines Tages hat er eine riesengroße Party gegeben, jede Menge
Wein und Bier, unten im Garten, eine richtig große Party. Er sagte, er
würde weggehen von hier, und alle dachten, er hätte einen Flug oder
sowas. Aber er hat sein ganzes Geld, das er hatte, nur in diese Party gesteckt.
Es gab jede Menge zu saufen. Und das teuerste Zeug."
"Bist du dabeigewesen?"
"Ich, nein. Ich kam leider 5 Monate zu spät.
"Ach, du kanntest den gar nicht."
"Nein, ich kannte den nicht. Muß 'ne wirklich große Party gewesen
sein."
"Da unten im Garten?"
"Ja, im Garten, und hier im ganzen Haus. Hier im Zimmer auch. Sie haben
die ganze Nacht gefeiert. Am Tag danach ist er runter und hat sich erschossen."
"Erschossen? Wie das?"
"Mit so'm Kleinkalibergewehr. Peng. War'n Idiot."