Francisco Welter-Schultes, Per Anhalter durch Südamerika.  

Last modified 15.2.2007.
 

Francisco Welter-Schultes 
II. Zoologisches Institut der Universität 
Berliner Str. 28 
D-37073 Göttingen, Germany

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Anmerkung ganz am Anfang: Beim rüberkopieren von word in netscape gingen sämtliche Formatierungen verloren, was an sich sehr schade ist, denn ich hatte mir 1994, als ich die Briefe in den Computer getippt und zum ersten Mal ausgedruckt hatte, wirklich sehr viel Mühe gemacht, bestimmte Wörter kursiv und andere fett zu formatieren, zentrierte Überschriften und eingerückte Absätze für wörtliche Rede usw. Tja, alles weg. Trotzdem viel Spass beim Lesen.

Die ganzen Stories sind auch in Umweg nach Cayenne beschrieben, dort sogar mit kursiven Formatierungen.
Links zu den Einzelseiten in Umweg nach Cayenne: 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10   11 12 13 14 15 16 17 18 19 20   21 22 23 24 25 26 27 28 29 30   31 32 33 34 35 36 37 38 39 40   41 42 43 44 45 46 47 48 49 50   51 52 53 54 55 56 57 58 59 60   61 62 63 64 65 66 67 68 69 70   71 72 73 74 75 76 77 78 79 80   81 82 83 84 85 86 87 88 89 90   91 92 93 94 95 96 97 98 99 100   101 102 103 104 105 106 107 108 109 110   111 112 113 114 115 116 117 118 119 120   121 122 123 124 125 126 127 128 129 130   131 132 133 134 135 136 137 138 139 140   141 142  

Passende Landkarten gibt es auf den Landkartenseiten unseres Weltkarte-Posters.

Erlebnisse, Eindrücke und Gedanken eines mitteleuropäischen Anhalters auf dem Weg durch Nord- und Südamerika, Ende der 1980er Jahre.

Die Passagen wurden meist an den Orten selber geschrieben, und zwar als Briefe, und diese Briefe werden hier gekürzt wiedergegeben, teilweise um einige Gedanken ergänzt (Sommer 1993, Göttingen). Viele der Briefe gingen an "das FORUM", das sind ein paar Leute in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Neustadt/Ostsee. Die haben da Anfang der 1980er Jahre angefangen, ein wenig alternative Kultur da zu machen (hervorgegangen aus der Friedensbewegung).

Die ersten Briefe geben sicher kein zusammenhängendes Bild, später stabilisiert sich der Schreibstil etwas. Aber sie sind trotzdem mit reingenommen, so als Einleitung sind sie vielleicht auch ganz interessant.

"Urlaub" oder "Bildungsreise" sind sicherlich nicht die treffenden Wörter. Für mich war es irgendwie das Leben schlechthin, etwas, das nie aufhört. Auf keinen Fall war es irgendetwas Geplantes.
Auch wenn es sich stellenweise wie ein witziger Abenteuerbericht anhören mag, war es immer ein Weg in eine unbekannte Zukunft.
 
 

Inhalt
 

Einstimmung, durch Nord- und Mittelamerika

Karibikstrand Honduras

Bei den Mískito-Indianern in Honduras

Der Weg nach Nicaragua

Auf dem Altiplano in Bolivien

Per Anhalter von Bolivien nach Chile

Patagonien und Feuerland

Mit dem Fahrrad durch Nordost-Brasilien

In Cayenne, Französisch-Guyana
 
 

 

Das Lied der Sterne
The song of the stars
 
We are the stars which sing,
we sing with our light,
we are the birds of fire,
we fly over the sky.
Our light is a voice,
we make a road for spirits,
for the spirits to pass over.
Among us are three hunters
who chase a bear;
there was never a time
when they were not hunting.
We look down on the mountains.
This is the song of the stars.
 

 - Lied der Algonquin-Indianer
 

 New York
Brief FORUM 1
Geschrieben am 22. Oktober 1987, am Savannah River bei Mc Cormick, South Carolina, USA.
(...)
Es waren vielleicht 30 Schritte bis zum Ufer, aber zwischen mir und den Bäumen stand das Wärterhäuschen.
Es hatte schon längst begonnen zu dämmern. Nach 2 Stunden Laufen war der Rucksack schwergeworden. Ich faßte all meinen Mut zusammen und ging hinein. Uns so lernte ich den Wärter kennen.
Ein bißchen komisch fand er's ja, als ich ihm erklärte, daß ich irgendwo unter den Bäumen hinter der Absperrung übernachten wollte. Er bot mir Kaffee und Kuchen an. Das New Yorker Wasser sei gut. Und dann begann er, ein bißchen über sich und sein Land zu erzählen.
Er wird etwa 60 Jahre alt gewesen sein, seine Eltern waren aus Italien eingewandert. Von seiner alten Arbeit hatten sie ihn entlassen, weil er zu alt geworden war; er war froh, daß sie ihm diesen Wärterposten angeboten hatten.
New York? Das sei nichts für mich. Die Leute, die Kriminalität... naja, in Queens geht's gerade noch. Aber sonst - schlechte Stadt. Ich will ja gar nicht in New York bleiben, erkläre ich, ich hatte eben nur den billigsten Flug von Frankfurt nach Amerika genommen.
So - per Anhalter weg? - Schlag dir das aus dem Kopf. Keiner wird dich mitnehmen. Die Leute haben viel zu viel Angst. Zu Recht: New York hat seine 6-10 Morde am Tag. Außerdem ist Trampen in den meisten Staaten der USA verboten, auch wenn kein Polizist dich dafür belangen würde.
Auf dem Land ist's anders. Geh nach Westen. You'll see - people will help you.
Brötchen hatte er noch. Im Wetterbericht nannten sie eine 30%ige Wahrscheinlichkeit dafür, daß es in der Nacht regnet. Er erklärte mir, wo ich mich am besten hinpacken könnte unter den Bäumen, er hatte natürlich niemand gesehn. Dann drückte er mir 2 Dollar in die Hand und beschrieb mir den Weg, wie ich morgen mit der U-Bahn nach Manhattan in die Stadt kommen würde.
Es gab keinen Regen in dieser Nacht.
(...)
 
Veracruz

Brief FORUM 3
23. Dezember 1987, El Paraje bei Benito Juárez, bei Tuxpán, Veracruz, Mexico.

(...)
Feierabend in den Tropen. VERACRUZ. El Paraje ("Die Herberge") heißt das Bergdorf. Ich hab das einfach mal gemacht, in die Berge gegangen und gefragt, ob es hier Arbeit gibt.
"Äh, also, die Schulkinder haben mir erzählt hier gibt's Arbeit und ich wollte, so für ne Woche, hier - äh - arbeiten, wenn ich - wenn ich was zu essen bekomm... ich mein - "
"Arbeiten?" Abrán, el maestro, Vor-"arbeiter", kuckt mich erst schief an, erstaunt, dann mit so'm doch komischen Lächeln auf den Lippen - "Ja, klar gibt's hier Arbeit. Und Essen gibts auch... wenn du willst kannst du - ja, kannst du mit uns arbeiten."
Wer jetzt denkt, daß Arbeit in Mexico eintönig und öde sei, der ist falsch gewickelt. Eintönig nicht. Arbeit in den Bergen: Bau einer Kanalisation für das Dorf. Rohre legen und so.
Lección 1: "Ziehen Sie einen Graben. Unbeirrt und kühn entschlossen...", 1 Meter tief, ½ Meter breit. Mit Spitzhacke und Schaufel. Mein Stück mißt 5 m. Schwere Erde. Steiler Lehmberg. Nach einem halben Tag habe ich die dicken Blasen an den Händen.
Aber man kann ja auch einen ganzen Pritschenwagen voll mit Steinen vom Fluß laden - und wieder entladen. Das bringt Abwechslung. Für die Hände.
Man kann sich auch den Rücken kaputtmachen. Mit 50-kg-Zementsäcke-schleppen. Zur Abwechslung. Oder die Wirbelsäule. Mit Wassereimer schleppen (2 à 20 Liter). Oder die Schultern. Mit Baumstämme tragen. Oder alles nacheinander.
Montag bis Samstag, 7.00-17.00. Und zwar pünktlich. Samstag bis 12.00. Eine  ganze Woche. Sonst hab ich keine Probleme.
Lohn: 18.000 Pesos. Die Woche. 1 l Milch = 300 Pesos, 1 kg Bohnen = 500 P., 1 kg Fleisch bei 4000 P. In DM sind es vielleicht 8,50 oder 9,- DM. Die Woche. Kriegen alle (etwa 20 Leute). Macht 35,-DM im Monat. Und auch noch steuerfrei...
Und die Sprache. Irgendwann haben sie schon mitgekriegt, daß der Gringo es wohl nicht gewohnt ist, so hart zu arbeiten. Einer kommt auf die Idee, ich könnte die Steine, die mit in den Graben fallen, als sie ihn wieder mit Erde zuschütten, einzeln raussammeln. Tomás soll mir das erklären. Fängt er an, "Quién sabe si va a entender..." - wer weiß ob er das auch verstehen wird... Spanisch ist nicht schwer, aber wenn man's halt nicht kann, checkt man auch nur ein Drittel.
Die meisten sprechen spanisch. Die Indianer aus Tlatlapongo (dem Nachbarort) unterhalten sich in nahuatl - shukutl heißt "Apfelsine", atl heißt "Wasser" und ashnit lakake tlentatikichto heißt "ich verstehe kein Wort".
Schlafen. 2 Wochen im Bett von Lino - neben Lino. Lino steht morgens um 4 auf, um nach Benito Juárez in die Schule zu gehen. Lino stört mich nicht. Dafür aber der miese Gockelhahn, der keine 3 Meter von mir in der Hütte festgebunden ist. Und der ab halb 3 alle 35 Minuten mindestens 5 mal kräht, zusammen mit seinen anderen Kumpels, es gibt mindestens 40 von der Sorte im Dorf. Ich hab's nachher sogar geschafft, den Kerl zu überhören und durchzuschlafen.
Ach, und das Essen. Jeden Tag in einem anderen Haus. Das Dorf hat etwa 20 Häuser, in 10 bin ich bis jetzt eingeladen worden. Donnerstag hab ich's dann zum ersten mal abgelehnt, den ganzen Teller Bohnen aufzuessen. Tortillas sind nicht ganz so schlimm. Zwei Drittel des Essens besteht aus Tortillas und Bohnen. Weihnachten gibt's Hühnchen.
Einige gehen manchmal zur Arbeit, ohne etwas gegessen zu haben. Aber egal wie arm die Leute sind, von dem wenigen was sie haben, geben sie mir immer noch was ab. Am ehesten die Ärmsten im Dorf.
Habe ich ein schlechtes Gewissen? Irgendwie hab ich's nicht.
Diese Welt gibt's nur einmal. Und uns auch.
(...)

 Als Tramper in Mexico

Brief an Ludwig Klinke.
31. Dezember 1987, Puerto Angel, Oaxaca, Mexico.

(...)
Man steht morgens auf, in der Scheune in der man die Nacht verbracht hat, und geht mit Rucksack und Wüstenschuhen los, und weiß nicht, was der Tag bringt. Wieweit man kommen wird, ob man irgendwo was zu essen bekommen und wo man die nächste Nacht verbringen wird. Begegnet man netten Leuten? Oder wird man in eine große Stadt gefahren, wo man 4-5 Stunden braucht, bis man wieder rausgelaufen kommt? Wird es den ganzen Tag regnen, oder hält einer an und bietet dir an, diese Nacht bei ihm zu verbringen? Wird man vielleicht einige 100 km in den nächsten Staat nach Süden gefahren, oder gibt es ein paar kleine Tramps nach Westen? Oder muß man wieder 5 Leuten 5 mal erklären, daß und warum man keinen Alkohol trinkt; wird dir wieder nicht mehr einfallen als die alte, ziemlich wertlose Geschichte mit der Freundin in Deutschland, wenn sie dich löchern, warum du der Mexikanerin auf der Straße dort nicht nachpfeifst?
(...)
Gestern bin ich in den Mond reingelaufen. 10 km in den Mond. Ich hätte mich ja auch gleich hinter Ejutlá irgendwo hinpacken können, und wäre am nächsten Tag bestimmt genauso schnell nach Puerto Angel weitergekommen. Der Tag war auch nicht der beste gewesen: wieder mal kaum was zu essen, durfte aus der 300.000-Einwohner-Stadt Oaxaca rauslaufen, und hatte eine gute Chance auf Mücken in der Nacht. Aber dann ist da der Mond, der einen einlädt, 10 km die Straße weiterzugehen. Irgendwie perfekt.
Es gab einen tieferen Sinn in diesem Absatz, aber er ist mir entfallen.
(...)

 Bei Touristen in Mexico

2. Brief an Sonja (ein Brief, der nie angekommen ist)
9. Januar 1988, Cattle Landing bei Punta Gorda, Belize, Zentralamerika.

Und Brief FORUM 4
20. Januar 1988, Limón bei Bonito Oriental, bei Trujillo, Colón, Honduras.
 

(...)
Nach 4 Wochen Mexico war es mir ein bißchen langweilig geworden, durch's nur spanisch sprechende Land zu trampen, und bekam fast sogar Lust auf ein paar richtige Touristen. Also nix wie hin, der nächste Badeort an der Pazifikküste, und da sind sie schon.
Alles was du brauchst, sind 4 Sprachen. Und ein bißchen Geld, obwohl: Mexico ist wirklich total billig. Ab und zu bringt's das auch mal, andere Touristen kennenzulernen.
Gar nicht mal so viele US-Amerikaner, wie ich vermutet hatte, vielmehr Franzosen, Schweizer, Franco-Kanadier, Österreicher, Australier, Spanier und Deutsche halt auch.
Englisch zählt wenig. Obwohl's die meisten Mexikaner in der Schule lernen. Du siehst kaum ein englisches Reklame- oder Hinweisschild im Touristenort. Zeigt natürlich etwas vom Verhältnis der Mexikaner zu ihren nördlichen Nachbarn. Bedient wirst du auch nur in spanisch. Mir ist das sympatischer als in den griechischen Touristenorten, wo du dich mit dem Verkäufer auf griechisch bemühst und der Kerl antwortet dir stur auf englisch.
Was du bekommst, sind Informationen. Über Mexico, über Zentralamerika, über's Trampen, über Visa, was machen andere, wo ist's schön, wo gibt's Straßen, Busse, Boote.
Das muß jetzt nicht heißen, daß diese Informationen immer viel taugen. Aber manchmal überschneidet sich's. Daß Mexico City öde ist, erzählt dir jeder. Und nach Tikal im Norden Guatemalas mußt du unbedingt hin. Spätestens wenn dir einer erzählt, alles was der Anhalter braucht, sei ein Handtuch, weißt du, daß du seinen Informationen guten Glauben schenken kannst. Weil er seinen Reiseführer gelesen hat... (den Reiseführer Per Anhalter durch die Galaxis).
Aber über Visa in Zentralamerika bin ich heute so schlau wie vorher.
"Nur El Salvador macht Probleme... dicken Antrag mit 20 Fragen, 2 Paßfotos und so, in den anderen Ländern gehst du an die Grenze, zeigst den Paß vor und okay." -
"Die anderen Staaten? Da brauchste immer Visa, die kriegste aber an der Grenze." -
"Für El Salvador würde ich zur Botschaft in Guatemala City gehen." -
"Stimmt's, daß man nach Honduras nicht reinkommt, wenn man DDR-Stempel im Paß hat?" -
Wie ist es denn in Belize?
"Belize? Hingehn an die Grenze, das sind alles Schwarze da, die ham doch keine Ahnung. Frag ihn, wo Deutschland ist! Frag ihn! - 'Germany?', die sprechen alle englisch, 'must be somewhere in Europe. All right. Go ahead.' - Aber was willst du in Belize? Da gibt's doch rein gar nichts zu sehen. Keine Berge und nichts. Die klauen überall. Bloß schnell weiter nach Guatemala."
Ganz so einfach wie der Franco-Kanadier das beschreibt, scheint das mit der Grenze in Belize auch nicht zu sein.
"Über die Grenze kein Problem, aber die fragen dich, wieviel Dollar du hast, je nachdem geben sie dir Aufenthalt, paar Wochen." - sagen die Schweizer. Das Land sei flach, Belize City eine schöne kleine Hafenstadt mit lauter Holzhäusern. - Dänemark in der Karibik? Langsam interessiert's mich wirklich.
Der Amerikaner aus Washington State, der mich 450 km durch Yucatán auf'm Motorrad mitgenommen hat:
"Belize? Soll öde sein. Wüßte nicht, warum ich dahin soll." -
"Die ham das zweitgrößte Barrier-Riff der Welt." - ein mexikanischer Student - "Belize ist teuer. Und puro inglés."
"Belize - das ist Karibik. Die Leute, die Musik, das Leben, alles, eben Karibik." - ah, die Deutschen.
"Ihr wart da?"
"Ja, vor 6 Jahren. Du brauchst'n Visum. Das mußte dir in Mérida holen. Kost 10 Dollar." Mérida ist ne Stadt im Norden Yucatáns, 400 km ab vom Weg. Seit neuestem gibt's die Visa wohl auch in Chetumal, das liegt näher an der Grenze.
"Wieso'n Visum?"
"Als Deutscher brauchst du'n Visum. Belize war früher British-Honduras, ne Kolonie, und ist 1981 unabhängig geworden. Guatemala beansprucht das Gebiet für sich und erkennt den Staat nicht an. Deswegen gibt's da'n Grenzkrieg. Deutschland liefert Waffen an Guatemala."
Toll, und das müssen mir irgendwelche Touristen erklären. Da arbeite ich in Deutschland jahrelang in der Friedensbewegung mit, und hab von sowas keine Ahnung... trotzdem: ich liefere jedenfalls keine Waffen nach Guatemala. Die 10 Dollar können andere zahlen.
Ich bin weder in Mérida noch in Chetumal gewesen.
 

An der Grenze von Belize

Guatemala hat 1981 das Fehlen der britischen Truppen während des Falkland-Krieges gleich ausgenutzt, um in Belize dick einzumarschieren. Als erstes waren die Indianerdörfer im Süden dran, die abgebrannt wurden. Die Briten sind dann aber schnell wiedergekommen.
Aber ich hatte natürlich trotzdem kein Bock, 10 US-Dollar für ein Visum in Belize hinzublättern, und bin so an die Grenze. Abends, 8 Uhr, also schon dunkel. An der mexikanischen Seite räumen sie mir wenig Chancen ein, in Belize so durchzukommen. Sie geben mir nicht mal einen Ausreisestempel.
"Aber bitte, du kannst es ja versuchen, muchacho."
Rüdiger Nehberg schreibt in einem seiner Bücher, daß man als Tramper an manchen Orten besser wegkommt, wenn man die Fahne seines Heimatlandes zeigt. Andere basteln sich einen überdimensionalen Daumen oder lassen den Kopf eines Teddybären aus dem Rucksack schauen. Ich habe auf ein Stück Stoff die Fahnen aller Länder, in denen ich bis jetzt gewesen bin, genäht, von Österreich bis Mexico 15 Stück, und es gibt immer wieder Situationen, wo's Spaß bringt, das Ding aus der Tasche zu holen und damit aufzuschocken.
Ich gehe also zum Schalter im kleinen Grenzhäuschen von Santa Elena, Belize, es sind nur 3 Leute im Dienst, lege Rucksack und Schlafsack in die Ecke, hole die Fahnen heraus und sage zum officer:
"Before I show you my passport, I show you this. I'm a traveller. And these are all the countries I've been travelling to."
Langsam und mit sichtlichem Unbehagen hole ich dann meinen deutschen Reisepass raus, erzähle ihm von meiner Meinung zu deutschen Waffenlieferungen nach Guatemala und von der Friedensbewegung, wo die Leute gegen die Waffenlieferungen an fremde Länder kämpfen.
"Well, wie lange willst du denn in Belize bleiben?"
"Naja, halt durch nach Guatemala, aber das Land wollt ich mir schon ein bißchen ansehen..."
"Das Maximum, das ich dir geben kann, sind 7 Tage. Aber du kannst nach Chetumal zur Botschaft gehen und dir ein Visum holen, dann kann ich dir 3 Wochen oder mehr geben."
Belize ist ein kleines Land, und 7 Tage sind ein gutes Geschäft.

Also in Belize, ein kleines Land an der Karibik, mit vielleicht ¼ Mio Einwohner. Die erste Nacht in Corozal, der Wärter des Bus-Terminals läßt mich in einem der geparkten Busse schlafen.
Trampen geht gut. Bin in einem Tag über mehrere 100 km nach Punta Gorda, der südlichsten Ortschaft Belizes, gekommen, und werde am Dienstag das Boot nach Puerto Barrios, Guatemala, nehmen.
Belize - folgende Informationen waren für den Müll:
Das Land hat keine Berge. - Gibt's schon, im Süden.
Überall wird geklaut. - Ist wie anderswo auch.
Die Leute wissen nicht viel von Europa. - Auch hier haken sie öfter nach, aus welchem Deutschland du kommst - Ost oder West.
Und klar gibt es hier was zu sehen, es kommt nur auf deine Augen an.
Ich sitze hier unter einer der vielen Kokospalmen am Meer und beobachte schon die ganze Zeit den kleinen Graureiher, wie er im ruhigen Wasser herumwatet und ab und zu ein paar Fische fängt. Eben ist noch eine Art Weißreiher dazugekommen. In den Bergen gibt's Jaguar. Im Wald.
Und immer noch ein Hauch von Kolonialismus. Britische Militärpräsenz. Obwohl - so britisch ist Belize auch nicht. Die (sehr wenigen) Straßenschilder sind zweisprachig, englisch - spanisch. Im Norden sprechen die meisten spanisch. Die Indianer sprechen maya, oder quiché. Die Schwarzen auch garífuna.
Teuer ist's wohl tatsächlich. Hotel 20,- DM die Nacht. Aber warum, das ist mir schon in der ersten Nacht klargeworden: hier gibt's mehr Mücken als Sandkörner am Strand. So hinlegen ist von daher einfach nicht möglich. Ich bin froh, daß mir die Leute hier ein leeres Haus zum Übernachten gezeigt haben.
Sonja, das Bild müßtest du sehen. Ich sitze an der Karibik, vor mir noch paar Palmen, und hinter dem Meer die Berge von Zentralamerika.
(...)
 

Puerto Barrios, Guatemala

5 Tage später sitze ich im Boot von Punta Gorda (ganz im Süden von Belize) nach Puerto Barrios, Guatemala - die nächste Grenze.
1 Quetzal für Zoll (~ 1,- DM) - gut, 1 Belize-Dollar habe ich noch. 2 Holländer und ein Kanadier stehen vor mir in der Schlange, als wir die Reisepässe zurückkriegen. 10 Quetzal.
Kleine Diskussion, dann zahlen die Holländer. Der Kanadier sagt, er käme jetzt das 4. Mal nach Guatemala, aber es seien immer nur 2-3 Quetzal gewesen, niemals 10. Gut, 2 Quetzal. Er hat Dollar.
"Oder 2 Dollar."
"Was!?"
Schließlich zahlt er seinen letzten Quetzal und einen Dollar.
Ich. Verdammt, ich kann doch nicht immer Eintritt in die Länder zahlen.
"Ich hab in Mexico für 18.000 Pesos die Woche gearbeitet", erzähle ich, "das sind 8 Quetzal."
"8 Quetzal die Woche? Das ist wenig."
"Das ist sehr wenig. Muß ich jetzt 2 Quetzal zahlen?"
"Geh durch. Nos entendemos - wir verstehen uns. Hier ist dein Paß."
Respekt. Vielmehr brauch ich nicht zu schreiben.

Guatemala.
Landet man nachts in einer Stadt wie Puerto Barrios, gibt es immer das Bus-Terminal, wo man übernachten kann. Einer, der mit US-amerikanischem Paß mit dem Boot rübergekommen ist, aber in Guatemala wohnt, erzählt mir ein bißchen über das Land. Tenor: nix los außer paar Touristenorte, die Leute sind schlecht drauf, mißtrauisch, und als Anhalter kommst du nicht weg.
Diese Art, mißtrauisch zu sein, haben sie auch schon in Chiapas draufgehabt, das war der mexikanische Staat, der an Guatemala grenzt. Da war Trampen auch viel schwieriger als im restlichen Mexico.
Ob alles stimmt, was er sagte, hab ich nicht nachprüfen können - bin am nächsten Tag weiter nach Honduras getrampt. 3 Tramps, darunter mein erster Truck-Tramp auf dem amerikanischen Kontinent (von, bis dahin, 135 Tramps).
 

Grenze Honduras in den Bergen

Wieder der Kanadier von Puerto Barrios in der Schlange. Er ist mit dem Bus gekommen und war wohl genauso schnell wie ich. Ihn wollen sie nicht nach Honduras reinlassen, weil er einen Stempel von Indien im Paß hat. Honduras schickt alles zurück, was irgendwie mit kommunistisch aussehenden Ländern zu tun hat. GL. Und mein Paß ist voll mit Stempeln von Mexico, Jugoslawien und Bulgarien... (ich rede jetzt nicht von den 32 DDR-Stempeln!).
Griechisch kann er wohl nicht lesen und deutet auf einen der Stempel aus Griechenland:
"Was ist das?"
"¡Grecia! - ¡Pura Grecia!" - Alles Griechenland!
Was will ich in Honduras, will er wissen. Ein bißchen das Land anschauen und weiter nach Nicaragua.
"4 Tage."
Ey, ich bin zu Fuß. Das ist zu wenig.
Nix, 4 Tage. Auch der Beamte am Schalter nebenan kann ihn nicht umstimmen. Kostet 5,- Lempira (~ 5,- DM). Der Kanadier ist nochmal dran und beschwert sich, weil er extra bei der honduranischen Botschaft in Guatemala City war und die ihm ein Visum für Honduras ausgestellt haben, weil Indien nicht kommunistisch sei.
Nein, Indien ist kommunistisch, das steht hier auf der Liste und du kommst hier nicht rein. Auch nicht mit Visum von der Botschaft, kann ja jeder kommen. Der Kanadier resigniert, geht zurück zu den Stufen, vielleicht wird der Beamte ja mal abgelöst. Ich werde mich hüten, mit diesem Beamten weiter über meine 4 Tage zu diskutieren, und zahle die 5,- Lempira.
4 Tage für 600 km Honduras - aber wenigstens bin ich über die Grenze. Und los.
 

In den Bergen von Honduras

Honduras. Das Land und die Leute sind besser als seine Grenzbeamten. Leute laden mich ein, geben mir zu essen, oder sogar Geld fürn Bus, Trampen geht gut. Besonders im Süden und Westen des Landes.
In Tegucigalpa gehe ich, weil ich noch ein wenig Zeit übrig habe, zur Botschaft von Nicaragua; mal sehen, ob die mir eine Arbeitserlaubnis für Nicaragua geben. Ein kleines Gebäude, ein Kassenschalter, ich erzähl der Frau dahinter, daß ich in Deutschland für die Freiheit Nicaraguas mitgekämpft habe und daß es viel Solidarität mit Nicaragua in Deutschland gibt. - "25 US-$ und 3 Paßfotos." Was?
Ich sage, das ist viel, ich will ja in Nicaragua arbeiten. Sie fragt, ob ich irgendein bestimmtes documento aus Deutschland habe. Sorry, tut mir leid, sowas habe ich nicht. Ich verstehe auch nicht ganz, was sie meint, sie geht auf 85 US-$ rauf, soviel kann ich nicht bezahlen... also gibts keine Arbeitserlaubnis für Nicaragua.
Ich gehe wieder raus, ohne verstanden zu haben, warum sie auf einmal so komisch war. Wenn einer da arbeiten will, für geringen Lohn oder nur für Essen, warum lassen sie einen denn nicht? Da arbeiten doch viele in der Solidaritätsbewegung. Oder seh ich aus wie der typische Contra? Vielleicht kommen da ja alle Nase lang die Europäer an und wollen da arbeiten.
Auf alle Fälle setzte sie voraus, daß, wer sich mit ihr unterhält, mindestens perfekt spanisch können muß. Ja genau, das wird's gewesen sein, das hat sie bestimmt gestört, mein schlechtes spanisch. Hat sie ja irgendwo auch recht, so gut ist es ja wirklich nicht. Also gut, sie hat recht, ich nehme mir vor, das zu ändern. Ich frage einen auf der Straße nach dem Weg Richtung Danlí und lasse mir gleich im Anschluß sämtliche grammatischen Regeln aus dem Satz erklären...
Was das ganze wirklich sollte, versteh ich erst an der Grenze.
 

Impressionen von Nicaragua

Grenze Nicaraguas in den Bergen, hinter Danlí, der Ort heißt Las Manos, große Plakatwände: "¡Bienvenidos! Nicaragua - tierra de hombres libres." Wenig los an der Grenze. Es regnet. Erst werde ich freudig begrüßt von den Leuten, einer spielt Gitarre, Freiheitslieder, aber dann kommt der Beamte und gibt mir meinen Paß zurück:
"Du hast ja gar kein Visum, so kommst du hier nicht rein."
"Was, brauch ich'n Visum??"
Jetzt komm ich erst mit. Auf Diskussionen lassen sie sich nicht ein, ich soll zurück nach Tegucigalpa zur Botschaft und mir dort das Visum holen. Es regnet.
Ich hatte nicht gewußt, daß ich für die Einreise auf jeden Fall ein Visum brauche, unabhängig davon, ob ich dort arbeiten will oder nicht. An der Grenze hier in Las Manos wollen sie mir dieses Visum nicht geben.
"Nach Tegucigalpa?", frage ich ihn nochmal, mit Blick auf das Wetter.
"Ja, nach Tegucigalpa."
Gut, also zurück.
Die Frau in der Botschaft war also deswegen so komisch, weil sie am längeren Hebel saß. Nur hatte ich das nicht geahnt. Im Prinzip war sie genauso drauf wie der honduranische Grenztyp von der Grenze zu Guatemala. Bei dem hatte ich mich wohl gehütet, weiterzudiskutieren, als ich merkte, daß ich nicht mehr als 4 Tage rausholen würde. Es läuft so, daß je länger du mit solchen Leuten diskutierst, desto teurer wird es für dich.
Ich kann nichts machen. Ich muß zurück, im Regen. Der honduranische Beamte übermalt mit Tipp-Ex den Ausreisestempel. Jetzt habe ich noch einen Tag, um nach Tegucigalpa zurückzufahren, zur Botschaft zu gehen, mir das Visum zu holen, und dann nochmal nach Las Manos zu fahren. Man kommt sich ja vor wie ein Depp.
Für mich ganz schön deprimiernd.
Ein bißchen komisch ist das Leben ja schon. Wo komme ich her? Berliner Hausbesetzerbewegung, Grüne, Friedensbewegung... Jahrelang kämpft man mit für Nicaragua, ein "Land von freien Menschen", und an der Grenze schicken sie dich einfach zurück. Im Regen.
Was mache ich? Gehe ich zurück nach Tegucigalpa? Ich latsche die Straße zurück, im Regen. Sie meinten, ich soll auf den Bus warten. Nee, danke, ich geh zu Fuß. Der Bus fährt vorbei. Ich geh weiter, im Regen.
In Jugoslawien zeigst du den Paß vor, Stempel rein, und durch bist du, normalerweise kucken sie nicht mal in dein Gepäck. Den Gag hätten sie ja nicht mal in Bulgarien gebracht, mich von der Grenze weg zurück nach Belgrad zur Botschaft zu schicken. Okay, kostet halt 50,- DM, wenn du kein Visum hast, aber du kommst jederzeit über die Grenze.
Nee, Junge, nicht nach Tegucigalpa. Zu den Contras, oder zu den Miskito-Indianern, aber nicht nach Tegucigalpa. Okay - ich könnte es heute nacht noch schaffen bis "Tegus", morgen früh zur Botschaft, mit ein bißchen Glück würde sie auch mit dem Preis wieder etwas runtergehen. Vorausgesetzt den Fall, daß die Botschaft Samstag morgens überhaupt auf hat. Und am Nachmittag könnte es nochmal mit dem Zur-Grenze-trampen klappen. Wenn nicht, müßte ich bis Montag warten, und würde damit das Visum für Honduras überziehen, was auch etwa 50 US-$ pro Tag kommen kann... nö, Nicaragua, so nicht. Ich bin doch nicht dene ihr Depp.
Ein anderer Bus hält an, wohl aus Mitleid, eine Stunde bin ich im Regen gelatscht, und nimmt mich mit bis Danlí. Von dort gibt es 2 Straßen: eine nach Tegucigalpa, und eine nach Norden durch die Berge... nee, Junge, nicht nach Tegucigalpa.
Seitdem drifte ich.
 

Wieder an der Karibik

Bin jetzt in Limón gelandet, etwas östlich von Trujillo, im Norden, an der Karibikküste.
Hier wohnen Schwarze. Das ist eine ganz interessante Geschichte, die die haben: die stammen alle von den Leuten eines Sklavenschiffes ab, das im 18. Jahrhundert vor der Karibikinsel St. Vincent bruchgelandet ist. Es gab wohl ein Gesetz, daß die Überlebenden von bruchgelandeten Sklavenschiffen frei waren, und so siedelten sie sich dort an, zunächst. Als sie erfuhren, daß den Engländern solche Gesetze doch nicht ganz so heilig waren, haben sie sich zusammengetan und die Mosquitoküste von Honduras besiedelt. Diese Leute sind stolz darauf, nie Sklaven gewesen zu sein. Sie sprechen garífuna, eine Sprache, die sich ihren Angaben nach aus englisch, spanisch, französisch und verschiedenen Indianersprachen zusammensetzt (paar afrikanische Elemente werden aber auch drin sein).
Was ich hier mache, hab ich eigentlich immer noch nicht richtig mitgekriegt. Die letzte Straße ist hier zuende. 6 Stunden Fußmarsch nach Osten liegt Iriona. Im Landesinneren gibt's Milliarden von Mücken. Hier fängt die "Mosquitia" an, die wird zu recht so heißen.
Die fehlende Aussicht und das überzogene Visum, irgendwie quält das. Die Straße zurück, die ich hergekommen bin, das mach ich nicht. Die Leute in den Bergen waren voll mies drauf, die hier in Limón bestätigen das. "Nada más adiós y adelante" - nur tschüß und nix wie weiter. Mala gente - unfreundliche Gegend... und gefährlich. Du merkst es an der Art, wie sie bewaffnet sind, daß da etwas nicht stimmt. Natürlich, es gibt auch freundliche Leute, aber auch nur tagsüber. Lieber 500 km Umweg, über San Pedro Sula, als da nochmal durch.
Ja, wohin morgen? In Limón kann ich nicht bleiben, nur ausruhn. Mit dem Boot nach Costa Rica? Aber es fährt keins. Zurück nach Tegucigalpa, über San Pedro Sula? Es ist gar nicht so ungefährlich, mit einem überzogenen Transitvisum in Mittelamerika erwischt zu werden. Und wer weiß, was sie an der Grenze sagen.
Aber ich wollte es ja so. Gejagt vom Hunger, von Moskitos, illegal im fremden Land, immer weiter, und nicht wissen wohin. Was für ein Leben. Irgendwann wird es dann vor mir stehen, das Leben, und sagen:
"Okay, Willi, 10 Pluspunkte für schlechte Ausführung, aber 100 Miese für die richtige Wahl."
(...)

 Am Karibikstrand von

Honduras

2. Brief an Inga
4. Februar 1988, Wampusirpi am Río Patuca, Gracias a Dios, Honduras.

(...)
Trampen on the road ist ja ganz abenteuerlich, aber hier kommst du unweigerlich in Gegenden, wo's einfach keine Straßen mehr gibt, Teerstraßen schon lange nicht mehr. So kommt es, daß es schon Wochen her ist, daß ich das letzte Auto gesehn hab. In Limón endet die letzte Straße, die in der Trockenzeit gerade noch befahrbar ist. Limón liegt 30 km östlich von Trujillo am karibischen Meer.
Ich bin aus den Bergen gekommen, dort leben Mestizen (Mischung zwischen Spaniern und Indianern), und besonders gastfreundlich sind sie da oben nicht gewesen, also lande ich am Meer, in Limón, dort, wo die letzte Straße endet und der Strand beginnt.

Limón

Eine überdachte Ecke bieten sie mir an, abends kommen noch einige und unterhalten sich mit mir. Ein Gringo aus den USA lebt bei ihnen im Dorf, Mich heißt er, er ist nicht da, kommt aber morgen früh.
Irgendwie habe ich die Tage darauf das Gefühl, in eine Sackgasse gelaufen zu sein. Nach 2 Tagen bin ich kurz davor, mir ein kleines Boot zu kaufen und einfach auf blauen Dunst aufs Meer zu fahren. Mich, der Amerikaner, sagt, ich könne eventuell auf einer der vorgelagerten Inseln Arbeit finden...
Oder sollte ich wieder denselben Weg zurück? Ich schreibe den 4. Brief ans FORUM, ernähre mich von Apfelsinen von den Bäumen und von Kokosnüssen vom Strand.
Gleich zwei Frauen sprechen mich an in der Zeit, eine will mich heiraten, ich soll hierbleiben. Eine lädt mich zu sich zum Essen ein, ich weiß nicht, ob das jetzt auch so was Eindeutiges ist. Ich glaube, in Europa machen das nur die Männer, bin mir aber auch nicht sicher, hab nie genau drauf geachtet. Angemacht fühl ich mich nicht, und wenn sie mich einlädt, warum sollte ich das nicht annehmen?
Abendessen. Sie war freundlich, sagte aber dennoch ziemlich direkt, warum sie mich eingeladen hatte (auch sie wollte mich heiraten), und ich mußte ebenso deutlich sagen daß ich sie wohl enttäuschen müßte. Sie machte ein bißchen den Eindruck, als nähme sie's mir übel. Oder sie dachte, ich wär rassistisch, und würde das nicht machen wegen der Hautfarbe.
Es ist der 4. Tag, ich habe von irgendwoher eine Karte, in der wenige Orte eingetragen sind. Der nächste Ort am Strand richtung Osten heißt Iriona. Die Leute am Verwaltungshaus.
"Nach Iriona willst du?"
"Naja, mal sehn, ich weiß noch nicht... wie ist denn der Weg?"
"Iriona? 6 Stunden Fußmarsch am Strand, immer geradeaus. Zuerst kommt Punta Piedra, dann Cosuna, Sangrelaya... nee, Sirivoya kommt noch davor, und La Punta, und dann Iriona."
Einer ist Fischer und kennt sich noch ein bißchen weiter aus:
"Iriona, und dann Tocamacho, Bataya, Palacio, Plaplaya... Ibans...", ich schreibe so schnell wie möglich im Heft mit, er kommt bis zur Grenze Nicaragua, immerhin fast 300 km.
Zu meiner Überraschung rückt einer von den anderen schließlich damit raus, daß ich auch auf die Karte drinnen im Verwaltungshaus schauen könnte.
"Karte?"
Aber was für eine. Mit allen Flüssen, Höhenlinien, Dörfern, Pfaden - perfekt. 2 Tage und ich habe sie abgepaust. Die ganze Gegend südwestlich von Limón bis zur Grenze Nicaragua.
Jetzt ist's klar, wo's hingeht. Eine Karte ist immer die Voraussetzung. La Mosquitia - das Land, in dem die Mískito-Indianer wohnen.
Eine Frau sagt mir noch, daß die Leute in Punta Piedra nicht so gut drauf seien, in Sirivoya sei's besser. Solche Informationen sind immer Gold wert. Sie sagt, 4 Stunden bis Iriona.

Der erste Tag am Strand,

ab Limón

Nächsten Morgen geht's los. Früh um 6. Zwei Fischer sind gerade bei ihrem Boot am Strand und sagen, sie wollen warten, bis sich das Meer etwas legt, und um 7 dann nach Iriona abfahren. Ich könne mit, wenn ich will. Ja, okay, ich warte solange am Boot.
Die Sonne steigt. Um 9 sind sie noch nicht wieder zurück, jetzt gehe ich zu Fuß los. Ein langer Weg am Karibikstrand.
Der Sand ist schön fest, und ich sinke nicht ein. Trotz Rucksack und Schlafsack komme ich gut vorwärts. Eine Zeitlang verfolgt mich ein Schwarzer auf seinem Pferd, schließlich hat er mich eingeholt und wir unterhalten uns ein wenig auf spanisch.
Ein bißchen mißtrauisch bleibe ich. Seine zweite Frage nach "Woher kommst du" war gewesen, ob ich wie andere Gringos für eine christliche Organisation arbeite, eine Frage, die mir hier öfters begegnet. Nein - also nur Tourist am Karibikstrand.
"Aus Deutschland kommst du, dort gibt's doch Dollars, stimmts, du mußt bestimmt jede Menge Knete haben."
Nö, ich hab kein Geld, bin per Anhalter hierhergekommen, das ist nicht teuer.
"Und wo ißt du?"
"Naja, was mir die Leute so geben, heute habe ich noch nichts gegessen." Die Unterhaltungen mit solchen Leuten sind eine hohe Kunst, jedes einzelne Wort will gut, aber nicht lange überlegt sein.
"Wo willst du hin?"
In solchen Situationen nur das nächste Tagesziel angeben - "Iriona."
"Hm. Die Leute in der Gegend sind arm und können dir nichts geben, du wirst dir dein Essen kaufen müssen."
Ein Stück Weg laufen wir nebeneinander her, er auf seinem Pferd, ohne Gepäck, ich zu Fuß, mit Rucksack und Schlafsack. Den Schlafsack trage ich dabei im Nacken, er hält zwar, wird aber mit der Zeit schwer. (Ist so'n billiger Stoff-Schlafsack, den mir Steve Blackmon in Washington, Georgia, geschenkt hat, braun, jetzt ziemlich versifft, 3-4 kg schwer). Nein, er bietet mir nicht an, den Schlafsack abzunehmen.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Wir nähern uns der Stelle, wo ein Berg ins Meer reinragt und keinen Platz mehr für einen Sandstrand läßt. Ja, das haben sie mir gesagt, daß der Weg einmal kurz in den Berg reingeht, um dann über -zig Kilometer aber nur noch dem Strand zu folgen.
"Dahinten geht der Weg in den Berg rein, das ist ein bißchen gefährlich und schwer zu finden", bricht er das Schweigen, "wenn du willst, kann ich dich da durchführen, wenn du, du verstehst, mir ein bißchen was gibst."
Jetzt fängt's an, kritisch zu werden.
"Hombre, ich hab doch auch kein Geld, ich hab heute noch nicht mal was gegessen, ich werde den Weg alleine finden müssen."
"Hm."
Lange überlegt er nicht, trabt los, sieht zu, daß er Abstand kriegt. Ach ja, er darf mir ja keine Spuren zum Nachfolgen anbieten. Also reitet er ein bißchen zu den Sanddünen, ha, weiter ins Land geht's nicht, weil da alles unter Wasser ist, das ist ja auch der Grund, warum's hier soviele Mücken gibt. Er bemüht sich redlich, möglichst unauffällig den Einstieg in den Berg zu nehmen.
Aber es spielt ja auch schon alles gegen ihn. Hab ich ihn schon die ganze Zeit vor mir, muß der Sand auch noch so flach sein, daß man soweit sieht. Und überall ist nur Sand, wo will er da keine Spuren hinterlassen. - Okay, es ist der gute Wille, der zählt, denke ich mir, ich kann es ja mal honorieren und gehe ein bißchen auf die Sanddünen zu. Versuche, eine halbe Stunde Zeit zu verlieren. Wenn er sich irgendwo im Berg versteckt hält, wartet er nicht lange, er will ja auch wohin.
Man braucht leider wirklich nicht der perfekte Beduine zu sein, um die Fuß- und Pferdespuren im Sand lesen zu können, die allesamt auf den Einstieg in den Hügel zulaufen. Es folgt ein kleiner Steinpfad durch den Wald, vielleicht 40 m, und oben bin ich auf einem super-instandgehaltenen Pfad, der parallel zur Küste verläuft. Und die Pferdespuren meines Vorgängers wieder vor mir - alles unter Kontrolle. So gehe ich eine Stunde durch den Wald, der Schatten tut gut.
Ein Reiter kommt mir entgegen und begrüßt mich freudig. Was, nach Iriona willst du. Ich komme gerade von daher, bin schon 4½ Stunden unterwegs. Der Weg? - Dahinten gehts runter, und dann immer nur am Strand lang. Alles Gute auf dem Weg, verabschiedet er sich. Ein freundlicher Mensch.
Mittag ist es geworden, 3 Stunden laufe ich schon, und er kommt 4½ Stunden mit dem Pferd... wenn ich heute überhaupt nochmal in Iriona ankomm, bin ich gut. Ich erreiche den Strand, und dann immer gradeaus.
Und ich laufe am Strand. Alle halbe Stunde fließen die dicken Bäche ins Meer, meist ist das Wasser kniehoch, außerdem ziemlich rot-braun-dunkel, weiß der Geier warum. Ich laufe barfuß und in kurzen Hosen - nee, in Unterhosen: zum einen spült mir ständig das Meer um die Füße, zum anderen fließen ständig die Bäche ins Meer.
Vorteil: Das Meer kühlt gut. Nachteil: Am nächsten Tag habe ich den dicken Sonnenbrand an den Beinen. Einer von den Zuflüssen reicht mir beim Durchqueren bis an die Hüften, ich muß aufpassen, daß ich das Gleichgewicht nicht verlier, mit meinem ganzen Gepäck.
Weiter oben ist der Sand lockerer, da kann ich nicht gehen, die Füße sinken im Sand ein, und außerdem wird der trockene Sand sehr heiß. Aber das Meer zieht sich jetzt etwas zurück und hinterläßt unten feuchten, gut gepackten, soliden Sand zum Laufen. Und ich laufe. Was für ein Bild. Über mir die Sonne, links das Meer, die weite Dünung, vor mir der lange Sandstrand und rechts die Kokospalmen auf den Dünen. Das ist die Karibik, so sieht sie tatsächlich aus, andere hängen sie sich als Wandtapete in die 2-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad.
Kann ich es genießen? Ich laufe und laufe. Viel Zeit zum Träumen. Am Nachmittag erreiche ich Punta Piedra. Ayó und weiter gehe ich am Strand. Ayó ist garífuna und heißt tschüß. Richtig dunkel schwarz sind sie hier, die Leute, in Limón waren sie ja noch ein bißchen spanisch vermischt.
2 Frauen laufen vor mir her. Ich muß schon ein bißchen exotisch aussehen, die helle Hautfarbe, und viel größer als sie bin ich auch. Mutter und Tochter. Sie haben jede einen schweren Sack zu tragen, mit Yuca-Wurzeln, über dem Kopf auf dem Rücken. Ab und zu legen sie einen kurzen Sprint ein, vielleicht haben sie Angst, sie sind etwas langsamer als ich. Als ich sie dann doch eingeholt habe, fassen sie sich aber ein Herz - und fragen, ob sie mir tragen helfen dürfen, den Schlafsack. So schwer ist der auch nicht, ich nehme ihr Angebot dankend an. Sie machen es gerne, besonders wo ich ihnen erzähle, daß ich aus Limón gelaufen komme.
Bis hinter Cosuna. Sie wechseln sich im Tragen ab. Hinter Cosuna kommen 2 andere Frauen entgegen, sie nehmen ihnen die Säcke ab, und zu fünft geht es noch etwas weiter am Strand. Casave geben sie mir ab, als sie hören, daß ich noch nichts gegessen habe. Casave wird aus Yuca hergestellt (deutsch: Maniok) und sieht so ähnlich wie so Art Crunchy-Knäckebrot aus. Es ist das tägliche Brot der Garífuna. Zwischen Cosuna und Sirivoya sind sie zuhause.
Am späten Nachmittag komme ich nach Sirivoya, ich bin fertig und setze mich zu einigen älteren Leuten auf die Dünen unter die Palmen. Ein paar Boote kommen gerade vom Fischen heim, es ist viel los am Strand. Bei 3 alten Frauen komme ich unter. Es sind 2 kleine Häuser: ein Wohnhaus, wo sie schlafen, und ein Haus als Küche, dort kann ich schlafen. Sie geben mir ein wenig zu essen, viel haben sie nicht, und am Morgen Kaffee, bevor ich losgeh. Ich gebe ihnen eine Kokosnuß, die ich seit Belize im Rucksack trage... ein bißchen komisch, was ich manchmal so mach, weil sich die hier doch überall am Strand finden... aber wegwerfen wollte ich sie auch nicht und nun bin ich froh, daß ich sie los bin, und die Frauen haben sich gefreut über die Geste.

Zweiter Tag am Strand,

ab Sirivoya

Nächster Tag. An La Punta vorbei, Sangrelaya, Iriona erreiche ich am Vormittag, 9½ Stunden von Limón. Hier leben jetzt weniger Leute, bis Tocamacho seien's nochmal 6 Stunden. Es ist heiß, ich habe leichten Rückenwind und somit überhaupt keine Luftkühlung. Das Meer ist etwas ruhiger als gestern. Einen Wanderer hole ich ein, weil ich nicht wie er die lange Hose ausziehe, um durch einen Fluß zu waten. Mit nasser langer Hose gehe ich weiter, das ist dann die Wasserkühlung.
Er geht denselben Weg. Ein bißchen mißtrauisch bleibe ich, bis er mir anbietet, den Schlafsack zu tragen. Eine halbe Stunde vor Tocamacho setzen wir zum ersten mal in einem Kanu über einen Fluß, und ich weiß nicht, liegt es am heißen Wetter, liegt es am etwas tieferen Sand, oder liegt es an der Geschwindigkeit, die wir gehen - als wir um 1 in Tocamacho ankommen, bin ich total fertig, und setze mich, nachdem wir in einem Haus Wasser (auf garífuna: duna) bekommen haben, unter ein paar Palmen am Strand. Er kennt das Dorf auch nicht und geht seines Weges.

Tocamacho. Ich packe mich auf's Gras. Schlafsack als Kissen, ruh mich aus und versuche, den Augenblick zu genießen. Karibikküste, Schatten, das Meer rauschen hören.
Doch, sie gefällt mir, die Art, wie die Orte hier angelegt sind. Das Meer, der Sandstrand, 20 m weiter ein paar Dünen, mit Gras und Kokospalmen drauf. Und gleich dahinter die kleinen Häuser des Ortes, deren Dächer meist alle aus Palmwedeln gemacht sind, Wellblech ist selten. Und es ist Leben in den Häusern. Die Schweine, die Hunde, die Hühner, die Frauen am Arbeiten und nicht zuletzt die Kinder, die überall herumwuseln.
Die Minuten verstreichen. Daß ich Gesprächsthema bin, merke ich schon, und schließlich kommt eine Frau zu mir und bringt mir ein gutes Stück Casave, das ich mir gierig reinziehe, hab ja seit heute früh nichts mehr gegessen. Sie merken, daß ich wohl Hunger habe - eine andere Frau bringt mir einen gebratenen Fisch, oh, ist das wertvoll, ich esse die Gräten fast mit auf, und Wasser bekomme ich auch. Die Kinder tummeln sich auf dem umgestülpten Einbaum gegenüber herum, ich lehne mich zurück; für einen Moment könnte ich den Eindruck haben, ich wäre irgendwo an einer Küste in Afrika.
Oft sind sie nicht, solche Augenblicke, und wie schnell sind sie vorbei.
Zum 3. Mal kommt jetzt der ziemlich dunkel dreinblickende Typ, der mir bis jetzt grad nochmal buenos días gegönnt hat. Diesmal bringt er noch einen Kumpel an, den war er wohl suchen gegangen, mit Radiorecorder. Kumpel scheucht die Kinder vom Einbaum, neben den ich mich hingelegt habe, und fängt an, auf englisch aufzuschocken.
"Hey, what-matter, man? All right man? Want some music?"
Ouh nein, keine Frage, er hat sein Englisch auf den honduranischen Karibikinseln gelernt, dort sprechen sie englisch, aber was für eins. Er versucht mir zu sagen, daß er mir etwas Musik vorspielt und ich ihn dafür bezahlen soll. Eine Kassette legt er ein, gar nicht mal die typische Musik von hier, aber schon fangen die Kinder an, im Rhythmus zu tanzen. Schon die kleinsten. Afrika.
Ich sag, zum Bezahlen hab ich kein Geld. Etwas vortanzen soll ich, erklärt er, aber in so schlecht verständlichem Englisch, daß ich ihn frage, ob er nicht auch spanisch spricht. Ist ihm wohl gar nicht recht, dann kann er ja nicht mehr mit seiner Fremdsprache aufschocken. Er bleibt bei seinem Englisch, ich check nicht, was er sagt, er wird laut, ich erklär ihm auf spanisch, daß ich kein Englisch sprech, weil ich aus Deutschland komm. Er soll spanisch sprechen und ich werde ihn verstehn.
"Deutschland?"
"Ja, das ist in Europa, das ist ein Land indem kein Englisch..." - oh nein, er weiß nicht mal, wo Europa liegt, er glaubt mir das mit dem Europa nicht, schreit mich an, fällt irgendwann wieder ins Garífuna zurück, scheint mir wohl irgendwelche Vorwürfe zu machen, daß die Gringos alle so reich seien und er nicht, ich soll bezahlen, er jagt die Kinder weg, oder vortanzen. Sein nicht-englischsprachiger Freund macht keine Anstalten, ihn zu beruhigen. Er checkt einfach nicht, daß ich sein Englisch nicht versteh. Ouh mann, ich sag ihm 2 Sätze auf deutsch und frag ihn, ob er meine Sprache versteht.
Nee, aber jetzt kommt ihm das Ganze dann doch verdächtig vor, er steht auf, spricht nun spanisch, wird aber kein bißchen leiser. Europa - das ist doch kein Land. Er will meine Papiere sehn, ja, er sei hier die Polizei, er will sofort meine Papiere sehn. Junge, ich will mich hier ausruhn. Nix - Papiere. Also Schluß mit der Ruhe, auf den Rucksack setzen.
"Ja, klar hab ich Papiere, Herr Polizeichef, die sind hier drin, aber ich komm aus Sirivoya hierhergelaufen, am Strand, ich bin total fertig und will mich ausruhn." -
Nix, er sei hier die Autorität, er will meine Papiere sehn, auf der Stelle.
Jetzt geht's los. Scheiß-Situation. Wie kommt man jetzt da wieder raus? Eins ist klar: ich muß hier weg, so schnell wie möglich.
"Hombre, das hier: sind meine Füße. Mit denen komme ich hier an. Sirivoya  -  Tocamacho. Ich bin 6 Stunden gelaufen. Ja, bin ich denn hier nicht willkommen, daß ich mich noch nicht mal unter die Palmen legen kann und mich ausruhn? Bin ich nicht willkommen in Tocamacho, daß man mir noch nicht mal eine Stunde Ruhe gönnt?" -
Zieht noch nicht.
"Ich bin fertig, ich will mich ausruhen, auf dem Schlafsack, und dann weiter nach Bataya gehn."
Zieht auch noch nicht.
"Ich will mich hier hinlegen und schlafen."
Das zieht.
Ja- leg dich hier hin und schlaf. Leg dich hin und mach die Augen zu. Okay, jetzt weiß ich woher der Wind genau weht. "Mach die Augen zu und schlaf". Er bleibt sitzen, jagt die Kinder nochmal weg, und wartet ab, paar Sekunden. Ich lehne mich wieder zurück.
Nicht lange, dann legt der andere wieder eine Kassette ein, und Kumpel Polizeichef versucht mir nun, was vorzutanzen. Betrunken ist er wohl nicht, vielleicht ist es irgendein anderes Rauschgift. Aber jetzt ist es an mir, die "Sind-wir-nicht-alle-Brüder-Tour" anzustimmen, auf sowas fahren Betrunkene doch auch immer ab.
Sowas anzufangen, ist nicht unbedingt schwer, denn bei seinem Geisteszustand wird er dich nicht fragen, warum du auf einmal damit anfängst, völlig ohne Bezug zu irgendwas, was vorher lief. Ich steh quicklebendig auf, geh auf ihn zu, nehme ein paar Musiktakte von eben mit, klopfe ihm auf die Schulter, seinem Kumpel auch, "seht ihr, wir sind doch alle Brüder, ja genau, wir sind alle Brüder... ", nehme kurz eins von den Kindern auf den Arm, stelle es auf den Einbaum, die beiden klopfen mir auch auf die Schulter, "ja, wir sind alle Brüder", umarmen sich sogar gegenseitig, fahren voll drauf ab...
"...alle Brüder, seht ihr, ich muß doch nach Bataya", Rucksack auf, "wir sind alle Brüder", er hilft mir sogar beim Schlafsack - kurz umdrehn, ein tiefer Blick in die Augen der Frauen, die dem Geschehen zugesehen haben, ich glaube, sie haben verstanden, und ab am langen Strand, richtung Bataya. Ich hab ihn los, aber ich bleibe der Gejagte.
Papiere sehn. Das kann fei ins Auge gehn, laufe ich in diesem Land doch schon bald 2 Wochen mit einem 4-Tages-Visum rum, erwischen lassen darf ich mich nicht, die reagieren empfindlich, das weiß ich.
Also weiter am Strand. Adrenalin, das hält jetzt erstmal für einen halben Tag vor. Ich treffe immer weniger Leute, laufe teils für Stunden am einsamen Karibikstrand, ohne einem Menschen zu begegnen. Der Rückenwind ist ein bißchen stärker geworden, aber kühlen will er nicht so richtig. In Plaplaya sollen die letzten Garífuna wohnen, ich könnte es bis zum Abend noch schaffen, und von da ab dann nur noch Indianer.
Bataya lasse ich auch rechts liegen, bis ich zum Río Tinto komme, der Fluß ist vielleicht 100 m breit. Also wieder warten bis ein Kanu ankommt. Es ist schon Spätnachmittag, und das Kanu bringt mich ein kleines bißchen flußaufwärts, nach Palacios. Hier gibt es Gringos, unter anderem einen Arzt, sie zeigen mir sein Haus. Wie's der Zufall will, waren wir uns ein paar Stunden zuvor am Strand begegnet, er war nicht allein, und wir haben uns eine Zeitlang erst auf spanisch unterhalten.

Der Abend in Palacios

Am Abend kommt er dann wieder nach Hause, er ist ganz nett, ich habe ein wenig Vertrauen zu ihm und sage ihm auf seine Frage auch ganz frei, daß ich keine Probleme mit Visum habe - nur ohne. Vielleicht weiß er ein bißchen Bescheid.
"Hombre, du hast Probleme, weißt du das... die werden dir mindestens eine Geldstrafe aufdrücken, wenn nicht noch mehr. Laß dich bloß nicht erwischen damit." - Ich sehe ja wohl tatsächlich nicht so gut aus damit.
Im Krankenhaus sind noch ein paar Betten frei, ein Zimmer schließt er mir auf, aber einschlafen kann ich nicht.
Mir geht wohl viel zu viel im Kopf herum. Morgen früh geht ein Boot nach Río Plátano, ein paar Leute vom Ärztekollegium fahren, er will mich um 5 wecken. Hell wird es in diesen Breiten immer um 6... okay, jetzt vielleicht 10 nach 6, aber den Unterschied in der Tageslänge zwischen Sommer und Winter gibt es hier nicht mehr. Die Schwarzen sagen, von Río Plátano an sprechen sie nur noch mískito; spanisch würden nur noch einige in den großen Orten verstehen. Einer aus Sirivoya letzte Nacht hatte mir gesagt, der Strand ginge ziemlich lange durch, 250 km bis zum Río Coco, das ist die Grenze zu Nicaragua, und da gibt's sogar 'n Grenzübergang, da kann man weiter. Wie weit soll ich eigentlich noch am Strand weitergehen... naja, wenn ich wohl bis - tong! Klack! Tock tock tock!!  Hä?
"Francisco, bist du noch wach?"
"Jaja -"
"Diese Leute hier wollen sich mit dir unterhalten, also zieh deine Hose an und komm her."
Au weia. Jetzt aber.
Sie sind zu dritt, ein Schwarzer in Zivil, zwei Militärs mit dicken Maschinengewehren im Anschlag. Ruhig bleiben. DON`T PANIC - steht in großen freundlichen Buchstaben auf dem Einband des Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis... also ruhig bleiben, cool bleiben, und reden. Aber nach allen Regeln der Kunst.
Erstmal begrüßen. "Hermanos -", Brüder, im ersten Moment denke ich noch, es sei der schwarze Typ aus Tocamacho, ist er aber nicht. Zum Glück. Die beiden Militärs sind Mestizen.
Sie sagen mir natürlich nicht, warum sie mich aus dem Bett holen (bloß nicht fragen!). Wie ich hierherkomm und was ich hier mache. Die ganze Geschichte seit Limón. Und bestes Spanisch, das unterscheidet: die meisten Gringos aus den USA zeichnen sich dadurch aus, daß sie auch nach langer Zeit im Land kaum ein Wort spanisch sprechen, und wenn, dann nur mit starkem Akzent. Mich, der Amerikaner aus Limón, zum Beispiel, lebt dort nun schon seit 3 Jahren, und die Kinder meinten zu mir, daß ich mit meinen 2 Monaten Spanisch-Amerika wesentlich besser spanisch spreche als er. Und garífuna sprach er auch nicht.
2 Tage Strand. Wo ich geschlafen hab, wo ich gewesen bin und wo nicht, nicht daß sie's wissen wollen, aber man kann's ja mal erzählen, wo nette Leute wohnen... was ich vorhab (über Peru nach Argentinien, das macht auch Eindruck), und dann, goldener Zug:
"Sicherlich wollen Sie meine Papiere sehn, damit alles in Ordnung ist." Bei den Militärs muß immer alles seine Ordnung haben.
"Ja, zeig mal her."
Selbstverständlich nicht nur Reisepaß und Visum, nein, alles was wir an documentos dahaben, die sind alle wichtig, für die Ordnung... der Zettel vom Reisebüro in Hamburg, wo draufsteht, daß ich von USA nach Argentinien unterwegs sei, ein paar Heftchen von verschiedenen Kirchen in deutsch und englisch, mein Tagebuch ("ich bin dabei, ein Buch über Amerika zu schreiben"), alle Papiere sind wichtig... ich habe sogar das Glück, daß einer der Militärs englisch kann, er kann sogar übersetzen. Meine Landkarten von Südamerika auch zeigen, man muß alles zeigen, und klar macht das Eindruck.
Reisepaß. Nee, nicht nur "hier isser", was wollen die mit einem deutschen Reisepaß. Aufschlagen, das ist der Nachname, das ist der Vorname, in dieser Stadt bin ich geboren, dies ist die Stadt, in der ich wohne in Deutschland, Brüder, und dies ist der Stempel dieser Stadt. Und die Jungs sind erstmal zufrieden. Ihnen muß ich ja nicht erzählen, daß man ein Visum braucht und daß der Zettel erst auf Seite 17 eingetackert ist.
"Okay, hier wirst du nicht schlafen, hier im Krankenhaus nicht, pack deine Sachen zusammen, du kommst mit und morgen werden wir dann weitersehn."
"Morgen? Hm - da ist eine Sache. Morgen früh um 5 fahren die vom Ärztekollegium mit dem Boot nach Río Plátano, die wollen mich mitnehmen, um 5, das wär gut, wenn ich das Boot kriegen könnte." - Hoher Einsatz verdoppelt die Gewinnchancen.
"Ja, wenn wir einige Sachen besprochen haben werden, morgen früh, das geht schon."
"Um 5 ?"
"Ja, na, so um 7 oder 8." - Schließlich erklärt ihnen der Arzt auch nochmal, daß sie um 5 ablegen wollen.
"Jaja, wir werden sehn."
Der Schwarze will partout meinen Rucksack und Schlafsack tragen, ist mir recht, ich hab das Zeug heute schon genug geschleppt. Er geht neben mir her, einen Pfad über eine Wiese, die beiden Bullen gehen hinter uns, mit den Maschinengewehren. Ich drehe mich mal unauffällig um - tatsächlich, im Anschlag. Die haben Schiß, das ist gefährlich. Ich hab keinen Check, was die überhaupt wollen, aber ich weiß, daß ich illegal hier bin.
Zu einem kleinen Haus, dort wartet ihr Chef, auch keine 25 Jahre, jung sind sie, die Militärs. Tja, es hilft nichts, nochmal das Ganze. Was soll's, müde bin ich jetzt sowieso nicht, und langsam macht's mir sogar ein bißchen Spaß, die vollzulabern. Wieder die ganzen documentos, aber erstmal die Jacke ablegen, hierhin legen, nein, dorthin legen, nein, doch hierhin. Hosentaschen ausleeren, Sachen auf den Tisch. Paar Lempira, nicht mehr als 10,- DM, ich soll sie in das Taschentuch einwickeln. Warum nicht in - swutsch! - diese Plastiktüte - nein, ins Taschentuch, und zubinden, damit du morgen alles wiederbekommst und nichts fehlt. Damit alles in Ordnung ist. Hier in der Hängematte wirst du diese Nacht schlafen. - Ich kann auch am Boden schlafen, im Schlafsack. - Ja, okay, das geht auch. - Nee, hier wird er nicht schlafen, nee, im anderen Haus. Anscheinend wissen sie selber nicht, was sie wollen.
Was hab ich sonst noch in den Hosentaschen - Taschenmesser, Bonbonpapier, paar mexikanische Münzen. Soll ich die Jackentaschen auch ausleeren? Ha, das hab ich mal in Berlin-Schönefeld im Flughafen machen dürfen, der Kerl hat nicht schlecht gestaunt, als ich vom Nähzeug und den Wäscheklammern bis zum Edding-Stift und OP-Stofftuch alle 19 Jackentaschen ausgeleert hab, der ganze Kleinkram wiegt mindestens 1½ Kilo... nein, Jackentaschen nicht ausleeren.
Papiere. Den Reisepaß kuckt er sich genauer an. Sieht schon ganz schön bunt aus, mit den ganzen Visumstempeln, und hinter dem (4-farbigen) USA-Stempel dann der gelbe Visums-Zettel von Honduras. Den studiert er genau.

Irgendwie scheint er zu riechen, daß da der Wurm drinsteckt. Junge, das kriegst du nie raus. Aber die Spannung steht mir ins Gesicht geschrieben. Im Kerzenlicht zeige ich den anderen die ganzen Klamotten aus dem Rucksack, eher um mich abzulenken, und er studiert den Visumszettel. Mit Taschenlampe. 5 lange Minuten. Junge, das kriegst du nie raus.
Wie soll er auch, wenn von den 26 Kästchen und Feldern ein kleiner Vermerk auf die Aufenthaltslänge hinweist, kommentarlos ist Días ("Tage") aufgedruckt, und die blaue "04" davor ist nur eine von 9 Ziffernfolgen mit den verschiedensten Bedeutungen. Und vor allzu langer Zeit scheinen weder er noch der Grenztyp, der den Schein ausgestellt hat, Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Und Rechnen genauso: mein Alter auf dem Zettel ist auch falsch.
Nein - so kriegt er das nie raus. Was ihn schon besser anspricht, sind die paar Dollars, die mit im Brustbeutel sind. Ob er einen haben kann.
"Warum nicht. Du siehst, ich hab ja nicht viel, aber einen Dollar kannst du schon haben.", findet er gut.
Die anderen müssen ihm erklären, wieviel ein Dollar wert ist. Das ist selten, daß einer noch nie Dollar gesehn hat.
Sowieso erstaunlich diese Gegend. Auf dem Schwarzmarkt in den Städten ist der Dollar etwa 2,40 Lempira wert, der offizielle Tauschkurs ist 1:2, aber hier in der Gegend bekommst du für 1 US-$ nur 1,50 Lempira. Witz.
Sie unterhalten sich noch über die Dollars, und ich überlege langsam, wie ich es anstelle, daß er mich wieder loshaben will und mich freiläßt... nicht daß er auf einmal Gefallen an der Idee findet, sich mit mir noch lange weiter zu unterhalten... und zu meiner Überraschung kommt es schneller als ich denke.
"Tja, das war's dann, Hombre, pack die Sachen wieder ein, ja, alles in den Rucksack. Genau, alles in den Rucksack. Weißt du schon, wo du heute nacht schläfst?" - Hä? Äh, also - aber keinen Augenblick zögern, so schnell wie möglich blubber ich los.
"Ja, der amerikanische Arzt hat mir vorgeschlagen in einem der Zimmer im Krankenhaus zu schlafen einige sind frei im Hotel will ich nicht schlafen weil ich nicht soviel Geld zum Bezahlen hab aber der Arzt sagt ich kann im Krankenhaus schlafen kein Problem."
Hat er nicht gecheckt, sehr gut, weiter so.
"Also es ist so: der Arzt der Amerikaner hat gesagt es wäre kein Problem im Krankenhaus zu schlafen, im Krankenhaus, in dem Krankenhaus, da is'n Zimmer frei da ist ein Bett da kann ich drin schlafen auch, im Krankenhaus da wo der Arzt, also dann schlaf ich auch im Krankenhaus kein Problem. - Kann ich jetzt gehn?"
"Ja, also dann -"
"Ja, danke nochmal, tschüß, und gute Nacht, hermanos."
Als Peter und ich nach 3½ Stunden Polizeiwache in Mainz endlich im Zug nach Koblenz saßen, muß ich genauso ein Gesicht gemacht haben wie jetzt, wo ich alleine, mit Rucksack und Schlafsack, über diese Wiese gehe. Bullen sind doch alle gleich...
Das Raumschiff rauschte durch die Nacht.
Der Arzt staunt nicht schlecht, als ich ihn wieder aus dem Bett hole und ihn bitte, nochmal das Krankenhaus aufzuschließen. Bei der Gelegenheit erfahre ich von einem anderen Honduraner, mit dem ich mich noch lang in der Nacht unterhalte, was der Grund des nächtlichen Besuchs gewesen sein könnte: in Bataya scheint ein Engländer Remmi-Demmi gemacht und sich mit den autoridades angelegt zu haben, und die hier dachten jetzt wohl, ich wär sein Kumpel. Etwas weiter flußaufwärts soll's 'ne Menge Goldschürfer-Gringos geben, Tourismus gibt's hier nicht.
Wäre wohl am besten, mich in den folgenden größeren Orten freiwillig den Militärs vorzustellen... allein durch die Gegend gelaufen zu kommen sei doch immer etwas verdächtig, meint Dr. Hesmith. Es sei sehr wahrscheinlich, daß ich in der Gegend, wo ich hinwollte, noch öfter kontrolliert  würde.

Dritter Tag am Strand,

vorbei an den Lagunen

Am nächsten Morgen tuckere ich im Boot, halb 7, langsam an Plaplaya vorbei, durch die Ibans-Lagune, nicht ganz bis Río Plátano, sondern bis kurz davor, irgendeine Siedlung, und ich laufe wieder am Strand entlang. Das ist witzig: auf einmal bin ich aus Afrika raus und bei Indianern in Amerika, gar nicht weit von der Stelle, wo Kolumbus das amerikanische Festland "entdeckt" haben soll. Reinrassige Indianer sind es hier aber auch nicht, recht vermischt mit den Schwarzen, außerdem soll es ein Mischgebiet von 3 verschiedenen Indianerstämmen sein. Ich weiß nicht, welcher Witzbold es gewesen ist, der mir gesagt hat, bis Río Plátano seien's 1½ Stunden, nee, auch nicht mit starkem Rückenwind.
2 kommen mir entgegen.
"Hey, hombre, aus Cocowila ?!" - Ein Ortsschild war nicht dran, aber das wird's wohl gewesen sein.
"Hast guten Weg gemacht, du mußt da um - halb 8 losgegangen sein."
"Ja, kommt gut hin. Die haben mir gesagt, es seien 1-1½ Stunden bis Río Plátano."
"Nee, nee, das ist mehr als 'ne Stunde, wer hat dir denn das erzählt, mit deinem Gepäck läufst du 3 ½. Du nimmst nicht das carro? Die Gringos nehmen immer das carro."
"¿Carro? Gibt's da'n carro?"
"Ja, die ham da'n carro, da fahrn sie immer zwischen Cocowila und Río Plátano hin und her, kostet vielleicht 1,- Lempira, nicht mehr."
Carro ist die Vokabel, die sie in Honduras für "Bus" und für "Auto" nehmen, könnte sich um einen umgebauten Lkw, einen Jeep oder einen Pick-up (Pritschenwagen) handeln.
"Ich mag aber gerne zu Fuß gehen."
"Ja, das finden wir gut, wir gehen ja auch zu Fuß.", freut er sich.
"Wie weit is'n das jetzt noch bis Río Plátano?"
"Río Plátano. Das kommt - du siehst dahinten im Dunst die 2 auffälligen Kokospalmen? Da fangen die ersten Häuser an, und der Fluß kommt dann auch gleich."
"Na, dann lauf ich ja dann nicht mehr weit."
"Nee, weit läufst du nicht mehr..." - Adiós, que le vaya bien, alles Gute auf dem Weg.
Der Wind ist ein bißchen stärker geworden, und das Meer wird auch wieder rauher. Ja, logo, sobald's irgendwo'n Auto gibt, haben die Kerle keine Ahnung mehr, wie weit die Srtecken zu Fuß sind. Aber das ist schon selten, daß ich die gesagte Zeit verdreifachen muß, um auf die wirkliche Laufzeit zu kommen, normalerweise muß ich immer 50 % dazuaddieren. Die Leute, die selber laufen, wissen die Zeiten genauer. Nur einmal vor Tocamacho haben sie mir einmal 2 Stunden zuviel vorausgesagt, aber normalerweise werden die Entfernungen von der Bevölkerung unterschätzt. Nur dieser Indianer von eben...
... hey, was war denn das? "Du siehst dahinten die 2 Kokospalmen -", das war nicht die Art, wie mir seit den USA der Weg beschrieben wird. Normalerweise sagen sie dir in dieser Situation, "ja, das ist nicht mehr weit, nach Cocowila ist es weit, aber Río Plátano ist nah, immer am Strand lang", und bei den Zeitangaben rechnet nie jemand mein Gepäck mit ein. Nur seine Zeitangabe war mit Gepäck, und stimmte genau.
"Du siehst im Dunst die 2 Palmen" - oh, das war eine andere Qualität, das war ein Indianer, der ein anderes Verhältnis zu seiner Umgebung hatte. Okay, es gehört nicht viel dazu, am Karibikstrand den Weg zu beschreiben, aber hat er nicht schon allein mit seinen 2 Palmen gezeigt, daß er einen Blick für seinen Weg hat? Ich habe ihn nur gefragt, wie weit es noch ist, und er bietet mir seine 2 Palmen an. Die fallen auch nur von weiter weg auf, kommt man näher ran, gehen sie unter im Wald der anderen Palmen auf den Dünen.
Es sind die Kleinigkeiten, die mir auffallen, je länger ich darüber nachdenke. Dann fand er es gut, daß ich zu Fuß geh. Egal wohin ich komme, ob in den USA oder in Lateinamerika: keiner versteht es, daß ich nichts dagegen hab, auch mal eine Strecke zu Fuß zu gehen. Besonders, wo es Busse gibt, checkt es kein Mensch, warum du nicht den Bus nehmen willst. Zu Fuß gehen wird von den Leuten wirklich als die hinterletzte Möglichkeit empfunden, von einem Ort zum anderen zu kommen. Wer zu Fuß gehen muß, ist schon wirklich arm dran. In den Bergen: ich frage nach dem Weg aus dem Dorf, und sie beschreiben mir genau den Weg zur Bushaltestelle. Fahr doch in die und die Stadt und nimm das Passagierboot, warum nimmst du nicht das Flugzeug, wenn du nach Peru willst.
"Wir gehen ja auch zu Fuß", meinte er, so ein Gedanke begegnet mir selten. Und so beschränken sich die Wegbeschreibungen der Leute auch meist auf die Wörter "noch weit" oder "nah", abschätzen wie lange du läufst kann niemand, der Weg scheint der Feind der Leute zu sein. Doch, das war was ganz anderes, dieser Indianer hat ein gutes Verhältnis zu seinem Weg gehabt, das ist ganz was seltenes. Er kennt den Weg, und der Weg ist sein Freund. Und auch die 2 Kokospalmen sind die Freunde des Indianers...hallo Kokospalmen, schöne Grüße, von einem Freund von euch...

Río Plátano

Ein Junge bringt mich im Einbaum über den Río Plátano. Es hat eine Art Restaurant hier im Ort, wo ich Essen bekomme, und bald finde ich mich an einer tienda wieder (Laden mit Tresen), mal sehn, ob mir die Leute ein bißchen mískito beibringen können.
"Mískito, ist das schwer?", frage ich.
"Nein, mískito ist keine so schwere Sprache. Es gibt andere Indianersprachen hier in der Gegend, die sind schwer, aber mískito soll recht einfach zu lernen sein."
Der Verkäufer selbst spricht sehr wenig mískito, seine Frau auch nicht so gut, einige Kinder drumrum wissen mehr. Okay, was Gescheites wird das jetzt wohl nicht werden, aber für diesen Zweck gibt es ja die "Rüdi-Liste", 100 Vokabeln, die wichtigsten, die Rüdiger Nehberg in solchen Situationen vorschlägt.
Die Leute. Es ist eine bunte Mischung aus Mestizen, Schwarzen, Mulatten, verschiedenen Indianern und Kreolen (Mischung zwischen Schwarzen und Indianern). Gut. Die Wörter wie Sonne, Frau, Fisch, klein und schlafen kriegen sie vereint noch gut raus, bei links und rechts haben sie schon Schwierigkeiten, und dann die Zahlen. Die Kinder kommen bis 4, immer wieder kommen Leute vorbei und werden auch gefragt. Einer weiß, was 5 heißt; einer kommt bis 7, und schließlich sind wir bei 10, das heißt matawhal sip. Einen Älteren rufen sie herbei, die Zahlen ab 11 zu fragen, gebe ich auf, aber vielleicht weiß er, was 20 heißt.
"Wir gebrauchen die nicht, wir nehmen immer die spanischen Zahlen, weil die einfacher sind. Für 20 müßten wir in mískito 4mal hintereinander sagen matawhal sip", macht's vor und klatscht dabei im Takt in die Hände, "und für die größeren Zahlen würde sich der Aufwand nicht mehr lohnen."
Ich habe später noch andere Versionen gehört, was 20 heißen könnte... Ein Kreole kommt zum zweiten Mal vorbei, scheint das aber wohl verdächtig zu finden, daß ich die Wörter wissen will. 2 schwierigere Wörter weiß er, und dann, am Wort für "Gegenteil", entzündet sich eine Diskussion, warum ich denn gerade hier diese Sprache lernen will.
"Wenn du mískito lernen willst, kannst du in die Hauptstadt nach Tegucigalpa gehen, und einen 7-Tage-Kursus nehmen am öffentlichen Institut für..."
"Aber er will sich doch hier mit den Leuten unterhalten", meint der Verkäufer der tienda, "vielleicht sprechen da, wo er hinwill, einige kein spanisch, da können wir ihm doch einige Wörter sagen, meinst du nicht?"
"Hm."
Na, ganz überzeugt ist er nicht, aber schließlich sagt er, nun aber die Sicherheit eines Lehrers ausstrahlend, bevor er abgeht, das Wort, rangtara, aha, sagen die anderen, und ich schreibe es auf. Es war falsch.

Der Wind ist jetzt ganz schön stark geworden und hat nach Norden gedreht, und ich laufe wieder am Strand. Der nächste Ort soll Tusi Cocal sein. Zwei, drei Wörter sind schon hängengeblieben, aber bis ich mískito kann, wird's wohl noch 'ne Weile dauern...
Die Fischer bei der Mündung der Brus-Lagune haben es gar nicht so leicht, den Einbaum gegen den vom Meer wehenden Nordwest-Wind zu halten, als sie mit mir ans andere Ufer paddeln, damit ich weiter nach Tusi Cocal gehen kann.
Und weiter, eine halbe Stunde, und noch eine halbe Stunde... ganz schön weit ist das. Ich habe keine Uhr, muß mich immer nach der Sonne orientieren.
Es ist eine einzige Sanddüne, nicht breiter als 50 m, die jetzt über etliche Kilometer das karibische Meer von der Brus-Lagune (Brackwasser) abgrenzt. Ein wenig Gebüsch und natürlich lauter Kokospalmen wachsen darauf. Ich laufe aber weiterhin unten am Karibik-Sandstrand, also auf der Windseite.
Ob das Meer wohl auch mal rüberschwappt? Nein, bestimmt nicht, Sturmflut gibt hier wohl nicht. In den Lagunen wie der von Ibans oder Brus gibt es Brackwasserfische, die sind recht beliebt, werden sogar ausgeführt, nach Guatemala und Mexico, in Salz konserviert. Die Leute, die an den Lagunen wohnen, sind anscheinend etwas wohlhabender als die Garífuna, die davor wohnten. Junge, das ist ganz schön weit, dieses Tusi Cocal.
Ich muß mir mal endlich was überlegen, weil das blöde Visum abgelaufen ist. So ein Müll. Aber irgendwas fällt mir da schon noch ein... wär ja gelacht. Mal sehen, wie gehe ich das Problem am besten an... also 4 Tage Visum, das sind genau 4 Tage Visum... Visumszettel... gelb... gelber Visumszettel... wa-rum ausgerechnet gelb... wie die Raumschiffe von der Vogo-nen-Flotte... Kommandant Prostetnik Vogon Jeltz... mist, ich komm nicht weiter, ich hab mich in meine Gedanken verrannt.
Teufel, muß das so weit sein. Die Wellen des Meeres sind ganz schön groß geworden, kommen weit vor auf den Sand, und der Sturm kommt immer mehr von Norden, also genau vom Meer. Allzu lange dauert's wohl nicht mehr bis zur Dämmerung, oder besser, bis zum Licht-ausgehn, hier ist ja nicht viel mit Dämmerung. 5 Minuten dauert das hier, und dann ist das dunkel.
Von Norden kommen Wolken. Ich gehe immer weiter. Der Schlafsack liegt schon völlig schief zwischen Nacken und Rucksack, und wird zum Großteil nur vom Wind gehalten. Der pfeift ganz schön durch die Palmen. So, bald wird jetzt das Licht ausgehn, noch 10 Minuten... nur noch 5 Minuten...
Tusi Cocal!
Geschafft, gerade noch bei Tag, das ist gut! Ich gehe zum ersten Haus, es sind Mestizen, sie sprechen spanisch, ich bekomme ein wenig zu essen, überall Sand, und natürlich haben sie einen Platz für mich für die Nacht. Heute eine Nacht bei Sandsturm.
Auch am nächsten Morgen bekomme ich Frühstück, und ich teste mal an, wie das Wetter werden könnte. Heute bewölkt, etwas kälter, aber der Wind hat kein bißchen nachgelassen.
"Du willst los, bei diesem Wetter?"
"Ja, oder meint ihr, es wird regnen?"
"Regnen - wird das wohl nicht. Der Wind trägt nicht viel Wasser."
6 Stunden, heute wohl 7, meint er, bis Barra Patuca, Mündungsort des wohl größten Flusses von Zentralamerika.

 Der vierte Tag am Strand,

im Sturm bis zum Patuca

Ich werde 9 Stunden laufen. Einmal begegne ich 2 Leuten, und dann allein. Kurze Hose und barfuß. Die Sonne scheint eh nicht, es ist eher kühl. Nicht in Schuhen, wie gestern, oder in Socken, wie vorgestern (wegen der Sonnenbrand-Gefahr auf den Füßen), heute geht es barfuß.
Aufgewühltes Meer, weite Dünung. Nach ein paar Stunden habe ich am Vormittag die Brus-Lagune hinter mir, jetzt ist wieder dieses undefinierbare Sumpf- oder Grasland hinter den Dünen, mit den Mosquitos. Die nächste Lagune ist erst wieder die von Caratasca, die kommt aber erst weit hinter Barra Patuca.
Von Barra Patuca wird's wohl 'ne Verbindung ins Land geben, flußaufwärts, da gibt's bestimmt Boote. In Barra Patuca werde ich aber erstmal zu den Militärs gehen (die gibt's hier in jedem kleinen Ort) und mich vorstellen. Doch, das werde ich machen; das mit dem Visum werden die wohl auch nicht checken. Wenn die fragen, was die "04 Días" zu bedeuten haben auf dem Schein, kann ich ihnen ja irgendwas erzählen... ach stimmt ja, ich muß mir ja nochmal was überlegen.
Verdammt, laufen die Wellen jetzt weit aus. Je weiter ich mich der Mündung des großen Flusses nähere, desto mehr Ziviliationsmüll, Äste und Baumstämme liegen am Strand, und wenn das Meer soweit raufkommt und mir um die Füße spült, habe ich ziemlich viel Zeugs in der Gischt. Ab und zu nimmt das Meer ein paar Äste mit zu sich rein. Da steckt ganz schön Kraft dahinter.
Einmal paß ich nicht voll auf, das Meer kommt wieder vor, und da haut es mir auch schon 2 dicke Knüppel auf die vordere Sehne vom linken Fuß. Ah!! - Anhalten, hin zur Düne gehn, hinsetzen, untersuchen. Zum Glück nichts kaputt. Ouh, mann, das ist fei scheißgefährlich! Ich bin allein, und bei dem Wetter (einige Regenschauer kommen jetzt auch runter) kann ich lange warten, bis da einer vorbeikommt. Weiter oben auf dem Sand kann ich nicht gehen, da sinke ich zu sehr ein, vorwärts komme ich nur auf dem nassen Sand vorne an der Brandung. Also voll aufpassen, wenn die Welle kommt, und nicht einfach weitertrotteln.
Sonst ist es ja gar nicht so mies, das Meer: hat es vorgestern noch gut gekühlt in der Hitze, gibt es bei dem kühlen, stürmischen Wetter heute sogar ein bißchen Wärme an die Beine. Und von den 35 Mückenstichen aus Limón spüre ich auch schon lange nichts mehr.
Die Wellen sind jetzt riesig groß geworden, laufen immer weiter zurück, und kommen auch immer weiter vor, bis fast zu den Dünen. Gestern waren es 2 bis 3 weiße Wellenkämme hintereinander, die dem Strand entgegenrauschten, am späten Nachmittag auch mal 4. Heute überschlagen sie sich schon weit draußen im Meer, ich zähle 5, 6, manchmal sogar 7 Wellenkämme da draußen. Auch der Abstand zwischen 2 Wellen ist jetzt bald eine halbe Minute lang und bestimmt über 100 Meter. Aber nicht alle Wellen sind gleich groß und kommen bis ganz zu mir hoch, wo ich laufe. So bekomme ich wieder Zeit, mich in meine Gedanken mit dem Visum zu vertiefen, bis die nächste größere Welle kommt.
Fälschen! Ich Depp, warum bin ich da nicht früher draufgekommen?! Wenn ich irgendwo Blaupapier auftreiben könnte, dürfte es doch keine Schwierigkeit sein, aus den "04" Tagen "104" oder "164" zu machen - 5½ Monate. Oder "04 Monate", die Tage einfach durchstreichen. Genau, und schon haben wir keine Probleme mehr in Honduras. Ha, und die Jungs in Nicaragua bekommen ein documento, daß ich hier für die "Solidaritätsgruppe Nicaragua libre" arbeite, mit Siegel und Unterschrift, genau, mehr als von der Grenze zurückschicken, weil ich kein Visum aus Tegucigalpa habe, können die mich auch nicht. Echt, auf die einfachsten Sachen kommt man nicht. Für sowas hab ich doch 'ne Hand, und Unterschriften imitieren lernt man in der Schule.

Am Leuchtturm von

Barra Patuca

Ich komme langsam auf den Leuchtturm zu, passiere den Leuchtturm, dabei fällt mir auf, daß bei Hochwasser der Leuchtturmsockel offensichtlich bis zu 1 Meter überspült wird. Dann müßte der Leuchtturm ja bei Hochwasser ganz im Wasser stehen. Ich gehe weiter, wieder auf die Küste zu, erreiche irgendwann die Küste wieder, aber es ist kein schöner Sandstrand mehr da, sondern das Meer brandet hier direkt gegen die Büsche am Ufer.
Ich gehe hin und schaue mir das an. Lauter Treibholz im stürmisch aufgewühlten Wasser, es ist zwar meist nur knietief, aber die Wellenbewegung ist unberechenbar, da durchzugehen wäre lebensgefährlich.
"He, hallo, was machst du denn hier!?" - sage ich zu der Kuh mit den langen Hörnern, die kurz aus dem Busch herausschaut, mich mustert, und wieder im Busch verschwindet. Spricht wohl kein deutsch...
Durch den Busch sind offensichtlich keine Wege, nur paar blöde Kuhpfade. Ich geh lieber nicht in den Busch, wer weiß, ob die Rinder mit den großen Hörnern wirklich alle weiblich sind. Und genau jetzt mache ich einen Fehler.
Wieder zurück zum Leuchtturm gehen, ich muß zurück zum Leuchtturm. Es muß der falsche Weg gewesen sein, ich muß wieder zurück und den richtigen Weg suchen. Den Leuchtturm haben sie ein paar 100 m auf eine Sandbank vor der Küste gebaut, und irgendwie hatte der Weg vom Strand ab auf diese Sandbank dahingeführt, zum Leuchtturm. Das war aber 3-4 km vor dem Leuchtturm, wo der Strand langsam in die Sandbank überging, und irgendwo dort muß es wohl auch einen anderen Weg nach Barra Patuca gegeben haben.
Ich merke, daß es nicht nur ein paar 100 m waren, die ich eben gegangen war, vom Leuchtturm zu den Büschen, sondern 2 oder 3 Kilometer. Das hatte ich gar nicht registriert. Ich mache ein paarmal einen Punkt in einiger Entfernung aus, schätze wieweit der Weg ist, gehe hin, und merke, daß ich die Entfernungen hier ganz gewaltig unterschätze.
Das Meer scheint irgendwie langsam zu steigen. Hoffentlich nicht zu schnell. Diese Sandbank-Lagunen zwischen der Küste und der Leuchtturm-Sandbank waren aber eben bestimmt noch nicht so tief unter Wasser, das weiß ich noch genau. Hey, das muß um 10 cm gestiegen sein in den paar Minuten! - Paar Minuten? Waren es wirklich nur ein paar Minuten? Wie lange habe ich an den Büschen gestanden? Wann kam die Kuh? Es muß weit über 20 Minuten gewesen sein.
Nein, warte mal, es sind auch mehr als 10 cm. Diese dicken Knochen waren eben noch bestimmt 10 cm über dem Wasserspiegel. Und jetzt ist das Wasser einen halben Finger hoch. Soll ich zurück zu den Kühen? Nein, ich muß zum Leuchtturm, sonst finde ich meinen Weg nicht mehr, den ich hergekommen bin!
 Scheiße, das Wasser steigt tatsächlich immer weiter! Ich renne zum Leuchtturm, renne die Sandbänke entlang, renne platschend durch das knöcheltiefe Wasser. Barfuß geht das aber ganz gut. Die Leuchtturm-Sandbank ist noch nicht unter Wasser. Es fehlt noch ein halber Meter.
Außer Atem, aber ich habe den Leuchtturm erreicht! Von wo bin ich vorhin hierhergekommen, ah, genau, von hier, da sind meine Fußspuren, also am besten gleich weiter, den Weg zurück, oder? - Nein, stopp, vorsichtig sein, keine Panik, erst den Leuchtturm genau untersuchen. Muschelbesatz bis 1 m über dem Sockel. Dickes, rot-weiß angemaltes Eisengerüst. Wenn mich die Flut hier erwischen würde, könnte ich, wenn ich gut bin, mich vielleicht auf ein paar Querstangen setzen da oben. Raufklettern geht leider nicht. Ich glaube, dieser Leuchtturm taugt nicht, um sich zu retten, erst recht hat er keine Schlafmöglichkeit. Halt, warte, noch nicht weiter.
Jetzt muß ich noch zum Sandbank-Strand gehen da vorne, wo ich vorhin war und mir die Muscheln und den ganzen Zivilisationsmüll angeschaut hab, um da nachzusehen, wie hoch der aktuelle Wasserstand ist. Mann, das sind auch wieder über 500 m dahin. Scheiße, meine Rechnung mit den 3-4 km, wo der Strand in die Sandbank überging, haut nicht mehr hin. Das müssen etwa 7-8 km oder mehr gewesen sein, wenn das hier schon 500 m sind. Ich renne über die Sandbank, zähle dabei die Schritte, messe einmal ab, wie lang ein Schritt ist, renne weiter, verjage dabei die Vögel, die zwischen dem ganzen Schutt, Muscheln und vertrockneten Algen hier ihre Würmer aus dem Sand holen und die Fliegen fangen. Tut mir leid, Vögel, soll nicht wieder vorkommen. Ich erreiche das Wasser, es ist vielleicht 15-20 cm höher als vorhin.
Ich gehe zurück, richtung Leuchtturm, und rechne aus, daß das vor etwas über einer Stunde gewesen sein muß. 15 cm in einer Stunde. Außerdem lerne ich endlich, die Entfernungen richtig zu schätzen hier, es waren tatsächlich etwa 450 m.
Aber da, was ist das? Fußspuren! Das sind nicht meine, diese sind kleiner, von einer Frau oder einem größeren Kind. Und da, von einem kleineren Kind eine. Die waren zu zweit. Es war eine Frau, die Spur ist vergleichsweise tiefer, die beiden hatten nicht das gleiche Gewicht. Ich muß sie verfolgen. Sie scheinen Strandgut gesucht zu haben, die Spuren gehen kreuz und quer. Bei der Schrittlänge gingen die höchstens 4 Stundenkilometer. Hier, endlich eine Spur auf Feinsand: Es sind keine Regentropfen auf den Spuren. Da es vor 3 Stunden aufgehört hat zu regnen, muß die Spur jünger sein. Die müssen eine Stunde vor mir dagewesen sein. Es muß einen direkten Weg zur Küste geben, nicht den Weg entlang, den ich gekommen bin, sonst hätte ich die irgendwie mal sehen müssen. Die müssen von hier direkt zur Küste gegangen sein.
Bloß wo lang genau? Zwischen hier und der Küste sind es über 3 Kilometer und alles ist voll mit irgendwelchen riesigen Wasserpfützen, durch die kein Kind kommt. Es muß einen Weg geben. Selbst wenn das Wasser in 3 Stunden 3 · 15 cm = 45 cm gestiegen ist, es muß einen Weg geben, den ein Kind, das einen Meter kleiner ist als ich, vor 3 Stunden noch passieren konnte. Die wußten ja, daß das Meer kommen würde.
Es ist jetzt etwa früher Nachmittag, Sonne ist keine da, der Sturm wird auch immer stärker. Soll ich den bekannten Weg zurückgehen? 7-8 km, das wäre etwa eine Stunde, das Wasser wäre nachher 60 cm höher als vorhin. Soweit ich mich erinnere, waren da vorhin sogar schon einige wenige Stellen, die knöcheltief unter Wasser waren. 2 oder 3 waren das. Mindestens 2. Wenn ich einen neuen Weg finde, direkt zur Küste, könnte ich in einer halben Stunde da sein, wenn alles gut geht. Beides ist gleich gefährlich. Ich wage das zweite.
Wo würde ich von hier direkt zur Küste gehen? Dahinten, zwischen diese 2 Lagunen dahinten durch, anders geht es nicht. Ich renne hin, zähle dabei 400 Meter, und finde tatsächlich die Spuren! Ich hatte recht, die sind da zu-rückgegangen.
Sie verlieren sich aber bald wieder, weil das Wasser jetzt überall steigt, und in wenigen Minuten wird die Leuchtturm-Sandbank von der Küste abgeschnitten sein. Da hinten, wo der Busch ist, muß die Küste sein! Das sind weniger als 2000 m. Ich muß so schnell wie möglich zur Küste, ans Land, egal wohin.
Diese Sandbänke hier sind zum Glück nicht sehr tief, ich kann durchwaten. Einige Stellen sind auch noch gar nicht unter Wasser, andere werden gerade überspült. Überall kommt jetzt das Wasser hoch, bilden sich Seen. Aber ich komme voran. Langsam, weil ich nicht direkt gehen kann, weil ich mir in diesen Seen nicht die tiefsten Stellen aussuchen darf. Weil es gefährlich ist, weil der Sand da oft nicht fest ist und ich einmal knietief darin einsinke. Nur noch 800 m, noch 600 m... wieder muß ich um einen See herumgehn. Aber jetzt hat er verloren, es war der letzte dicke See, danach kommen noch paar Pfützen, danach ist es trocken, weil das Wasser bis hierhin noch nicht gekommen ist. Ich erreiche den Busch, püh, atme auf, das war knapp.
Hallo Kühe, wie geht's euch; schön, euch hier zu sehen. "Naxá, nachkismá...", als erstes hole ich meine Notizen aus Río Plátano heraus und begrüße die Tiere, wie es sich hier gehört, auf mískito. Und stelle fest, es sind ganz liebe Kühe. Wo Kühe sind, sind auch Kuhpfade.
Da sich auch die hiesigen Kühe freundlicherweise an die international geltenden Kuh-Infrastruktur-Regeln halten, finde ich schließlich den Hauptpfad, und wenig später komme ich nach Barra Patuca, dort, wo ich wegen des Sturms 4 Tage verbringen werde, ich gehe etwas durch den Ort. Ein bißchen stolz, aber ganz schön fertig.

Barra Patuca

Wirklich ein Unterschied zu den Orten vorher. Die Holzhäuser bauen sie hier auf Pfählen, die meisten mit Wellblechdächern. Vor einem Haus sprechen zwei mich an, auf spanisch, was ich suche und so.
"Ich - suche - äh - einen Ort -"
"Einen Ort zum bleiben, zum schlafen, für die Nacht? Du bist neu hier?"
"Jäh-... äh, ja."
"In diesem Haus kannst du schlafen, wenn du willst, andere schlafen hier auch, wenn sie auf der Durchreise sind."
Ja, so 'ne Art Pension gibt's in den Orten immer, in der Regel sind die recht teuer, so 20,- DM oder was, ich sag, daß ich nicht soviel Geld habe. Er überlegt nicht lange:
"Auch wenn du nicht bezahlen kannst, kannst du hier schlafen. Wir schlafen hier auch."
Wo ich hinwill, wie ich hier hergekommen bin.
"Oh, der Pfad führt schon weit vorher vom Strand ab", sagt eine junge Frau, die den Weg kennt, als sie hört, daß ich über den Leuchtturm gekommen bin, "da hast du bestimmt 1½ Stunden verloren."
Sie lädt mich spontan zum Abendessen in ihr Haus ein. Ich bin überrascht von der Selbstverständlichkeit dabei, denn das wäre bei den Mestizen oder in Mexico undenkbar, von der Geschlechterrolle her. Reis gibt es, und gebratene süße Bananen, dazu ein bißchen Schweinefleisch, von den kleinen Schweinen wohl, die überall herumlaufen. Ich komme ins überlegen... - zu was für einer Rasse gehören eigentlich die Menschen hier?
 Indianer sind es ja irgendwie nicht, die sind heller, haben glattes schwarzes Haar, mit so'm chinesischen Einschlag im Gesicht. Afrikanische Schwarze und deren Mischungen haben aber krause Haare, die haben die hier auch nicht... viele haben hier braune Haare, und die Gesichter von Europäern, von Griechen vielleicht... nur die Hautfarbe ist sehr dunkel... Einer, der mich einlädt, heißt Isidro Trapp, hat also einen deutschen Nachnamen. Sehr verdächtig. Aber woher, weiß er auch nicht. Ach was, das sind hier wahrscheinlich einfach nur Menschen, Menschen sehen halt so aus.
Sie selber unterhalten sich in mískito, also in einer Indianersprache. "Mískito" heißt "Fischer", erklären sie mir. Das klingt logisch: den Fischen ist es ja auch egal, welcher Rasse die Leute angehören, Hauptsache, sie können fischen.
Also gut, ich muß es akzeptieren, auch wenn ich sie mir anders vorgestellt habe: es sind Mískito-Indianer.
Mískito ist also eine Sache, die zwischen Fischen und Menschen abgeht, da werden die unwichtigen Fragen, die zwischen den verschiedenen Menschen untereinander abgehn, notfalls vernachlässigt.
Offensichtlich auch die Geschlechterrollen unter den Menschen; wahrscheinlich haben die Mískitos die Erfahrung gemacht, daß das die Fische auch nicht im geringsten interessiert, wer hier wen in wessen Haus einlädt.
Ich besuche die einzige Ausländerin, die am Ort lebt: im centre salud die Krankenschwester kommt aus Japan, ist seit fast einem Jahr hier und hat noch 2 Monate. Es muß schön sein, in dieser netten Gegend Krankenschwester zu sein. Sie macht einen sehr ausgeglichenen Eindruck. Manchmal sei es ein bißchen langweilig, aber die Leute sind nett, meint sie.
Doch, hier bin ich woanders hingekommen. Sie fragen mich gar nicht, ob ich vielleicht Hunger habe, sie geben mir einfach zu essen. Und abseits von Touristenorten ist es immer erfrischend zu hören, wenn sie "Frankreich" oder "Holland" schätzen, wo ich vielleicht herkomme, oder wenigstens "Kanada": sie belohnen damit mein Spanisch, sie hören raus, daß ich wohl kein US-Gringo bin. In den meisten Gegenden Lateinamerikas bin ich mit meiner weißen Hautfarbe automatisch der Gringo aus den Estados Unidos, und genauso ist die Japanerin überall die Chinesin, auch wenn sie sagt, Japan sei was anderes als China.
Sie bemühen sich um mich: einer geht mit mir zur Comandancia - das sind die Militärs. Ihr Chef ist auch Mískito-Indianer, zu tun haben sie hier wohl auch nicht viel. Natürlich checkt auch er das mit dem Visum nicht, vorerst werde ich da mal noch nichts dran rumfälschen. Es kommt hier mehr darauf an, einen überzeugenden Eindruck zu machen, die Papiere seien in Ordnung.
Aber wer jetzt denkt, ich bin froh, daß er das mit dem Visum nicht gecheckt hat, tschüß, und geh erleichtert raus, die haben wieder mal ihre Lektion nicht gelernt.
"Ich will weiter flußaufwärts, nach Wampusirpi und Wampú, und dann nach Auasbila über die Berge, und da haben sie mir in Limón gesagt, als ich mich dort vorgestellt habe, daß sie mir hier in Barra Patuca ein documento ausschreiben sollen, daß ich mich hier vorgestellt habe, daß ich da und da hinwill... daß alles seine Ordnung hat..."
Nickt er, ja, das macht er schon, hat ja eine wichtige Aufgabe hier. Ich schreibe ihm noch Name und Vorname vor, und er schreibt ganz schön lange an den 7 Zeilen rum.
Alles, was rauszuholen geht. Doch, das war keine schlechte Idee von mir. Wenn sie irgendwo pampig werden wegen dem Visum, kann ich immer sagen, daß ich das nicht gewußt hätte, und daß die Militärs in den Krisenregionen, bei denen ich mich immer brav vorgestellt hätte, immer gesagt hätten, daß alles in Ordnung sei.
"So, diesen Zettel zeigst du vor, du mußt dich in Wampusirpi auch bei der Comandancia vorstellen. Und wenn du weiter willst, sollen sie dir auch so einen Zettel ausschreiben."
Stempel haben sie leider nicht, und'n paar Rechtschreibfehler sind auch drin. Es war wohl der Satz, "Ich schreibe ein Buch über die Mískito-Indianer", der ihn überzeugt hat.

Tuktuk nennen sie die langen Einbäume mit Motorantrieb, die vor allem Reis, Benzin und andere Waren auf dem Fluß transportieren. Alle warten den Sturm ab, aber am 4. Tag fährt ein Konvoi flußaufwärts, und Passagiere nehmen sie natürlich auch mit. 3 Tage und 2 Nächte sitze ich nun auf den Benzintonnen, jetzt fahrn wir übern Fluß, in die Mosquitia. Ab und zu Regen, da deckt man sich mit einer großen Plastikplane zu, und sobald es dunkel wird, kommen in der Mosquitia die Mücken.
Nachts legen sie irgendwo am Flußufer an, und natürlich ist es möglich, auf einer Reihe liegender Benzinfässer zu schlafen. Ich wickel mich so dicht wie möglich in die Plastikplane ein, bleibe trocken, krieg fast keine Luft mehr, und erlebe ein Wunder der Natur: es ist zwar möglich, das Ding luftdicht zu kriegen, es ist aber nicht möglich, das Ding insektendicht zu kriegen. Alle 2 Minuten eine neue Mücke. Die sancudos, das sind die Malaria-Kandidaten. Ich hasse sie. Wie kommen die da bloß rein? Bestimmt mehr als 30 zerklatsche ich blind in der Nacht, ich schlafe erst sehr spät ein. Am Morgen, wo es hell wird, wollen sie wieder raus, aber sie finden nicht raus aus der Plane, und ich nehme gnadenlos Rache. Jetzt wollen sie raus, aber jetzt ist es zu spät.
Ich komme in Wampusirpi an, bis dorthin fahren die tuktuks, es regnet in Strömen, aber diese miesen sancudos gibt's in Wampusirpi zum Glück nicht.
(...)
 
 

Wampusirpi

Brief FORUM 5
20. Februar 1988, am Río Patuca, südlich von Wampú, Olancho, Honduras.

(...)
Ich komme also in Wampusirpi mit dem tuktuk an, es regnet in Strömen, aber sancudos gibt's in Wampusirpi nicht. Dafür plaga, die verbreiten zwar keine Malaria, sind aber etwas direkter im Nehmen, und nach ein paar Tagen werde ich erstmal nicht mehr barfuß über die Pfade gehen: ganz kleine Fliege, setzt sich auf die Haut, beißt'n Loch rein, wie Vampir, schlabbert drin rum und hinterläßt einfach 'ne offene Wunde. Hier in den Tropen infizierst du dich auch, wenn du nicht kratzt.
Sie verweisen mich an Elena, die zeigt mir, wo ich wohnen kann. Sie ist von Santiagos Familie, wohl eine von den reicheren im Ort, sie stellen Käse her und haben nebenan ein Lagerhaus, das leer steht. Warum sie die Häuser auf Pfählen bauen, frage ich, aber keiner weiß es genau. Gewohnheit.
Wie in Barra Patuca begleitet mich auch hier einer zur Comandancia - ich muß mich ja wieder bei den Militärs vorstellen und zeigen, daß mit meinen documentos alles in Ordnung ist. Das mit den 4 Tagen Visum erkennen auch die nicht. Ich sag, daß ich vielleicht 2 oder 3 Monate hier in der Gegend bleiben will, ja, meint er, ist okay. Dazu erzähl ich ihm noch, ich will ein bißchen stromaufwärts und von den Mískito-Indianern lernen, wie man Einbäume herstellt. Ernst hab ich das zu diesem Zeitpunkt nicht gemeint, aber irgendeine ausgefallene Geschichte mußte ich ihnen ja erzählen. Zu meiner Überraschung meint er glatt, das ginge, ich soll im Ort mal nachfragen. Ey, das wär ja gut.
Wampusirpi.
"Buenos días, äh, sprechen Sie spanisch?"
"Ja -"
"Ich komme aus Deutschland, hab nicht viel Geld und suche hier Arbeit, ob es wohl möglich ist, mit einigen Leuten von hier in den Wald zu gehen und Einbäume zu hacken? Gibt es hier jemanden, der Einbäume macht?"
"Einbäume willst du hacken, kannst du das denn?"
"Naja, nicht so gut, glaub ich, ich will's halt hier lernen, deshalb bin ich hierhergekommen."
"Ja, ich kenn jemand, der Einbäume macht, Eliezar Zelaya, mein Onkel. Ich weiß, daß er demnächst loswill und Einbäume hacken, gehen wir halt mal hin und fragen ihn."
Will wissen, was die von der Küste wollen, die sprechen hier doch auch alle spanisch.
Zufällig das Haus neben Elena. Ganz schön steile Treppe nach oben ins Haus, einige Frauen sind da, und er: ich schätz ihn auf 50 oder 60, gezeichnetes Gesicht, lockige, schon bißchen graue Haare, ein alter Grieche, würde ich sagen, wenn er nicht die dunkle Hautfarbe der Mískitos hätte.
"Also, das ist er, erklär's ihm halt."
Okay - ich sprudel nochmal los, kein Geld, suche Arbeit, Einbäume hacken, kann ich zwar nicht so gut, würde ich gerne hier lernen... meine Story wird immer ausgefeilter, diesmal noch mit der Version, daß ich nach Deutschland zurückkehren will und dann dort den Leuten beibringen will, wie Einbäume gehackt werden..., "weil in Deutschland die Leute nicht wissen, wie man das macht, - äh...", ich schaue fragend den Jüngeren an, "spricht er überhaupt spanisch?"
"Ein wenig... er versteht's, wenn du langsam redest... sprechen kann er nicht so gut."
Dideldi, also nochmal das ganze. Im folgenden gibt es dann auch eine Unterhaltung mit Simultanübersetzung. Ob es in Deutschland Bäume gibt, will er wissen, und Flüsse, und Meer... und vor allem, warum es da keine Einbäume gibt. Geld könne er mir nicht zahlen. Ach, was ist schon Geld, ich will ja was lernen, es reicht wenn Essen da ist, nix weiter. Wenige Worte fallen zwischen den beiden.
"Also, er sagt, daß er in den Berg will mit einigen Leuten, und Einbäume hacken. Wenn du willst, könntest du mit ihm mitkommen, aber er wird schon sehr bald aufbrechen, so in ein-zwei Tagen, ich weiß nicht, ob es dir so früh schon paßt."
"Ich könnte eigentlich jederzeit los - wie lange will er denn im Berg bleiben?"
"Hm, naja, ich denke, schon 'ne ziemlich lange Zeit."
"Mehrere Monate?"
"Ja, so 2, na, 3 Monate schon."
Und er macht's, und morgen oder übermorgen soll's losgehn! Stark! Das gibt's doch wohl nicht!
Halt, nee nee, nicht zu früh freuen. Wo ist da der Haken, ich kenn das doch, bei sowas gibt's doch immer einen Haken. Ich suche jetzt den Haken. Mal nachdenken.
Eben. Gesagt haben sie zwar ja, aber irgendwie klang der Tonfall in der Stimme nicht ganz so überzeugend. Vor allem, was ihre Zeitplanung anging. Überhaupt hörte es sich nicht gerade so an, als wäre die Sache perfekt durchgeplant. Chaoten sind es aber auch nicht, dagegen spricht sein würdiges Alter. Vor allem aber sind es hier alles nette Leute, das ist nicht schwierig, das rauszuhören. Sogar die Militärs hier.
Was ich befürchte, scheint wohl einzutreten. Am nächsten Tag kann er noch nicht los, weil er noch keinen Pro-viant gekauft hat: er muß sich den Vorrat an Reis, Bohnen, Fett, Salz, Zucker, Kaffee und so erst zusammenstellen. Und am Tag darauf hat er zwar Provision gekauft, aber der Reis muß erst noch gestampft werden, und bei dem Regen geht das nicht.
Ich pendel in der Zeit immer zwischen seinem und Santiagos Haus hin und her, bekomme mal hier und mal dort Essen, und auch an den folgenden Tagen kann er erst "morgen oder übermorgen" los: erst fehlt Salz, dann hat der Fluß Hochwasser, sein Kumpel ist krank, morgen ist Sonntag...
 

Mískito - meine erste

Indiandersprache

Gut, dann halt morgen oder übermorgen. Die Frauen bringen mir in der Zeit ein bißchen mískito bei. Das heißt, zum Großteil bringe ich mir das natürlich selber bei. Es ist jetzt meine 6. Sprache, und langsam durchcheck ich das System dahinter. Was ist Sprache? Das Gerüst einer Sprache besteht hauptsächlich aus ziemlich vielen Vokabeln, die du dir alle reinziehn kannst, dann aus konjugierten Verben und 'ner Art, wie die Sätze zusammengebaut sind, hier: Subjekt - Objekt - Verb. Und weil ich die Leute ja nicht einfach fragen kann, wie sind'n die grammatischen Regeln?, muß ich das schon selber rauskriegen.
Äußerst geschickt habe ich mir deshalb ein paar Grammatik-Testsätze zusammengestellt, die sie mir einfach vom Spanischen ins Mískito übersetzen brauchen. Das grobe System durchsteig ich ziemlich schnell, Mískito ist tatsächlich eine einfache Sprache. Alle Wörter werden immer auf der ersten Silbe betont, egal wie lang sie sind. Solche Regeln gefallen mir.
Bestraft wirst du nur bei der dummen Geschichte mit den Possesivpronomen, also wenn du sagen willst: dies ist mein Gegenstand. Wie das geht, hab ich bis heute nicht raus. Im Gespräch fällt sowas nie.
Nach ein paar Tagen krieg ich schon ein bißchen mit, worum's geht, wenn sie was sagen. Besonders, wenn die Frauen sich im Haus unterhalten, versteh ich schon 'ne ganze Menge.
Viel ist was anderes. Spanisch geht aber inzwischen ganz passabel, zumindest, wenn es um die alltäglichen Sachen geht.
Einer aus Spanien lebt am Ort, Don Ignacio, er arbeitet für die UNO-Unterorganisation ACNUR und betreut die nicaraguanischen Flüchtlinge, die hier im Lager außerhalb des Ortes wohnen.
"Doch, du sprichst doch ganz gut spanisch", meint er, obwohl sein europäisches Spanisch schon ein wenig anders klingt. Aber auf französisch auszuweichen, wir probieren es einmal aus, lohnt sich nicht mehr.
Es gibt sogar Unterschiede zwischen honduranischem und mexikanischem spanisch, die Lateinamerikaner hören das aus dem Tonfall raus. Mir fällt's halt auf, wenn sie hier oder da mal 'ne andere Vokabel nehmen.
"Im Mískito gibt das größere Unterschiede zwischen den Regionen", erklären mir die Frauen, "wenn du dich in Nicaragua mit Mískitos unterhalten wirst, werden die deutlich raushören, wo du die Sprache gelernt hast."
Das spricht dafür, daß es zwischen den einzelnen Siedlungsgebieten der Mískitos wohl nicht allzuviele Verkehrsverbindungen gibt, wenn sich da Dialekte rausbilden. Vielleicht liegt es daran, daß die Flüsse immer nur in eine Richtung fließen, zum karibischen Meer, und das sind eben die Hauptverkehrwege.
 

Über das Essen

"Tja, es gibt hier zur Zeit nicht genug Salz, er kann noch nicht los und Einbäume hacken. Was er machen wird, ist, daß er eine Woche flußaufwärts fährt und ein paar Bäume aussucht. Dann will er wiederkommen und dann endgültig zum Arbeiten rauffahren." - Sowas mußte ja kommen.
"Hm, ich hätte schon Lust, eine Woche einfach mit raufzufahren, ich mein, wenn er genug Essen hat natürlich nur -"
"Ja, genug Essen hat er, nur viel machen wird er halt nicht."
"Würde das gehen, daß ich dann einfach so mitkommen kann?"
"Naja, wenn du willst, das geht schon, nur: gutes Essen gibt es nicht. Nur Reis, Yuca, Sixa und Fisch."
Sixa sind leicht süße Bananen, das Fruchtfleisch ist gelb. Wenn sie reif oder etwas überreif sind oder wenn sie gebraten werden, wird die Schale schwarz. Sixa ist gleichzeitig das Wort für "schwarz".
Yuca ist Maniok, sieht wie 'ne kinderarmdicke Löwenzahnwurzel aus und schmeckt gekocht wie bißchen fade Kartoffeln. Ich vertrag das Essen hier sehr gut, im Gegensatz zu den Maisgerichten in Mexico.
"Morgen oder übermorgen geht es los." - Jaja.
Das Grundnahrungmittel der Mískito-Indianer ist Reis. Ich glaube, ich hätte mich schon gewundert, wenn ich das vorher irgendwo gelesen hätte. In Mexico ist das Hauptnahrungsmittel seit Jahrtausenden überall Mais, dort gibt's praktisch jeden Tag Tortillas. In Belize machen sie alles aus Kokosnüssen, das tägliche Brot der Garífuna ist Casave (die Maniok-Pflanze kommt auch aus Amerika, vermutlich sogar von hier), das sind also alles heimische Pflanzen, und ausgerechnet bei den Indianern im abgelegensten Gebiet, in der Mosquitia, gibt's jeden Tag Reis, eine asiatische Pflanze.
Die Kinder in der Mosquitia sind aber, das fällt mir auch auf, viel besser ernährt als die der Garífuna. Die aufgeblähten Wasserbäuche (Bilder wie aus dem Sahel) haben die Indianer-Kinder hier nicht.
Morgen oder übermorgen. Weil es wieder soviel regnet. Die Regenzeit endet etwa im Januar, bis April geht dann die Trockenzeit. Aber diesmal regnet es länger als sonst, es ist ja schon Februar.
Dann hat er kein Fett, er muß sich noch Fett kaufen. Das Fett beziehen sie aus der Seifenfabrik von La Ceiba, abgepackt in handlichen Stücken.
Auf den Reis-Säcken steht, Import aus USA, gestellt by the people of the Unites States, für die Flüchtlinge. Es steht extra drauf, daß dieser Reis nicht zum Verkauf bestimmt ist. Ich weiß nicht, ob der hier gehandelte Reis tatsächlich aus den USA kommt, oder ob sie nur die Säcke recyclen, denn angebaut wird er hier auch.
 

Die erste Reise flußaufwärts,

einen Baum aussuchen

Bin ich froh, als ich nach nur 10 Tagen warten im Kanu flußaufwärts sitze. Wir sind also zu dritt: vorne Eliezar, den sie Indio nennen, in der Mitte ich, und hinten Primo, ein jüngerer Indianer. Die beiden stehen im Einbaum, vorne und hinten,  und stemmen nun mit 5 Meter langen Holzstangen das Boot gegen die Strömung des Flusses. Das ganze wird auf spanisch palancar genannt, die deutsche Vokabel dafür weiß ich nicht. Ich sage "staken" dazu.
Der Einbaum ist recht klein, vielleicht 5 m lang und 50 cm breit, und zwar ist es ein Fluß-Einbaum, ein duri, auf mískito, und auf spanisch pipante . Es gibt Fluß-Einbäume und Meeres-Einbäume, die unterscheiden sich. Ich bin Einbaumfahren nicht gewohnt und habe am Anfang ganz schön Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Dieses palancar geht nicht besonders schnell, aber sie kommen vorwärts damit, und das Wetter hält sich auch. Der Fluß ist unterschiedlich breit, an einigen Stellen mehrere 100 m, aber wo er schneller fließt, verengt er sich. Das Kanu wird natürlich nur am Ufer entlang geführt, nicht in der Mitte des Stromes.
An einer Kiesbank halten sie an, Indio hat im Fluß ein totes Krokodil entdeckt, erschossen, etwa 6 Jahre alt. Er untersucht es, mißt es ab, der Panzer ist noch gut.
"Hier gibt es viele, überall kommen die vor. Von allein können die nicht sterben. 6 Fuß - das ist klein.", meint er, schärft mein Taschenmesser und nimmt dem Reptil vorsichtig den Panzer ab.
"Zum verkaufen, gell?"
"Ja, in Barra Patuca, einige Gringos aus den USA kaufen die."
"Wieviel ist so eins wert?"
"Etwa 30 Pesos -", dieses verschmitzte Lächeln hat er öfter drauf.
Mit Pesos meinte er die honduranische Währung, Lempira, also 20,- DM. Dann wird's in die USA geschmuggelt, zu Krokodilledertaschen verarbeitet und dann an Leute verkauft, die etwas mehr als 15 $ dafür zahlen können...
Wir essen derweil Mittag. Reis, Yuca und Bohnen. "Gasolina" - Benzin, meinte Primo zu mir, als er beim Ablegen noch die Schüssel mit den Bohnen ins Kanu gelegt hatte. Moderne japanische Benzinmotoren können sich hier die wenigsten leisten, die Kanus der ärmeren Leute fahren mit Muskelantrieb. Am Anfang denke ich noch, es ist für sie Arbeit, mich hier durch die Gegend zu fahren. Ich biete Primo an, ihn mal abzulösen.
"Ich weiß nicht", meint er gleichgültig.
Ich bewundere die Selbstverständlichkeit und die Ausdauer, mit der sie das Boot das Flußufer entlangstemmen. Für sie muß das aber auch selbstverständlich sein, anders kommst du nicht vorwärts hier, das war schon immer so. Auf den Pfaden durch den Wald, das geht viel langsamer.
Keine Miene verziehen sie, als es am Nachmittag voll anfängt, runterzuschütten. Eine Stunde? 1½ ? Sie staken durch den Regen. Keine Chance, daß es mal aufhört. Ich sitze im T-Shirt und langer nasser Hose auf 3 quergelegten Holzstöcken im Boot, nur die Sachen werden nicht naß: die sind mit Plastikplane abgedeckt. Der Regen hört nicht auf. Hin und wieder sind Siedlungen am Fluß.
"Aquí vamos a quedar porque hay mal tiempo." - hier werden wir übernachten, weil es schlechtes Wetter hat. Bei seiner Tochter. Ein wenig mußte ich lächeln, als er mir auf spanisch "erklärte", daß das Wetter schlecht sei. Am Feuer des Herdes kann ich mich und alle meine Sachen trocknen. Sie hören Radio.
Weiter oben am Fluß soll es wieder hergehn, nachdem es eine ganze Zeit ruhig gewesen sei: die Contras haben wohl wieder eine Geldspritze aus den USA bekommen und müssen zeigen, daß sie in diesem Fall auch wirklich für Freiheit und Demokratie kämpfen können. Abwechselnd wird jetzt "Voz de Nicaragua" oder "Radio Sandino" (die sandinistischen Regierungssender) und "Radio Liberación" (der Contrasender) gehört, um an Informationen zu kommen, wo nun genau die Kampfgebiete sind.
Spanisch. Aber bei der Tonqualität bekomm ich auch nur bruchteilweise mit, was los ist, außerdem erzählen sie nicht direkt, daß und wo gekämpft wird, höchstens indirekt. Nicaragua spricht nur von laufenden Friedensverhandlungen, die in Guatemala City stattfinden. Außerdem ist das Land damit beschäftigt, den Leuten beizubringen, wie neue Córdobas gegen alte eingetauscht werden: Nicaragua streicht wieder mal 3 Nullen seiner Währung weg, das passiert zur Zeit wohl immer am Anfang der Trockenzeit... "Todos a cambiar... ¡Córdobas Nuevos - estos sí valen!" . Montag bis Mittwoch richten sie sogar einen eigenen Radiosender dafür ein, der sendet auch nachts durch.
Und die allgemeine Wehrpflicht haben sie eingeführt. Dies schnappt der Contrasender auf und spricht vom "servicio obligatório de la muerte", von der "Pflicht zum Todesdienst", Wortlaut: "Gegen diesen Schlag der Sandinisten auf Freiheit und Leben der nicaraguanischen Jugend kennen wir nur ein Mittel: den bewaffneten Kampf!". Ich traue ihnen zugegeben auch wirklich nicht zu, daß ihnen was besseres einfallen könnte, besonders nachdem sie "berichtet" haben, daß die Jungs nach zum Teil nur 4 Stunden Ausbildung in die Kampfgebiete geschickt würden... die brauchbarsten Informationen scheint dann auch "Radio Impacta", der Sender von Costa Rica, zu bringen. Der ist nur leider noch schwerer zu verstehen, nachts geht er besser rein.
"Du bist Deutscher, kein US-Gringo, dir werden sie wohl nichts tun, und uns auch nicht, also fahren wir weiter.", am nächsten Tag ist das Wetter wieder etwas besser.
Wir kommen bis Krausirpi, kommen dort auch bei einer Familie unter, hier sprechen jetzt weniger Leute spanisch. Einen Tag warten wir schlechtes Wetter und schlechten Fluß ab, und am übernächsten Tag geht es dann endgültig ins Unbekannte, "il" - "Berg" und "Wald" sind in mískito dasselbe Wort.
Weiter stromaufwärts "stabilisiert" sich das Wetter zunehmend, und bald haben wir ein tropisches Tagesklima. Morgens noch etwas Nebel, der verzieht sich, manchmal kommt noch 'ne schwere Wolke, aber dann gibt's erstmal schönen Sonnenschein, wo du froh bist, wenn ab und zu mal eine Wolke vor die senkrecht stehende Sonne kommt. Nachmittags passiert das öfter, dann kommt schon mal ein Regenguß mit, zwischen etwa halb 5 bis halb 6 kann's durchregnen, und gegen Abend verziehen sich die Regenwolken dann wieder. Nachts kommt manchmal auch noch was runter, aber nur gerade soviel, daß du nicht im Freien schlafen kannst. Eine Plastikplane über einen Querstock dient als Dach, ab jetzt übernachten wir immer auf den Kiesbänken.
2 Tage später passieren wir das vorerst letzte Dorf am Fluß, hier leben keine Mískitos sondern Mestizen, den Unterschied sieht man auch, an den Häusern. Noch etwas weiter, und dann beginnen die beiden, nach Yulu-Bäumen  Ausschau zu halten. Jeden Yulu-Baum können sie aber nicht nehmen, sie müssen prüfen, ob das Holz auch gut ist und keinen Pilz enthält. Diese Einbäume sind an der dicksten Stelle vielleicht 10 cm stark , dann natürlich ständig im Wasser und müssen 'ne ganz schön lange Zeit halten. Die Bäume, die sie finden, enthalten aber alle diesen Pilz, und so geht es noch ein paar Tage weiter flußaufwärts.
 

Die Tierwelt im Urwald von

Honduras

Nachmittags halten sie an und fangen Fische. Als Köder dienen Regenwürmer oder kleinere Fische, oder sie haben vorher vor einer Kiesbank mit der Hand geschickt ein paar der flinken kleinen Krebse gefangen. Flußkrebse gibt's genug im Patuca, einmal beobachte ich, wie er sie erlegt: wenn es dunkel ist, mit Taschenlampe, oder Feuerholz, im seichten Wasser. Und Machete... Ganz schön groß die Viecher, einer und ich bin satt, und schmecken total lecker.
Immer öfter halten sie jetzt an, schlagen sich mit Machete einen Weg durch den Dschungel, auf der Suche nach einem guten Baum, und ich bleibe beim Boot. Oder sie bauen das Zelt erst gar nicht ab, dann bleibe ich den Tag über da und soll denen, die vorbeikommen, erzählen, daß ich dabei sei, die Gegend auf der Suche nach Gold auszukundschaften. Das wär nicht unlogisch: der Flußsand ist voll mit lauter kleinen Blattgoldpartikeln, die glänzen in der Sonne, sieht ganz lustig aus. Der Fluß ist hier vielleicht noch 30 oder 40 m breit, und wenn am Tag 2 Einbäume und ein tuktuk vorbeikommen, ist das viel Verkehr. Ruhe? Von wegen.

"Dann gibt's immer eine Runde
tropische Insektenkunde."

Die Stechmücken kommen ja erst, wenn's dunkel wird, aber hier oben im Urwald sind das zum Glück nicht so viele. Tagsüber habe ich das kleine Vampirzeugs, diese miesen plaga, das sind die schlimmsten. Den Biß spürst du meistens, wie von einer Bremse, und wenn die nur von Menschen leben würden, wären sie bestimmt bald allesamt totgeklatscht. Das bringt denen meistens nichts, Menschen zu beißen, aber sie tun's immer wieder.
Dann sind da die ganz kleinen Fliegen, die nerven, wenn sie dir dauernd um den Kopf rumfliegen. Diese ganz kleinen Fliegen tun alleine nichts, aber wenn du irgendwo so einen (mini-) Biß von der plaga hast, hast du sofort auch ein halbes Dutzend dieser kleinen Fliegen dran, die drin rumschlabbern und verhindern, daß die Wunde schnell zuheilen kann.
Eine Art Bremsen gibt das auch, die sind selten, aber ein paarmal am Tag besucht uns auch mal eine. In Belize nannten sie die "Doctor-Fly", die sind etwa so groß wie Wespen, etwas lauter im Flug, haben aber vom Aussehen her eine ganz starre, militärische Art drauf. Wenn sie dich einmal gefunden hat, läßt sie nicht locker, bis du sie zerklatscht hast. Du beschäftigst dich dann 3 Minuten mit nichts anderem als mit diesem Vieh, und irgendwann hast du's. Eigentlich schade, denn es sind wirklich schöne Tiere, der Körper ist meist grün, und ganz große, grün-blau-violett schimmernde Facettenaugen haben sie. Erfolgreich gebissen hat mich noch nie eine, die kann gar nicht so beißen, daß es Menschen nicht merken.
Aber Freunde gibt's auch. Manchmal schwirren einige Libellen um mich herum, die fangen sehr geschickt das kleine Fliegenzeug weg, und die etwas größeren plaga trauen sich dann gar nicht mehr in meine Gegend. Sowieso die Libellen. Ich hab's gern, wenn sie sich mal auf meine Hose setzen. Wirklich nette, freundliche Partner. Die summen und fiepen auch nicht, klappern höchstens ein bißchen mit den Flügeln. Schöne Tiere, es gibt welche in den leuchtendsten Farben, ich zähle mindestens 20 verschiedene. Artenreichtum im tropischen Urwald. Natürlich auch die Schmetterlinge und die Käfer, Blattheuschrecken, immer wieder schönere, buntere, oder perfekt angepaßte. Wer will die zählen.
 

Wer den Tiger hat...

Es geht wieder weiter. Wenn sie am Ufer entlangstaken, haben sie manchmal steinigen Untergrund, dann geht's am besten, manchmal ist er schlammig, das geht schwerer, da sinken die Stangen ein. Ab und zu, besonders wenn der Wald bis ganz an den Fluß geht, so wie jetzt, ragt alles mögliche Gebüsch ins Wasser am Ufer, oder ganze Bäume sind der Länge nach über das Flußufer gefallen, alles übereinander, dünne Äste, dicke Äste, wieso sitzt da jetzt 'ne Katze drauf, Baumstämme, große Wurzeln, und da können sie sich dann an den Ästen abstoßen mit den Stangen, das geht auch ganz gut. Wir kommen etwa mit guter Schrittgeschwindigkeit voran... was war das eben, 'ne Katze?, das geht doch gar nicht hier... He, warte, halt mal an - nochmal zurück.
Was ist jetzt das? Die sitzt da auf dem Baumstamm über dem Flußufer, wir treiben in etwa 5 m Entfernung nochmal langsam dran vorbei. Groß wie eine Katze, Schnurrhaare wie eine Katze, Wuschelschwanz wie eine Wuschelkatze, Ohren wie eine Breit-Ohren-Katze, aber ganz schön fett für eine Katze, und der Kopf ist etwas größer. Und hat hellgraues, zart geflecktes Fell... gut, die Angaben reichen, vorläufige Diagnose: ein junger Jaguar, ein Baby, paar Wochen alt, ohne Mutter.
Wir fahren nochmal dran vorbei, er haut nicht ab. Wohl bißchen verstört, der Kleine. Sein eines Auge ist kaputt, fangen läßt er sich leicht, sonst ist er aber gesund. Limi auf mískito, auf spanisch heißt er tigre. Was machen wir jetzt? Wenn er keine Mutter mehr hat, kommt er so nicht durch, er ist zu klein. Die beiden Indianer:
"Weißt du was, den nehmen wir mit, für die Kinder, was meinst du, wie die kucken werden. Wenn man ihn richtig erzieht, bleibt er auch zahm."
"Hm. Mitnehmen. Und was sollen wir ihm zum Essen geben?"
"Fisch?"
"Na, dann können wir ja jetzt für 4 Leute angeln...", Lachen.
Tigre in den Sack, und weiter zu viert. He, die haben sich ja eben auf mískito unterhalten, die beiden, das war ja gar kein spanisch, und ich habe das verstanden.
Aber Pech, sie finden keinen guten Baum, überall enthalten sie diesen Pilz.
"Wenn wir in den nächsten 2 Tagen auch nichts finden, fahren wir zurück nach Wampusirpi."
Ratlosigkeit. Immer häufiger fällt der Ausdruck nu apu, "ich weiß nicht", wenn sie sich unterhalten. Schon am nächsten Tag wollen sie nicht mehr noch weiter flußaufwärts und kehren wieder langsam um.
Abends auf der Kiesbank liegt wenig Feuerholz. Also geht einer der beiden ein Stück hinter, wo mehr liegt, und kommt zurück mit einer 1,30 m langen, grünen Echse, ein träges Tier, wie so'n Leguan, die haut auch nicht ab.
"Futter für tigre!", als lebender Vorrat, sozusagen. Es reicht, der Echse ein schweres Stück Holz auf den Schwanz zu legen. Scheint die nicht groß zu stören.
Aber der kleine Jaguar will noch nichts fressen, keinen Reis, keine Bananen, keine Yuca, keine 1,30 m langen grünen Echsen, auch keinen Fisch, nur ein bißchen Wasser trinkt er.
Ja, die Tierwelt ist hier wesentlich reicher als in Europa. Auch die vielen Arten von Eidechsen, im Fluß gibt's schwere Schildkröten, die Spuren von Krokodilen am Flußufer, der Tag ist voll mit Vogelstimmen, hunderte von Arten in den Bäumen, die wenigsten bekomme ich zu Gesicht. Grad wenn sich der Reiher einen Fisch aus dem Fluß fängt oder die Papageien sich mal in einen lichten Baum am Ufer gegenüber setzen.
 

Und nachts hämmern die

Spechte.

Aber mit Ausdauer. Dann wird's erst richtig laut, hier an dieser Hauptverkehrsverbindung. Da brüllen und keuchen die Affen, zirpen die Insekten, quaken und pfeifen die Frösche und Kröten, und am meisten Lärm machen die Spechte... bis ich kaum noch die Mücken hör, wenn sie dicht an meinem Ohr vorbeifliegen. Nächtliche Ruhe scheinen die beiden Indianer auch nicht gewohnt zu sein: kommt oft vor, daß sie mit laufendem Radio einschlafen. Das gibt mir dann immer den letzten Rest: nun höre ich die Stechmücken gar nicht mehr.
Gegen die muß ich mir schon einiges einfallen lassen. Lange Haare sind gut zum Verjagen und schützen den Hals. Die lange Hose möglichst auch im Schlafsack anbehalten, aber bei den Temperaturen schon weniger angenehm ist der warme Pullover. Wenn's schlimm wird, nehme ich das Handtuch über den Hals, in Mexico hab ich auch schonmal (im Freien) mit Stoffsack über dem Kopf geschlafen. Vorteil eines Sonnenbrandes im Gesicht: du spürst jede Mücke, die sich auf deine Haut setzt.
Endlich finden sie einen tauglichen Yulu-Baum, etwa 3-400 m weit vom Fluß weg, mitten im Urwald. Sie bauen ein Gerüst um die Pfahlwurzel, und mit der Axt fällen sie an einem halben Tag den 4 Fuß starken Waldriesen um. Das kracht und staubt ganz schön, als er mit Getöse runtergepest kommt, bergabwärts, er reißt die Kronen einiger anderer Bäume gleich mit um, mehr als 10 m schleudert es ihn von der Wurzel ab. Sie untersuchen ihn nach Pilzen, und - er ist gut. Sie haben Glück gehabt. Der Baum wird so liegengelassen, wie er hingefallen ist, und sie müssen die Gerüste zum Arbeiten außen stabil drum herumbauen.
Also noch nicht zurück nach Wampusirpi... Camp auf der nächsten Kiesbank. Wieder eine von den Nächten mit Pullover. Tigre plagen die Insekten nicht, der ist im Sack. Mit einem Strick anbinden wollen sie ihn nicht, könnte er vielleicht durchbeißen. Eigentlich wollte ich heute abend wieder ein bißchen die Sterne beobachten, aber es ziehen lauter Wolken vorbei und dann bringt's das nicht, also leg ich mich hin. Indio ist wohl ganz schön fertig vom arbeiten und hat sich auch schon hingelegt, Primo erlegt noch ein paar Flußkrebse für morgen früh.
"Limi kaíkri !! Limi bálan !" - hä, was?
Ich bin noch nicht ganz eingeschlafen, da kommt Primo ganz aufgeregt zum Zelt, "¡Vine tigre!", er hat die Jaguarmutter gesehen. Wir sind sofort hoch. Wo ist der Sack mit dem Jungen - hier, da ist der Sack, ja, der Sack ist noch da, aber keine Spur von Tigerchen. Gut zugebunden wie letzte Nacht hatten sie ihn auch nicht, nur 3 schwere Steine draufgelegt, die liegen jetzt daneben.
Tigergeschichten. Da muß die Jaguarmutter in der Zeit tatsächlich angekommen sein und ihr Junges befreit haben, und wir haben nichts gehört. Indio lag keine 2 Meter daneben. Klar ham wir nix gehört - er mußte ja wieder "Voz de Nicaragua" bis spät in die Nacht laufenlassen, ja, okay, ich sag ja nichts, manchmal senden sie ja auch in mískito.
"Die ist fei verdammt gefährlich, die Mutter, wenn sie Junge hat", erklärt er, "bist du allein und nur mit Machete bewaffnet, hast du null Chance."
Klar, wenn die ihr Leben für ihr Junges einsetzt, Prost Mahlzeit. Dann geht's rund. Dann mußt du schon viele CLEVER & SMARTs gelesen haben, um dir vorstellen zu können, wie du dann aussiehst.
Wir hatten Glück, daß sie es so leicht befreien konnte, und sozusagen nicht auf unsere Hilfe angewiesen war, was auch immer sie sich darunter vorgestellt hätte... mit den 3 Steinen muß sie sehr vorsichtig umgegangen sein.
"Ja, von Natur aus haben sie auch Angst und kommen nicht zum Zelt."
Also weg Tigerchen. Am Morgen können wir es auch deutlich an den Stellen, wo Sand ist, sehen: dicke, fette Jaguartatzen...

"Das wirst du können müssen, wenn wir wieder hierher zurückkommen", meint Primo zu mir, als es mir dann am letzten Tag auch mal gelungen ist, mit der Leine in der Hand ein paar Fische zu fangen. Langsam geht es jetzt wieder zurück, sie können ja noch nicht anfangen zu arbeiten, weil sie nicht genug Vorrat dabeihaben. Der Baum sei gut, sie freuen sich immer wieder darüber. Sie können daraus ein 3½ bis 4 Fuß breites bílamanka hacken, ein Meeres-Einbaum, auf spanisch sagen sie cayuco. So eins, neu, ist hier etwa soviel wert wie in Deutschland ein guter Gebrauchtwagen. Sie freuen sich immer wieder darüber.
(...)
 
Brief FORUM 6
25. März 1988, am Río Patuca, südlich Wampú, südlich des Río Wasparasní, Olancho, Honduras.  (zuendegeschrieben in Wampusirpi)

(...)
Ich komm nach 2 Wochen also wieder zurück nach Wampusirpi, und Cristela, die Freundin von Faustino, ist immer noch hochschwanger. Indio bietet mir ein Holzbett in seinem Haus an, wo ich schlafen kann. Mir war es am Ende ja bei Elena ein bißchen unwohl geworden: den ganzen Tag hing ich nur bei Indio rum, und grad zum Schlafen kam ich zu Santiagos Haus.
Auch Indios Holzhaus steht auf Pfählen, es hat ein Naturdach aus Palmwedeln. Die Treppe führt hoch zu einem Flur, wo der Eßtisch steht, und links und rechts ist eine Tür. Auf der linken Seite ist die Küche, auf der rechten der Wohntrakt mit einem größeren Zentralraum, wo mein Holzbett steht und paar Hängematten hängen, und 4 kleine Zimmer gehen von diesem Zentralraum ab.
Nächsten Montag soll's weitergehen. Okay -. diese Sprache verstehe ich bereits... Eines morgens 2 Wochen später wird mich Faustino wecken, ich soll aufstehn, heute geht's ab in die Berge. Bis dahin kann ich mir noch ein bißchen die Sterne anschauen.
 

Den Abwasch machen...

Oder den Abwasch machen. Eine von den kleinen Mädchen lacht, vielleicht weil ich so groß bin und die Spüle so niedrig, aber die anderen sagen nichts, bei sich sagen sie ja auch nichts, der Abwasch ist halt da und irgendjemand macht ihn halt.
Testmethode, wie sind die Völker drauf. Machst du (männlich) den Abwasch, werden sie sich vielleicht freuen, daß du ihnen die Arbeit abnimmst, also, sie finden das gut. Hier ist es so, oder in Deutschland auch. Oder, wie in der Türkei oder in Mexico, sie versuchen, dich mit aller Kraft daran zu hindern, weniger, weil du Gast im Haus bist, nein, der Abwasch, das ist Frauensache. Frauen die Arbeit abzunehmen, das wäre mal das richtige für Mexico.
Manchmal ist es ganz spaßig, die Leute auf paar abwegige Gedanken zu bringen. In Mexico interessieren sie sich immer für das fortschrittliche europäische Land, aus dem ich komme. Gut, erzählen wir ihnen mal was von Alemania.
Paraje, Veracruz: Norma ist 18, und den ganzen Tag ist sie im Haus dabei. Einen Sonntag hat sie auch nicht. Ich frage, ob ich ihr bei der Wäsche helfen kann.
"Nein, nein, das geht nicht."
"In Deutschland helfen die Männer den Frauen bei der Arbeit im Haus.", meine ich zu ihr.
Ob sie das beeindruckt, zeigt sie mir nicht. Am nächsten Tag kriege ich zufällig mit, wie sie's ihrer Mutter erzählt.
Die Söhne Mexicos tun den ganzen Tag, wenn keine Schule ist, buchstäblich nichts. Rumhängen, mal den Hund ärgern, oder ihre Schwester, die das Haus ausfegt, baden im Fluß, Fußballspielen, unter der Veranda sitzen und den Mädchen auf dem Weg nachpfeifen (das darf aber nur, wer älter als 3 Jahre ist), oder sich auf der Bank vor dem Haus mit dem Gringo zu unterhalten. Norma kommt mit Wasser vom Fluß.
"Wie schaffen die das, über die weite Strecke den 20-Liter-Wassereimer auf dem Kopf zu tragen, ohne daß was verschüttet?", frage ich die Witzbolde.
"Weiß nicht, wie die das machen."
"Könnt ihr das nicht?"
"Nein", er lächelt bei dem Gedanken daran, "nein, wir können das nicht."
"Und wieso können die das?"
"Son mujeres: tienen la cabeza plana." - das sind doch Frauen, die haben eben einen platten Kopf.
Es müßten mal ein paar Gringos sich hier ein Haus kaufen, hier eine Zeitlang wohnen, und immer die Männer zum Wasserholen an den Fluß gehen. Was meinst du, wie schnell sich das hier ändern würde, mit den platten Köpfen. Ich würde dir das richtig gönnen. Manchmal fehlt mir ja wirklich der Respekt vor den Traditionen der Völker...
Auch in Wampusirpi wird das Wasser nach dieser Methode von Frauen geholt, von der Quelle. Vor allem für den Abwasch und zum Kochen. Ich frag, ob sie mir zeigen wollen, wie das geht.
Hier erklären sie es mir gerne. Sie selber machen es immer mit 20 Litern, davon verschwappt ein bißchen, also gut, 19. Eine, die ist zierlicher gebaut, nimmt nicht ganz so viel Wasser rein, und nimmt den Eimer nicht direkt auf den Kopf, sondern legt ein Tuch dazwischen. Ein Tuch habe ich auch, sie zeigt mir, wie es gefaltet wird, wie der Eimer auf den Kopf gehoben wird, und vor allem, wie er wieder abgenommen wird. Das letzte ist das schwierigste, da müssen sie mir die erste Woche immer helfen dabei. Das mit den 20 Litern lasse ich ganz schnell sein, ich bin froh, wenn ich mit 10 Litern am Haus ankomme. Ich nehme mir vor, zu trainieren, jeden Tag mindestens zweimal, und nach 2 Wochen habe ich mich auf 12 Liter gesteigert. Es ist ganz interessant zu beobachten, was da alles für Muskulatur trainiert wird. Ich bin stolz darauf, etwas zu können, was die Söhne Mexicos nicht können.
"Bis sie 10 Jahre alt sind, lernen die Jungen das hier auch", meint Elena zu mir, "Ganz so schlimm, wie du es mir von Mexico erzählst, ist es hier nicht. Aber trotzdem - hier gibt es auch viel machismo."
Machismo, das war ihr Wort gewesen. In Mexico habe ich es nicht gehört.
Von Natur aus scheinen die Mískitos wie viele andere Indianer eine ziemliche Gleichberechtigung draufzuhaben. Wenn sich das langsam ändert, dürfte das auf den schlechten Einfluß der Mestizen zurückzuführen sein, also letzten Endes der Spanier. Nicht aus dem Fernsehen, das gibt es hier zum Glück noch nicht.
Allein, indem sie die spanische Sprache lernen, müssen sie lernen, ständig und in allen Situationen die Menschen nach den Geschlechtern zu unterscheiden. Spanisch ist etwa so sexistisch wie deutsch. Im mískito gibt es gar keine geschlechtsbezogenen Pronomen wie "er/sie" (in anderen Indianersprachen auch nicht), die müssen das ganz kompliziert ausdrücken, wenn sie irgendwas nur weiblich oder nur männlich haben wollen.
Manchmal hat der Unterschied zwischen Mestizen und Indianern interessante Seiten. Ich bin nicht der einzige Europäer am Patuca. Sie erzählen mir von Bettina, weil die auch aus Deutschland ist, und in einem der Orte viel weiter oben am Patuca arbeitet, bei den Zumu-Indianern.
"Was für Arbeit?"
"Weiß nicht." -
"Weiß ich auch nicht genau, was die hier macht." -
"Nein, wissen wir nicht, die arbeitet halt hier." -
"Doch, die stellt doch irgendwelche Kunstgegenstände aus Ton her und verkauft die nach Tegucigalpa weiter."
Später habe ich erfahren, daß die Frau sich Gelder über ein deutsches Entwicklungshilfe-Projekt organisiert hat und seit ein paar Jahren mit den Zumus arbeitet.
Ein Mestize würde nur sagen, die wohnt hier, er würde für eine Frau ungerne das Wort arbeiten verwenden. In vielen Gegenden der Welt ist es einfach nicht denkbar, daß eine Frau ihr Land verläßt, weil sie irgendwoanders arbeiten will. Hier scheint es selbstverständlich zu sein.
Eine Frau, die auf eigenen Beinen steht, vor gar nicht so langer Zeit war das in Mitteleuropa noch etwas wahnsinnig Ungewöhnliches oder zumindest ultra-Fortschrittliches. Toleriert allenfalls in den Großstädten.
Ein bißchen unsicher wirken die Mädchen, die ohne T-Shirt im Fluß baden, als wir an ihnen vorbeistaken, sie gehen vorsichtshalber bis zum Hals ins Wasser. Wir sind fremd, und sie wissen nicht, was wir für Benehmen draufhaben. War es früher anders hier, oder sind die älteren Frauen von Haus aus mutiger?
Bestimmt 50 oder 55 war die Frau, sie haben sich mit ihr, langsam vorbeistakend (sie stand bis zum Bauch im Wasser) ein bißchen unterhalten. Indio kannte sie wohl. Vielleicht war sie die Bürgermeisterin. Sie dachte gar nicht daran, ihre Brust zu verdecken. Genauso, wenn sie ihre Kinder stillen: Brust raus, Schreihals ran, Ruhe. In Mexico hatten sie da 'ne komplizierte Konstruktion aus Tüchern, oder sie mußten ins Haus gehen, auf keinen Fall durfte einer der Männer das sehen. Von den Mískito-Indianern werden die Frauen nicht ihrer Brüste wegen diskriminiert. Sie steht im Wasser, und sie spricht mit Würde: mit der ganzen Würde einer Frau.
 

Nichts wie weg - die

Sandinisten kommen !

Abend in Wampusirpi. Ich komme gerade vom Scheißhaus und geselle mich zu den Leuten, die vor Indios Haus stehen. Hitzige Diskussion. Um was es geht, krieg ich wieder mal nicht mit. Die Frauen besonders aufgeregt. Irgendwie scheint es wieder um Sándino zu gehen. Margerita erklärt's mir dann.
"¡Vienen Sándino! Die Sandinisten kommen! Hier, nach Wampusirpi, viele, Militärs, Guerilleros, wir müssen schnell flüchten, mit dem Boot da unten, unsere Sachen packen und ab!"
"Hä? Wieso hierher? Was wollen die denn in Wampusirpi?"
Einige 100 Flüchtlinge leben im Lager am Ort, das wäre natürlich ein Angriffsziel für Nicaraguas Regierungs-Guerilleros. Ach was, das ist doch Quatsch.
"Es ist natürlich deine Sache, ob du hierbleibst oder nicht, also wir fahren ab... und an deiner Stelle würde ich auch schnell weg hier. Du siehst aus wie ein US-Gringo, die erschießen dich und fragen nicht lange, ob du aus Deutschland kommst."
Ein Scherz ist das Ganze nicht, das wäre nicht ihre Art.
"Wann wollt'n ihr weg? Jetzt gleich?"
"Ja, packen und los."
Was wollen die denn hier? Das haut doch nicht hin. Bin ich jetzt total vertrottelt? Das wirft doch alles über'n Haufen, was ich bisher über diese Sandinisten... also noch mal von vorne, im Zeitraffer, viel Zeit ist nicht.
1. Bis 1979 hatten sie Somoza, den großen Diktator. Nachdem sie ihn rausgeschmissen hatten nach dem großen Erdbeben, hat sich die sandinistische Regierung in Nicaragua etabliert.
2. Die Somoza-Fans (und hinterher auch andere) gingen nicht in den Untergrund, sondern über die Grenzen, nach Costa Rica, und die meisten nach Honduras. Und weil jetzt die schlimmen Sandinisten einigermaßen erfolgreich gegen die wirtschaftliche Abhängigkeit des 3-Millionen-Volkes von den USA regieren, bekommen deren Gegner (die "Contras") vom großen Cowboy aus Washington (Reagan) Geld und Waffen, um das Land wieder aus diesen bösen Händen zu befreien.
3. Die meisten Contras (FDN) kämpfen in den Bergen, Department Olancho. Hier bei uns in der Gegend gibt es zwar Flüchtlinge, aber keine bewaffneten Contras.
4. Auf dem Einband des Reiseführers Per Anhalter durch die Galaxis stehen in großen freundlichen Buchstaben die Worte KEINE PANIK.
"Zu Fuß kommen die? Wie weit sind die denn schon? Das ist doch hier über 100 km von der Grenze, dazwischen ist der Urwald. Das dauert doch lange, bis die hier sind, mindestens 2-3 Tage, wenn die die Wege auch alle kennen."
"Nein, bis Mocorón kommen die ganz schnell. Der Urwald danach, das ist nicht soviel, die sind schnell hier, 1 Tag, nicht mehr, wir müssen weg."
"Aber die können doch nicht einfach hier einmarschieren, Honduras hat doch auch Militär."
"Schon, aber du siehst ja: 4 Leute hier am Ort."
"Wo habt ihr denn die Information her? Über den Funk von Don Ignacio?"
Hätt ich vielleicht auch früher fragen können.
"Sagen doch alle hier, siehst du das nicht?" -
"Woher? He, wer hat denn das gesagt, daß die Sandinisten kommen?" -
"Weiß nicht, wer das gesagt hat." -
"Nee, nicht über den Funk von Don Ignacio." -
"Nee, sie hams im Radio durchgesagt."
Hm. Vielleicht Sunny Radio aus Puerto Lempira, dem Hauptort vom Department Gracias a Dios, liegt an der Caratasca-Lagune. Der einzige Sender in der honduranischen Mosquitia, Privatradio mit entsprechendem Niveau, "lo mejor en onda corta". In spanisch und mískito, abends auch in zumu, und manchmal versuchen sie sich auch in englisch. Sendet vormittags und abends, "das beste auf der Kurzwelle". Macht aber nicht gerade den Eindruck, als hätten sie ein landesweites Netz an Redakteuren.
Oder Radio Sandino? "Hallo Jungs, adelante! Heute geht's nach Honduras, über die und die Strecke, die und die Orte! Und wenn die USA nicht bald mit ihren Waffenlieferungen an die Contras aufhören, marschieren wir gleich durch... Mexico hat uns schon freien Durchzug zugesagt!" - Laß den Quatsch.
"Teym bálisa, ísparakung brísna...", meint eine Frau.
"Mensch, die haben Maschinengewehre, mit der Machete richten wir da doch nichts aus!", ein anderer.
"Wir müssen weg", meint Margerita, "wenn die hier um den Ort kämpfen, schießen die rücksichtslos auf alles, was sich bewegt!"
"Das gibt hier keine Kämpfe", ein Optimist.
"Meinst du. Ja, unsere werden sich wohl gleich ergeben, aber ich denke, die vom Flüchtlingslager werden sich mit allen Kräften verteidigen. Ich hab gehört, die wollen bleiben." - Andere sagen das auch, daß die vom Lager bleiben wollen.
Endlich, einer, Véltran, weiß wo sie's herhaben.
"Also, es ist so. Das honduranische Militär ist in Alarmbereitschaft versetzt worden, weil die Sandinisten an der Grenze aufmarschieren. Es besteht quasi Mobilmachung. Ich glaube auch, die hier werden sich ergeben. Nur eben die vom Lager... aber trotzdem, warum sollten die hier bei uns im Ort kämpfen?"
"Mensch, siehst du nicht, die Sándinos", meint die Freundin von Margerita, schon allein der Begriff löst hier wohl schon Panik aus, "wir müssen los! Packen und los. Sofort. Also ich bin dafür, daß wir losfahren. Du doch auch. Du auch. Und du auch, oder?"
Einen hohen Respekt vor eurem praktischen Verständnis von direkter Demokratie... aber trotzdem, ich weiß nicht so recht.
"Wo wollt ihr denn hin?" - Ja, wohin.
"Nach Belize -", meint einer.
"Hombre, vor 5 Wochen war ich in Belize, wißt ihr wie weit das ist, und mit dem duri kommt ihr doch nicht über's Meer." - oh, das hat wohl Eindruck gemacht, und sie hören mir zu - "Außerdem ist da auch Krieg, die ham'n Grenzkrieg mit Guatemala, die werden euch willkommen heißen."
"Was schlägst du denn vor?"
"Vielleicht geht mal einer zur Comandancia, die wissen doch bestimmt mehr." - Okay, Véltran und 2 andere gehen hin.
Ob ich nicht Angst vor den Sandinisten hätte. Scheint wohl das Werk der Flüchtlinge hier am Ort zu sein, die den Leuten nicht gerade das beste Bild von den Sandinos übermitteln. Die haben die Sandinisten nur von ihrer schlimmsten Seite kennengelernt. Sie erzählen von den abgebrannten Häusern und daß ihnen die Haustiere getötet wurden... obwohl es ein Programm zur freiwilligen Wiedereinbürgerung gibt, trauen sich die meisten noch nicht zurück, "die werden mich ermorden, wenn ich zurückgehe.".
Véltran und die anderen kommen zurück. Er hat mit den Militärs gesprochen, erklärt alles, alle hören zu, bis er fertig ist, und die Leute sind beruhigt. Ein Wort von den autoridades ist halt schon immer was wert. Auch die Frauen sind beruhigt. - Und auf spanisch?
"Ach so! Also, es ist so. Folgendes: sie sind in Bereitschaft versetzt worden, weil die Gefahr besteht, daß die Sandinisten über die Grenze kommen."
"Wo, wissen sie nicht?"
"Nein, das wissen sie nicht, es besteht nur genereller Alarmzustand."
"Und was sollen wir machen?"
"Gut, also sie sagen, daß wir die Ruhe bewahren und heute abend zeitig im Haus sein sollen."
Diese Militärs sind manchmal gar nicht so schlecht.
Genereller Alarmzustand, das verlesen sie schon mal in Sunny Radio. Später wird klar, daß es ein rein politischer Schachzug war: die honduranischen Militärs sehen's halt nicht so gerne, wenn die Sandinisten über die Grenze kommen und Stellungen der Contras in den Bergen angreifen.
 

Cristela

Ich fühl mich ja öfters genervt, wenn sie sich bis spät in die Nacht unterhalten, aber diemal ist es mitten in der Nacht. Irgendetwas haben diese Sonntage an sich... erst spät merke ich, was wirklich los ist: bei Cristela ist es soweit. Die Wehen haben eingesetzt. In ihrem Zimmer geht es wohl nicht so gut, also richten die Frauen in meinem Raum etwas her, mit Tüchern haben sie schnell einen eigenen Raum abgespannt, alles bei Kerzenlicht. Strom gibt es hier nicht. Auf dem Boden wollen sie das machen. Mein Holzbett ist auch nicht so gut zum Kinder kriegen.
Aber die Geburt scheint komplizierter zu sein, sie sind irgendwie unruhig. Die Großmutter und noch eine andere Frau mit wohl etwas mehr Erfahrung werden herbeigeholt, warten... um 2 oder 3 Uhr nachts... ich schlafe wieder ein.
Als ich wieder aufwache, ist mehr Hektik im Raum. Sie sind mit Cristela wieder in ihr Zimmer gegangen, auf dem Boden dahinten, das war vielleicht doch nicht so gut. Nicht wegen mir, das hat die nicht gestört.
Hier werden die Kinder nicht bei Neonlicht im sterilen Krankenhausbett geboren, Arzt, Hebamme, alle anderen raus, hier ist das bei der Familie im Haus. Okay, die Kinder schlafen halt gerade, die sind jetzt nicht dabei.
Der Ausdruck saura fällt, es scheint tatsächlich nicht so gut zu gehen. Faustino und 5-6 Frauen sind in Cristelas Zimmer, alle schwätzen aufgeregt durcheinander, jetzt wird's wohl spannend.
"Schnell, eine Hühnerfeder, schnell!" - Faustinos Mutter pest runter in den Hof, reißt dem nächstbesten schlafenden Huhn eine Feder aus und kommt Sekunden später wieder rauf. Einen Augenblick ist Ruhe. Zwei.
Die Großmutter gibt ab und zu ein paar Anweisungen, aber die Ruhe wird bleiben. Und Freude wird nicht einkehren.
Schwere Gesichter am Morgen. Cristela hat Zwillinge geboren, aber im 7. Monat, und die können in der Regel so nicht überleben. Sie stellen einen Tisch im großen Raum auf, dort legen sie sie drauf, gewaschen und in weiße Tücher gewickelt. Mit Kerzen, die Großmutter wacht daneben.
Cristela bleibt auch nicht im Bett liegen, wie in Europa in den Krankenhäusern, sie ist ja nicht krank, hat es ganz gut überstanden.
Für 3 Tage kommen jetzt alle möglichen Leute aus dem Dorf, um die beiden anzusehen. Ein bißchen ein komisches Gefühl ist es ja schon, zusammen mit den beiden Toten in einem Raum zu schlafen, aber die gehören ja auch dazu.
Véltran scheint auch irgendwie zur Familie zu gehören, er zuckt mit den Schultern, als er die beiden gesehen hat, und wirft mir einen Blick zu, als wollte er sagen, "Im 7. Monat, was war denn anderes zu erwarten..."
Und das Leben geht weiter. 3 Tage später bringt auch Cristela wieder ein Lächeln über ihre Lippen.
Ja, Kinder gibt es viele in Honduras.
"Jede Frau möchte hier möglichst 15-20 Kinder in ihrem Leben bekommen", meint Seberino zu mir.
"In Deutschland haben die Leute nicht so viele Kinder, 1 oder 2, nicht mehr, 3 ist schon viel."
"Wieso, wird das von der Regierung verboten?"
"Nein nein, im Gegenteil...", ich erzähl ihm von Kindergeld, das wär was feines hier, "weißt du, das geht aber nur, wenn nicht alle Leute 15-20 Kinder haben möchten, das ist der Trick dabei..."
 

Mariposa

Mariposa wurde von einer Schlange ins Ohr gebissen. Mariposa ist der Köter aus Indios Haus. Einer von denen, die so dumm sind, daß sie sogar die Kühe und die Pferde anbellen, die immer irgendwo im Dorf rumtrotteln. Mariposa geht mir bis zum Knie und hat helles, ockerfarbenes Fell.
Sie waren mit den Hunden nur kurz ans andere Ufer gefahren, die Köter freuen sich halt auch mal, wenn sie mal woanders hinkommen... und am Ufer haben sie beim Aussteigen wohl nicht richtig aufgepaßt und sind ins Gras gesprungen und haben die Schlange nicht gesehen. Oder sie haben die Schlange erst noch dick angebellt, das sähe ihnen ähnlich. Jedenfalls war die Schlange erstmal erfolgreicher als die Hunde. Frontera, den Nachbarhund, hat sie auch gebissen.
Schlange heißt pyuta auf mískito. Die Leute sagen, wenn eine Schlange einen Menschen beißt, wird er in jedem Fall sterben. Ich frage sie, was für eine Schlange es denn war. Als die giftigste Schlange der Welt  wird hier in der Gegend die barba amarilla bezeichnet, eine kleine gelbgrüne Art, die es in den Llanos gibt, dem Grasland mit vereinzelten hohen Kiefern, die da rumstehn, offenbar nicht im Urwald. Die soll giftiger sein als die Schwarze Mamba.
Die Schlange, die die Hunde gebissen hat, war groß, sie haben sie mit Machete getötet. Sie denken, je größer die Schlange ist, desto giftiger ist sie. Ich habe den Verdacht, sie haben von Schlangen genausoviel Ahnung wie die Leute in Island oder wie die Eskimos. Sie kennen die einzelnen Schlangenarten gar nicht.
Für Mariposa sieht es schlimm aus, der Hund blutet ganz stark aus dem Ohr, seinen Kumpel Frontera hat die Schlange wohl nicht richtig erwischt. Ich sehe mir Mariposa näher an. Ausgerechnet ins Ohr mußte sie ihn beißen, genau an der Wurzel vom Ohr, da hat er ja keine Chance, man kann ihm ja nicht den Kopf abbinden.
Sie wissen ein Heilmittel, entweder es ist Einbildung, oder es hilft vielleicht bei Menschen manchmal. Ich bin skeptisch, denn wie können sie ein generelles Mittel gegen Schlangengift kennen, wenn sie nicht einmal die einzelnen Schlangenarten auseinanderhalten können? Vielleicht hilft es ja gegen das Gift einer ganz bestimmten Art, vielleicht einer häufigen. Sie zerkochen irgendein Gewächs, und weil er das freiwillig nie schlappern wird, müssen sie's ihm mit Gewalt eintrichtern.
Das ist 'ne Gaudi, sie schaffen es auch zu dritt nicht, die Hündin Mariposa wehrt sich nach Kräften, und erfogreich. Ich kann ja die miesen Köter nicht ab, aber zusehen, wie die 3 mit Mariposa umgehen, kann ich auch nicht. Sie kucken mich ein bißchen ratlos an.
"Witin díras -", er/sie trinkt nicht. Weiß ich vielleicht ein Mittel? Nein, von Hunden hab ich doch auch keine Ahnung. Ich weiß nur, daß sie nerven, wenn man abends mit Rucksack an einer Straße langlatscht und von einem Köterrevier ins andere kommt. Und daß ich nicht schlafen kann, wenn 2 oder 3 Sauhunde die Nacht durchbellen.
Sie rasieren Mariposa die Wunden sauber - eine Wunde am Kopf sieht nicht so schlimm aus, aber die aus dem Ohr blutet immer noch. Sie füllen die grüne Pampe, für die Hündin muß es ekelhaft riechen, in eine Flasche, wollen ihr das Maul aufreißen und das Zeug gluckgluckgluck in den Hund reinkippen. Na, wenn das mal was wird. Wird es aber nicht. Sie schaffen es nicht, ihn festzuhalten. Dieser Hund hat es anscheinend überhaupt nicht gerne, wenn ihm die Kehle zugedrückt wird... Wenn er das Zeug aber nicht trinkt, wird er in jedem Fall verrecken, sagen sie.
Also gut, Köter, wolln mir mal nicht so sein, die Grüne Mumpitz war's ja nicht, vielleicht besteht ja noch 'ne Überlebenschance. Ausgerechnet im Umgang mit ihren Haustieren kennen sie sich kein bißchen aus. Erstmal die Beine zusammenbinden, mit Stricken, die hab ich im Rucksack. Aber eine Idee, wie man einen halben Liter grünen Pflanzensaft in einen Hund reinkippt, habe ich leider auch nicht. Immerhin kann er sich jetzt nicht mehr mit den Füßen wehren, und zu viert schaffen wir es in einer halben Stunde auch einigermaßen gut, den Pflanzensaft größtenteils auf dem Boden zu vergießen. Bis das Schauspiel jetzt vorbei ist, habe ich noch ein wenig Zeit, etwas über das Verhältnis der Leute hier zum besten Freund des Menschen zu erzählen.
Der beste Freund des Menschen... In Paraje, Mexico, meinten sie zu mir, sie hätten die Hunde bis vor kurzem noch gegessen. Tja, in Lateinamerika haben die Hunde eine andere Funktion als in Berlin-Reinickendorf. Hier als Verwerter von Essensresten, und vielleicht, um Besuch anzukündigen, durch lebhaftes Bellen.
In Elenas Haus, der kleine Knirps, selber an Volumen nicht größer als der große schwarze Hund, der in der Küche steht, nimmt Anlauf und tritt dem Hund voll in die Eier. Das Tier heult auf und verzieht sich jaulend unter den Tisch. Der kleine kann den Hund irgendwie nicht ab und trietzt ihn, wo er ihn trifft.
"Paß auf, der ist fei stärker als du", sage ich auf deutsch zu ihm, aber ich weiß, wenn er das verstehen würde, würde er mich nur auslachen. So lernen die Kinder hier, mit Hunden umzugehen.
Mit Haustieren allgemein übrigens, manchmal ist das zum Staunen.
"Huh!", macht die kleine Dreijährige auf der Wiese, und die im Vergleich riesige Kuh mit den riesengroßen Hörnern macht einen Bogen um die Kleine, als wär's ein Löwe. Auch vor den Hunden haben die Kühe Angst und weichen schnell zurück, wenn sie angebellt werden. Die Hunde wiederum haben Angst vor der Glucke mit ihren Küken und machen einen ganz großen Bogen um die.
Im Dorf laufen immer die Hühner, die kleinen Schweine und die Hunde frei herum, und manchmal kommen die Kühe auch an. Für die kleinen Kinder gefährlich ist es, wenn die Pferde angerannt kommen, da sind wohl schon mal Unfälle passiert. Aber die Kühe mit den großen Hörnern haben sie gut erzogen. Im Haus von Humberto haben sie einen grünen Papagei, der läuft da frei rum, kann nicht fliegen.
So, endlich geschafft, die Flasche ist leer und das Ergebnis ist, wir sind genauso fertig wie der Hund. Ovita hat eine Uhr - Mariposas Puls ist 98, hm, was haben Hunde für einen Puls? Frontera hat 80... etwas später hat Mariposa auch 82... also ich weiß ja nicht, ich räume ihr mehr Chancen ein als die Leute.
Nächster Morgen, erste Frage von Seberino an seine Mutter, die früher aufsteht:
"Ist der Hund schon tot?"
"Ja. Ja, ich glaube -" - Hat sie's nur geschätzt oder hat sie den Hund nur pennen sehen? Kurze Zeit später seh ich ihn jedenfalls noch relativ munter herumlaufen.
Aber ich sehe, was los ist: er blutet immer noch aus der Wunde am Ohr. Verdammt, das Gift dieser Schlange hat also bewirkt, das der Blutgerinnungsprozeß gestört wurde. Wenn das Blut nicht gerinnt, wird er verbluten, das ist klar. Er muß die ganze Nacht geblutet haben, es ist auch zu sehen, unter dem Haus, wo er geschlafen hat. Was würde denn da helfen... ? Ich versuche krampfhaft, die Blutgerinnung aus der Schule mir ins Gedächtnis zurückzuholen... wie war das jetzt nochmal... Fibrin und Fibrinogen gibt Fibrose... oder war's anders?
"Für jedes Gift gibt es ein Gegengift.", meine ich zu Seberino, aber er versteht nicht, was ich damit meine. Für ihn verreckt der Hund, weil die Schlange böse ist, und nicht, weil das Gift der Schlange irgendeine spezifische Wirkung hat. In der Klinik haben sie gar kein Mittel gegen Schlangengift, höchstens in Auas, aber das ist ein paar Tagesreisen flußabwärts.
Fibrinogen und Fibrin gibt Fibrose... Fibrinose.. nein, das waren 2 Komponenten dabei... mist, ich krieg's nicht mehr hin. Wie kriegt man Blut zum Gerinnen? Sie rühren nochmal das Heilmittel an, der Hund wehrt sich schon wesentlich weniger, er ist halt auch schon ziemlich fertig. Aber bis zum Abend blutet er weiter aus dem Ohr, tropf, tropf, tropf, die Wunde will einfach nicht schließen. Das Heilmittel hilft da auch nichts. Es ist kein gutes Gefühl, das mitansehen zu müssen, noch läuft er rum, aber schon total schlapp, er reagiert kaum noch, wenn Frontera und der schwarze Köter zum Pferde-an-bellen loslegen.
Nächster Morgen.
"Ist der Hund schon tot?"
"Nein, da, da ist er, der lebt noch."
Da läuft er immer noch rum. Wieviel Blut hat denn so ein Köter? Der muß doch schon mindestens 2-3 Liter verloren haben! Mal hingehn und ihn anschauen... - hey! Megamächtig, das Blut ist geronnen, die Wunde am Ohr ist dicht! Na, Hund, da hast du ja Glück gehabt.
Trotzdem, Mariposa ist total fertig, hat seit Tagen nichts gegessen, kann irgendwann auch nicht mehr aufstehen. Viel Blut zum Verlieren hätte dieses Tier ja nun wirklich nicht mehr gehabt. Die Wunde darf auf keinen Fall wieder aufgehn, sonst wird er wohl keine 2 Tage mehr Zeit haben, die Wunde zu verschließen. Meine Befürchtung ist, daß bei der Tageshitze der Blutdruck steigen könnte. Mariposa liegt vor dem Haus, wo tagsüber der Kakao und der Reis in der Sonne getrocknet wird. Wir tragen ihn besser unter die Veranda des anderen Hauses, da ist immer Schatten.
"Geht nicht zum Hund.", sage ich zu den Kindern, die danebenstehen. Er braucht jetzt Ruhe, Kühle, und was zu essen. Warte mal, Hämoglobin hat 4 Eisen-Atome... also muß er Eisen kriegen. Gut, rostige Nägel liegen hier genug rum. So, und was noch? Mal ins Haus gehn und im Buch "Donde no hay dóctor", dem Medizinbuch für die ländlichen Gegenden Mexicos, nachlesen, im Kapitel über Anämie...
Indio, Faustino und Seberino kommen an und wollen ihm das Mittel nochmal geben. Was? Nein, jetzt ist doch schon - ich mein, die Wirkung des Gifts hat doch schon - mist, wie sag ich ihnen das denn jetzt?
"Nein, nicht das Mittel geben, er wird nicht sterben, sieh ihn doch an, jetzt ist es schon gut."
"Doch, er wird sterben, wir müssen es unbedingt nochmal mit dem Mittel versuchen."
"Zuviel Medizin ist auch nicht gut, das ist dann wieder giftig. Das steht hier in dem Buch drin." - Mensch, Seberino ist doch kein Arzt. Indio ist auch dafür:
"Besser wir geben ihm das Mittel nochmal."
"Nein, ich denke, die Medizin braucht er jetzt nicht mehr, die Wunde darf nur nicht wieder aufgehn. Heute braucht er gutes Futter." - Er überlegt kurz, Futter war wohl 'ne Idee.
"Erst geb ich ihm das Mittel, und dann kriegt er gutes Essen.", hat er sich entschieden.
Na gut, was solls, zu dritt sind wir also wieder mit dem Mittel dabei, der schlappe Hund wehrt sich noch weniger als gestern, er weiß halt auch schon, um was es wieder mal geht.
"Und dann kriegt der Hund gutes Essen." Was kriegen wir? - Reis, Bohnen und gekochte Bananen. Und was ist gutes Hundefutter? - Reis, Bohnen und gekochte Bananen... Witin plun píras - er/sie ißt nicht.
"Das ist schlechtes Essen für den Hund", meine ich zu ihnen, "der Hund braucht Eiweiß, Proteine, dieses Essen nützt ihm nichts."
Ein bißchen komisch muß es sich für sie schon anhören... Fleisch, Fisch oder Eier für den Hund. Sie beobachten zwar, daß die Hunde das gerne essen, aber sowas ist teuer. Ich gehe zu Santiagos Haus, vielleicht schaffe ich es, ein wenig Milch zu organisieren. Ich muß es nur geschickt anstellen.
"Eine Schlange? Oh, der arme Hund."
"Ich glaube, er kann's überleben. Ich weiß eine Medizin, die wird aus Milch hergestellt, ich bräuchte dazu nur einen Becher Milch."
"Hundemedizin aus Milch herstellen? Kannst du das denn? Hilft das auch?"
"Ich habe die Schlange selber nicht gesehn, aber ich weiß, daß es so eine Medizin gibt. Ich will es mal damit versuchen."
"Milch. Wir haben aber nur abgekochte... -"
"Die hilft auch."
Einen Becher Milch gibt sie mir. Wohl weniger wegen dem Hund, sondern weil ich es bin, der sie darum bittet.
Lohn der Arbeit: der dumme Köter schlappert's auch nicht. Blöder Hund. Jetzt kann er warten, bis er Schlappi kriegt.
Dabei habe ich mich extra angestrengt und das Ende eines Rinderröhrenknochens mit einer Machete bearbeitet und mit 3 rostigen Nägeln die ganze Suppe durchgerührt, und die Kinder haben ganz interessiert zugeschaut und es überall im Dorf rumerzählt.
Etwas später komme ich vom Baden vom Fluß, Faustino ist beim Hund.
"Na, schon verreckt?"
"Nein, aber er hat die Milch getrunken."
"Hey, hat er ?!"
Jetzt ist er über'n Berg! Er kommt wieder zu Kräften, kann bald schon wieder laufen. Mittags wollen sie ihm das Pflanzenzeug nochmal geben, aber er läßt sich nicht mehr fangen. Ich glaube kaum, daß ihm das Mittel irgendwie geholfen hat, der Köter hat sich in der Zeit seine Abwehrstoffe oder sein Fibrinzeugs wohl selber hergestellt. Am Abend sucht er sich sein Essen wie gewohnt von unter dem Haus: Reis, Bohnen, Yuca und gekochte Bananen...
 

Die zweite Tour in den Wald,

zum Einbaum hacken

Am nächsten Morgen ist alles gepackt und es geht ab in die Berge. Diesmal sind wir mehr Leute. Indio und Primo von der ersten Tour, dann einer um die 25, Flüchtling aus Nicaragua, dort leben ja auch Mískito-Indianer, bei mir heißt er Nic, der Name paßt zu ihm.
Der Zumu-Indianer, ein Freund, auch so alt wie Nic, steigt in Pimienta zu, und die Köchin, mit ihrem 4 Monate alten Baby. Und auf geht's.
Und Köter. Der ist wohl auch noch nie Einbaum gefahren. 6 mal wird er bei der Hinfahrt ins Wasser fliegen und wir müssen ihn jedesmal wieder herausfischen wie einen nassen Waschlappen, hinterher hat er die dicke Erkältung.
Sie staken zu dritt. Der Einbaum ist vielleicht 7 m lang, und wenn sie zu dritt staken, stehen sie alle 3 vorne. Sie müssen ein wenig geschickt mit ihren 5 m langen Holzstangen umgehen, wenn sie sich nicht in die Quere kommen wollen. Das kriegen sie aber schnell raus.
Nic scheint eher in der spanischen Sprache zuhause zu sein, obwohl sie sich untereinander ausschließlich auf mískito unterhalten. Aber nicht nur Nic, sondern auch die Frau unterhält sich mit mir auf spanisch. Aber das machen sie wohl nicht so gerne, besonders Primo und Indio nicht, sodaß wir uns zunehmend mehr auf mískito unterhalten.
Der Zumu spricht kein spanisch, nur zumu und mískito, dazu ein wenig englisch, in der Schule hat er's wohl nicht gelernt. Er versteht es am wenigsten, wenn ich abends mit meinem selbstgebastelten Holz-Meßstab ein wenig die Sterne und Planeten betrachte. Den anderen ist's wohl egal, außer Primo, der fragt sich auch, was das für einen Sinn haben soll.
Essen. Die Frau kocht zwar, aber die Rollenverteilung ist hier wie gesagt nicht so streng wie in Mexico. Auch mir gibt sie schonmal das Geschirr in die Hand: hier, hast du die Seife, wasch mal ab. Fische und Flußkrebse fangen kann sie auch, genausogut wie die anderen.
Fische fangen ist der Job der Mískitos, da sind sie in ihrem Element. Nicht mit Schleppnetz, auch nicht mit Dynamit, wie es die Mestizen in Mexico machen. Die hier können fischen. Mit der Angelsehne in der Hand, mit Spieß, Speer, Machete oder mit Pfeil und Bogen. Wenn wir den Fluß entlangfahren, sehen wir oft Leute, die am Flußufer stehen, mit Speer oder mit Pfeil und Bogen, und das Wasser fixieren.
Wir kommen an der Kiesbank an, wo sie den Yulu-Baum gefällt haben, schlagen das Lager auf, die Frau bleibt tagsüber am Lager, und wir gehen zum Baum. Indio hat abgesteckt, wie lang das cayuco werden soll, etwa 8 m, und zunächst wird die ganze oben liegende Hälfte des Baumstammes weggehackt, mit den Äxten. Das geht recht schnell, nach ein paar Tagen sind wir damit fertig. Die Holzstücke, die dabei durch die Gegend fliegen, sind oft mehrere Kilo schwer. Ich kann es wie erwartet nicht so gut, und im Gegensatz zu mir werden die 4 auch immer schneller und immer besser. Ich bin zwar ähnlich ausdauernd wie sie, aber es haut mit der Technik am Ende nicht so hin, sie schaffen einfach mehr.
Ich frage sie, wie alt der Baum gewesen sein mag. Sie müssen extra Indio fragen.
"So 45 Jahre.", meint er, nach einigem Abwägen. Ich komme beim Zählen auf 144 Jahresringe, die Methode mit den Jahresringen kennen sie natürlich auch nicht. Da es hier eine Trocken- und eine Regenzeit gibt, müßten das also 144 Jahre sein. Das ist alt, für den Urwald.
Nein, sie denken nicht in Zahlen und Jahren, wie in Europa. Bis 4 nehmen sie ihre Zahlen in mískito (4 heißt einfach zwei-zwei), ab 5 die spanischen, ab 100 auch die englischen. Die Garífuna, die Schwarzen an der Küste, taten gut, in ihrer Sprache die Zahlen nicht aus dem mískito, sondern aus dem französischen zu entlehnen. Wenn sie "20" sagen wollen, müssen sie auf die Weise nicht 16 Silben aussprechen, wie im mískito, sondern nur eine einzige: vingt.
Was sie beeindruckt, ist, daß ich ihnen im Wald eine Sonnenuhr bastel. Das geht ganz einfach, wo die Sonne mittags fast senkrecht steht, und ich kann ihnen immer fast auf die Minute genau die Uhrzeit sagen. Zum Mittagessen gehen wir immer zur Kiesbank.
 

Antirassismus-Debatte

in Honduras...

Den Indianern scheinen auch die Namen der Leute nicht so bedeutend zu sein wie uns. Die Frauen im Haus gebrauchen die Namen häufiger, aber hier reden sie sich einfach mit "Freund" an, "der Zumu", "der andere". Primo heißt auch nicht Primo, sondern Indio nennt ihn nur so, weil er sein Neffe oder sowas ist, primo ist spanisch. Mich nennen sie mit Vorliebe weykna píhini - "weißer Mann". Weil ich so eine weiße Hautfarbe habe.
Sie nennen mich hier nicht gringo, das haben sie mir erklärt, das wäre falsch, weil ich Deutscher sei und gringo nur für US-Amerikaner verwendet würde. Offensichtlich auch für schwarze US-Amerikaner. In Mexico haben sie mir erklärt, daß gringo "Weißer" heißen würde und daß das für mich genau richtig sei. In einem alten spanischem Wörterbuch stand, daß gringo von griego = "griechisch" käme, schon in Spanien verwendet worden sei und ursprünglich eine allgemeine Bedeutung für "fremde Person" gehabt hätte.
Wenn mich die kleinen Mädchen in Wampusirpi ärgern wollen, nennen sie mich míriki, das heißt gringo auf mískito. Aber sie wissen genau, daß sie mich ärgern damit, deshalb machen sie das auch nur, weil ich zwar Weißer bin, aber kein míriki, also kein US-Amerikaner.
Das Land hier hat ein vorbildliches Verhältnis zur Haut- und Haarfarbe der Menschen. In Rassen unterscheiden sie sich schon, warum sollten sie das nicht, nur wird hier niemand diskriminiert. In Limón, bei Trujillo an der Karibikküste, ging es einmal darum.
"Wir sind Mestizen, wir kommen aus den Bergen, nicht wie ihr von der Küste, wißt ihr, wir denken halt in dieser Beziehung anders als ihr", meinte der Mestize zu den schwarzen Garífuna, es ging um Musik, "unsere Vorfahren sind Spanier und Indianer gewesen."
"Ja, du hast vielleicht recht, unsere Vorfahren kamen aus Afrika, da denken wir wohl anders."
Einem aus Barra Patuca habe ich erzählt, daß da, wo ich herkomme, fast nur Weiße wohnen.
"Nein, hier ist alles bunt durcheinander, wir wollen uns gründlich vermischen, möglichst ein bißchen von allem im Blut haben."
Als wir den Fluß raufgefahren sind, haben sie einen mitgenommen, per Anhalter sozusagen. Er stand einfach an einer Kiesbank, nahm seine Stange und stakte 2 Stunden lang mit. Mit Indio hat er sich auf mískito unterhalten. Im anderen Einbaum kam ein Kumpel entgegen, hatte dunkle Haut und krause Haare, sie riefen sich ein paar Sätze zu, auf spanisch. Warum auf spanisch? Vielleicht ist er von den Schwarzen an der Küste.
"Ist er Garífuna?", frage ich ihn.
"Nein, der ist Mískito." - Er denkt ein wenig nach über meine Frage, und meint dann lächelnd: "Sí, tal vez tiene un poquito." - der hat wohl ganz gut was davon im Blut...
Vielleicht lächeln sie dabei über den Hintergedanken, wer da wohl mit wem geschlafen haben wird, über die Generationen. Eine junge Frau in Indios Haus sieht auch sehr afrikanisch aus und meinte zu mir, lächelnd, sie sei eine Garífuna, aus Belize. Die Frau von Faustino, die haben ein kleines Baby zusammen. Warum ist sie denn Garífuna?
"Sprichst du garífuna?"
"Nein, ich spreche nur mískito."
"Und seit wann bist du hier in der Mosquitia?"
"Seit ich klein war."
"Und deine Eltern, bei dir zuhause, haben die garífuna gesprochen?"
"Nein, die sprechen auch nur mískito, und spanisch. Die sprechen kein garífuna."
"Und deine Großeltern?"
"Das weiß ich nicht mehr, was die gesprochen haben... ich glaube, die kamen aus Belize. Ich bin Garífuna aus Belize."
"Wenn du kein garífuna sprichst, dann bist du doch Mískito."
"Das ist doch egal, welche Sprache du sprichst, das hat doch nichts mit der Rasse zu tun. Du sprichst ja auch mískito und bist kein Indianer."
"Ja, aber ich spreche auch die Sprache von Weißen, und meine Eltern sprechen die auch, aber du sprichst nicht die Sprache der Schwarzen."
"Nein, das geht anders. Ich bin viel größer als die Mískitos, du siehst doch, ich bin größer als Faustino, und der ist ein Mann, und die Männer sind doch meistens größer als die Frauen.
"Cristela ist auch größer als Faustino und Indio."
"Aber die Garífunas sind viel größer als die Mískitos. Ich bin doch fast so groß wie du. Die Weißen sind auch größer als die Mískitos. Jedenfalls du und Bettina und Don Ignacio und die Gringos von den Flugzeugen." Sie ist etwa 1,75 m.
"Oder du bist Kreolin, das ist die Mischung zwischen Indianern und Garífuna."
"Wie, die heißen Kreolen?"
"Ja, Kreolen, die Mischung zwischen Schwarzen und Indianern."
"Trotzdem bin ich Garífuna, ich weiß doch, daß ich Schwarze bin, und außerdem bin ich stolz dadrauf. Das muß falsch sein, wenn du sagst, daß ich keine Schwarze bin. Ich bin eine Garífuna aus Belize."
"Na gut, du bist keine Kreolin, dann ist der chíquito meinetwegen Kreole, und du bist Garífuna..." - Chíquito nennen sie hier die Babies.
"Ja, ich bin Garífuna, aber der chiquito, der ist Mískito, das sieht doch jeder... du hast recht, der ist ja gar kein Mískito, weil ich ja Garífuna bin. Ach, dann ist der chíquito also Kreole?"
"Ja, genau!" Sie muß lachen, ich muß auch lachen, wir müssen beide lachen.
 

Alle gegen den Kommunismus

Im Radio bekommen wir täglich mit, was in Nicaragua läuft. Beziehungsweise in Honduras' Grenzgebieten in den Bergen etwas weiter oben, etwa ein oder 2 Tagesreisen weiter flußaufwärts. Die Befürchtung der honduranischen Militärs von vor einer Woche scheint wohl begründet gewesen zu sein: sie sprechen von 80 Sandinisten, die über die Grenze nach Honduras gekommen sind, bißchen Rabatz bei den Contras zu machen. Tagsüber kann man auch immer wieder einige Flugzeuge kreisen hören.
"Das sind nicht die Hondureños, das sind die Sandinisten, die suchen die Gegend nach Contra-Stellungen ab, laß dich am besten nicht sehen, wenn eins kommt.", meint Nic, der sich wohl seine Hängematte von denen organisiert hat.
Der Weg in die Berge nach Nicaragua sei ein kleines bißchen weiter flußaufwärts. Einige, die auf einer anderen Kiesbank gezeltet haben, zum Fischen waren die hier, fahren wieder runter, weil es ihnen zu gefährlich wird. Wir bleiben.
Primo und der Zumu sind auch aus Nicaragua. Nic ist vor fast 10 Jahren geflohen, mit seinem Vater, er erzählt von seiner Mutter und seinen Brüdern, die dageblieben sind. Auch der Zumu, der vor 5 Jahren weg ist, hat seine Familie dort, und manchmal blickt er nachdenklich und etwas traurig auf die Berge im Süden, "Dort drüben hinter diesen Bergen sind meine Leute", sagt er mir einmal.
Die Zumu-Indianer sind wie die Mískitos auch Indianer, die in Honduras und in Nicaragua wohnen, also beiderseits der Grenze. Als die Staatsgrenzen Mittelamerikas erfunden wurden, wurden die Indianer nicht gefragt. Allerdings hat sich früher auch kein Mensch drum gekümmert, was die Indianer von der Grenze am "Río Coco" hielten, dem Fluß, der bei den Indianern "Wangkí" heißt. Vor der Revolution war die Grenze "grün".
"Ja, wir Mískitos mögen die Sandinisten nicht", meint Nic, "nosotros somos contras." - wir sind Contras (= "dagegen").
"Warum mögt ihr die Sandinisten nicht? Weil das Spanier sind?"
Nic: "Nein, weil das Kommunisten sind, die werden von den Russen unterstützt, und von den Kubanern, von den Bulgaren, eben von Kommunisten."
Primo, auf spanisch: "Kommunisten! Die sind schlecht."
"Was machen die?"
Nochmal Primo, wenn's ihm zu dumm wird auf mískito, mit der perfekten Antwort: "Cómunista, sáura !"
Das Wort sáura hat mindestens 50 verschiedene Bedeutungen. Überhaupt hat die Indianersprache weniger Vokabeln als europäische Sprachen, viele Wörter haben mehrere, ähnliche Bedeutungen. Zum Beispiel:
lápta - "Sonne, Tag, Wärme, heiß".
sáura - "schlecht, böse, gefährlich, giftig, unreif, faul, verboten, ungezogen, häßlich, nutzlos, untauglich, ungünstig, doof, überflüssig, durcheinander, verrückt, unlogisch, wertlos, ungerecht, mies, öde, gemein, fies, hinterhältig, unausstehlich", und in diesem Fall wohl einfach "von Natur aus schlecht, das sprichwörtliche Allerletzte".

Dem kleinen Kind bekommt die Hitze wohl nicht so gut. So fährt die Köchin nach einer Woche mit einem tuktuk wieder zurück. Ihr selber ging's am Ende auch nicht mehr so gut.
Als nächstes ist wohl der Hund dran, er frißt kaum noch was von seinem Reis mit Bohnen, grad mal die Fischgräten. Tagsüber ist mit ihm sowieso nichts anzufangen, abends klaut er sich manchmal unauffällig ein paar Bananen, die sie einfach ins Schilf gelegt haben und die wir uns außerdem mit den Eidechsen teilen dürfen, die sich fleißig bedienen. Bis jetzt war die Köchin immer auf der Kiesbank geblieben, tagsüber, während wir am Baum waren.
"Jetzt ist die Köchin weg, jetzt mußt du auf die Sachen aufpassen." Tut uns ja leid. Ach, Leute, ihr wißt ja gar nicht, daß mir das Spaß macht. Hab ich meine Ruhe, den ganzen Tag ungestört an einem Fluß im Urwald, kann mich im Fischen üben, oder im Einbaumpaddeln. Oder Bambuskörbe flechten, Bananen schälen, Fische ausnehmen... ständig schneide ich mir irgendwo in die Finger, meine Hände sehen fast schon genauso aus wie meine Wüstenschuhe.
Ich soll mir neue Schuhe kaufen, meinen sie zu mir, sie selber laufen immer in Gummistiefeln rum. Naja, aufpassen, sie könnten irgendwo kaputtgehen, brauche ich bei meinen Wüstenschuhen (aus Stoff waren die einmal gewesen, wie billige Turnschuhe) wirklich nicht mehr.
 

Essen in der Wildnis

Vorgestern gab's Papagei, auf mískito guára. Einer von den ganz großen, rot-blau-gelben, die längste Schwanzfeder mißt knapp 60 cm. Sie haben ihn von einigen Leuten, die den Fluß raufkamen, getauscht. Oder besser gekauft, Währung in der Wildnis: Zigaretten. Papagei schmeckt ganz lecker, bißchen ähnlich wie Geflügel, aber mehr wild. Hartnäckig wollen sie wissen, warum in Deutschland die Leute keine Papageien essen. Sie wissen, daß die lebenden Tiere für 200 US-$ nach Europa gehen. Die wissen wohl nicht, was gut ist.
Interessant ist auch, was wir alles für Säugetiere essen. Affe schmeckt ein bißchen arg streng nach Affe, für mich ein eher unangenehmer Geschmack. Aber wir können ja nicht den ganzen Fluß leerfischen.
Bei dem Ibíhina weiß ich dann beim besten Willen nicht die deutsche Bezeichnung. Sieht aus wie eine Mischung zwischen Hase und Schwein, der Zumu hat ihn mit Machete erlegt, nachdem er ihn aus dem Wald zum Fluß gejagt hatte. Ibíhina hat gutes, zartes Fleisch.
Und auf einmal ist der Hund hellwach! Seinen Reis frißt er immer noch nicht. Ich glaube, er tut langsam gut daran, sich mit den Fischgräten und Schildkröteninnereien zu begnügen. Ganz so mager wie am Anfang ist er nicht mehr. Am Anfang hätte er sich ja sein Fell auch noch sparen und sein Skelett mit Stricken zusammenbinden können.
Die Schildkröten fängt der Zumu mit Taucherbrille, die haben wir öfter mal zum Essen. Sind auch ganz lecker, nur an denen ist halt ein bißchen wenig dran. Die Eier von den Schildkröten können sie an trockenen, warmen sandigen Böschungen am Flußufer finden, wenn sie den Sand mit einem Stab abtasten. Schmecken genauso wie Hühnereier.
 

We are the stars which sing

Hab ich Seppl doch wieder meinen Meßstab für die Sterne verlegt, grade eben hatte ich ihn doch noch. Ich habe ja einen Verdacht, und dieser Verdacht erhärtet sich, als am Morgen plötzlich auch der zweite Stab, den ich mir schnell provisorisch gemacht habe, auch weg ist. Dann eben nicht. Ein bißchen komisch sind sie ja schon. Mich interessiert jetzt, warum.
Der Zumu: "Was suchst du?"
"Ach, diesen Stab für die Sterne."
"Oh, ist der weg, wo hast du ihn denn zuletzt liegen lassen?"
"Ist ja egal, morgen werde ich ihn finden." Hm, vielleicht tue ich ihnen ja Unrecht und ich habe ihn aufs Dach gelegt...
"Du mußt ihn nicht suchen", Primo, "hier, mach mal den Reis sauber, das ist gescheiter."
Also war es wohl eine Einzelaktion von Primo, auf sowas kommt der Zumu nicht. Primo tuschelt dem Zumu etwas zu, und auf einmal findet der Zumu Gefallen an der Idee. Noch tagelang fängt er immer wieder damit an, "Wo ist denn der Sternstab? Wo ist er denn?"
Primo: "Warum studierst du die Sterne, das bringt doch nichts."
"Wieso, das ist doch ganz interessant, es gibt Sterne und Planeten, du kriegst nachts die Uhrzeit raus, und wo Norden ist, das kann doch mal ganz nützlich sein."
"Nein, das ist nicht gut, was du machst. Die Sterne sind schlecht, die Planeten auch, sáura."
"Warum sind die Planeten schlecht?" -
Warum soll gerade so ein absolut unbedeutender kleiner blaugrüner Planet irgendwo in einem völlig aus der Mode gekommenen Ausläufer des westlichen Spiralarms der Galaxis der einzig gute unter den ganzen Sternen und Planeten sein?
"Die Planeten sind schlecht, da gibt es Kommunisten, Russen, die sind schlecht, ja, check mal was, Kommunisten, sáura."
"Da lebt keiner auf den Planeten, auch keine Kommunisten. Aber dein Radio ist schlecht, da senden die Sandinisten, Voz de Nicaragua, kommunistisch, sáura." - Gerade hat er's wieder laufen.
"Das Radio ist nicht schlecht, das Radio ist gut."
"Aber Voz de Nicaragua ist schlecht."
"Voz de Nicaragua ist gut."
"Aber das ist doch sandinistisch!"
"Voz de Nicaragua ist gut."
Wer die versteht. Komischer Krieg. Voz de Nicaragua sendet mehr Musik als der Contrasender.
"Und deine Sonnenuhr ist auch schlecht, der Holzstock gehört ins Feuer." Ha, das hat sie wohl beeindruckt, daß ich ihnen so genau die Uhrzeit sagen konnte. Vielleicht vermutet Primo irgendeinen Zauber dahinter.
"Wenn die Sonnenuhr schlecht ist, dann ist deine Armbanduhr auch schlecht, die gehört auch ins Feuer.", die anderen lachen.
"Die Armbanduhr ist nicht schlecht, die kam 200,- Lempira, die gehört nicht ins Feuer..."

Es gibt ja einige Spezialisten, die sich sehr schlecht nur in jemand reinversetzen können, der die Sprache erst lernen muß. Primo ist einer von denen. Er ist zweisprachig aufgewachsen, hat aber offenbar keine Ahnung davon, wie es ist, eine Fremdsprache zu lernen. Er versteht es noch nicht einmal, einen Satz auf mískito langsam zu wiederholen.
Mit dem Zumu kann ich mich besser unterhalten, obwohl der kein spanisch spricht. Er versteht es, Sachen zu umschreiben. Oft geht es im Gespräch ja um irgendwelche Tiere, und Primo ist immer völlig hilflos, wenn ich auch das spanische Wort dafür nicht weiß. Nur dem Zumu fällt es sofort ein, das Quaken eines Frosches zu imitieren (übrigens perfekt) oder einen Affen nachzumachen.
Mit Nic klappt's am besten. Wenn ich's auf mískito nicht verstanden habe, dann auf spanisch. Er kann auch gut einzelne Wörter erklären, scheint auch sonst irgendwie einen besseren Durchblick zu haben. Es sei der Konflikt zwischen den beiden Großmächten, der den Krieg in seinem Land verursache. Er findet es genauso witzig wie ich, sich einen Gag aus den Parolen von Radio Sandino zu machen, die sie täglich jede volle Stunde bringen. "Córdobas nuevos, ¡éstos sí valen!" Wenn wir das paarmal am Tag wiederholen, wird es irgendwann witzig, weil es klar ist, daß die neuen Córdobas genauso wenig Wert sind wie die alten.
Als 3200 US-Soldaten ins Grenzgebiet geflogen werden (Jamastrán-Tal, südlich von hier, genau da bin ich im Januar durchgekommen), sendet Nicaragua Durchhalteparolen für die Bevölkerung - "Por una paz digna. ¡Patria libre o morir!" - Freies Vaterland oder Sterben.
"Wir wollen alles tun, was möglich ist, um den Frieden zu erhalten...", ... Freiheit... Souveränität... Nein, die Gefahr, daß ein Krieg ausbricht, besteht hier nicht. Hier ist Krieg, und das ist seine Sprache.
Aber Nic hat sich an den Krieg gewöhnt, er ist ja schon fast damit aufgewachsen. Arg fremd fühlt er sich hier in der honduranischen Mosquitia auch nicht, das ist wohl der Vorteil dabei, wenn die Indianer nicht gefragt werden, wenn in Mittelamerika die Grenzen erfunden werden. Jedes System hat auch seine Vorteile... Schnell ein kleines Liebeslied hinterher - Nic singt gern einmal ein Lied beim Staken. "Nosotros mískitos somos contras" - wir Mískitos sind Contras - so ist das halt, so ist das Leben. Nic bringt's trotzdem Spaß.
Indio ist mir von den 4 noch am dunkelsten geblieben, obwohl ich nun schon seit 2 Monaten sein Gast bin. Er spricht wenig, manchmal nur das nötigste, schaut aber oft nachdenklich in die Gegend. Er kann stundenlang aus einem Fenster schauen. Indio teilt das Essen aus. Und Kaffee mag er. Wenn die anderen ihre Witze machen, lacht er nur manchmal auch mit. Bei ihm ist es oft schwer, und auf irgendeine Weise auch immer völlig unwichtig, herauszufinden, ob er etwas falsch verstanden hat oder nur so tut.
Einmal lacht er aus vollem Halse los: als er beim Aufgießen vergessen hat, den Kaffeesatz in den Filter zu tun. Der Hund hatte ihn irritiert, der aus der Tasse mit dem Zucker geschlappert hatte. Wenn er der Älteste ist, heißt das nicht, daß er irgendwie weniger flink Flußkrebse fangen kann als die anderen, und auch nicht, daß er weniger hart cayuco-hacken kann als die anderen: er sucht sich von Anfang an das schwerste Stück des Baumes aus - und kommt fast doppelt so schnell vorwärts wie jeder der 3 anderen. Und dabei fühlt er sich noch ein bißchen schwach, er ist ein bißchen krank, das Aspirin-Zeug will auch nicht helfen.

Nach 3 Wochen ist das cayuco fertig. Jetzt hauen sie mit Machete einen Weg durch den Wald, den Berg runter an den Fluß, und transportieren das Boot, auf Baumstämmen rollend, zum Wasser. Am nächsten Tag packen wir alle Sachen rein, hängen den anderen Einbaum hinten dran, und fahren flußabwärts.
Flußabwärts natürlich in der Mitte des Stromes, weil das da am schnellsten geht. Etwa einen halben Tag, dann lassen wir das cayuco auf einer Kiesbank, bei einem, der die Feinarbeiten vornehmen wird. Alle Kanten herausschleifen, irgendwie imprägnieren und so.
Nic, Primo und der Zumu verabschieden sich in Pimienta, der Hund ist hier auch wieder zuhause, und schließlich finde ich mich mit Indio allein, im kleinen Einbaum, den Patuca heruntertreibend. Indio ist eingeschlafen, in der Mitte, ich sitze hinten. Ich sehe, wo der Fluß in die Kurve geht, kommt das Boot immer mehr ans Ufer, immer dichter ran, mist, das ist gefährlich, wir werden gleich... ich nehme schnell das nächstbeste Paddel - und merke, oh, es ist ja gar keine Gefahr, ich kann das ja, es sind ja nur ein paar wenige Schläge, und wir sind wieder in der Strommitte. Fast hatte ich's vergessen, ich habe ja das Einbaumfahren gelernt.
 
 

Abschied von Wampusirpi
 

3. Brief an Inga nach Hamburg
22. August 1988, Bogotá, Kolumbien.

(...)
Vor ein paar Tagen habe ich mich entschlossen, nachdem ich 3 Monate bei den Mískitos gewesen bin und ihre Sprache gelernt habe, wieder weiterzuziehen.
Bettina, die Deutsche, die mit den Zumu-Indianern arbeitet, habe ich am Ende auch noch kennengelernt, sie war ein paar Tage in Wampusirpi, auf der Durchreise. Sie riet mir davon ab, die Pfade durch den Urwald nach Auasbila zu nehmen und meinte, der Weg nach Mocorón, also direkt richtung nicaraguanische Grenze, sei wesentlich besser zu gehen.
Also will ich lieber, ihrem Rat folgend, nach Mocorón gehen, etwa 50 km (Luftlinie). Von da sind es dann nochmal 50 km (Luftlinie) zur Grenze Nicaraguas.
Auasbila ist ein Ort, der noch weiter in den Bergen am Río Coco liegt. An sich kein besonders interessanter Punkt, abgesehen von der Tatsache, daß mir einige Leute aus Deutschland vielleicht an die dortige Adresse "postlagernd" hingeschrieben haben. In einer alten Honduras-Karte war der Ort ganz groß eingezeichnet, heute ist es wohl nur noch ein kleiner Militär-Stützpunkt mit wenigen Häusern, hat wahrscheinlich gar kein Postamt. Das habe ich erst hinterher erfahren.
"Nach Mocorón kannst du nicht zu Fuß gehen, das geht nicht, du kennst den Weg nicht", meinen Humberto und die anderen.
Ich soll das Flugzeug nehmen. Heute nachmittag soll eins kommen, die fliegen immer zwischen Mocorón und Wampusirpi hin und her. Isábel, die einen kleinen Laden hat und mir ein Paar schwarze Schuhe (leider 2 Nummern zu klein) gegeben hat, gibt mir sogar 30,- Lempira, für den Flug.
Na gut, ich warte an der Startbahn. Einen Tag. Der Pilot von World Relief (Flüchtlingsorganisation) sagt, er darf mich nicht mitnehmen. Die Verkehrslawine der modernen Zivilisation kennen diese Indiander hier nur in Form von Flugzeugen. Autos gibt es hier am Patuca nicht, die Kinder kennen zwar Spielzeugautos, viele wissen aber nicht sicher zu sagen, wie rum die fahren.
Noch ein Tag, noch eine Maschine, die ist aber voll, eine andere fliegt nach Puerto Lempira, nicht nach Mocorón.
"Morgen gehe ich zu Fuß los, nach Mocorón."
"Nein, wie willst du den Weg finden, du verläufst dich. Warte auf das Flugzeug, morgen kommt eins."
Ich habe meinen Respekt vor diesen Indianern verloren, denn die, die mich vor dem Weg warnen, sind ihn selber noch nie gegangen. Bettina ja, und Bettina hatte mir geraten, diesen Weg zu nehmen. Also nehm ich ihn auch.
Na okay, auch sie meinte, der Pfad sei nicht ganz einfach, und es könne sehr gefährlich werden, wenn du alleine gehst, dich verläufst und dir das Wasser ausgeht. Es gebe nur wenige versteckte Wasserstellen im Llano.
Bettina hatte mir auch genau gesagt, was ich in Mocorón alles tun soll: Zuerst soll ich zur Comandancia gehen und die fragen, ob mich jemand zum 5. Batallón mitnehmen kann. Das ist eine ziemlich große Kaserne, etwas außerhalb vom Ort. Dort muß ich dann fragen, ob ich mit dem Coronel Sánchez oder Pinieda, welcher gerade da ist, sprechen kann. Und der soll mir dann ein Papier ausschreiben, mit dem ich dann an die nicaraguanische Grenze trampen kann. Und ich soll ihn von ihr grüßen.
Inzwischen habe ich mein Visum in Honduras natürlich schon über 3 Monate überzogen, das darf ich denen natürlich nicht sagen. Und wie ich ohne Visum nach Nicaragua reinkomm, konnte sie mir auch nicht verraten. Aber das sei eh egal, weil das, was ich vorhab, von Haus aus illegal sei, weil Ausländer auch mit Visum nicht in die nicaraguanische Mosquitia dürfen. Sie hatte das einmal versucht, die hätten ihr aber nichts als lauter Schwierigkeiten gemacht damit. Mußte sie 1000 Formulare ausfüllen und hinterher durfte sie doch nicht rein.
Ich scheine irgendwie nach Südamerika zu wollen. Nicaragua scheint ziemlich verschlossen zu sein. Aber vielleicht schaffe ich es, nach Nicaragua reinzukommen. Von da müßte ich dann nach Costa Rica weiter. Vielleicht illegal oder sowas.
Aber noch bin ich in Wampusirpi und muß erst einmal von hier weg. Das ist nicht immer selbstverständlich, daß die Militärs einen auch zu Fuß gehen lassen. Also muß ich mich von den Militärs hier verabschieden, das hört sich dann so an:
"Hallo Amigos, also ich geh wieder, morgen will ich losgehn, nach Mocorón, ich will dort zum 5. Batallón und mit dem Coronel Pinieda sprechen. Ob Sie mir da 'ne Erlaubnis geben können, daß ich nach Mocorón gehen kann?"
"Du willst gehn? Wie lange warst du jetzt hier?"
"3 Monate in Wampusirpi", geb ich ihnen einen kleinen Zettel mit meinem Namen und ein paar Daten drauf.
"Jaja, kein Problem mit der Erlaubnis, hier geht der Weg lang, hier rum und dann immer gradeaus."
"Nein, ich werde lieber morgen früh gehen, ich habe Gepäck und der Weg ist weit."
"Ja, alles Gute dann, kai ke was !"
So, die erste Hürde ist genommen.
 

Der Weg über den Llano,

Wampusirpi - Sixatingni
 

Am nächsten Morgen, um 8 (zu spät eigentlich) gehe ich los. Einer begleitet mich noch eine halbe Stunde, einer von denen, die am Nachmittag immer mit Volleyball gespielt hatten.
Danach gehe ich allein, mit Rucksack, Schlafsack und Wüstenschuhen. Nein - Lüge - die sind ja im Rucksack, ich hab die schwarzen Schuhe an, die 2 Nummern zu klein sind. Aber der Pfad ist gut. Nach einer Stunde zweigt der Pfad nach Auas ab, genau wie mir der Typ es beschrieben hatte, da muß ich rechts, und dann immer geradeaus. Erst noch paar Hügel, aber dann über viele Kilometer unbewohntes, flaches Grasland mit paar Kiefern, das ist der Llano.
Feuer! Der Llano brennt, stellenweise. Das trockene Gras brennt, das ist aber nicht gefährlich. Es ist schon seit ein paar Monaten Trockenzeit, und wenn die Sonne auf meinen Kopf brennt, ist es ganz schön heiß. Die Kiefern stehen nur vereinzelt rum und werfen nur wenig Schatten. Zum Glück weht ein bißchen Wind.
Wo das Gras verbrannt und alles schwarz ist, ist es am heißesten. Wieder ein paar Hügel... Vegetation... der Pfad geht zu einer Stelle mit Schilf und - Wasser! Ein kleiner Bach, und fließt. Ich schlapper soviel wie möglich Wasser in mich rein, fülle mir meine 0,5-Liter-Wasserflasche nochmal ganz auf und mache T-Shirt und Hose naß. Dann sehe mir die Wasserstelle nochmal genau von der anderen Seite an, und gehe weiter.
Das mit dem Wassertrinken war richtig: es war die letzte Wasserstelle für viele Stunden. Ich gehe über Flachland, abgebranntes oder noch brennendes Gras, immer weniger Kiefern, immer mehr Hitze vom Feuer und von der senkrecht stehenden Sonne. T-Shirt und Hose sind sofort wieder trocken. In Wampusirpi war es nie so heiß. Ich habe die Hitze unterschätzt.
Und Blasen an den Füßen, anders konnte es ja nicht kommen. Der Pfad ist gut, nur leider zu heiß zum barfuß-gehen. Er ist wirklich brennend heiß. Die Feuer entzünden sich von selber im Llano, so heiß ist das hier.
Am Nachmittag verzweigt sich der Pfad ein paarmal, da muß ich höllisch aufpassen. Ich soll bloß nie nach Süden gehen, immer nach Osten. Mein Wasser wird langsam weniger. Ich habe keinen Kompaß und keine Uhr, aber zum Glück ist es hier so, daß die Sonne auch schon am frühen Nachmittag ziemlich genau im Osten steht.
Der Weg geht genau in Richtung der Schatten der sich langsam senkenden Sonne, das gefällt mir sehr gut. Die Sonne scheint mir dann immer mehr in den Nacken. Das macht noch mehr Durst als die senkrechte Sonne.
Noch eine Pause unter ein paar Kiefern. Die Blasen an den Füßen sind aufgegangen und fangen an, wehzutun. Passende Schuhe hatten sie leider nicht, es waren die größten, die sie hatten. Das Wasser ist auch leer.
Uhrzeit messen: Der Schatten ist noch nicht ganz so lang wie das Stöckchen, also ist es noch kurz vor 3. Um 3 Uhr steht die Sonne hier um diese Jahreszeit genau auf 45°, dann sind alle Schatten gleich lang wie die Sachen. 3 Stunden also noch bis zur Dunkelheit. Und ich habe kein Wasser mehr.
Wieder weiter, und jedesmal zieht es jetzt mehr rein in die Füße. Morgen werde ich mit den alten, kaputten Wüstenschuhen gehen, gut daß ich die noch eingepackt habe.
Nach einer halben Stunde Laufen läßt der Schmerz langsam nach. Ich komme zu ein paar mehr Kiefern, die wieder besseren Schatten geben. So ist es nicht mehr ganz so heiß. Die Erde scheint irgendwie feuchter zu sein, denn das brennende Land habe ich hinter mir, hier wächst wieder Gras, neben dem Weg.
Sogar kleine Büsche hat es jetzt, ich könnte barfuß laufen, aber das wäre sehr riskant wegen Schlangen. Im Llano soll die barba amarilla vorkommen, die giftiger als die Schwarze Mamba sei... es soll sogar einige Leute geben, die den Biß schon überlebt haben. Ich gehe an den unübersichtlichen Stellen lieber langsamer und trampel extra fest auf dem Pfad auf, damit die Schlangen nicht überrascht werden. Einen Stock zum Schlangen-abwehren habe ich in der Hand.
Das Gras wird immer dichter und höher, wächst jetzt auch schon auf dem Weg selber... immer mehr Vegetation... da, da vorne, ein Haus! Noch eins, da auch Häuser, das muß Sixatingni sein, das liegt auf halber Strecke.
Und es ist Sixatingni, ich war gut, ich habe den Weg auf anhieb gefunden.
"Naxa - äh - sprecht ihr mískito?"
"Ja -"
"Habt ihr Wasser?"
Klar haben sie Wasser, drei ganze Schüsseln trinke ich leer, bin ich froh, endlich Wasser. Die Leute sind freundlich, bieten mir etwas zum essen an, wir gehen baden im Fluß.
Es sind alles Flüchtlinge in Sixatingni. Eine Familie ist aber vor ein paar Tagen nach Nicaragua zurückgekehrt, und so steht ihr Haus leer, da kann ich drin schlafen. Auch hier alles Holzhäuser auf Pfählen. Am Abend ist Kirche, sie laden mich ein (Moravische Kirche) und ich soll ihnen was aus der Bibel vorlesen. Na, dann mach ich das mal. Etwas aus Paulus' Reiseabenteuern...
 

Durch den Urwald,

Sixatingni - Mocorón

In der Kirche hatte sich das ergeben, daß ich am nächsten Morgen mit einem anderen Indianer zusammen durch den Urwald nach Mocorón gehen kann. In Wüstenschuhen, die ich mit Bast zusammengeflickt habe. Die Wüstenschuhe drücken nicht an denselben Stellen wie die schwarzen Schuhe, von daher machen mir die Blasen von gestern wenig aus. Dafür reiben die Bastbinden ganz fies und bald habe ich eine Reihe neuer Blasen, die auch alle aufgehen. Solange ich laufe, tut das allerdings nicht weh. Nur nach Pausen.
Der Weg durch den Urwald ist schön schattig, aber wegen überall den ganzen Wurzeln und den steilen Stellen total schwierig zu laufen. Der Typ ist um ein Drittel schneller als ich. Wir holen eine Familie ein, die laufen zum Glück langsamer.
Am Nachmittag sind wir in Mocorón am Fluß, erstmal ein Bad, das tut gut. Oh, meine Füße. Daß die überhaupt noch dran sind. Ich gehe in den Ort, barfuß.
Also zur Comandancia. Wieder die Sache mit den Papieren, inzwischen habe ich da Routine, das mit dem überzogenen Visum checkt wieder keiner. Ich kann sogar in der Comandancia schlafen, im Armeebett, 1 A, mit Mosquitonetz. Bettina hatte mir abgeraten, etwas auf dem Visumszettel zu fälschen, weil mehr als 4 Wochen in Honduras gar nicht vergeben würden. Fälschen sei gefährlicher als Nichts-wissen.
 

In der Kaserne vom 5. Batallón

Am nächsten Tag hinten drauf auf einem Lkw der Militärs rausfahren, 5 km, zur Kaserne vom 5. Batallón. Eine ganz schön große Anlage ist das. Hoffentlich merken die das mit dem Visum nicht, da gehe ich jetzt sozusagen in die Höhle des Löwen. Das ist ganz schön riskant, was ich da mache. Aber ich habe keine andere Chance.
Barfuß kann ich nicht vor dem Militär-Boß erscheinen, also habe ich die schwarzen Schuhe an, die ziehn höllisch rein, aber ich muß es als eine Art Investition betrachten. Ich muß vorsichtig sein, und ich muß gut sein. Jetzt kommt's drauf an.
Der Lkw fährt nicht in die Kaserne rein, sondern setzt mich beim Posten davor ab. Name, Papiere, Visum, was willst du.
"Ich will mit dem Coronel Pinieda sprechen."
"Der ist nicht da."
"Und der Coronel Sánchez?"
"Der ja."  (  -   püh, Schwein gehabt...)
Ruft er an, gibt bescheid.
"Und warum willst du den sprechen?"
"Ja, ich schreibe ein Buch und muß hier in der Mosquitia einige Recherchen machen, da brauch ich eine Erlaubnis vom Coronel Sánchez." - Scheint wohl sein Chef zu sein.
"Aha. Und wie heißt das Buch?"
"América a pie." - Amerika zu Fuß, was blöderes ist mir in der Sekunde nicht eingefallen.
"Bueno, ist in Ordnung, da längs die Straße, kannst du nicht verfehlen." - ach so, ich soll zu Fuß zur Kaserne gehn.
Ouh mann, zieht das jetzt rein, die schwarzen Schuhe. Ich kann aber nicht langsam gehen, weil das verdächtig wär, weil er mich genau beobachtet, wie ich die Piste entlang zur Kaserne laufe. Ich komme am Batallón an, da wissen die schon bescheid, ich soll ein bißchen warten bis der Coronel Sánchez kommt.
Der kommt dann auch, im dicken Jeep. Ein Soldat soll ihm erklären, was los ist.
"Guten Morgen, mein Coronel! Melde gehorsamst: ... (usw.)", ich muß aufpassen, daß ich mir keine reinlach. Das kann leicht passieren bei denen, die die Armee nur aus gewissen Comics kennen.
Er will von mir wissen, was ich genau will. Erstmal grüße ich ihn von Bettina. Dann frage ich ihn, ob er mir eine Erlaubnis nach Auasbila geben kann, damit ich dort über die Grenze nach Nicaragua gehen kann. Er ist ganz nett, meint aber, nach Auasbila kann er mir keine Erlaubnis geben, das sei zu gefährlich.
"Nein, über Leimus ("Leymus") mußt du, ab da geht die Straße nach Puerto Cabezas ab, in Leimus ist der Grenzübergang."
"Sicher, wenn Sie das sagen, nur da ist eine Sache, warum ich nach Auasbila möchte: ich habe eventuell Post in Auasbila am Postamt."
"Na, wenn's weiter nichts ist...", da können sie doch schnell über Funk nachfragen.
Er gibt ein paar Anweisungen an die Soldaten.
"Jawoll, mein Coronel! Alles verstanden, mein Coronel! Wird sofort erledigt!", fährt er wieder ab.
Einen Augenblick bleiben sie noch stramm stehen, dann, als der Jeep um die Ecke ist, der eine zum anderen:
"Also, was hat er jetzt gesagt - Erlaubnis bis Leimus ausschreiben, 3 Tage Geltungsdauer, soll der und der unterschreiben -"
"Ja, und in welcher Funktion, daß er als Tourist unterwegs ist, soll auch rein -"
"War das jetzt alles?"
"Ja, ich glaube."
Gut, gehen wir zum Haupthaus, alles Beton, aber ganz sauber angemalt in Tarnfarben. Auf dem Platz davor robben sie dann auch ganz fleißig über'n Rasen. Das sind die honduranischen Militärs, die haben nichts anderes zu tun. Die haben am wenigsten zu tun hier in diesem Krieg, die müssen nur einfach dasein, viele sein und teuer sein. Geld kommt aus den USA, das ist leicht zu sehen. Kämpfen tun nur die nicaraguanischen: die Sandinisten und die Contras. Am Río Coco soll ein Contra-Lager neben dem anderen sein.
Den Zettel vom Coronel Sánchez habe ich schon in der Hand, DIN A 4, mit Briefkopf, Stempel und Unterschrift, wie sich das gehört, jetzt müssen wir noch auf den Funkspruch aus Auasbila warten. Den Zettel soll ich auf keinen Fall mit nach Nicaragua reinnehmen, sondern ich soll ihn in Leimus, auf der honduranischen Seite von Leimus, also bevor ich über den Fluß gehe, den honduranischen Militärs wieder zurückgeben. Der Funkspruch kommt - keine Post für mich in Auasbila. Na, dann halt nicht. Okay, dankeschön nochmal, tschüß.
 

Der erste Abend am

Posten vor Leimus

Paar Militärs nehmen mich mit bis in die Nähe von Leimus, sie selber fahren nach Auasbila. Sie setzen mich an einem Posten etwa 20 km davor ab, an einem Militärposten an der Straße. Es ist hier alles Llano, also Grasland mit Kiefernbeständen dazwischen. 4 Soldaten sind am Posten. Ich soll nicht so losgehen, sondern warten, bis die Flüchtlingstransporte von der UNO durchkommen, und mit denen nach Leimus fahren.
Spät, aber sie kommen. Paar Kieslaster, bis oben voll mit Flüchtlingen, davor fährt der dicke klimatisierte Land-Rover-Jeep mit den Funktionären. Der Verantwortliche wundert sich.
"Du willst in Leimus über die Grenze? Das ist doch kein Grenzübergang für Touristen! Zeig mir mal deinen Paß." - er ist Ausländer, hat irgendeinen Akzent, französischen, oder italienischen. - "Du hast ja nur ein Transit-Visum, 4 Tage, das ist am 17. Januar abgelaufen!"
Ich solle zuerst nach Puerto Lempira zur Migración (Grenzbehörde) und das regeln, so könne er mich nicht mitnehmen. Scheiße.
Puerto Lempira liegt vielleicht 150 oder 200 km nördlich von hier, da gibt es auch eine Straße hin. Es ist ganz gut organisiert hier mit dem Trampen: die wenigen Autos, die durchkommen, müssen immer bei den Posten anhalten, und so trampen die Leute hier immer von Posten zu Posten. So ein Posten ist eine ganz praktische Einrichtung.
Es wird später, am Ende warten hier 12 Leute am Posten, einige wollen nach Puerto Lempira, andere nach Mocorón. Einer meint, in Mocorón sei auch ein Büro von der Migración, und Mocorón ist näher, nur 50 km.
 

Tramp auf dem Flüchtlings-Lkw

zurück nach Mocorón

Schon lange dunkel, es kommen wieder Kieslaster, auch voll mit Flüchtlingen, diese hier wollen wohl nach Mocorón. Die Leute, die mit mir warten, wissen, daß ich auch dahin will:
"Hopp, schnell, spring dahinten auf, mach schon, die fahren nach Mocorón! Schnell, die warten nicht lange!"
Was, nach Mocorón - ja okay, Schlafsack rauf, Rucksack schmeißen sie in die Flüchtlinge, meine Schuhe auch, einzeln, ich selber hangel mich hinten am Kieslaster hoch, der wirklich voll ist mit Flüchtlingen, es ist gar kein Platz mehr im Laderaum selber, nicht mal die Beine passen rein, ich kann mich gerade noch auf die Eck-Kante setzen, da fährt er schon los - ahh! - beinah hätte ich das Gleichgewicht verloren und wär wieder runtergefallen.
Folgt der schlimmste und gefährlichste Tramp, den ich jemals erlebt habe. Mein 169. Tramp auf dem amerikanischen Kontinent.
Mit beiden Händen halte ich mich, auf der Hinterkante des Lasters sitzend, krampfhaft fest, es ist die Hölle, denn auf der hinteren Kante verstärkt sich ja jedes Schlagloch um das Dreifache. Es ist fast nicht möglich, sich dahinten zu halten. Volle Konzentration, ich darf die Hand keine Sekunde lockerlassen, mist, die Hand kommt ins schwitzen... es wird feucht, ich rutsche ein paarmal fast vom Lack ab - und kippe nochmal fast hinten über. Bei voller Geschwindigkeit.
Zum Glück habe ich in der Hose ein Taschentuch, also jetzt die rechte Hand mit Taschentuch, und der Laster rast durch die Nacht. Über die Schotterpiste, ein Schlagloch nach dem anderen.
Ich kann bald nicht mehr, meine linke Hand will nicht mehr mitmachen, verdammte Scheiße, ich kann mich nur noch mit der rechten Hand festhalten. Mit der linken krall ich mich so fest, daß ich nach ein paar weiteren Schlaglöchern Einschnitte vom Stahl in den Fingern habe. Hand! Hand! Noch ein Schlagloch, noch eins, wieder kurz an der Hose abwischen, kurz schütteln, wieder festkrallen, Sache von Sekundenbruchteilen.
Ich merke, wie die linke Hand immer weniger wird, ich habe kaum noch Gefühl dadrin, kann mich nicht mehr auf sie verlassen. Ein Wunder, daß die rechte Hand, die mit dem Taschentuch, noch so gut hält. Aber jetzt merke ich, mist, die wird auch schwächer. Wieviele Schlaglöcher halte ich noch aus? 10, rechne ich mir aus, dann werde ich abrutschen, und ich habe beide Beine außerhalb des Lasters. Hin und wieder kommen ruhigere Strecken, dann aber wieder härtere, wieder mit Schlaglöchern, 10 werde ich noch aushalten, scheiße, neun, scheiße, acht... nein, es geht wirklich nicht mehr... wieder etwas ruhigere Strecke -
"Ich kann nicht mehr", meine ich zu der Frau direkt neben mir, und sie schaffen es irgendwie, soviel Platz zu machen, daß ich ein Bein drinnen deponieren kann.
Jetzt kann ich meine Hände abwechseln, da das Bein auch noch hält, und langsam kommen die Hände wieder. Bin ich froh, als wir spätnachts endlich in Mocorón ankommen - also nun auch an den Händen, lauter offene Blasen. Ich bin fertig, gehe zur Comandancia, falle ins Bett. Ich habe sogar meine schwarzen Schuhe wieder bekommen, die die Leute am Posten vor Leimus einfach mitten in die Flüchtlinge auf den fast schon fahrenden Lkw geworfen hatten.
 

Bei der Grenzbehörde

in Mocorón

Am nächsten Morgen also erstmal zum Häuschen der Migración und "das regeln", jetzt wird's spannend. Das Visum ist um 3½ Monate überzogen, für einen Tag kann man mit 50 $ Strafe rechnen, und wer keine Dollar hat, kommt in' Knast, und in Honduras stell ich mir das nicht so toll vor. Das kann mir also hier blühen.
Ein Typ ist im Häuschen, weiß wohl schon bescheid von dem von der UNO, will also meine Papiere sehen. Ich zeige sie ihm, wie immer, alle documentos, nicht nur Paß und Visum, sondern auch die Zettel vom Reisebüro in Hamburg, die Landkarten von Südamerika, weil sie so schön sind, und den Zettel vom Coronel Sánchez.
"Tja, du hast dein Visum überzogen, fast 4 Monate, das weißt du wohl."
Daß ich dumm bin und das nicht gewußt habe, scheint er mir wohl nicht abzunehmen, so sieht er nicht aus. Was soll ich denn da jetzt noch sagen? Er tut so, als wär ich dran, jetzt irgendwas zu sagen.
"Können Sie mir da jetzt keinen Ausreisestempel geben?"
Schüttelt den Kopf, gibt mir meinen Paß zurück. Anscheinend bin ich wieder dran, was zu sagen. Jetzt weiß ich aber fast gar nichts mehr, was ich noch sagen könnte... ach so, ich muß ja den Dummen spielen:
"Ja. Kann ich jetzt nach Leimus zur Grenze?"
Das war eine sehr dumme Frage, das weiß ich auch selber.
Zu meiner absoluten Überaschung befinde ich mich eine Minute später wieder auf der Straße, und zwar frei, denn er kommt mit folgender Antwort:
"Ja, mit diesem Papier vom 5. Batallón kannst du natürlich nach Leimus."
"Nach Nicaragua?"
"Ja, mit diesem Papier ja."  - Das gibt's doch wohl nicht.
"Ja dann, danke, adiós."

Das gibt's doch wohl nicht! Diese Militärs! Dieser Coronel Sánchez! Mann, das ist ja geil, jetzt weiß ich endlich, wozu die Militärs in solchen Ländern nützlich sind!
Also gut, ich habe noch 2 Tage Zeit, wieder nach Leimus zu kommen. Ich warte in Mocorón in der "Einkaufstraße" auf den Bus zum Posten vor Leimus.
Hier sind die Fußböden der Holzhäuser etwas niedriger, stehen aber auch auf Pfählen. Bei den anderen Häusern sind die Fußböden oft über einen Meter über der Erde. Früher, als sie noch keine Holzbretter kannten, haben sie die Häuser aus einer Art Bambus gemacht. Und statt Wellblechdächern hatten sie Palmwedel von einer bestimmten Palmenart... Blondes Mädchen kommt auf mich zu... - Bettina!
"Hey, Bettina! Was machst du denn hier! Weißt du, daß mir dein Coronel Sánchez eben 'ne ganze Menge Probleme mit der Migración erspart hat?!"
Findet sie gut, lädt mich zum Frühstück zu sich ins Hotel ein, sie ist nur zufällig ein paar Tage hier in Mocorón. Kellogg's Cornflakes, Yuca und gekochte Bananen... und deutsch... manchmal fühlt man sich doch einfach nur gut...
"Wie sehen denn deine Hände aus?"
"Meine Hände? Wieso... - oh, verdammt, die hatte ich vergessen. Die sehen ja genauso aus wie meine Füße..."
Das sei überhaupt nicht spaßig hier in den Tropen, meint sie, weil sich hier sofort alles infiziert. Das sei hier im Llano nicht anders als im Urwald.
Auch die Krankenschwestern in der Klinik sind Mískitos, es ist sehr gut, daß ich die Sprache spreche. Sie behandeln meine Wunden mit irgendso'm ganz fiesen Zeugs, das desinfiziert auf der Stelle, das brauch ich sie nicht zu fragen. "Für die Zukunft" geben sie mir violeta (Kaliumpermanganat), Watte und so'n oranges Jod-Zeugs mit. Es sind 9 offene Blasen an den Füßen, und 4 an den Händen, jetzt alle schön lila angemalt. 3 oder 4 waren schon infiziert.
 

Der Weg durch die Nacht,

Posten vor Leimus - Pransa

Um 5 Uhr abends bin ich wieder am Posten vor Leimus, hallo Jungs, nachkismá, wie geht's, ich muß doch wieder nach Leimus, wie gestern. Sie raten mir ab, nach Leimus zu Fuß zu gehen. Einer sei die Strecke mal abgegangen und wär 5 Stunden gelaufen, aber ohne Rucksack und Schlafsack. Außerdem seien an der Straße 2 Contralager.
"Nachts ist es gefährlich, da langzugehen."
Nach Pransa, das ist auch ein Ort, der am Río Coco liegt, ginge ein Pfad. Der Río Coco ist die Grenze zu Nicaragua.
"Pransa ist nur 2 Stunden von hier, wenn du diesen Pfad langgehen willst. Und morgen kommst du mit dem Boot den Fluß runter nach Leimus, das ist kein Problem."
Also soll ich den unbekannten Weg nach Pransa gehen, und zwar alleine. Na gut, wenn die das sagen. Einen neuen Weg zu gehen, bringt nie einen Nachteil.
Einer zeigt mir, wo der Indianerpfad abgeht, beschreibt ihn mir ein bißchen, und ich gehe wieder alleine über den Llano. Drei andere waren 10 Minuten vor mir losgegangen, wollten auch nach Pransa, aber die werden wesentlich schneller sein als ich. Erstens bin ich barfuß, und zweitens kennen sie den Weg.
Eine Straße würde irgendwann kommen, meinte der Soldat, da müßte ich links. Schon nach 500 m kommt eine Straße, aber die Fußspuren der anderen gehen nach rechts, keine geht nach links. Was mach ich jetzt? Ich geh den Spuren nach - also nach rechts. Und nach weiteren 100 m folgen sie wieder einem Pfad, der rechts abgeht. Und ich auch.
Die Dämmerung ist kurz, und schnell ist es dunkel. Bei Dunkelheit kann ich die Unebenheiten auf dem Weg nicht mehr sehen, das ist gefährlich beim barfuß-laufen. Ich mache eine kleine Pause, ziehe die schwarzen Schuhe wieder an, trinke noch ein bißchen Wasser und mache mich auf den Weg in die Dunkelheit. Leider ist kein Mond.
Das ist hier die Stelle, um die hiesigen Pfade zu loben: die sind so gut ausgetreten, daß du auch bei stockdunkler Nacht auf dem Weg bleibst. Vom büscheligen Gras auf beiden Seiten des Fußpfades wirst du immer wieder auf den richtigen Weg gezwungen.
Es geht immer besser, viel besser, als ich vermuten würde. Und nach einiger Zeit spüre ich auch meine ganzen Blasen an den Füßen nicht mehr. Verdammt, ist der Pfad gut. Stockdunkel ist es allerdings auch nicht: die Venus scheint recht hell. Ja, die Bäume werfen sogar einen Schatten von der Venus. Wo steht die Venus eigentlich, im Osten oder im Westen? Sie müßte im Westen stehen.
Irgendwie geht der Weg in die falsche Richtung. Er geht nach Südost und müßte doch nach West - nach Nordwest... Südwest... Südnord... nein, er geht nach Süd und müßte doch nach Westsüd-Nord, nee, doch Nord, nee... die Venus steht im Westen und ich geh nach... nach... nochmal. Die Venus - halt, still, was ist das?
Geräusche! Keine Lichter, wieder lauter Bäume vor mir. Scheiße, das darf ich nicht machen, meine Gedanken über die Venus laut anstellen, hier ist Kriegsgebiet, mann. Das könnten Contras sein. Stehenbleiben, genau umschauen.
Doch, dahinten sind Lichter, dahinten, 2 Hügel weiter. Warum hab ich das nicht vorher gesehn? Es ist ein Feuer. Vielleicht ein Lagerfeuer von den Contras. Ja, ein Feuer am Berg, das ist genau zu sehen. Etwa 2 oder 3 km von hier. Ob da Leute sind, kann ich aber leider nicht erkennen. Zum Glück geht der Pfad woanders hin.
Ganz vorsichtig geh ich weiter. Die Geräusche sind näher, wie klappern von Metall oder sowas... die Bäume werden dichter, der Pfad geht bergab, durch Gebüsch - knack! Mist, auf'n morschen Ast getreten. Stehenbleiben, ruhig, so laut war das nicht, hat bestimmt keiner gehört, cool bleiben, genau den Geräuschen zuhören. Die Geräusche sind lauter. Sandboden ist hier, komisch. Ich schleich mich leise weiter. Was sind das für Geräusche? Leise, langsam weiter, weiter... noch ein Busch... - oh.
Ein Bach. Das Ufer an der anderen Seite ist 4-5 m hoch. Oder ist es eine Straße? - Nee, is'n Bach. Oder ein Fluß. Daher wohl auch die Geräusche. Ich gehe ganz vorsichtig die Böschung runter, es könnte ja der Río Coco sein, und auf der anderen Seite Nicaragua. Verlaufen hab ich mich bestimmt. Aber sollte der Río Coco in der Trockenzeit wirklich so klein sein?
Ahh, sehr verdächtig, der Bach fließt nach rechts. Der Río Coco müßte auf alle Fälle nach links fließen, weil er in die Karibik mündet. Erstmal Pause machen, Wasser trinken, auf die andere Seite, sogar ohne nasse Füße. Wo geht eigentlich der Weg weiter?
Rucksack und Schlafsack an einen Baum. Tarnen, falls welche kommen, und jetzt erstmal nachschaun, ob die Geräusche tatsächlich vom Bach kommen - ja, korrekt. Scheiße, hier ist kein Weg.
Jaja, das habt ihr euch jetzt gedacht, daß ich den Weg verloren hab... 15 Minuten dauert's, aber dann hab ich ihn, ganz versteckt, hinter Büschen. Hätten ruhig'n Hinweisschild hinstellen können.
Und außerdem ist es der richtige Pfad, weil er nach einer halben Stunde endlich in die Straße mündet, die ich links langgehen sollte. Und die Feuer in den Hügeln sind auch keine Lagerfeuer von Contras, sondern wie zwischen Wampusirpi und Sixatingni einfache Steppenfeuer im Llano, die sich tagsüber von selber entzünden.
 

Bei den Soldaten in Pransa

"Ja, die entzünden sich selber", meinen die Militärs in Pransa, die sich ganz schön wundern, daß ich bei dieser Dunkelheit noch den Weg gefunden habe. Betrunken sind sie.
In der zerbombten Kirche ist noch ein Holzbett. Die Soldaten sind wirklich ganz schön blau, aber sie haben zum Glück Respekt vor der Unterschrift von ihrem Chef auf meinem Zettel.
In der Nacht fängt es einmal voll an zu regnen, es trommelt wie wild auf das Wellblechdach. Nicht lange. Aber die Regenzeit wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.
Morgens scheint wieder die Sonne. Es gibt Frühstück... bißchen sich mit den Soldaten unterhalten, auf das Boot nach Leimus warten.
KRACH !! - Ein Schuß, von hinter den Bäumen, ich erschreck mich voll. Die Soldaten hören dem Nachhall zu... - "ja, waren unsere", urteilen sie fachgerecht, und unterhalten sich cool weiter.
"Passiert das öfters?", frage ich sie.
"Jaja, das machen die immer."
"Drüben in Nicaragua auch, auf der anderen Seite vom Fluß?"
"Ja, die auch.", sie lächeln ein bißchen.
"Und im Fluß, kann man da schwimmen?"
"Ja, klar, logisch."
"Und auf die andere Seite?"
"'darf sich halt nicht erwischen lassen -"
"- vom eigenen Chef!", meint lachend ein anderer. Das will ich jetzt genau wissen.
"Seid ihr denn schon mal rübergeschwommen?"
"Ist 'ne Woche her...", scheint wohl so 'ne Art Mutprobe zu sein. Kommt ein anderer: "mach schnell, die warten schon, am Ufer."
 

Bootsfahrt auf dem Río Coco,

von Pransa nach Leimus

Also schnell hin. 4 Indianer im Einbaum, sie nehmen mich mit. Fahren den Fluß runter, paar Stunden sind das. Ganz schön heiß wird es am Mittag. Natürlich kreuzt das Boot ständig die Flußmitte, Respekt vor der Grenze zeigen sie überhaupt nicht. Wieso auch, auf beiden Seiten leben Mískito-Indianer. Der Fluß ist vielleicht 30-50 m breit.
Sie interessiert es natürlich, wo ich herkomme und wo ich mískito gelernt habe, auch, wie es in Wampusirpi aussieht, und so vergeht die Zeit schnell.
Einmal, wir sind gerade wieder in Nicaragua, halten sie am Ufer an und winken eine Frau herunter, die gerade in einem Melonenbeet dabei ist. Kurzes Gespräch, wo kommt ihr gerade her, fragt sie.
"Wir kommen von recht weit oben."
"Und der míriki, was macht der hier?"
"Der ist von Pransa -"
"Der spricht nur spanisch, bestimmt, oder noch 'ne andere Sprache...?"
"Nein, der spricht gut mískito - erzähl ihr doch, wo du grad herkommst, Francisco."
"Naja, ich hab 3 Monate in Wampusirpi am Patuca gewohnt und will jetzt nach..." - das Gesicht dieser Frau, es gibt Sachen, die sind einfach nicht bezahlbar.
Und gleich noch eine Runde Melonen, und noch eine, ich kann nicht mehr... aber es geht solange, bis wir voll sind. Auf dem Fluß kommt mir die Strecke ganz schön weit vor, gelaufen wäre ich das bestimmt nicht in 5 Stunden.
 

Leimus, Nicaragua

"Das ist Leimus, hier ist Schluß -". Danke für's Mitnehmen. Nur wundere ich mich, daß ich auf der nicaraguanischen Seite bin, nicht auf der honduranischen, ich sollte doch den honduranischen Militärs den Sánchez-Brief wieder zurückgeben. Na, was soll's, jetzt bin ich eben in Nicaragua.
Ich stecke den Brief in die Tüte zu den Landkarten und den anderen Papieren. Das ist leichtsinnig! Warum bin ich nicht vorsichtiger? Ich denke in diesem Moment gar nicht daran, daß ich hier von Kopf bis Fuß durchsucht werden könnte. Ich denke allerdings auch nicht daran, daß wenn sie mich hier durchsuchen, sie das heiße Dokument am wenigsten in dieser Tüte vermuten würden, also zwischen den paar Papieren, die ich als erstes auf den Schreibtisch lege.
Leimus, Nicaragua - das sind also 3 große Häuser, nicht Holzhäuser auf Pfählen, sondern mit Beton-Fußboden und mit Mauern und so. Es ist die Stelle, wo die Flüchtlinge ankommen, die von Honduras wieder nach Nicaragua zurückgehen, in der Mehrheit Mískitos.
Ein paar Schritte gehe ich - da, einer in Tarnhose, so sehen sie auch hier aus, die Militärs.
"Ja, warte mal", meint er, geht und holt seine Chefin. Die Chefin von der Brigade hier. Sie ist auch nett.
"Gehn wir mal ins Haus, zu meinem Büro."
"Ja", meine ich, "para que hablamos."
"Para que platicamos.", verbessert sie mich. "Damit wir uns unterhalten können" - die Wörterbücher sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.
Lauter Gerümpel im Haus, alle möglichen Kisten, Kartons, stehen überall rum, irgendeine Kiste hat sie als Schreibtisch genommen. So, und jetzt muß ich gut sein, denn Europäer brauchen ein Visum für Nicaragua, und das hab ich mir in Tegucigalpa nicht geholt. Weil ich kein Bock dazu hatte, weil das 60 $ kostet. Deshalb ist es auch mein 2. Anlauf, hier nach Nicaragua reinzukommen, vor 3 Monaten hatten sie mich ja an der Grenze in den Bergen in Las Manos bei Danlí kalt wieder zurückgewiesen. Im Regen. Ja, freiwillig lassen sie einen nicht rein, da muß man schon besser sein als seine Papiere - Ausreisestempel aus Honduras habe ich ja auch nicht.
"Ja, ich bin Schriftsteller und schreibe ein Buch, und muß hier in Nicaragua einige Recherchen machen. Jetzt hab ich drüben in der honduranischen Moquitia gearbeitet und bin aus diesem Grund jetzt hier in Leimus über die Grenze gekommen.", diesen schlauen Spruch werde ich in diesem Land noch etwa 15 mal bringen.
"Aha, interessant. Und wie heißt das Buch?"
"Die Welt und die Arbeit - El mundo y el trabajo.", man muß sich ja den Gegebenheiten anpassen...
Ich hole einen Zettel raus, den ich schon in Wampusirpi dafür vorbereitet hatte (mit den einfachsten Stiften) und der wirklich wie gedruckt aussieht. Mit Stempel, Unterschrift und Briefkopf, von der "Solidaritätsgruppe Nicaragua libre", wo in ein paar Zeilen erklärt wird, daß ich hier höchst solidarisch engagiert bin, ein Buch schreibe und ein zuverlässiger Typ bin. Macht jedenfalls nicht schlecht Eindruck, das Ding. Außerdem bewundert sie, daß ich mískito spreche. Sie ist wirklich freundlich und zuvorkommend.
"Bueno, also gut", meint sie, "hier haben wir leider keine Einreisestempel, aber das kannst du in Puerto Cabezas regeln, das wird kein Problem sein."
Sie selber stellt ein Stück Geschichte Nicaraguas dar. Vor 10 Jahren als Partisanin gegen Somoza mitgekämpft, verwundet, heute leitet sie die Brigade in Leimus. Nicaragua hat offensichtlich ein anderes Verhältnis zu Frauen, wenn ihr sogar die Soldaten unterstehen.
"Der einzige Weg für die Frauen, die Gleichberechtigung zu erlangen, ist die Revolution.", meint sie zu mir.
Auch die Witze der Männer in der Brigade über Frauen sind nicht so abschätzig wie die in Mexico.
Höherer Militär kommt an, im Jeep... wieder Papiere, wieder die ganze Geschichte erzählen...
"Ja, das beste ist, wir schicken ihn morgen nach Puerto Cabezas.", sagt er zu seinem Kumpel.
Sie sind auch recht freundlich, momentan ist nicht viel los im Krieg. Verhandlungen mit den Contras. Er ist auch Mískito-Indianer.
"Ja, und die Autonomie, die wir uns erkämpft haben, werden wir uns nicht mehr nehmen lassen."
Vor 2 Jahren, 1986, nachdem die Mískito-Indianer (YATAMA) zu den Waffen gegriffen hatten (die waren natürlich wie die Contras von den USA gesponsort worden), hat die Regierung in Managua ihnen die Autonomie zugestanden. Schlimme Kämpfe soll's gegeben haben, die Sandinisten hätten ganze Dörfer niedergebrannt, nicht von nichts gibt es soviele Flüchtlinge in Honduras.
Er betont, daß der Kampf der YATAMA nichts mit dem Krieg der Contras gegen die Sandinisten zu tun hatte. Er und die meisten Guerilleros der YATAMA seien hinterher in die sandinistische Regierungsarmee Nicaraguas integriert worden, zusammen mit den Waffen übrigens. Wenn sie nicht gegen die Sandinisten waren, was war dann der Grund, warum der Widerstand der Indianer, frage ich mich. Und ihn.
"Die Sandinisten haben eingesehen, daß sie in den ersten Jahren ihrer Regierung große Fehler begangen haben, hier in der Mosquitia."
Jetzt haben sie die Autonomie, daß heißt, daß die Regierung Managuas hier innenpolitisch nichts mehr zu sagen hat. Er ist stolz darauf, daß es eine besonders tolle und weitreichende Autonomie ist. Die weitreichendste der Welt. Ja, wirklich.
Vielleicht hatten die Sandinisten die Mosquitia als eine Art Kolonie betrachtet.
Bis morgen kann ich mich noch ein wenig ausruhen und meine Füße kurieren. Das Jod-Zeugs hilft zwar ein bißchen, aber 2 Wunden sind schon wieder infiziert.
Am nächsten Morgen fahren mich die Militärs ein bißchen durchs Land spazieren, bis zu einem größeren Ort an der Straße nach Puerto Cabezas, wo es auch eine Klinik gibt, wieder Füße behandeln. Die Militärs fahren wieder zurück nach Leimus, schreiben aber einen Brief und geben den zusammen mit meinen Papieren drei Pastoren, die extra warten müssen, die nehmen mich mit. Eigentlich wollten sie schon früher nach Puerto Cabezas abfahren.
 

Die Piste nach Puerto Cabezas,

über den Llano

Total robuster 4türiger Pritschenwagen, Toyota, von der Moravischen Kirche. Die Piste geht über'n Llano, sie heizen ganz schön lang. Spanisch spricht nur einer. Ich sitze hinter dem Fahrer, mache das Fenster wieder zu, es wird kühler. Bald wird's dunkel.
Die Schotterstraße ist an einigen Stellen ganz schön rutschig. Mensch, der kann doch nicht mit 80 km/h diese Piste langheizen. Einmal kommt ihm der Wagen an einer rutschigen Stelle fast aus, er bremst, fährt fast in den linken Graben, dahinter steht alles voll mit Kiefern... kriegt die Kontrolle aber im letzten Moment zum Glück wieder, er war nur 60 gefahren an der Stelle.
"Ja mann, pass fei auf, das ist nicht so einfach hier.", meint der neben mir.
"Ist das noch weit bis Puerto Cabezas?", frage ich. Normalerweise frage ich ja so etwas nicht, aber bei dem Fahrstil weiß ich auch nicht so recht...
"Stunde, 1½ Stunden", meint er, "bei Helligkeit werden wir das wohl nicht mehr schaffen."
Der Fahrer scheint anderer Meinung zu sein. Die Piste wird wieder etwas besser, übersichtlicher, die Kurven weniger eng, es sind keine Schlaglöcher mehr da. Dauert nicht lange, und er pest wieder mit 70 über'n Llano. Oder 80. Ich schaue immer auf den Tacho.
Dann, nach einer unscheinbaren Kurve, passiert's. 80 km/h hat er drauf. Der Wagen rutscht auf den Schottersteinchen rum, kommt auf die linke Straßenseite, fast in' Graben, immer noch 80 km/h, er muß gegenlenken, weil da lauter Kiefern stehen, kommt ins schleudern, schleudert auf die rechte Straßenseite, dreht sich quer, überschlägt sich um 90°, mein Nachbar fällt auf mich drauf, ich falle gegen das Fenster, natürlich ist keiner angeschnallt, der Wagen kommt über dem linken Straßengraben zum Liegen. An dieser Stelle wachsen nur ein paar kleine Kiefern. Moment Ruhe.
"Verletzt?"
"Nein -", und Fenster sind auch keine kaputt. Krabbeln wir aus dem auf der Seite liegenden Wagen. Voll robust der Japaner, hat kaum paar Kratzer. Scheint wohl für sowas gebaut zu sein. Toyota.
Es dauert eine Stunde, bis wir ihn wieder aus dem Graben haben. Es ist schon längst dunkel. Jetzt fährt er vorsichtig.
Brücke über den Río Likus, wieder Posten, wieder Kontrolle, alle Brücken werden bewacht. Sie wollen uns nicht weiterlassen, erst morgen wieder. Alles diskutieren hilft nichts. Also gehen wir zum Ort, sie holen den Pastor aus dem Bett.
Am nächsten Morgen kommen wir dann endgültig in Puerto Cabezas an, der zweitgrößte Ort an Nicaraguas Karibikküste. Oder Atlantikküste, wie sie es hier nennen. Im Häuschen der Migración ist noch keiner, also fahren sie zum Haus des Pastors der Moravischen Kirche und setzen mich da ab. Der ist auch sehr nett und bietet mit gleich an, die Nacht in seinem Haus zu schlafen.
 

Der sympatische Ort

Puerto Cabezas

Um 10 aber erstmal zur Migración, mit dem Toyota-Pastor. Der Chef-Militär zu den Pastoren:
"Was? In Leimus ist der rein? Das ist doch kein Grenzübergang für Touristen, wieso schleppt ihr den hier an?"
"Ja, wir machen nur, was ihr Kollege in Leimus uns aufgetragen hat, nix weiter."
"Jaja, schon gut... der spinnt wohl, wer war denn das?"
Sie geben ihm den Brief und die Papiere. Im folgenden Gespräch gelingt es mir auch, aber nur mit viel Mühe und vor allem Geduld, den Militär, der mit seiner Brille genau wie Sandinisten-Chef Daniel Ortega aussieht, zu überzeugen. Von meiner wichtigen Arbeit als Schriftsteller. Der Militär von Leimus ist wohl zufällig ein Freund von ihm. Am Ende drückt er mit den Einreisestempel in den Paß: "6.5.1988, Leimus."
Ich habe es geschafft, ich bin nach Nicaragua reingekommen!! Obwohl, ganz zuende ist die Geschichte noch nicht, denn sie haben meinen Paß noch dabehalten, den soll ich morgen abholen, weil ich noch 60 $ umtauschen soll. Die Bank hat aber leider schon zu, also auf morgen warten.
"Ach weißt du, das kannst du aber auch in Managua erledigen", meint er, weil ich nach Managua soll, weil ich erst recht keine besondere Erlaubnis für die nicaraguanische Mosquitia habe. Ich soll zum Flugplatz und mich nach der nächsten Maschine erkundigen, er beschreibt mir den Weg dorthin. Erstmal gehe ich aber wieder zum Haus vom Pastor.
Das erste, was ich jetzt machen muß, ist, mir neue Schuhe zu organisieren. Ein tolles Gefühl, als freier Mensch durch Nicaraguas Straßen gehen zu können. Ich koste es richtig aus, berechtigterweise, wie sich wenige Stunden später herausstellen wird.
Vor einem Haus sprechen zwei mich an, Schuhe Größe 45 brauche ich, sage ich ihnen.
"45?! Sowas gibt es hier nicht", meint die Frau, "die Läden haben auch schon zu heute."
Er hat eine Idee.
"Hinten beim MinCon arbeitet doch ein Deutscher, da an der Straße nach Managua raus, fast am Ende des Ortes ist das, in der Fabrik. Vielleicht kann der dir weiterhelfen."
Sie beschreiben mir den Weg, nur immer die Straße nach Managua langgehen. 547 km nach Managua, aber die Straße ist nur in der Trockenzeit befahrbar. Busse gibt es nicht, der Flugverkehr wird von der Regierung gesponsort. Zu Fuß kann ich mit diesen Schuhen nicht losgehen, das ist klar.
"Hola, compañeros, arbeitet hier ein Deutscher?"
"Ja - da durch."
Hö, klappt ja gut. Uli ist Dreher und hat bis 1980 (wie ich!) in Mainz gewohnt, war in der Gewerkschaft aktiv, seit etlichen Jahren ist er jetzt aber schon in Nicaragua, ist mit 'ner Nicaraguanerin verheiratet, die haben 2 Kinder.
"Schuhe Größe 45? - Mann, hast du Pech, weißt du was? Vor 2 Tagen habe ich ein Paar Schuhe Größe 45 verschenkt! 2 Jahre gammelten die bei mir schon rum, ich konnte die nicht brauchen. Und der Willi dem ich sie geschenkt hab, kann sie auch nicht brauchen..."
Heute ist viel Arbeit, aber er will nach Feierabend nochmal bei dem Typen vorbeischauen, ich soll um 3 an seinem Haus sein. Gleich beim Flugplatz. Okay, bis dann.
Hoffentlich kriegt er den Typen nochmal, das wär ja super. Gut, ich gehe langsam wieder in den Ort, richtung Flugplatz. "Ortega" kommt im Jeep vorbeigefahren, ich soll morgen nochmal bei der Migración vorbeischauen. Ja, ist ja klar, mein Reisepaß ist ja noch da. Der Flugplatz hat leider auch schon Feierabend.
Zurück im Haus des Pastors, erfahre ich, daß in paar Tagen welche mit dem Auto nach Managua fahren wollen. Da hätte ich Lust, mitzufahren, das erlaubt Ortega bestimmt. Ich warte bei Ulis family, er kommt pünktlich (was seltenes in dieser Gegend!) - und er hat die Schuhe! Und sie passen, ich freue mich riesig.
"Mit dem Typen in der Migración hast du riesiges Glück gehabt, weiß du das", meint er zu meiner Geschichte mit Ortega, "vorher hatten sie da so einen Idioten, so'n Oberarsch, auf deutsch kann ich's ja sagen, der hat nix durchgehen lassen und wie so'n Sack auf seinen idiotischen Vorschriften bestanden. Dem hättest kein Kappes erzählen können. Kann sein, daß se den endlich abgelöst haben. - Oder er hat seinen eigenen Chef abgelöst, das ist eher wahrscheinlich. Der war nämlich auf der Abschußliste. Der hatte aber was drauf. Den ham sie garantiert gelinkt. Aber was reg ich mich auf. Diese Sorte Schleimer gibt's überall, das ist hier genauso wie anderswo..."
"Nee nee, Ortega, das kann der nicht gewesen sein. Der war anders drauf. Der war Sandinist, der war mit Überzeugung dabei. Weißt du, so einer, der für eine Sache kämpft, nicht für Vorschriften und Ordnung und so'n Müll. Mit dem konnte man schon reden."
Uli erzählt mir viel über Nicaragua, über das Land, über den Krieg, die Mosquitia. Ich erzähle ihm von den großen Friedensdemonstrationen in Deutschland, ja, diese neue ökologische Bewegung da in Europa, da hat er auch schon von gehört...
"Gewaltfreiheit, das ist wohl jetzt das neue Wort, das scheint da in Mode gekommen zu sein. Aber das ist doch ein gewaltiger Irrtum, wenn du glaubst, daß du in der Welt auch nur irgendeine Veränderung erzwingen kannst, wenn du ausschließlich zu gewaltfreien Mitteln greifst! Die Pazifisten, die halten nur ihr Gewissen rein, das ist alles, und verändern tun sie in Wirklichkeit überhaupt nichts! Veränderungen setzen nur allein die durch, die mit der Waffe kämpfen, und die sind es, die für den Pazifismus ihren Kopf hinhalten! Das ist das, was ich erkannt hab, und daraus hab ich die Konsequenz gezogen." Er war öfter schon bei Kampfeinsätzen dabei, erzählt etwas über seine Aufgaben, die er bei den Einsätzen hatte.
"Alle Revolutionen mußten bis jetzt mit der Waffe durchgesetzt werden, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Oder kannst du mir auch nur ein einziges Beispiel nennen, wo mit gewaltfreien Aktionen irgendwelche Weltmächte besiegt wurden? Du glaubst doch nicht tatsächlich, so ein paar Pazifisten könnten die Herrschenden beeindrucken? Also von einem gewaltfreien Befreiungskampf hab ich jedenfalls noch nie was gehört!"
"Gandhi."
"Das - Gandhi?? Was meinst du jetzt, - Indira Gandhi? Die hat doch nicht nur friedliche Mittel eingesetzt."
"Na, nun sag bloß, du hast noch nie was von Mahatma Gandhi gehört. In welcher Welt lebst du denn? Aber daß Großbritannien eine Weltmacht war, ist dir schon bekannt, ja?"
"Großbritannien war eine Weltmacht, aber das gab damals überall blutige Aufstände, auch in Indien. Und die waren es, die die Engländer letztlich zum Abzug gezwungen haben, nicht der Pazifismus."
"Der Befreiungskampf Indiens war gewaltfrei. Ich meine, tut mir leid, aber die Geschichte ist nicht anders gelaufen."
"Ach so, na gut, das mag vielleicht einmal geklappt haben, da kenn ich mich jetzt nicht so gut aus, das... das ist dann wohl immer so das Beispiel. Das war aber auch keine richtige Befreiung in dem Sinn... die Ausbeutung ist dort ja nur in eine andere Form der Ausbeutung übergegangen. Du brauchst dir doch bloß ankucken, wie Indien heute dasteht, also grade Indien kannst du ja wohl wirklich nicht als Beispiel nennen."
Trouble mit den Sikhs, trouble mit den Moslems, trouble mit den Gurkhas, trouble mit den Tamilen...
"Doch."
"Es ist gar nicht möglich, die Welt mit friedlichen Mitteln zu verändern. Okay, anscheinend glaubst du ja, daß es doch möglich ist."
"Nun gut, ich persönlich bin der Meinung, daß es gar nicht möglich ist, die Welt anders als mit friedlichen Mitteln zu verändern."
Ich frage ihn, ob die Sandinisten eine bessere Weltmacht wären, und warum die YATAMA, die Guerilla der Mískitos, vor 3 Jahren zu den Waffen gegriffen hat.
"Die wollten einfach nur mal Rabatz machen", ist seine Antwort, die mich aber auch nicht ganz überzeugt.
"Andere haben mir gesagt, es könnte damit zusammengehängt haben, daß die Sandinisten ihren campesinos nach der Revolution gemäß ihren Versprechungen Land zugewiesen haben - ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß es Land der Mískitos war."
"Ja, sicher, das mag alles mit reingespielt haben, aber für sowas gehe ich noch lange nicht in den Krieg." - Vielleicht bist du kein Indianer...
"Es ging los, als die Sandinisten die Schulpflicht einführten, und sie gezwungen wurden, spanisch zu lernen."
"Ja, das war so ein Anlaß, den haben sie gesucht. Das haben die Sandinisten aber sofort wieder eingesehen, daß das ein Fehler war. Du mußt die Mískitos verstehen, ich sag dir, du kennst die nicht - wenn da einer von denen Panik macht, glauben alle, die Welt würde über ihnen hereinbrechen. Die sind so leicht zu manipulieren!"
Da hat Uli aber auch recht, das hatte ich da in Wampusirpi ja auch erlebt, als da auf einmal alle panisch fürchteten, die Sandinos würden nach Wampusirpi kommen.
 Am Abend bin ich wieder beim Pastor. Er zeigt mir die neue Kirche, die sie neben seinem Haus auf einem Grundstück bauen. Es stehen erst die Grundmauern.
"Siehst du, die 20 Leute, die da arbeiten, das machen die alles freiwillig, die kriegen kein Geld dafür. Nur das Essen geben wir aus. Jeden Tag arbeiten die hier. Hier ist ganz hohe Arbeitslosigkeit und die Menschen sind arm."
Als wir im Haus auf der Terrasse sitzen, geht auf einmal das Licht aus, alle Lichter im Ort gehen aus. Dann hören wir Schüsse oder Granaten in der Ferne, sehen Lichter in der Luft. Militär-Lkw's rasen die Straße entlang, nach Norden, zum Flugplatz. Nach einer Weile ist Schluß, die Militär-Jeeps kommen wieder zurück, nach einer halben Stunde geht auch das Licht wieder an.
"War wohl ein Flugzeug der Contras, das sie aufs Meer rausgejagt haben", erklärt der Pastor.
Am späten Abend kommt uns nochmal ein Militärjeep besuchen, ich soll meine Sachen alle packen und mitkommen, nochmal zur Migración.
 

Ein Comandante der üblen Sorte

Der Comandante, der Vorgesetzte von Ortega, ist da. Er sitzt hinter dem Schreibtisch im Zimmer der Migración. Es ist der höchste Militär hier am Ort. Hinterher erzählen sie mir, daß er einem Stab von 4 Ober-Militärs vorsitzt, und weil Kriegszustand ist, ist er gleichzeitig praktisch der Bürgermeister.
Ich soll nochmal alles von vorne erzählen. Er macht mir die dicken Vorwürfe, warum ich dahinten in Leimus über die Grenze bin. Woher ich das hätte, daß das ein Grenzübergang für Touristen sei.
"Aber hombre, das hat mir doch der honduranische Militär gesagt, der vom 5. Batallón, daß in Leimus der Grenzübergang ist."
Und das stimmt auch, denn Sánchez hatte mir genau das gesagt und nichts anderes. Will er mir aber nicht glauben.
Nein, das werde ich jetzt nicht machen, den Sánchez-Brief aus der Plastiktüte holen, der das bezeugen würde. Auch wenn ich die Tüte gerade in der Hand halte. Sánchez mag Militär sein, aber er hat mir einen Gefallen getan, und ich habe ihm versprochen, den Brief nicht den nicaraguanischen Militärs zu zeigen.
Ortega hatte ja auch so gefragt, der hat aber dann etwas über meine Absichten hier und über meine politische Meinung wissen wollen, und ließ mit sich reden.
"Verstehen Sie es doch nicht falsch, Señor Comandante. Ihre Leute haben mich doch hierhergeschickt, ich bin doch nicht auf eigene Faust nach Puerto Cabezas gekommen. Ihre Leute haben die Pastoren angewiesen, mich hierherzufahren."
"Erst sagst du, die Hondureños hätten dich hierhergeschickt - jetzt sagst du, unsere Leute wären's gewesen! Du widersprichst dir doch selber! Bilde dir bloß nicht ein, daß ich dir auch nur ein Wort davon glaube!" - mieser Rhetoriker. Kein Wunder, daß das Land nicht weiterkommt, wenn es von solchen Leuten regiert wird. Der checkt ja nichts.
"Ich habe doch gar nicht versucht, hier grün über die Grenze zu gehen."
"Komm mir bloß nicht mit der Tour! Damit kommst du bei mir nicht durch, daß du's weißt! Was hast du gemacht, als du da rein bist?!""
"Ich habe mich sofort nach der Anlandung des Bootes an die örtlichen bewaffneten Streitkräfte gewandt und gefragt, ob ich wohl einreisen dürfte. Die haben gesagt, ja, und ich solle nur in Puerto Cabezas zur Migración, das ließe sich ohne Probleme regeln. Wenn die nein gesagt hätten, wäre ich doch ohne Widerstand wieder zurück nach Honduras gegangen. Ich habe doch nur das gemacht, wozu Ihre Leute mich angewiesen haben."
Hilft alles nichts, er bleibt bei seiner Haltung und glaubt mir nichts, was ihm nicht in den Sinn paßt. Er wird laut und sagt, ich würde eine unglaubliche Geschichte erfinden.
Jetzt ist genau der Moment, wo ich kein' Bock mehr hab mit ihm. Na gut, dann werden wir eben nicht einer Meinung. Er weiß ja gar nicht, daß ich schon längst gewonnen habe. Er kann's doch gar nicht mehr vermiesen!
Ich frage mich, was will er eigentlich? Ich habe es geschafft, über Leimus nach Nicaragua reinzukommen. Da kann er sagen, was er will. Und habe von Ortega einen Stempel im Paß. Der Stempel ist da drin, den machst du nicht wieder raus. Hat er anscheinend auch gar nicht vor. Mehr wollte ich doch gar nicht. Was will ich denn hier? Entweder ich bleibe etwas in diesem Land oder ich drifte weiter in das nächste.
Wenn ich Glück habe, schicken sie mich sogar nach Costa Rica und nicht zurück nach Honduras, und ich könnte sogar weiter nach Südamerika. Bin ich nicht schon am Ziel meiner Wünsche? Was will ich denn mehr? Ich bin hier in Puerto Cabezas, in Nicaragua - er kann's gar nicht mehr vermiesen.
Na, mal kucken, wie die Diskussion ausgeht, ich bin ja selber gespannt.
"Du bist illegal über die Grenze, ist dir das nicht klar?!"
"Ja, jetzt, wo Sie mir es sagen, weiß ich es. Es tut mir ja auch leid, Señor Comandante."
"Tut mir leid, tut mir leid - das kann jeder sagen!! Wenn wir das durchgehen lassen, kommen nachher die Touristen scharenweise in Leimus über die Grenze! - Ausreisestempel aus Honduras hast du auch nicht!" - und pfeffert mir den Reisepaß auf den Tisch.
Oh nein, er hat wohl Ärger mit seiner Frau gehabt, genauo sieht er aus. Was ich mit den Contras und den Flüchtlingen zu tun gehabt habe da drüben, will er wissen, "oder arbeitest du am Ende noch für lasía? -  - Jetzt sag bloß nicht, du weißt auch nicht, was das ist!"
Ich weiß es tatsächlich nicht, scheiße, ich kann kein so gutes Spanisch, und er spricht total schnell.
"¿Lasía?", ich frage ihn, ob ich das Wort richtig verstanden habe.
Wahrscheinlich nicht, ist mir auch egal. Aber ich will doch wenigstens mitkriegen, um was es geht, wenn er sich schon solche Mühe gibt, mir Vorwürfe zu machen. Was heißt lasía? La sía? La ist der weibliche Artikel, Silla heißt Stuhl... oder ist Lasía irgendein Contra-Chef? Lazo heißt Seil, Lacilla könnte Bande heißen... oder ist es eine Abkürzung? Hat er wirklich gesagt, ich arbeite für...? Oder meinte er SIDA, das haben sie mir in Mexico beigebracht, was besseres hatten die da nicht zu tun, als mir sowas beizubringen: La SIDA heißt AIDS.
Nein, ich krieg wirklich nicht raus, was er meinen könnte. Er schaut mich an, als ob er von mir eine Stellungnahme erwarte. "Stell dich nicht dumm", sagt sein Blick. Was hast du dazu zu sagen.
Also gut, soll ich jetzt einfach irgendeinen blöden Müll sagen? Es wär sowieso egal, was ich sage, denn das, was ich sage, hat auf den Inhalt des Gesprächs eh herzlich wenig Einfluß. Er wird mich entweder ausweisen oder in den Knast stecken, das ist klar. Beides wär okay, ich bin eigentlich zufrieden mit der Situation. Nicaragua erleben, unverfälscht, genauso wie es ist, live, und auch noch steuerfrei... ich entscheide mich dafür, keinen blöden Müll zu sagen, sondern höflich zu versuchen, herauszubekommen, was der Inhalt des leicht einseitigen Gesprächs sein mag.
"Lasía? Wie wird denn das geschrieben?", frage ich. Bäh, sagt er mir natürlich nicht. Ach, du bist gemein.
Erst viel später werde ich rauskriegen, daß in der spanischen Sprache alle ausländischen Abkürzungen wie spanische Wörter ausgesprochen werden - er meinte den amerikanischen Geheimdienst CIA, und der ist außerdem weiblich.
Offensichtlich kann er sich keinen Reim drauf machen, warum ich "so tue", als würde ich nicht wissen, was CIA bedeutet. Soll er mich für ober-verdächtig oder für total doof halten? Auf einmal fängt er an, unsicher zu wirken. Der Elan ist raus. Er nimmt seinen Kugelschreiber in die Hand, legt ihn wieder weg. Sieht den anderen Militär an. Sieht wieder mich an.
"Was sollen wir jetzt mit dir machen? Mach mal einen Vorschlag! Wir schicken dich zurück, nach Honduras!"
"Ja, in Ordnung, einverstanden. Schicken Sie mich nach Honduras -", meine ich beruhigend, " - oder nach Costa Rica."
Der Trick war super. Zum ersten Mal hat er mir zugehört! Ich sehe ihm richtig an, daß er über das gedankliche Kunststück Costa Rica nachdenkt.
Und mit Erfolg. Denn das mit Honduras läßt er natürlich gleich wieder fallen, ich könnte ja dort was mit den Contras zu tun gehabt haben, so undurchsichtig und verdächtig, wie ich mich hier benehme.
"Dich schicken wir nach Managua, sollen sich die mit dir rumärgern.", ich soll ein paar Tage auf das Flugzeug warten, und zwar hier, im Häuschen der Migración. Geil, Managua.
Er setzt einen Brief auf, der sich ihm entsprechend liest. Mit Schreibmaschine. Dann gibt er ein paar Anweisungen an seine Untergebenen, wie und für wann sie das Flugzeug zu organisieren haben. Ortega sagt ihm, ich könne auch beim Pastor im Haus schlafen.
- "Nein, hier, hab ich gesagt."
Macht nichts, Ortega, war gut gemeint. 2 ½ Tage verbringe ich im Migrationshäuschen, eingesperrt in einem ganz kleinen Zimmer mit lauter Müll und Gerümpel drin. Klo haben sie auch nicht.
Kurze Zeit später bin ich mit Nelson, dem wachhabenden Teniente zusammen. Ein einfacher Angestellter. Mit seinen Kumpels und mit mir spricht er englisch.
"Du mußt besser spanisch lernen, ohne spanisch zählst du hier nichts", sagt er, und gibt mir ein spanisches Enid-Blyton-Buch zum Lesen.
Das ist Nicaraguas Atlantikküste. Die einfachen Leute sprechen englisch, kein besonders gutes, denn in der Schule müssen sie spanisch lernen. Nach der Revolution werden sie verstärkt dazu angehalten. Bis 1898 war dieses Gebiet unter Kontrolle von Engländern, zuerst als Kolonie, später als Piratenschlupfwinkel. Der größere Ort heißt Bluefields. Die Sprache der Karibik ist englisch. Karibisches, kein amerikanisches Englisch.
Die Mískitos hatten immer Kontakt zu den Engländern, nicht zu den spanischsprechenden Mestizen in den Bergen. Die englischsprachige Bevölkerung lebt an der Küste, die Mískitos weiter landeinwärts. Viele Wörter der Mískito-Sprache sind aus dem Englischen entlehnt, Wörter wie "Arbeit, lernen, Schule, brauchen, wollen", nur die allermodernsten Fremdwörter ("Auto, Straße, Satelliten") aus dem Spanischen.
Die Somoza-Regierung hat sich um die Region nicht gekümmert, aber die Sandinisten haben zunächst wohl nichts besseres zu tun gehabt, als den Leuten zu sagen, wer hier das Land regiert. Gut, sie regieren es, ich sehe es ja ein, aber was haben sie davon? Die einzigen, denen es hier gut geht, sind die Comandantes.
Aus dem Müllkübel fische ich mir unauffällig ein auf einer Seite unbeschriebenes Blatt Papier und verstecke es... als Vorrat, wenn ich mal was schreiben will... 1000 km weiter werde ich mir dadrauf meine Panamá-Karte malen, und noch 1000 km weiter, in Südamerika, einmal, aus Langeweile, zufällig lesen, was auf der Rückseite mit Schreibmaschine geschrieben steht: Es ist ein Brief von Nelson an irgendeinen Comandante, er versteht nicht, warum sie ihm schon zum 2. Mal den Lohn kürzen, seit 6 Jahren arbeite er schon für das Militär, müsse jetzt außerdienstlich jobben und wisse nicht, wie er seine 6 Kinder weiter ernähren soll.
Manche Mískitos wollen gerne mal nach Honduras, Freunde oder Verwandte dort besuchen, vielleicht mal paar Wochen dableiben. Einen Reisepaß hier im Häuschen der Migración zu kaufen, kostet aber 1100 Córdobas (über 100 US-$). Für die meisten Leute an der Atlantikküste sei das nicht erschwinglich, sagt Uli. Was machen sie? Sie gehen über die Grenze, melden sich als Flüchtling in irgendeinem Lager, und gehen mit repatriación  wieder zurück. Ein Flüchtling in Honduras sagte mir, es gebe Spezialisten, die das schon 3mal gemacht haben.
 

Ab nach Managua

48 US-$ zahle ich für den Flug 3 Tage später nach Managua. Ich werde sogar extra von einem Soldaten "begleitet", wir sitzen in der letzten Reihe in der alten polnischen Maschine, die vielleicht 100 Leute in die Hauptstadt fliegt. Ich "darf" am Fenster sitzen. Nicaragua von oben, das ganze Land überfliegen, zunächst über den Llano, den Wald, dann über die Berge... we look down on the mountains, this is the song of the stars...
Managua. Sie fahren mich ans andere Ende der Stadt, auf eine Anhöhe, hier steht ein Haus, eine Art Villa, Innenministerium, steht dran. Zwei Leute fragen mich wieder zweimal das gleiche und ich erzähle ihnen auch wieder zweimal das gleiche. Daß meine documentos über die große Solidaritätsarbeit gefälscht sind, fällt ihnen auch nicht auf. Ich geb mich als Sozialist aus. Schaden kann das nicht, sage ich mir, und sollen sie doch denken, was sie wollen.
Alles, was im Rucksack ist, wollen sie genauestens aufschreiben, alle Sachen werden genau notiert. Auch alles, was ich an Geld habe, alle meine Papiere, alle Kleinigkeiten filzen sie genau durch. Nur eine Sache entgeht ihnen: ausgerechnet der Sánchez-Brief aus Honduras. Nein, nein, den zeig ich euch nämlich nicht. Gemessen an dem, was sie sonst noch für einen Müll aus meinem Rucksack holen, wäre der Sánchez-Brief wahrscheinlich das einzige gewesen, was sie interessiert hätte.
Eigentlich ist es kein Rucksack, sondern es ist nur ein alter Jute-Sack für Erbsen, wo ich so Art Träger rangemacht habe. Ich lauf nicht gerade wie ein Rucksack-Tourist rum, sondern eher ziemlich abgerissen, aber hier in den Ländern fall ich nicht auf. Alle Leute, die hier die Straße als Reiseweg nutzen und nicht das Flugzeug, sind nicht sehr reich.
Sie sind nicht groß böse, machen halt ihre Arbeit, für sie wohl Routine. Sie scheinen zu honorieren, daß ich sie respektiere. Am Ende der ganzen Fragerei fragen sie mich noch:
"Also? Und jetzt? Was denkst du wohl, was wir mit dir machen?"
Ich weiß auch keine rechte Antwort. Weiß nicht. Ihr könnt mich ja freilassen, oder mich zurückschicken nach Honduras, ...oder eben nach Costa Rica... das denke ich vor mich hin, während ich ihnen sage, daß ich gerne in Nicaragua in einer Brigade arbeiten würde.
Ist ein bißchen verfahren, die Situation, und ich lege keinen großen Wert darauf, das zu ändern. Sie scheinen irgendwie eine Art Paranoia draufzuhaben. Alle haben sie Angst, ich könnte vielleicht doch irgendein getarnter Contra sein. Nur der Ortega hatte da schnell von Abstand genommen, den anderen war ich immer verdächtig. Andererseits mache ich einen ziemlich ahnungslosen und auch unprofihaften Eindruck eines Einzelgängers, sodaß ich ihnen wohl doch nicht gefährlich werden würde.
Sie sollen ruhig bis zu einem gewissen Grad glauben, daß ich was mit den Contras zu tun gehabt haben könnte, dann schicken sie mich nicht nach Honduras, sondern nach Costa Rica. Sie sollen aber auch nicht denken, ich sei Contra, dann wär ich wohl schnell wegen Spionage dran. Das deuten sie mit etlichen Fragen in diese Richtung an.
Wenn rauskäme, daß ich einfach nur cool über die Grenze bin, nur einfach so, dann wäre ich ganz schnell wieder in Honduras, und dürfte mich wegen überzogenem Visum mit denen rumärgern, das wär auch mies. Also gebe ich mich offiziell als der große Sozialist aus, wenn sie mich aber nach FBI oder sowas fragen, sage ich nur, ja, ich weiß, was das ist, steht ja in allen Zeitungen.
Das Ergebnis ist, daß sie wohl wirklich nicht wissen, was sie von mir halten sollen. Sie schließen Tür Nr. 29 auf, Abschiebeknast, da rein, "kriegst Gesellschaft, damit's dir nicht zu langweilig wird", meint er, aber abschätzig, zu dem bärtigen Typ, der gleich wieder im anderen Zimmer verschwindet.
 

Ausbrechen verboten

Barfuß, in blauer kurzer Hose und blauem Hemd, dieselbe Kleidung krieg ich auch. Behalten darf ich hier nur das Handtuch, keine anderen Sachen von mir. Na gut, was brauche ich auch mehr als mein Handtuch.
Bevor sie gehen, fällt mir noch ein, sie zu fragen, ob sie nicht vielleicht etwas zum Lesen hätten. Enid Blyton auf spanisch war nämlich gar nicht so schlecht gewesen.
"Haben wir was zum Lesen... hm... wir haben nur Lenin, wenn dich das -"
"Ja", meine ich freudig, "das ist interessant, das wäre nett, wenn Sie mir das bringen würden. Haben Sie auch Marx?", ich muß ja den perfekten Sozialisten markieren.
Imperialismus - fortgeschrittene Phase des Kapitalismus, 85 Seiten, was anderes darf er mir wohl nicht bringen. Schreiben is' nich'.
Es ist also die Villa irgendeines Somoza-Fans, den sie wohl enteignet haben, und unser Gefängnis besteht aus 3 Zimmern und einem Bad. Der andere ist in dem linken Zimmer, ich geh in das rechte, in beiden stehen je 2 Betten. Das 3. Zimmer ist eine Art Aufenthaltsraum, von dem die beiden Schlafzimmer abgehen. Die Fenster und die Tür zum Innenhof haben sie mit Gittern dichtgemacht.
Es ist sogar ganz zivil möbliert, auch wenn die Couch und die Sessel schon leicht ramponiert sind. Die Betten haben 2 Matratzen, recht gemütlich, Schränke aus Holz (in denen verständlicherweise aber nichts drin ist...), sogar Nachtschränke haben wir. Der Boden ist sauber gekachelt. Mich überrascht, daß wir sogar einen Fernseher haben, der funktioniert auch. So können wir uns jeden Abend die brasilianische telenovela "Final feliz" reinziehen, die spielt in Porto Alegre.
Also gut, auch wenn es nicht gleich danach aussieht: hier bin ich also im Knast, Abschiebehaft, Ausbrechen verboten. An der Terrassentür hängt extra ein Zettel, eine Art Gefängnisordnung. Das Licht hat um 10 Uhr aus zu sein, und das unaufgeforderte Verlassen der Räume ist den Gefängnisinsassen untersagt. Da haben sie sich wohl einen kleinen Scherz erlaubt, denn wir werden streng bewacht, außerdem ist ja alles vergittert.
Auf den Matratzen liege ich sehr bequem, als Zudecke reicht in den warmen Nächten Managuas ein einfaches Bettlaken. Manchmal nerven die Mosquitos, in einer Nacht zerklatsche ich einmal 8 dieser lästigen Insekten.
Am nächsten Morgen wechseln der andere und ich zum ersten Mal ein Wort.
"Haben sie dir auch dein Geld weggenommen?", will er wissen, "Hast du denen dein Geld gezeigt?"
"Ja, hab ich, wieso, mußte ich doch. Die haben alles genau aufgeschrieben. Nur den unsinnigen Flug gestern mußte ich bezahlen, weißt du, ich komme von Puerto Cabezas. Wieso, haben sie dir Geld weggenommen?"
"Nein, ich hatte kein Geld, aber 2 anderen haben sie 200 $ weggenommen, Mexikanern."
"Nein, so richtig weggenommen haben sie mir nichts. Du - bist Nicaraguaner?"
"Nein, Kolumbianer."
"Ah, Colombia. Und woher aus Kolumbien?"
"Aus Bogotá. Und wo kommst du her?"
"Ich bin Europäer. Aus Westdeutschland."
Er heißt Dagoberto und sitzt schon seit 2 Monaten, war aber nicht immer alleine. Scheint diese Militärchefs nicht besonders gern zu mögen, mit den Wachsoldaten kommt er besser klar. Obwohl ich noch nie im Knast war, merke ich von der ersten Minute an diese eigene Atmosphäre, wenn jeder jedem mißtraut. Das geht nur langsam vorüber.
3mal am Tag bekommen wir Essen, ich schätze, es ist dasselbe Essen, das die Wachsoldaten auch bekommen. Reis, Bohnen, Yuca, Mais, immer etwas anderes, manchmal Gemüse, Obst, dazu einen Becher Saft oder Kaffee. Yuca ist Maniok.
Wenn sie Bock haben, lassen sie uns am Tag einmal für eine Stunde auf den Hof, an die Sonne. Alle 2 Tage müssen wir außerdem unsere "Wohnung" saubermachen, dann geben sie uns Feudel, Besen und alles. Damit's uns nicht zu langweilig wird.
"Funktioniert die Dusche?"
"Manchmal."
Nur mit Trick funktioniert sie. Aber immerhin. Die Klospülung ist auch nicht ganz in Ordnung.
Dagoberto will wissen, wie es in den USA mit Arbeiten ist, er will nach Nordamerika.
"Das Grenzgebiet wird streng bewacht, du müßtest Connections zu Mexikanern haben, die sich da auskennen. In Texas arbeiten viele Mexikaner illegal, und in Kalifornien auch."
Am Mittag kommen zwei dazu.
Ein Salvdoreño, der ist 35 und lebt seit 9 Jahren in Managua, ist verheiratet mit einer Nicaraguanerin. Seine Papiere sind ihm geklaut worden, jetzt müssen sie ihm neue ausstellen.
Der andere ist aus der Dominikanischen Republik, und scheint von Beruf Witzbold zu sein. 28 Jahre, schon in 23 Ländern gewesen, ist reich, das gibt er offen zu, und labert ständig die Wachsoldaten voll. Er will seinen Botschafter sprechen. Er will nur weg hier.
"Schicken Sie mich egal in welches Land, ja, nach Honduras oder Guatemala, ist mit scheißegal, aber schicken Sie mich bloß raus hier", in dem Ton.
Das Essen sei das letzte, was ihm bisher untergekommen sei. Irgendwann verlieren sie die Geduld - Resultat: Fernseher jetzt um 8 Uhr ausmachen. Wir schaffen es noch, sie auf 20.30 Uhr hochzuhandeln, weil wir unbedingt das sandinistische Nachrichtenmagazin noch sehen wollen.
"War dein Botschafter schon hier?", fragen wir Dagoberto.
"Ja, schon paarmal war der hier."
"Und wenn sie dich freilassen, wo werden sie dich dann hinschicken?"
"Weiß nicht, keine Ahnung. Nach Kolumbien - ?"
Wir überlegen, ob es von Managua aus Flüge nach Bogotá gibt. Wohl nicht...
Auch bei mir kann ich mir nicht richtig vorstellen, was sie mit mir machen wollen. Zunächst genieße ich es, barfuß in diesen sauberen Räumen meine zum Glück nicht wieder infizierten Füße auskurieren zu können. Doch, meinen Füßen tut es wirklich gut. Aber was kommt danach?
Genauso wie sie nicht zu wissen schienen, was sie von mir halten sollten, weiß ich nicht, was ich von ihnen halten soll. Was haben sie mit mir vor? Wollen sie mich einfach nur zermürben? Halten sie mich für spionageverdächtig oder nicht? Fest steht, daß sie mich hier Vollpension verköstigen, jeden Tag 3mal Essen, vielleicht wird es ihnen doch irgendwann mal zu dumm.
Dagoberto sagt, ein Bolivianer soll einmal ein halbes Jahr gesessen haben, ein Italiener sogar einmal 2 ganze Jahre. Aber die hat er nicht gekannt. Vielleicht ist es nur ein Gerücht.
Salvadors Fall kommt uns am komischsten vor.
"Du lebst also schon seit 9 Jahren hier in Managua, bist mit einer Nicaraguanerin verheiratet, hast 2 Kinder, warum stecken sie dich dann in Knast, wenn sie dir nur die Papiere nochmal neu ausstellen müssen?"
Zuckt mit den Schultern, "así son ellos", so sind die halt. Irgendwie haben sie wohl echt 'ne Paranoia.
Dagoberto und der Dominicano haben ein eigenes Gesprächsthema - beide sind von Costa Rica aus grün über die Grenze. Und dann sind sie weiter innen im Land irgendwann mal bei einer Kontrolle nach Papieren gefragt worden, was in dieser Gegend keine weiter große Schwierigkeit ist.
"Ich bin in Costa Rica bis kurz vor den Grenzübergang", erzählt der Dominicano, "so'n Feldweg rein, und hab den nächsten Bauern nach dem grünen Weg über die Grenze gefragt. Hat er mir beschrieben, ich geh also los, durch den monte", so nennen sie den Urwald, "und auf einmal steh ich auf dem Pfad so'm Riesen-Wolfshund gegenüber. So groß -"
"Wolfshund? In Mittelamerika gibt es doch keine Wolfshunde."
"Natürlich gibt das hier Wolfshunde, hombre, so groß war der, und hatte Zähne, aber was für welche -"
"Wölfe gibt das nur in Rußland -"
"Nein, Wolfshund, ich sag doch, das war kein Wolf, sondern der war größer, und schwarz -"
"Schwarz? Wenn, dann gibt das hier höchstens ein paar Coyoten, die sind aber nicht schwarz, und schon gar nicht größer als ein Haushund -"
"Nein, ein Wolfshund, ich sag dir, der war pechschwarz, und etwa, also - so groß -"
"Jetzt erzähl doch nichts, in Mittelamerika gibt es doch keine -"
"Mann, laß ihn doch mal ausreden! Wir wollen das jetzt zuende hören -"
"Also, ich steh da also auf dem Pfad, und der Wolfshund, also - so groß - und -"
"Aha, gewachsen in der Zwischenzeit."
"Nein, so groß, hab ich gesagt. Na gut, so groß. Wir stehen uns gegenüber und mir ist also vom ersten Augenblick an klar, was der von mir will. -"
"2 Pesos für'n Bus bestimmt nicht -"
"Ich kuck ihm also scharf in die Augen, und sage: 'Weiche von mir!', und auf der Stelle - nein, das heißt, da hat er sich noch nicht gerührt, also ich nochmal: 'Geh hinfort!' - und dann ist er ab, in den monte, und ich konnte unbehelligt weitergehen."
Vom nächsten Abend an nennen wir ihn "El Niño", und das hat er sich aber verdient. Wir dachten uns also, er labert besser uns voll, als die Wachsoldaten... aber manchmal übertreibt er es schon ein wenig. Den ganzen Tag will er uns weismachen, daß die überhaupt beste Demokratie der Welt in der Dominikanischen Republik sei, mit dem bekanntesten Präsidenten der Welt, die beste Musik käme von daher, und so weiter. Natürlich unterbrechen wir ihn ständig, wenn er es zu weit treibt. So haben wir auf einmal Stimmung im Knast.
"Einmal hatte ich ein Erlebnis. Ich lag zuhause, auf meinem Bett, so wie hier auf der Matratze jetzt -"
"Aber nicht mit Hund, stimmt's?!" - alle lachen. Vorher wollte er uns nämlich erzählen, daß es in der Dominikanischen Republik keine Hunde gäbe, genauer, daß die dort nicht auf der Straße rumlaufen würden, wie hier in den Städten von Mittelamerika.
"Nein, nicht mit Hund."
"War auch wirklich kein Hund in der Nähe?" - Haben sogar die Wachsoldaten gelacht, als Dagoberto ihnen diese Geschichte erzählt hat. Überall in Lateinamerika gibt es Hunde...
"Nein, mann, echt nicht."
"Auch nicht ein fernes Bellen?"
"Nein, mann, da war kein Hund! Ich lag alleine auf meinem Bett -"
"Auch nicht mit Wolfshund - ?"
"NEIN. Ich war allein, also, es war schon dunkel, nur eine Kerze, ich lag also da - so - kucke nach oben, und auf einmal höre ich eine Stimme. Ja, wirklich, eine Stimme. Und es war niemand da, woher die Stimme hätte kommen können! Sie kam von genau über mir, von oben, direkt über mir, etwa 10-12 m hoch, und die Stimme sagte: 'Niño, ¡levántate!'" - wir liegen am Boden und lachen uns schlapp. Der spannendste Moment, und dann kommt das!
Niño, ¡levántate! ist bibelspanisch und heißt "Kind, erhebe dich". Außer der "Stimme" würde in Lateinamerika jedenfalls keiner mehr Niño zu ihm sagen.
"Niño, das sagt doch kein Mensch!"
"Doch, in der Dominikanischen Republik ist das so'ne Redewendung, niño, das sagt man halt so -"
"Ja, zu Kindern vielleicht, aber nicht zu dir!
"Doch, niño, das sagt man auch zu Erwachsenen -" - ich an seiner Stelle hätte gesagt, wieso, da war ich 8 Jahre, aber das war ja nicht das letzte Ding, das er gebracht hat.
Wir haben natürlich nichts besseres zu tun, also gleich darüber zu diskutieren, ob die Stimme nicht vielleicht doch von einem Hund kam, weil die Hunde in der Dominikanischen Republik ja bekanntlich sprechen können... eigentlich war es nur eine Einleitung zu einer viel längeren und viel phantastischeren Geschichte, aber El Niño hat keine Lust mehr, weiterzuerzählen.
 

Impressionen aus El Salvador

El Niño will seinen Botschafter sprechen, unbedingt, wegen der Genfer Konvention und so.
"Das ist internationales Recht, jeder ausländische Gefangene hat das Recht, innerhalb von 3 Tagen seinen Botschafter oder Konsul zu sprechen."
Ernesto, der Salvadoreño: "Hombre, du bist hier nicht irgendwo, du bist hier in Nicaragua. Das sind keine Diplomaten hier, das sind Guerilleros, die haben keine Ahnung von sowas. Wir können froh sein, daß sie uns so gut behandeln. Guerilleros sind das! Das einzige, was die können, ist Krieg führen, und nix weiter."
"So, wie wir hier behandelt werden, würden sie uns in keinem anderen Land behandeln!"
"Hombre, hast du 'ne Ahnung, wie die Abschiebeknäste in Deutschland aussehen? Geh mal nach West-Berlin, da redest du anders."
"Aber das ist doch ein demokratisches Land, Deutschland."
"Dieses Argument ändert aber nichts am Zustand der Abschiebeknäste dort."
"Also in der Dominikanischen Republik ist das anders. Dort sind die -"
"Ja, klar, wir wissen, da sind das 5-Sterne-Luxushotels mit swimming pools -"
"Nein, mann, aber so, wie sie uns hier behandeln, würden sie uns da nicht behandeln, das weiß ich. Und in deinem Land doch auch nicht, oder, Ernesto?"
"Das Gefängnis in San Salvador ist so groß wie - komm, wir gehn mal zum Fenster. Du siehst dieses große 6stöckige Hochhaus da hinten? So groß ist ungefähr das Gefängnis von San Salvador. -"
"Wirklich so groß?"
"Das weiß niemand so genau, wie groß das wirklich ist, weil es vollständig in die Erde eingebunkert ist. Da ist nur ein Stockwerk oben, das ist anders als hier."
"Aber du kannst doch auf der Straße laut sagen, wenn dir etwas nicht paßt, das ist doch eine Demokratie da."
"Aber paß auf, daß du nichts falsches sagst. Sonst ist es aus mit der Redefreiheit."
"Auf der Straße abschleppen können sie mich nicht, ich sage ihnen, ich arbeite als Reporter."
"Die schleppen dich nicht auf der Straße ab. Die kommen nachts, in dein Hotel, ohne daß das einer sieht, und holen dich raus, ohne daß das einer sieht... und im Hotel bist du nie gewesen. Sie radieren deinen Namen aus, das sind Profis, die wissen, was sie machen."
"Wenn ich aber nicht da bin?"
"Die wissen, wo deine Frau wohnt. Oder deine Kinder. Wenn du erst einmal auf der Liste der Todesschwadronen stehst, die kriegen dich, das ist ein ungleiches Spiel, du hast keine Chance."
"Und wenn ich meinem Botschafter vorher bescheid gesagt hab -"
"Die kriegen dich, du hast keine Chance. Wer will denn beweisen, daß sie dich haben? Wer will denn draußen wissen, in welchen unterirdischen Gängen sie dich wohin verschleppt haben? Denen kannst du 10mal erzählen, daß du aus der Dominikanischen Republik kommst, das kümmert die kein bißchen."
Es ist nicht zuletzt Ernestos Einfluß, daß sich El Niño mit der Zeit etwas besser ins Knastleben einfügt.
 

Cárcel de Lujo  - Luxus-Knast

Einer der Wandschränke ist unauffällig aufgebrochen, mit Kreidestein haben sie ein Gedicht reingeschrieben.

Cárcel de Lujo

Nunca he visto una cárcel así
pero siempre es cárcel
 televisor
 muebles
 buenas camas
 closeth
 buen baño tipo turista
pero somos presos
y es la misma mierda.

"Ich habe noch nie so ein Gefängnis gesehen, trotzdem ist es ein Gefängnis. Fernseher, Möbel, gute Betten, Klo und Dusche wie für Touristen... aber wir sind Gefangene, und es ist dieselbe Scheiße."

Vielleicht bekommen wir deshalb nichts zum Schreiben, weil sie fürchten, daß hier hinterher alles voller Schmiereien ist.
Manchmal lassen sie uns länger fernsehen, das kommt immer auf die Wachen an, und so kriegen wir an einem Abend einen guten Woody-Allen-Film mit, Teil 1, und noch nicht mal von Werbung unterbrochen. Sonst ist auch in Nicaraguas staatlich-sandinistischen Fernsehen alles von Werbung unterbrochen (Final feliz also auch), sie wollen ja nicht hinter den USA zurückstehen. Allerdings ist es meist irgendwelche staatliche Werbung, für irgendwelche staatlichen Banken oder ein Regierungsprojekt, Programmhinweise oder sowas.
Am nächsten Abend um halb 9 kommt Teil 2, und wo's grad am lustigsten wird, sagen die Wachen, wir sollen den Fernseher ausmachen. Hombre. Aber alles diskutieren hilft nichts. Ja, ist gut, Licht aus.
Bis er wieder weg ist, dann holen wir uns die Glotze ins Klo, da ist kein Fenster, Tür zu, Ton ist nicht so wichtig: Original mit spanischen Untertiteln.
Aber die Wachen honorieren, daß Niño nicht mehr über's Essen mosert. Besteck zum Essen bekommen wir aber immer noch nicht, das scheint Befehl von oben zu sein, wir müssen unseren Reis immer noch mit den Fingern essen. Wir teilen uns das Essen immer auf. Ich vertrage die Bohnen nicht, Niño mag Yuca nicht, Dagoberto bekommt die Früchte von Ernesto.
Wir bekommen sogar ein Brett zum Dame-spielen, Niño verliert dauernd gegen Kolumbien. Zeitungen von vor 3 Tagen bringen sie uns hin und wieder auch.
"Wollen wir unsere Adressen austauschen?" - ja, genau, das wollen wir machen, das ist eine gute Idee.
Mal sehen, wie man an einen Bleistift rankommt.
"Hier in der Zeitung ist dieses gute Kreuzworträtsel, das würden wir gerne machen. Können Sie uns dafür einen Stift bringen?"
Bringt er uns tatsächlich einen kleinen Bleistift an, was nicht alles möglich ist.
Es ist sehr warm, auch abends noch lange, und manchmal spendieren die Wachen uns Melonen. Reichen sie uns an durch das Fenster im hinteren Zimmer rein, das brauchen die Chefs nicht unbedingt zu sehen. Ernesto organisiert sich Zigaretten, die aber gegen harte Córdobas. Er hat ein bißchen Geld behalten, hat er trickreich angestellt.
 

Die Entlassung

Die Wachen wußten nie zu sagen, wie die Sachen für uns stehen. Es kommt ganz plötzlich. Eines Morgens in der 2. Woche kommen sie zu uns rein, bringen meine Klamotten, ich soll die anziehen. Aha, es ist soweit. Ich weiß immer noch nicht, was sie jetzt mit mir machen, aber es könnte sein, daß sie mich freilassen. Niño beschreibt mir noch, wo seine Botschaft in Managua ist.
"Was machst du danach?", fragt Dagoberto.
"Weiß nicht, vielleicht nach Südamerika."
"Nach Bogotá?"
"Warum nicht, kann auch sein, vielleicht komme ich irgendwie mal nach Bogotá."
"Da zu dieser Adresse, die ich dir geben habe, kannst du immer hingehn, das sind nette Leute. Da kannst du immer anrufen, die helfen dir."
Sie lassen mich nicht frei, sondern sie fahren mich im Bullenwagen durch Managua durch, verlassen die Stadt und fahren nach Süden, wobei sie sogar eine Frau mit ihrem Kind als Anhalterin nach Granada mit reinnehmen. Einige Stunden später sind wir an der Grenze von Costa Rica.

Den südamerikanischen Kontinent werde ich zu Fuß über den Urwaldpfad von Panamá aus erreichen, und einen Monat später werde ich in Bogotá eine Frau am Telefon haben, die mir sagt, ja, sie kenne einen Dagoberto, der in Nicaragua im Knast sitzt.
"Die Adresse hat er mir auch gegeben."
"Dann komm doch einfach mal mit dem Taxi hier vorbei."
"Okay, dann komm ich jetzt gleich vorbei. Para que platicamos."
"Para que hablamos.", verbessert sie mich. Jaja, die Wörterbücher sind auch nicht mehr das, was sie mal waren...
 

 Ich werde 3 Monate in Bogotá bleiben und lernen, wie man Schuhe macht, und manchmal bekommen wir einen Anruf von Dagoberto.
 

Dagobertos Tour

Ernesto und Niño werden sie nach wenigen Tagen auch wieder entlassen, Dagoberto erst nach einigen Wochen.
Dagobertos Tour steht meiner auch nicht nach. Er kam illegal auf dem Land- und Seeweg über Panamá bis nach Costa Rica, wurde dann in Nicaragua erwischt. Abgeschoben wurde er danach wieder nach Costa Rica. Paar Wochen später sitzt er mit einem kubanischem Kumpel im Boot und wird durch die Karibik gefahren. Irgendwann nachts liegen sie vor einer Küste, von der sie denken, es wär die von Florida, sie springen ins Wasser und schwimmen an Land.
Die Leute, die sie empfangen und zur Polizei bringen, sind Schwarze. Aber sie sprechen kein englisch, auch wenn es sich so anhört, sondern garífuna. Weil sie nämlich in Honduras gelandet sind, bei den Garífunas. 2 Tage werden sie festgehalten. Danach entlassen sie sie wieder, vielleicht über Belize, nach Guatemala. Die Spur des Kubaners verliert sich wieder...
In Guatemala lernt er ein paar Mexikaner kennen, die ihn über die Grenze nach Mexico helfen.
Den nächsten Anruf kriegen wir aus Monterrey, Mexico, 100 km vor Texas, und wenig später meldet er sich aus Brownsville, Texas, USA. Haben ihm wohl ein paar Mexikaner rübergeholfen.
Später meldet er sich noch einmal aus Houston, Texas, und nach einem Jahr muß er es nach New Jersey geschafft haben, wo er dann blieb. Auch Dagoberto hat immer wieder gearbeitet, und sich Geld für die Weiterfahrt zu verdienen.
 

Tarea in Oruro
 

Brief FORUM 14
15. Januar 1989, Oruro, Bolivien.

(...)
Ich kam von La Paz nach Oruro getrampt, das ist eine Großstadt etwa 200 km südlich von La Paz, auf dem Altiplano, dem Hochland von Bolivien.
Von Oruro gibt es einen befahrbaren Weg über die große Salz-Ebene an die Grenze von Nord-Chile, der kommt an der Pazifikküste in Iquique raus. Der Grenzort auf dem Paß in den Anden heißt Pisiga. Oruro ist aber größer als ich dachte - nach 2 Stunden Laufen bin ich immer noch nicht aus der Stadt.
"Buenas tardes", frage ich ein älteres Ehepaar, "ist das hier der Weg nach Pisiga?"
"Pisiga? Ach so, ja, nach Chile, ja, das ist die Straße." - Na endlich hab ich diese dumme Straße gefunden, wurde aber auch Zeit.
"Du willst nach Chile?"
"Ja, will ich, ist die Straße befahren?"
"Ja, da fahren Busse, aber die fahren immer morgens ab, jetzt um diese Zeit fährt kein Bus mehr."
"Na, es muß ja nicht unbedingt der Bus sein. Ich mein, ob vielleicht ab und zu ein paar Lkw's vorbeikommen?"
Kämen ja, aber die würden nicht anhalten. Wenn dir das die Leute sagen, stimmt das oft auch. Zumindest, was die Einheimischen betrifft.
"Wenn sie mich nicht mitnehmen, dann geh ich eben zu Fuß."
Die Frau: "Zu Fuß? Aber es ist doch schon spät, wo willst du da in der Pampa übernachten? Heute nacht wird es bestimmt wieder regnen." - Auch er ist pessimistisch:
"Besser du verbringst die Nacht hier in Oruro, und morgen früh, vom Walter-Khon-Platz, da fahren die Busse ab." - Was will ich denn im Bus?
"Ich glaube, es ist besser, ich geh zu Fuß. Vielleicht nimmt mich ja doch ein Lkw mit." - Daß der Bus teuer sei, meine ich noch.
Sie erzählen von einem Chilenen, der wohl auch nicht sonderlich viel Geld hatte, der 2 Wochen hier in Oruro gearbeitet hatte, um sich das Geld für die Busfahrt zu verdienen.
"Ja wie, heißt das, das gibt hier Arbeit?"
"Ja, die bauen hier die Kanalisation, Gräben ausheben, das ist aber harte Arbeit..."
"Und das geht, einfach eine Woche da mitzuarbeiten?"
"Ja, oder 2... wenn die einverstanden sind. Schwerarbeit ist das aber, würdest du so etwas machen wollen?"
"Mit Spitzhacke und Schaufel?"
"Ja."
"Hm, in Mexico habe ich das auch schonmal gemacht... warum eigentlich nicht..."
"Heute ist Weihnachtssonntag, da arbeiten die nicht, morgen auch nicht, du müßtest also bis zum Dienstag warten... du kennst natürlich niemand hier in dieser Stadt?"
"Nein, ich komme gerade vom Titicaca-See. Ich müßte ja wo übernachten..."
"Du gehst hier 2 Blocks weiter, links rein, ein Haus mit der Nummer 34. Sag denen, du bist ein Freund von Victor Felípez. Da kannst du bleiben, das ist kein Problem."
Kein Problem. Eine solche Offenheit in einer Stadt habe ich bisher selten erlebt.
Victor hat 12 Kinder, 6-33 Jahre, 8 davon wohnen im Haus, darunter Hugo, der arbeitet auch manchmal mit beim Gräben ausheben. Es ist wohl eines der ärmeren Stadtviertel von Oruro - es gibt zwar fließend kalt Wasser und Strom, aber was fehlt, ist Abwasser, es gibt kein Klo im Viertel. Die Straßen sind nicht befestigt, und bei Regen verwandeln sie sich in sowas wie Schlammpisten. Aber trotz des Geldmangels sind die Leute alle aufgeschlossen und fröhlich, die Atmosphäre ist ganz anders als in vielen Gegenden in Peru.
Dienstag. Hugo geht mit mir zu den Arbeitern, 2 Blocks weiter. Ein paar Worte werden mit dem Chef gewechselt - alles klar, mitarbeiten, aber immer doch, kein Problem. Etwa 15 Leute sind es, Hugo selbst hat aber diese Woche keine Lust.
Ein bißchen erstaunt sind sie, als sie merken, daß ich gut spanisch spreche. Manche unterhalten sich auf quechua, diese Sprache habe ich in Ecuador gelernt, als ich einige Monate bei Hochlandindianern verbracht habe. Das bolivianische Quechua wird nur etwas härter ausgesprochen, ich kann es aber verstehen. Als sie sehen, daß ich ihre Indianersprache auch kann, sind sie völlig überrascht. Aber sie haben natürlich nichts Schlechtes gesagt, als sie sich über mich unterhalten haben.
Lección 1, wie in Mexico also: "Ziehen Sie einen Graben. Unbeirrt und kühn entschlossen..." Aber 70 cm breit, nicht 50 cm, wie in Mexico. Außerdem viel tiefer, teilweise bis 2 m tief. In Mexico hatte ich das eine Woche mitgemacht, hier werden es dafür 2 Wochen sein. Es ist doch immer ein ganz anderes Gefühl, mit Spitzhacke und Schaufel zu sehen, was alles in eim drinsteckt.
Lección 2: Arbeitszeiten. In Mexico hatten sie die Pausen von der bezahlten Arbeitszeit abgezogen, 7-17 Uhr, Samstag nur bis 12.00, machte etwa 45 Stunden in der Woche. Hier in Bolivien gibt es außer mittags eine Stunde gar keine Pausen, gearbeitet wird von 8-17 Uhr, samstags genauso, macht 48 Stunden in der Woche. Obwohl, sie machen es so, daß sie täglich eine Stunde mehr arbeiten (8-18 Uhr), dafür haben sie am Samstag nachmittag dann frei.
Lección 3: Akuli. Keiner hält diese harte Arbeit 4 Stunden hintereinander ohne eine Pause durch - also wird eben eine bezahlte Pause gemacht, eine um zehn und eine um vier, so 15 Minuten. Je nachdem, wie hart die Arbeit ist, oder eine halbe Stunde. Akuli ist quechua und heißt soviel wie "Kau-Zeit", das kommt daher, weil sie früher in der Pause immer Coca-Blätter gekaut haben. Muß früher weit verbreitet gewesen sein. Das Grün in der bolivianischen Flagge hängt auch mit der Coca-Pflanze zusammen.
Lección 4: Tarea. Wörtlich übersetzt heißt das etwa "Aufgabe". Das ist mies, wenn das kommt. Das gab's in Mexico nicht: Bezahlung nach Leistung, nicht wie sonst nach Arbeitszeit. Am zweiten Tag werden ein paar Linien auf die nächste Straße gezogen, und jeder bekommt ein 3,50 m langes Stück - und soll dann das Stück Graben ausheben. 1,30 m tief. Die Arbeit gilt für einen Tag. Wer fertig ist, kann also heimgehen. Oder aber, und das machen Solís und die anderen Strongies, gleich noch eine tarea machen - das macht dann also 2 Tageslöhne.
Wer es aber nicht schafft, muß am nächsten Tag noch an der alten tarea weitermachen und bekommt also für den nächsten Tag keinen Lohn. Was das Gemeine bei der Sache ist, ist, daß die tarea-Abschnitte nicht alle gleich schwer sind, weil der Boden unterschiedlich ist, und nur Solís und solche Spezialisten, die schon länger dabei sind, sehen, wo leichter Sandboden drunter ist, und suchen sich gezielt diese Stücke aus. Bei Sandboden muß man nicht mit der Spitzhacke erst alles lockermachen, da kann man einfach alles mit der Schaufel rausnehmen, das ist wesentlich einfacher. Zum Glück gibt es diese tareas nur etwa einmal in der Woche.
Blasen an den Händen, wie in Mexico, habe ich hier nicht, weil ich hier von Anfang an mit Taschentüchern arbeite. Trotzdem bin ich am Mittwoch total fertig und bin froh, daß Hugo kommt und mir den Rest der tarea macht. Ab 1 m Tiefe steht Wasser, das ist dann besonders toll.
Bezahlt werden wir aus La Paz, vom Sozialministerium, weil es sich um irgend so ein Sozialprogramm handelt. Die strongsten Arbeiter sind hier jetzt schon über ein Jahr dabei, es sind ehemalige Minenarbeiter, die entlassen wurden, als die Minen dichtgemacht wurden, unter der neuen Regierung. Da hatten sie ihnen diese Alternative angeboten. In den Minen hatten sie etwa das doppelte verdient. Angeblich liegt die Arbeitslosigkeit in Bolivien bei 11,5 %.
Lohn: 7,- Bolivianos Tageslohn. Macht für mich also 35,- Bs. die Woche, wir haben beide Montage nicht gearbeitet. Das sind etwa 24,- DM Wochenlohn, in Mexico waren es etwa 10,- DM. Die Inflation ist in Bolivien mit 20 % im Jahr sogar überraschend gering, in Peru und Brasilien sind es über 800 %, in Argentinien waren es letztes Jahr 370 %. In den letzten 2 Monaten lag die Rate in Bolivien sogar unter 1 %, das ist in Lateinamerika wirklich außergewöhnlich. Es ist ohne weiteres möglich, auf der Straße Dollar zu tauschen: pro Dollar 2,51 Bs. im Ankauf und 2,49 Bs. im Verkauf. Auch diese geringe Differenz ist sehr ungewöhnlich.
 

Der Schutzhelm aus La Paz

Die Höhe über dem Meeresspiegel liegt bei 3720 m, und ich dachte, mir würde vielleicht irgendwann die Luft mal ausgehn - aber dieser Moment kam irgendwie nicht.
Wer aber kam, war viel schlimmer - aus La Paz: Félix, der andere Chef. Der, der uns auch auszahlt und sehen will, ob wir auch gut arbeiten. Félix heißt er nur, wenn er dabei ist. Sonst nennen sie ihn Casco - "Schutzhelm" heißt das, weil er der einzige ist, der weit und breit dick mit leuchtend gelbem Schutzhelm rumläuft. Daß der Casco beliebt ist, kann nicht gerade behauptet werden: er bringt es fertig, stundenlang neben uns zu stehen und zuzuschauen, wenn wir den Graben wieder zuschaufeln.
Der Casco läßt keine Pausen zu, der andere Chef hatte das mit dem akuli irgendwie noch toleriert und nichts gesagt und war auch öfters mal weggegangen. Wenn er da war, hat er auch öfter mal selber mitgeschaufelt. Es ist ein richtig mieses Gefühl, sich beim Graben-zuschaufeln von einem Typen beobachten zu lassen, der nur bezahlt wird, um neben uns zu stehen und uns zu überwachen. Und natürlich nichts selber arbeitet und dafür dann mehr Lohn bekommt.
Endlich sind wir mit dem Zuschaufeln fertig, er teilt die Gruppe auf, 9 von uns sollen alleine nach oben gehen, 5 Blocks weiter, und dort den Graben von gestern zuschaufeln. Dieser Casco macht einen total fertig.
"Ja, hopp, ist doch gut, gehn wir nach oben."
Ich soll mit. Na gut, gehn wir eben nach oben.
Wenn sie nicht so schnell gehen würden, könnten sie 10 Minuten für den Weg brauchen... warum gehen die denn so schnell, der Casco ist doch mit den anderen Arbeitern unten geblieben. Vielleicht haben sie Angst, daß er nachkommt und sie beim Trödeln erwischt. Komischen Weg gehen sie. Ich wäre ja jetzt links gegangen.
Sagmal, warum bin ich eigentlich total fertig und langsam und tierisch froh über die paar Sekunden Pause, und die freuen sich, daß sie nach oben gehen dürfen und dort weiterarbeiten?
Noch ein Block quer -
"Hier?"
"Ja, hier, das ist gut."
"Alles hinsetzen, akuli !"
"Hopp, hol die Liste raus!" - Lima hat pastelitos dabei, Gebäck von zuhause, bezahlt wird am nächsten Zahltag...
Ich wußte doch, daß die nicht so geil auf's Arbeiten sein können. Wenn der Casco weg ist, werden die Pausen nachgeholt. Deshalb haben sie sich also so gefreut, daß sie nach oben gehen durften. Wenn der Casco zum Kontrollieren kommt, ist er schon von weitem in der Menschenmenge auf der Hauptstraße auszumachen: seinen gelben Schutzhelm hat er immer auf.
Anfang der zweiten Woche kommt es dann ganz dick: jetzt gibt der Casco uns die tarea : keine 3,50 m langen Stücke, sondern 5 m, wenn auch nur 1,10 m tief. Hugo und ich wollen zusammenarbeiten und 10 m machen.
Wir wechseln uns ab, es ist wirklich sehr schwere Arbeit. Wir haben bei der Vergabe wieder Pech gehabt, die Erde ist sehr schwer, mit blöden Steinen drin, die erhoffte Sandschicht kommt und kommt nicht. Bis ganz unten müssen wir mit der Spitzhacke arbeiten, es wird halb 8 Uhr abends, aber wir schaffen es.
Hugo hat am nächsten Tag keine Lust mehr, das mit dem Casco ist ihm zu schwer. Er will sich woanders Arbeit suchen. Ich habe das Gefühl, daß ich am Ende sogar etwas mehr geschafft habe als Hugo, der 4 Monate hintereinander mit Spitzhacke und Schaufel gearbeitet hat.
Das muß ich mir mal reinziehn, ich hab da 4 Kubikmeter feuchte, schwere Erde an einem Tag rausgeholt, so schwer hab ich wohl noch nie gearbeitet. Und das ausgerechnet in fast 4000 Meter Höhe.
Den ganzen Donnerstag sind wir dabei, Gräben zuzuschaufeln. An sich ist das keine sehr harte Arbeit, von Natur aus ist das viel leichter als Gräben auszuheben. Aber fast den ganzen Tag ist der Casco dabei - es kann ihm nicht schnell genug gehen. Bescheuert ist das - du bist gezwungen, den Moment abzuwarten, wenn der Casco mal wegkuckt oder vielleicht mal für 5 Minuten woanders hingeht - kein Mensch arbeitet dann mehr. Schon am Mittag bin ich vollkommen groggy, es ist bei ihm einfach nicht möglich, auch nur einen kleinen Ansatz von Arbeitsrhythmik zu entwickeln.
Es spricht sich das Gerücht rum, daß wir morgen wieder tarea bekommen. Nee - so jedenfalls nicht. Ich gehe nach Hause und pack mich erstmal, vollkommen fertig, in den Schlafsack.
"Wenn sie morgen wieder tarea geben, dann kommst du um 12, dann helfe ich dir am Nachmittag", meint Hugo.
"Ich weiß nicht. Es kommt auf die Tiefe an. Ich glaub, wenn er uns mehr als 1 m gibt, werd ich gar nichts machen. Ich bin absolut fertig. Naja, muß mal sehn, wie ich morgen drauf bin... "
Der Casco gibt immer 5 m lange Stücke, und 70 cm breit müssen sie auch immer sein. Nur die Tiefe variiert. Allerdings wäre 1 m oder noch weniger nicht sehr wahrscheinlich.
 

Spannung am Freitag morgen

"Also, mit dir und mit dir, wir gehn nach oben, ja, Vicente, auch mit dir, Francisco auch mit nach oben...", manchmal spricht der Casco ein bißchen komisch. Er sagt auch "taréu" statt "tarea".
8 Leute sollen also mit nach oben kommen. Der Casco selber will mit den Arbeitern, die Gummistiefel haben, unten bleiben und im Wassergraben arbeiten. Vicente beschreibt er kurz, wohin wir gehen sollen, wir gehen schön brav hoch, aber wir wissen immer noch nicht, was wir da machen sollen. Spannend. Vielleicht Gräben zuschaufeln, das wäre gut. Hoffentlich Gräben zuschaufeln. Es ist ein Stadtviertel, das am Hang liegt. Also 3740 m NN.
5 Minuten später wissen wir bescheid, als ein Typ mit Metermaß und Leine ankommt... der Casco kommt dann auch - klar, anders konnte es nicht kommen:
"taréu."
Tiefe: 1,10 m.
Warum akzeptiere ich ein 5 m langes Stück Tarea, wo schon vorher klar ist, daß hier am Hang alles voll mit Steinen ist, die man nur mit der Spitzhacke rausklopfen kann? Warum bin ich so blöd und akzeptiere 5,00 x 1,10 x 0,70 = 3,85 Kubikmeter Steineklopfen? Auf fast 4000 Meter Höhe, die ganze Zeit unter der Sonne, die hier am Mittag senkrecht steht?
Weil ich ein Trottel bin. Am Mittag habe ich vielleicht 20 oder 30 cm Tiefe geschafft, aber es zeichnet sich kein bißchen Besserung ab, der Boden ist voller Steine. Also, so bringt's das jedenfalls nicht.
Mittagspause, ab nach Hause - Hugo ist gar nicht da, ach, vergiß es doch. Also alleine weitermachen. Eine halbe Stunde mach ich noch weiter, dann hab ich keine richtige Lust mehr. Die Kinder aus der Nachbarschaft helfen mir, denen bringt das richtig Spaß, mit wesentlich mehr Ehrgeiz sind die dabei.
"Wir machen hier weiter, bis unten" - bei dem Boden, ich weiß nicht.
Ach, das bringt's nicht, ich geh runter zu Vicente, der hat sich gleich 2 tareas = 10 m abmessen lassen, weil er dachte, der Boden wäre leicht. Ist er aber auch bei ihm nicht. Nee, das bringt's doch nicht, da oben ohne Hoffnung auf die Steine einzuhauen für die 7,- Bolivianos, dann schon lieber hier unten Vicente ein bißchen helfen.
Auch wenn Vicente etwas leichteren Boden hat als ich - die 10 m wird er heute auch nicht mehr schaffen, das ist klar. Also sind wir zu zweit dabei. Es scheint zunächst ganz gut zu gehen, aber nach einer etwas leichteren Schicht kommen wieder Steine, und zwar die ganz dicken. Das sind die miesesten. Da kann man den Boden mit der Spitzhacke nur ganz langsam und vorsichtig bearbeiten. Wenn man mit der Spitzhacke voll auf einen großen Stein haut, ist das der schnellste Weg, sich offene Blasen an den Händen zuzulegen. Es fängt aber trotzdem fast an, Spaß zu machen, der eine klopft solange Steine, bis er nicht mehr kann, der andere räumt sie dann mit der Schaufel alle raus. So hat man immer gut Zeit, sich auszuruhen und neue Kräfte zu sammeln. Arbeitsrhythmik. Hin und wieder wechseln wir die Geräte, weil das Hacken anstrengender ist.
Um 6 Uhr hören wir auf - 5 ½ oder 6 m haben wir heute geschafft, fehlen immernoch gut 4 m. Na, wenigstens etwas. Die Kinder sind da oben bei meiner tarea immer noch dabei, sind aber wie erwartet nur wenig weitergekommen. Logo. Vielleicht kann man ja mit dem Casco reden, daß er uns die Arbeit von heute als Tageslohn anrechnet.
 
 
 
 

 Kann man nicht.

Also am nächsten Morgen wieder hoch, Samstag, die tarea zuende machen. Es ist also klar, daß wir für die 2 Tage Arbeit nur einen einzigen Tageslohn bekommen, den Samstag arbeiten wir also umsonst. Nur Vicente nicht, weil der bekommt ja Lohn für 2 tareas.
Ach, was solls, aus irgendeinem Grund hab ich heute trotzdem noch Bock, zu arbeiten, ob der Casco jetzt zahlt oder nicht. Außerdem ist es mein letzter Arbeitstag, das muß ich doch ausnützen, wer hat denn schon wie ich die Gelegenheit, in Bolivien mit Spitzhacke und Schaufel Gräben ausheben zu können? Also erstmal zu meiner eigenen tarea gehen.
Oh - die Kinder sind tatsächlich ein bißchen weitergekommen. Vielleicht 50 cm tief sind sie jetzt oder sogar etwas mehr, aber leider sieht der Boden immernoch genauso hart aus. Nein, komm, laß es, ich geh lieber wieder runter zu Vicente, der schon seit 7 Uhr morgens dabei ist. Die letzten 4 Meter sind noch schwerer als der Murks von gestern.
Kommt der Casco, kuckt sich die Arbeit an, geht zu meinem Stück hoch, weil ich ihn ja gestern angesprochen hatte, weil es so schwer war... - ich gehe auch hin und sehe die Überraschung: er ist mit der Spitzhacke in meinem Stück dabei, "was willst du denn, der Boden ist doch hier ganz leicht", hackt auf die Steine ein, als wär's Butter.
Ja, das gibt's ja tatsächlich nicht. Es ist wiklich viel leichter als gestern, auch ist es viel leichter als bei Vicente. Die ersten 50 oder 60 cm waren wie einbetonierte Steine, aber in der Schicht darunter liegen die Steine total locker drin - es dauert keine 2 Stunden und ich habe die tarea fertig! Ha, das macht immerhin einen Tageslohn für 2 Tage Arbeit!
 

Lohnauszahlung in den Anden

Danach geh ich wieder runter zu Vicente. Ein bißchen machen wir noch, kommen nur ganz langsam vorwärts... es bleibt ein Stück von etwa 2 Kubikmetern, als Vicente um halb 1 einpackt und geht - er will am Montag wiederkommen und das Ding zuendemachen. Na okay, dann geh ich eben auch, erstmal was essen. Die meisten anderen gehen auch heim oder sind schon gegangen. 5 m weiter ist Alex noch dabei, er sagt, er will weitermachen, bis er durch ist, vielleicht 2 oder 3 Stunden wären das noch.
Vicente ist zwar wirklich ziemlich fertig, das ist aber nicht der Grund, weshalb er keinen Bock mehr hat:
"Wenn sie uns nicht auszahln... -", weil angeblich "kein Geld da" sei.
Das gab es in Mexico nicht. Samstag gab es immer Lohn, 18000 Pesos, für jeden. Ohne Zahlungsverzögerung. Hier in Oruro zahlen sie mit Glück alle 2 Wochen mal was, letzten Samstag haben sie aber nur den halben Lohn ausgezahlt und die Leute auf heute vertröstet, diesen Samstag haben sie aber angeblich gar nichts... müßten sie nächsten Samstag also 2 ½ Wochenlöhne zahlen. In Peru muß das natürlich noch viel mieser sein, wenn sie den Arbeitern in den Minen monatelang die Löhne schulden, bei einer Inflation von 1300 % im Jahr.
Es ist von daher etwas verständlich, daß sie in Bolivien die Regierung gut finden, die zwar die Minenarbeiter hier alle entlassen hat (auf Druck vom Währungsfonds), dafür aber die Inflation gestoppt hat. So wirkt es sich nicht ganz so katastrophal aus für die Arbeiter, wenn sie ihre Löhne einen Monat später bekommen, wie das in den Anden so Sitte zu sein scheint. Viele Unternehmen halten das so, und machen bei der hohen Inflation ihre Geschäfte damit.
Nach dem Essen geh ich nochmal hoch, zu Alex, der wirklich ganz schön schlapp ist, und mach mit ihm seine (auch zweite) tarea zuende. Klar ist er schlapp - wie will er denn den ganzen Samstag volle Pulle arbeiten, ohne was dazwischen zu essen? Und mehr als ich hat er bestimmt nicht gefrühstückt - eine Tasse Tee und ein Brötchen, selbstverständlich trocken.
Alex ist noch keine 2 Monate dabei. Vicente rödelt hier schon seit 6 Monaten, hat aber auch woanders schon mit Spitzhacke und Schaufel gearbeitet. Ist auch Anfang 20. Ich gehe nochmal zu dem Stück von Vicente und schaue es mir an, in der Mittagssonne...
... und 4 Stunden später schaue ich es mir nochmal an. Und stelle fest, daß ich einen Arbeitsanfall bekommen hatte und Vicentes tarea zuende gemacht hatte. 2 Kubikmeter Erde in 3 ½ Stunden Arbeitszeit auf fast 4000 Meter Höhe. Ich hätte nicht gedacht, daß ich das schaffen würde. Die Kinder haben mir allerdings beim Schaufeln wieder geholfen, und ein Nachbar hatte mich zum Tee eingeladen.

Eine Woche blieb ich noch in Oruro, ich mußte ja auf den Lohn warten, auf nächsten Samstag. Vicente muß am Montag morgen ein gutes Gesicht gemacht haben. Er war wirklich total fertig und war froh, daß er wieder nach Hause gehen und sich noch einen Tag ausruhen konnte.
Den Lohn haben sie am nächsten Samstag ausbezahlt, für mich vollständig, weil ich ja nach Chile wollte, aber den anderen blieben sie wieder 1 ½ Wochenlöhne schuldig...
 nur bis hier, Rest raus (?)
 Noch 2 Kubikmeter Bolivien

2 Kubikmeter fehlen Vicente. Macht er die am Montag zuende, hat er 2 tareas in 3 Tagen geschafft, also einen Tag praktisch umsonst gearbeitet. Es ist Samstag nachmittag, 2 andere Arbeiter sind ein paar Meter weiter oben aber auch noch bei ihren tareas dabei, verdammt schwerer Boden... wie es bei mir zuerst auch war... sie wollen bis 6 Uhr arbeiten. Vicentes Stück hat nicht ganz so schweren Boden... 2 Kubikmeter... hm, rechnen wir mal nach.
10 m lang mal 1,10 m tief mal 70 cm breit = 7,7 m3... gestern vormittag er allein, danach mit mir, haben wir vielleicht 4 ½ m3 geschafft. Heute vormittag hat Vicente, größtenteils allein, in 5 ½ Stunden, noch 1 oder 1,2 m3 rausgeholt - und will die restlichen 2 m3 am Montag rausholen, müßte also mit etwa 8 oder 9 Stunden rechnen.
2 Kubikmeter... eigentlich hab ich noch ein bißchen Lust. Ich habe auch gut zu Mittag gegessen. Diese Spitzhacke hier, da steht sie so einladend...
Ach, gehst her. Doch, ich mache in Vicentes Stück noch ein bißchen weiter. Ich fange an, in den Steinen rumzumurksen... nach einer halben Stunde habe ich vielleicht 10 Schaufeln rausgekriegt, das ist wenig. Irgendwie bin ich noch von gestern fertig. Oder von heute vormittag? Oder von der ganzen Woche... oder von Donnerstag, wo uns der blöde Casco beim Zuschaufeln so gescheucht hat... vielleicht liegt es auch an der Sonne, wie gestern hat es fast keine Wolken.
Von einem Haus hole ich mir einen ganzen Eimer voll Wasser (das ist trinkbar hier in dieser Stadt), ich trinke einen halben Liter aus, jetzt geht's besser. Vielleicht war es ja das, was mir gefehlt hatte.
2 von den Kindern kommen wieder an, und damit irgendwann auch die Frage:
"Können wir dir helfen?"
"Wenn ihr wollt..." - einer nimmt die Spitzhacke, der andere die Schaufel, und so hacken sie ein wenig auf den 2 Kubikmetern herum. Das ist gar nicht so einfach, die Spitzhacke richtig zu gebrauchen... ja, das sieht so leicht aus, wenn die Arbeiter das machen, aber ihr seht, das muß man auch gelernt haben.
Wart mal, die da oben wollen bis 6 Uhr durchmachen, das sind noch 4 Stunden... ich glaub, ich entschließ mich auch, bis vielleicht um 6 hier rumzurödeln, dann muß Vicente am Montag vielleicht nur den halben Tag arbeiten, das wird ihm guttun.
Nee, mit der Spitzhacke können sie wirklich nicht umgehn, da kann ja kein Mensch zuschaun. Also nehm ich wieder die Spitzhacke und hacke ihnen ein bißchen was raus, und sie wechseln sich im Schaufeln ab. Das ist jetzt der Augenblick, wo ein kleines bißchen Kopfarbeit gefragt ist: es ist hier wichtig, daß die Schaufel ständig im Einsatz ist, die Spitzhacke kann ausruhn. Nur die Schaufel bringt die tarea wirklich weiter. Sie müssen ständig was zum Rausschaufeln haben.
Also hacke ich an 2 Stellen, hinten und vorne, immer abwechselnd, solange, bis sie gegenüber zuende geschaufelt haben, dann gehe ich auf die andere Seite. Und ich habe sogar etwas Glück: der Boden wird eine Idee leichter, ich halte mit ihnen gut mit, kann ihnen immer genug zum Schaufeln  raushacken.
Inzwischen ist Nachmittag, einer der Nachbarn lädt mich zum Tee mit Brötchen ein, genau wie gestern nachmittag die eine Frau 3 Häuser weiter oben. Mir kommt eine Idee... das wär doch ein Riesen-Gag, wenn ich jetzt Vicentes tarea komplett zuende machen würde! Ich stell mir sein Gesicht am Montag vor, wenn er am Morgen da völlig lustlos angelatscht kommt und seine tarea fertig gemacht sieht. Hey, das wär doch der volle Gag. Ich glaub, ich hab mir schon lang kein wirklich guten Gag mehr geleistet. 2 Kubikmeter, es wäre vielleicht tatsächlich zu schaffen...
Brötchen und Tee (mit Zucker!) und paar Minuten ausruhn - das ist jetzt das genau 1A-Richtige, was mir momentan passieren kann. Diese Gegend hier oben taugt wirklich mehr als das graugelbe, staubige, verkehrsreiche Stadtviertel weiter unten. Wo die Typen, die an der Straße entlaggetrottelt kommen, jedesmal einen halben Genickbruch kriegen, wenn sie mich da als einzigen blonden Weißen unter den Arbeitern sehen. Ich kam mir bald vor wie im Zoo da unten.
Am härtesten war der eine Typ, da haben sich sogar Lima und die anderen an den Kopf gefaßt, die das mitgekriegt hatten: das war, als wir wieder mal mit unseren Geräten über den Schultern die Straße langgelatscht kamen. Irgendso ein Typ sah mich da also, und zwar als ich schon vorbeigegangen war, drehte sich um, rannte ins Haus: "Mami, Mami!"
So, genug ausgeruht, weiter an der tarea. Ein Riesen-Monster-Stein liegt drin, den brauchen wir aber nicht rausholen, das machen die, die nächste Woche die Rohre legen. Die Kinder haben zwar bald keine Lust mehr - nur einer ist noch gekommen, vielleicht 12 ist er, er bleibt noch.
Dafür lege ich jetzt erst richtig los. Jetzt wird diese Erde einmal richtig in Grund und Boden gehackt, anders hat sie es doch gar nicht verdient. 2 Kubikmeter nicht schaffen, das wäre ja noch schöner. Das werden wir ja noch sehn. Dieses miese Tarea-System. Dieser miese Casco. Vicente die dicke tarea aufbrummen, und vor allem: mir auch! Uns umsonst arbeiten lassen!
Die glauben wohl, was sie mit mir machen, können sie mit Vicente auch machen. Dieser Graben scheint also zum Casco zu halten und glaubt wohl, er könnte meinem Arbeitsanfall standhalten. Nichts, getäuscht hast du dich! Glaub ja nicht, daß du mit der Tour durchkommst! Du solltest schleunigst die Seiten wechseln, du bist nämlich auf der Verlierer-Seite.
So, aha, er überlegt sich was Neues. Noch schwerere Erde. Soso, mich also auf die Probe stellen wollen. Aber nicht mit mir. Wenn du es doppelt so schwer machst, dann hau ich eben doppelt so hart auf dich ein. Ich hasse Gräben, besonders solche mit einer Einstellung wie du.
Du denkst wohl, ich bin irgendso ein dahergelaufener Depp. Wenn du glaubst, du könntest dieses miese Tarea-System auch noch aktiv durch besonders festen Boden unterstützen, dann bist du falsch gewickelt! Ist dir überhaupt klar, auf wessen Seite du da stehst?! Die Löhne zahlen sie noch nicht mal aus! Dich mach ich fertig!
Oder glaubst du, daß ich nicht richtig arbeiten kann? Du bist wohl der Meinung, die Deutschen seien alle Trottel und nicht richtig klar in der Birne?! Gut, das mag sein, aber davon hast du jetzt auch nichts, hehehe. Und noch ein Schlag, und noch ein Schlag, so, jetzt zeig ich's dir, und noch ein Schlag, und...
"Ich kann nicht mehr, kannst du mal die Schaufel nehmen ?" - oh, jetzt merke ich ja erst, daß ich den jungen Freund da voll in Trab halte.
"Ja, genau, gib die Schaufel her, das kriegen wir auch noch hin... wir machen das so: ich schaufel immer diese Seite, und du danach die andere, okay?"
"Ja, gut, das ist glaub ich besser."
So, und raus mit der Erde, raus damit, raus damit, und damit auch, und damit - warum bist du so ein mieser Stein? Du hast hier gar nichts zu melden! Mach hier keine Faxen, du kommst genauso raus wie alle anderen auch... so, und der Rest auch. Hier, Junge, hast du die Schaufel, und jetzt wird wieder weitergehackt. 2 Kubikmeter, das wäre doch gelacht.
Und noch eine Runde, und noch eine, bis es schließlich soweit ist:
"Und jetzt paß gut auf, jetzt kommt der Moment: jetzt hacken wir da oben rauf, siehst du...- zack! - siehst du, wie das geht? - Zack! - und zack! und nochmal: zack! - so einfach war das - so, das war der Durchbruch, jetzt hat er verloren! ¡Perdió! Der Rest ist nur noch Technik, in einer halben Stunde können wir einpacken und nach Hause gehn."

Um halb 6 (!!) werde ich 2 Kubikmeter Erde zusammengehackt haben! Und etwa ein Viertel davon nur selber rausgeschaufelt, den Rest haben die Kinder gemacht. So, das mußte einfach mal sein.
Wow! Vicentes tarea ist fertig! Und er weiß es noch gar nicht!  Dieser  Gag !

Eine Woche blieb ich noch in Oruro, ich mußte ja auf den Lohn warten, auf nächsten Samstag. Vicente muß am Montag morgen ein gutes Gesicht gemacht haben. Er war wirklich total fertig und war froh, daß er wieder nach Hause gehen und sich noch einen Tag ausruhen konnte.
Den Lohn haben sie am nächsten Samstag ausbezahlt, für mich vollständig, weil ich ja nach Chile wollte, aber den anderen blieben sie wieder 1 ½ Wochenlöhne schuldig...
 

Impressionen aus dem Hochland
 

Brief FORUM 15
28. Januar 1989, Puente Alto bei Santiago de Chile.

(...)
Bolivien ist irgendwie das urigste der Länder Südamerikas. Wie bei allen Ländern in diesem Kontinent ergaben sich die Staatsgrenzen als Erbe der Kolonialmächte (hier Spaniens), und denen war es ziemlich egal gewesen, was für Völker in den einzelnen Verwaltungsgebieten lebten.
So werden in den bolivianischen Regionen vor allem 3 Indianersprachen gesprochen: quechua und aimará vor allem im Hochland, und im Tiefland im Südosten guaraní. Als sich die ersten Staatsmänner Boliviens (spanische Militärs waren das) dann die Landessprache aussuchten, nahmen sie spanisch. Und das war gar kein so schlechter Zug, denn spanisch mußten alle Indianer neu lernen, und kein Indianervolk war bevorteilt worden. So erzählen sie mir die Geschichte in Oruro, wo etwas mehr quechua als aimará gesprochen wird. In La Paz dagegen wird vor allem aimará gesprochen.
Die Menschen hier im Hochland sind alles ganz dunkelfarbige Indianer. Was für Südamerika auch außergewöhnlich ist, ist, daß vor allem bei den Aimarás die Frauen den wirtschaftlichen Mittelpunkt der Familie bilden. Sie sind es also, die die Produkte des Landes handeln; der ganze Markt von La Paz wird von Frauen bestimmt, die morgens mit allen möglichen Waren aus den Provinzen in die große Stadt fahren. Sie sagen mir, die Ehemänner bekommen ihr Geld von den Frauen zugeteilt.
So dürften die Frauen auch für einen Großteil der staatlichen Einkommen verantwortlich sein. Es scheint mir, daß die Frauen in diesem Land, das offenbar vom spanischen Machismo nicht ganz so viel mit auf den Weg bekommen hat, im Vergleich bessere berufliche Aufstiegschancen haben als in anderen Ländern des Kontinents. Eine Nachbarin sagt mir in Oruro, sie möchte, daß ihre Tochter auf die höhere Schule kommt, deutsch lernt und später vielleicht in Deutschland studieren kann. Sie erzählte mir auch, daß sie stolz darauf sei, daß Bolivien einmal etwa ein Jahr lang von einer Präsidentin regiert worden war. Ein Jahr sei gar nicht so schlecht gewesen, in einer Zeit, wo die durchschnittliche Zeit, die bis zum nächsten Militärputsch verging, bei 8 Wochen lag.
Worüber ich beim Gräben ausheben auch erstaunt war, war, daß die technische Leitung über das Kanalisationsprojekt der Stadt bei einer Frau lag. Die Architektin kam einmal in der Woche aus La Paz und begutachtete die Arbeiten, ließ sich genau erklären, wieweit sie schon gekommen waren, überprüfte, ob sie sich an die Pläne gehalten hatten... und es schien für die Arbeiter und die Chefs eine Selbstverständlichkeit zu sein, daß sie alle unter der Leitung einer Frau arbeiteten.
Vielleicht haben sie im Sozialministerium ja die Erfahrung gemacht, daß die Frauen tatsächlich verantwortungsbewußter und zuverlässiger arbeiten, und daher einem weiblichen Architekturbüro in La Paz den Auftrag erteilt.
 

Der Weg in die Anden

Nachdem ich 3 Wochen in Oruro verbracht habe, gehe ich zu Fuß die Straße nach Chile raus, die Sandpiste, die über den vertrockneten Salzsee über den Altiplano nach Pisiga führt... und siehe da, der erste Lkw, der die Straße entlanggefahren kommt, hält an und nimmt mich mit. Zu irgendeiner Kreuzung, ab da gehe ich zu Fuß weiter, eine Stunde in der Sonne, dann kommt wieder ein Lkw, der nimmt mich bis Ankarabe mit. Das ist so eine Art Truck stop, von da geht es weiter mit einem anderen Lkw bis Huachacallo, wir kommen in der Dämmerung an, hier haben wir den Altiplano hinter uns, und es fangen die Berge an. Diese kleinen Lkw's vom Altiplano fahren nicht weiter, ich muß im Militärhäuschen warten. Um Mitternacht sollen die großen, robusten Trucks hier durchkommen, die einzigen Fahrzeuge, die der harten Tour durch die Berge standhalten.
Hier in dieser Gegend fahren nur Lkw's. Sie transportieren Waren von der chilenischen Küste über die Pässe in den Anden und über die Salzebenen in das Innenland von Bolivien. Huachacallo liegt schon über 4000 m hoch, ein bißchen am Hang, so daß die Ebene ganz gut zu überblicken ist.
Mitternacht. Lichter in der Ferne. Da kommen die ersten Trucks. Einer, zwei, drei, da ganz hinten noch zwei... ein ganzer Konvoi, mit weißen und bunten Lichtern, der sich bedächtig über die Ebene dem kleinen Ort nähert. Vor der Schranke müssen sie anhalten. Große alte Laster mit verbeulten Blechschnauzen, der ganze Lade-Aufbau aus Holz, in bunten Farben angemalt, violett und blau einige, gelb und grün andere, alle über und über mit Dreck bespritzt, und überall leuchten rote, grüne oder blaue Lichter von den Seiten. Sie kommen aus dem Hinterland, viele hundert Kilometer aus dem Osten, und sind bestimmt alle schon viele Stunden, Tage und Nächte unterwegs.
Hier müssen sie alle anhalten, die Papiere und die Ladung werden kontrolliert. Die Motoren hören sich trotz ihrer Lautstärke nicht aggressiv an, das haben sie gar nicht nötig. Sie klingen eher wie sich konzentrierende Raubtiere, die genau wissen, daß sie gleich dran sind. Sie beziehen das widerhallende Echo der Berge in ihr Ritual mit ein. Ohne jede Diskussion scheint ihnen die Stille der Nacht respektvoll den Vorrang zu lassen.
Die ersten, die vorbeikommen, nehmen die Leute mit, die schon am längsten gewartet haben. Irgendwann bin ich auch an der Reihe, es ist ein ehemals weißer Lkw, aber über und über voll mit lehmiger Erde. Die beiden Fahrer nehmen mich zu sich nach vorne in die Kabine. Und los, Huachacallo bleibt hinter uns.
 

Fernfahrer in Bolivien

Sie finden es ganz interessant, sich mit mir zu unterhalten. Später merke ich, daß ich vergessen hatte, sie zu fragen, bis wohin sie eigentlich genau fahren. Ich hoffe mal, bis runter an die Küste. Soll ich sie fragen oder nicht? Nein, ich frag sie lieber nicht, das wäre nicht meine Art, sowas zu fragen. Ich kann mir denken, daß sie irgendwo hinfahren, und mehr brauch ich auch nicht zu wissen. Ich hoffe einfach mal, daß sie nach Chile fahren.
Der eine ist doch kein Fahrer, sondern ein Geschäftsmann aus Cochabamba, der nach Iquique an die Küste reisen will. Das bedeutet, daß der Fahrer alleine fährt, und zwar schon seit Cochabamba. Und das sind vielleicht 1000 km von hier. Bei diesen Straßen.
"Ach, 2 Tage, das ist nichts, das bin ich gewohnt. Es ist ja nur eine Tour von Cochabamba. Die Straßen von da gehen ja noch. Oft bin ich ja schon die Strecken hinter Cochabamba in den Osten gefahren, nach Santa Cruz de la Sierra und noch weiter, mit voller Ladung, das ist richtig hart."
In Deutschland dürfen die Trucker nicht länger als 4 Stunden oder so am Steuer sitzen, mich würde mal interessieren, wie das hier ist.
"Wieviele Stunden fährst du denn so an einem Stück?"
"Das längste sind 4 Tage, kommt auf's Wetter an. Ich selber fahre ungern länger als 3 Tage, ich finde, das ist ungesund..."
"Wow, 4 Tage! - Nein, ich meinte, wieviele Stunden fährst du an einem Stück, ohne zu schlafen?"
"Ja, wie gesagt, ich fahr 3 Tage. Ich fahr nicht gerne länger."
"Aber ich meinte, von einer Schlafpause zur anderen, wie lang du da fährst, das meinte ich."
"Ich sag doch, 3 Tage."
Er lächelt mich an.
Jetzt versteh ich erst. Er sitzt also schon seit 2 Tagen ununterbrochen am Steuer, und fährt die zweite Nacht durch. Das muß mit dem Coca-kauen zusammenhängen.
"Warum wirst du nicht müde?"
"Ich weiß nicht, wir werden nicht so schnell müde, wir sind das gewohnt. Der hier", er deutet auf meinen Nachbarn, "ist mir schon zweimal eingeschlafen! Die meiste Zeit vom Weg hat der verschlafen! Mit wem soll man sich denn unterhalten, wenn er alle 4 Stunden wieder einschläft... ich hätte mir einen anderen Nachbarn aussuchen sollen..."
"Ja, das stimmt, ich werde so leicht müde in der Kabine... auch jetzt bin ich schon wieder ganz müde..."
"Weißt du, warum der immer einschläft? Der mag die Coca nicht. Hier, magst du? Das ist Magenmedizin, hier, versuch mal ein paar Blätter. Das ist keine Droge, das sind nur die Blätter von der Coca. Die machen nicht süchtig."
"Na gut, ich probier's mal", sieht aus wie Lorbeerblätter, die nach fast nichts schmecken, "Ist das wirklich nicht schädlich?"
"Du darfst das nur nicht Tag und Nacht machen, das ist schädlich, da hast du recht. Ich versuch, das möglichst wenig zu machen. Man darf sie nicht dauernd kauen, es ist besser, sie länger im Mund zu behalten. Einen Tag lang geht es auch ohne. Ich sag ja, länger als 3 Tage fahre ich ungerne am Stück..."
 

Planet pur

Die Natur ist bezaubernd. In der Truck-Kabine in Bolivien, das ist wirklich der Logenplatz für den Tramper. Auch wenn es Nacht ist - wir haben hellen Mond und können sie gut sehen, diese Einöde aus felsigen Bergen, mit trockenem Gras bewachsenen Hochebenen und glänzend weißen, im Mondlicht schimmernden, ausgetrockneten Salzseen. Je höher wir kommen, desto mehr wird das Gras von einer schwarz-grün-weiß gefleckten Flechtenvegetation abgelöst, in der ab und zu ein paar rote oder gelbe Punkte hervorscheinen.
Aber es wird auch feuchter, je höher wir kommen. Die Schotterstraße ist schon lange nicht mehr befestigt, der Boden oft schlammig... der Konvoi der 6 oder 8 Lkw's sucht die Spuren des Vorgänger-Konvois von vor paar Tagen, die sich zwischen die fahl dunkelgrünen Silhouetten der hügelartigen Berge schlängeln.
Einmal müssen wir eine Pause machen - einer der Trucks ist im Schlamm steckengeblieben, sie haben es aber schon geschafft, ihn wieder herauszuziehen. Die Trucks fahren oft mitten durchs Gelände, wenn die Piste zu tiefe Pfützen hat. Jeder Fahrer sucht sich seine eigenen Spuren, von der Nacht in den Morgen.
Es hat angefangen zu dämmern. Die Berge bekommen Konturen. Sie erscheinen viel größer als im fahlen Mondlicht, viel majestätischer, sie sind viel weiter weg. Die Vegetationsgrenze liegt nur wenige hundert Meter höher, darüber sind die Berge dann in einem gräulich rotbraunen Ton gefärbt. Der Himmel ist im Westen noch tiefblau, aber im Horizont wird er schon grün, bald gelb, bald geht er in ein fahles Orange über. Im großen Salzsee vor uns spiegelt sich dieses faszinierende Naturschauspiel. Eigentlich, wenn ich es so betrachte, ist es doch ein wunderschöner Planet...
Ich stubse meinen Nachbarn an, deute auf den leuchtend roten Kreisansatz am wolkenlosen Himmel, hinter den schneebedeckten Gipfeln im Osten:
"Die Sonne, da, endlich!"
Kalt: 4650 m über NN. Trotzdem liegt hin und wieder ein Ort an der Piste.
"Von was leben die Leute hier?", frage ich den Geschäftsmann aus Cochabamba.
"Weiß nicht. Quinoa. Die Leute leben schon seit immer hier in dieser kargen Einöde, das ist der einzige Grund, warum die hier leben..."
Der Fahrer, während er weiter seine Coca-Blätter kaut: "Die ham Lamas. Und bauen Habas an. Verkaufen außerdem Salz."
Quinoa ist eine Art Getreideersatz, eine sehr robuste Pflanze aus den Anden. Habas sind dicke Bohnen, die sind auch von hier. Bei den ganzen Salzseen könnte man meinen, Salz gebe es hier jede Menge. Das sind aber meist Sulfatsalze, das eßbare Kochsalz ist relativ selten.
Am Vormittag erreichen wir die Paßhöhe. Wir kommen erst nach Colchrane, die bolivianische Seite der Grenze, erledigen dort die Papiere, dann geht es nach Pisiga, das ist Chile.
 

Einreise nach Nord-Chile

Die erste Überraschung kommt, als ich erfahre, daß die bolivianischen Trucks gar keine Erlaubnis haben, die letzten 100 km bis zur Küste auch noch runterzufahren. Es läuft so, daß vom Küstenort Iquique chilenische Laster die Waren bis auf den Paß fahren, dort alles abladen, und die bolivianischen holen sich die Sachen dann ab. Da hier der Eingang zur chilenischen Küstenwüste ist und es nie regnet, werden alle Waren einfach unter freiem Himmel deponiert. Also bin ich wieder auf der Straße, muß mir einen neuen Tramp suchen, denn auch unser Truck fährt nur bis hier.
Der Geschäftsmann aus Cochabamba und ich gehen gemeinsam zum Grenzübergang. Chile braucht nicht stolz zu sein auf seinen Stempel in meinem Reisepaß.
Der Militärtyp, der mir jetzt eigentlich einen Einreisestempel in den Paß geben sollte, anstatt rumzulabern:
"So, du willst also hier rein. Weißt du schon, mit was für einem Lkw du nach Iquique fährst?"
"Nein, noch nicht, Señor, ich werde die gleich mal fragen, ob mich von denen einer mitnimmt. Es sind ja viele Wagen hier."
"Ja, dann mach das mal."
Der Bolivianer: "Die nehmen aber in der Regel 15 Dollar."
"Ach so. Ach was, ich glaube, ich gehe einfach mal zu Fuß los, hab ja 'ne gute Landkarte, und Dörfer sind ja auch am Weg."
Nix zu Fuß.
"Nein, die Einreise geben wir hier nur, wenn du jemand vorweist, der dich runter nach Iquique fährt." - weil's ja so kalt wär in der Nacht, "das können wir nicht verantworten."
Wir finden einen Fahrer, der's für 5 Dollar macht. Gut, mich läßt er rein. Gnädigst, nachdem ich noch gut rumgeschleimt hab. Daß er ja wirklich ein sehr verantwortungsvoller Coronel sei. Den Bolivianer will er nur reinlassen, wenn er ihm (eine ziemliche Menge) Geld umtauscht. Hilft ihm nichts.
 

Wieder an der Panamericana

Die Militärs müssen hier in der Gegend sowieso eine ganze Menge verantworten. Aber nur bis Antofagasta, 500 km weiter südlich, ab da soll sich das ein bißchen ändern. Weil es hier immer noch nicht richtig Chile zu sein scheint, erklärt mir eine Frau, unten nahe der Küste an einem Militärposten an der Panamericana, sie will auch wie ich Richtung Süden weitertrampen:
"Hier wohnt keiner, hier sind nur Wüste und paar Küstenorte. Antofagasta und Iquique waren bis vor 100 Jahren noch bolivianisches Gebiet, bis wir den Krieg mit Bolivien hatten, danach war's chilenisch."
Chile liegt zur Zeit noch in den letzten Zügen der Militärdiktatur, die das Zeitliche schon gesegnet hat, aber dessen Apparat noch überall präsent ist. Sie glauben anscheinend immer noch, daß, wenn sie nicht wie die Schießhunde aufpassen und hier nicht überall Straßensperren einrichten und den ganzen Verkehr von Nord-Chile penibel kontrollieren, dann kommen eines Tages die Bolivianer und holen sich das Gebiet hier wieder zurück.
Um 10 Uhr nachts nimmt mich ein Lkw mit, bei Vollmond durch die Tamarugal-Wüste, bis Antofagasta. Am Morgen kommen wir an. Antofagasta ist eine Hafenstadt.
Die Panamericana geht aber nicht direkt durch die Hafenstadt, sondern geht am Ort vorbei, hält sich oben in der Wüste, und so warte ich am Ortsausgang von Antofagasta erstmal darauf, daß mich einer die 20 km nach oben zum Truck stop La Negra an die Panamericana mitnimmt. 2 andere Tramper warten auch an derselben Stelle, schon seit 8 Uhr. Aber es ist wenig Verkehr, es kommen nur paar Container-Trucks, die fahren nicht bis La Negra, und Kieslaster, die fahren nur zur Kiesgrube. Mal die beiden fragen, vielleicht trampen sie die Strecke ja öfters:
"Seid ihr Chilenen?"
"Nein, wir sind Argentinier."
Schade, sie kennen sich hier auch nicht aus. Kommen gerade aus Peru runtergetrampt. Meine Karte finden sie gut.
"Hier, bis kurz vor Santiago fahren wir die Panamericana runter, und dann über diesen Paß, nach Argentinien..."
Genau in dem Moment, als ich mich entschließe, zu Fuß die 20 km durch die Wüste zu gehen, hält ein Pkw an, der nach La Negra fährt und noch einen Platz frei hat.
 

Am Truck stop von La Negra

La Negra, das ist ein staubiges Zementwerk in der Wüste, ein Truck stop, also Militärkontrolle und Tankstelle, und die Panamericana. Erstmal müssen alle Autos beim Militärposten anhalten und ihre ganzen Papiere zeigen, und die Trucks fahren dann meistens zur Tankstelle, gleich dahinter, da kann man dann mit den Fahrern reden. Kommen aber recht wenig, und die fahren entweder "nicht weit", oder "die Firma erlaubt nicht", daß sie Anhalter mitnehmen. Das gab es in Bolivien oder Peru nicht. Es ist staubig, ich habe bald einen trockenen Mund. Von Zeit zu Zeit weht ein sandiger Wind.
Nach 3 Stunden kommen auch die Argentinier mit ihren Rucksäcken. Ja, das ist gut, dann übernehmen sie die Tankstelle, und ich stell mich bei der Straße hin. Das hat mich nämlich schon die ganze Zeit genervt, manche fahren ja nicht auf die Tankstelle, sondern gleich wieder auf die Straße, die sind mir dann natürlich immer ausgerissen.
Noch eine Stunde, dann haben sie es wohl geschafft, der Tankwart winkt mich her:
"Hier, frag den Fahrer da, der nimmt die beiden anderen mit!" - Welchen Fahrer meint er? Ach, den da.
"Ja, also, ich komme aus Deutschland und will nach Süd-Chile... nehmen Sie mich ein Stückchen mit, Chef?"
"Ja - kletter hinten drauf."
Yeah, super. Geschafft! Lkw mit Anhänger. Er nimmt uns alle mit. Die Argentinier sind natürlich auch total happy.
"Hey, bis wohin fährt er eigentlich, habt ihr ihn das gefragt?"
"La Serena!"
"Wow! Das sind 900 km !"
Wir unterhalten uns ein wenig, hinten auf der Ladefläche des Lastwagens, der halbvoll mit weißen Säcken ist, Reis aus Uruguay. Den Argentiniern haben sie in Peru das Geld geklaut, deshalb fahren die wieder heim.
Auch der Anhänger ist halbvoll mit den weißen Säcken. Da ist gar kein Reis drin, das steht nur drauf, da ist Salz drin. Die beiden haben sogar ein Zelt mit, das spannen wir über die vordere erste Hälfte des Laderaumes, wegen der Hitze, die Mittagssonne ist ja mörderisch.
 

Durch die Atacama-Wüste

Sie hatten es sich in der Hafenstadt gespart, den Lastwagen mit Planen abzudecken, sie haben die Planen zusammengefaltet und nur einfach hinten reingelegt. Es wäre auch Schwachsinn gewesen, den Lkw extra noch abzudecken: er wird jetzt einen Tag und eine Nacht durch die Atacama-Wüste fahren, das ist die trockenste Wüste der Erde, da braucht er keinen Regenschutz.
Der Fahrtwind bringt ein bißchen Kühlung, gegen Abend wird es angenehmer. Der Lkw fährt angenehm ruhig und monoton, die asphaltierte Straße durch die Wüste ist gut instand. Für die Nacht richte ich mir etwas aus Schlafsack und Lkw-Plane her und nehme den Rucksack als Kissen. Allzu kalt wird es nicht werden, es bilden sich sogar ein paar Wolken. Es ist natürlich nicht besonders gemütlich, pennen wir hier auf den Salzsäcken, aber was soll's jetzt. Ich bin noch müde von gestern, ach ja, stimmt ja, das war ja in Bolivien, ich habe ja die Nacht durchgemacht.
Es sind tatsächlich Wolken am Himmel, das ist interessant... ich schlafe aber schnell ein. Jaja, die Wolkenzeit. Die Küstenwüsten von Peru und Chile haben eine Sommerzeit und eine Wolkenzeit. Die Wolken sind aber nur da, manchmal verdecken sie den ganzen Tag die Sonne, dann ist es ziemlich kühl in der Wüste, aber sie regnen nie ab.
Die Salzsäcke sind sehr hart auf die Dauer; immer, wenn ich mich umdrehe, wache ich auf. Aber eine Federkernmatratze haben sie leider nicht mit reingepackt in den Lkw. Die ersten paar Male fahren wir noch, irgendwann steht der Lkw dann.
Ist aber danach wieder weitergefahren. Das Außenzelt wird noch abfetzen, wenn das so weiterflattert. Wieso nehmen die das denn nicht rein, das sind doch Trottel. Ach, egal. Ich penn wieder ein.
Jetzt stehn wir. Ich geh kurz pissen. Die beiden murksen irgendwo bei ihren Sachen rum. Der eine macht das Außenzelt wieder fest. Sind wohl auch grad erst aufgewacht.
"Wieviel Uhr?", fragen sie mich.
"Weiß nicht... 4 vielleicht...", sind ja Wolken da, ich kann nicht sehn, wo der Mond steht.
Ach, weißt was, ich leg mich wieder pennen. 4 war das glaub doch noch nicht.
Warum sollten die Bolivianer denn da einmarschieren in Nord-Chile, das ist doch der größte Schwachsinn. Bolivien erhebt in seinen Landkarten auch gar keinen Anspruch auf das Gebiet, ebensowenig Peru auf Arica, das ist die nördlichste Küstenstadt von Chile, die war vor 100 Jahren peruanisch. In Bolivien haben sie mir das mit den ehemaligen bolivianischen Küstengebieten auch erklärt, haben aber immer gesagt, daß das jetzt chilenisch ist, weil die doch den Krieg gewonnen haben und es wurde ein Vertrag unterzeichnet.
Ecuador dagegen erhebt in allen offiziellen Landkarten Anspruch auf einen guten Teil von Nord-Peru, und Guatemala reklamiert das ganze Land von Belize. Ecuador bezieht sich im Ernst auf irgendso'n Vertrag von 1830... Guatemala auf einen von 1859... die Briten hätten diesen Vertrag gebrochen, indem sie es unterlassen haben, irgendeine bestimmte Straße in einer festgesetzten Zeit zu bauen... wahrscheinlich hätte sich Belize also gar nicht unabhängig erklären dürfen. Komisch, aber die USA erkennen sie alle an, obwohl deren Geschichte auch nur eine Aneinanderreihung von gebrochenen und völkerrechtlich ungültigen Verträgen ist...
 

Überraschung am Morgen

Ich wache wieder auf, dreh mich nochmal auf den Rücken, oh, es ist schon hell. Aber der Lkw steht immer noch. Ich mache ganz kurz die Augen auf. Toll. Ich kann gar nichts sehen.
Das Außenzelt haben sie jetzt doch losgemacht, endlich haben sie das gecheckt, daß das sonst noch zerreißt im Fahrtwind. Jetzt habe ich es als zweite Zudecke, und über der Fresse. Steh ich auf oder schlafe ich weiter? Ich glaube, ich werde nicht mehr weiterschlafen. Ich bin viel zu gespannt, wo wir schon sind.
900 km... bis jetzt ist das mein weitester Tramp in Südamerika. Nur von Griechenland nach Österreich bin ich einmal eine längere Strecke mitgenommen worden, von einem französischen Trucker.
Er hat den Motor angelassen. Fährt aber noch nicht los. Ich dös weiter... miese Salzsäcke... ich bin, wie nennt man das, wenn die Muskeln auf die Großhirn-Befehle nicht ansprechen wollen... dezentralisiert bin ich. Der Rücken..., die Schultern... mann, bin ich fertig. Dös...dös... das machen die immer, die Trucker, lassen den Motor erst eine Weile laufen, bevor sie losfahren... dös... dös... da, jetzt ist er losgefahren.
Es dauert mindestens noch 10 Minuten, bis meine Beinmuskeln sich endlich mal mit einer positiven Antwort melden. So, die Beine sind also da. Ein Bein, ein anderes Bein. Stimmt, beide bewegen sich. Hab ich voll unter Kontrolle jetzt. Ich sollte es nun mal mit meiner Hand versuchen.
Also, los. Na bitte, Hand, es geht doch. Erstmal dieses blöde Außenzelt von der Fresse - ah, es ist immer noch bewölkt. Und jetzt hinsetzen... oh, Leute, ich sag euch, wenn ihr mal die Wahl habt zwischen einer weichen, flaumigen Matratze und Salzsäcken zum Pennen - nehmt die Matratze. Ihr werdet's nicht bereuen...
Was mich erstmal nervt, ist, daß der Typ da neben mir gar nicht mehr daliegt, Gemeinheit. Einfach nicht mehr dazuliegen. Extra mit Rücksicht auf ihn hab ich mich immer besonders umständlich und vorsichtig umgedreht, um ihm nicht meine Knie an den Kopf zu hauen. Und jetzt liegt er gar nicht mehr da.
Hey, der andere ist ja auch nicht da. Wo sind denn die? Ihre Schlafsäcke sind noch da, ihre Rucksäcke auch, da hinten, das kann ich sehen... bei denen sind sie aber auch nicht. Ich bin zwar vollkommen fertig, aber soviel check ich auch so: ich bin der einzige auf der Ladefläche.
Ah - natürlich, ganz klar, das ist nicht schlecht, die werden vorne beim Fahrer in der Kabine sein. Ja, das ist gut, dann unterhalten sie sich mit dem, dann wird der vielleicht etwas gesprächiger. Viel mehr als "Ja - kletter hinten drauf" hat er uns gestern ja wirklich nicht berichtet. Fährt mit seinem kleinen Sohn.
Nein, der gesprächigste war er gestern wirklich nicht. Beim zweiten Truck stop, als er weiterfuhr: steigt ein, läßt den Motor an, fährt los. Andere sagen ja noch "hopp, geht weiter" oder sowas, aber da war nix, wenn wir nicht schnell raufgeklettert wären, wären wir da stehengeblieben... Komisch, wieso läßt er dann auf einmal beide zu sich nach vorne in die Kabine... das verstehe ich nicht... eh, halt mal, es gibt ja ein ganz einfaches Mittel, rauszukriegen, ob sie wirklich in der Kabine sind oder nicht. Ich bräuchte mich dazu nur umdrehen und vorne in seinen Rückspiegel schauen.
Ach ja, UMDREHEN... nein, wart mal, noch liege ich, erstmal überlegen, nur nichts übereilen. Könnte Energieverschwendung sein. Also: wenn sie da vorne nicht drin sind, wäre die Sache langsam spannend, weil dann könnten sie praktisch nur noch im Anhänger sein. Ja.      Ja.  -  Ja, mann, also los jetzt, umdrehn.
Rückspiegel hat er. Aber da sehe ich nur den Jungen und den Fahrer in der Kabine. Das gibt's doch nicht. Jetzt bin ich aber wach. Hopp - hinter zum Anhänger. Hinten sind sie jedenfalls nicht, aber ich muß noch warten bis eine Kurve kommt, daß ich in den toten Winkel kucken kann.
Tatsächlich - im Anhänger sind sie auch nicht. Aber ihre Rucksäcke sind doch noch da! Ich versteh das nicht. Meine Sachen sind auch noch alle da. Wo sind wir eigentlich? Irgendwo in der Wüste.
Aha, da sind wir: Kilometerstein 820. Also ich seh da kein Sinn drin.
Eine Stunde später hält er wieder an einem Truck stop, Frühstück. Ich frag den Fahrer. Der hat tatsächlich keine Ahnung, was mit denen ist!
Ich kletter nochmal rauf, schau in den Rucksäcken nach - und finde beide Reisepässe, "República de Argentina". Ihre Landkarte und ihre Jacken sind aber nicht da. Obwohl der Fahrer natürlich auch nichts anderes kann als lachen - er ist ganz schön erschrocken.
"Die müssen da bei dem letzten Truck stop runter sein!"
Ja, anders geht's nicht. Aber warum? Das sind doch Trottel, da nimmt man doch seine Papiere mit, ihre Karte haben sie ja auch mit. Außerdem hatte er den Motor lange laufenlassen, bis er dann abfuhr, das hätten sie doch mitkriegen müssen.

"Und was machen wir jetzt?"
"Mal in ihren Papieren rumlesen."
Ihr Geld ist ihnen in Cusco tatsächlich geklaut worden - sind sie extra zur Polizei. Beide heißen sie Nestor, sind Studenten an der Uni von La Plata, das liegt am Atlantik, bei Buenos Aires. Der eine ist auch aus La Plata, der andere ist aus Villa Maria, das ist eine Stadt bei Córdoba, mitten in Argentinien.
Der Fahrer ist ziemlich ratlos:
"Was machen die jetzt ohne Reisepässe?"
"Wie, was sollen die machen?"
"Na, die gehn doch zur Polizei, am besten, wir geben die Sachen bei der Polizei ab."
"Ach, nix werden die machen, die fahrn zur Grenze, haben paar Probleme, und fahren heim."
Villa Maria liegt gar nicht so weit weg von der Grenze, vielleicht 1000 km von hier. Denk, denk.
"Weißt du was? Am besten, wir fahrn einfach erstmal weiter. Ich selber weiß nämlich auch nicht, wo ich hinsoll. Dann fahr ich eben nach Villa Maria und bring die Rucksäcke zu dem seiner Familie, und die Reisepässe kann ich ja an der Grenze den Beamten geben. Hier die Polizei jedenfalls wird mit denen ihren Pässen auch nichts anfangen können."
"Naja, gut, fahrn wir erstmal weiter."
Fahrn wir erstmal weiter, ich kletter wieder hinten rauf. Dem einen sein Rucksack ist ziemlich schwer, die beiden anderen sind aber leicht. Mann, das ist ja der absolute Witz. Jetzt muß ich mir das erstmal in der Karte anschauen.
Kurz vor Santiago muß ich von der Panamericana runter und in die Anden, über einen Paß, vorbei am Aconcagua, dem mit fast 8000 m höchsten Berg der Gebirgskette, und zu einer Stadt, die Mendoza heißt. Und dann noch paar 100 km weiter... ich weiß nicht, wie ich das mit dem ganzen Gepäck schaffen soll. 1000 km durch den Kontinent mit 4 Rucksäcken, die werden mich alle für bescheuert halten.
Aber mir gefällt die Aussicht, bei seiner Familie in Villa Maria mit dem ganzen Gepäck anzukommen - freuen sie sich bestimmt und spendieren mir ein ganz dickes Essen. Doch, das lohnt sich, die Idee gefällt mir.
Es macht Spaß, hinten auf dem Truck zu stehen, nach vorne zu schauen und den Wind in den Armen zu halten. Oh, was ist das da hinten für eine große weiße Kugel auf dem Berg? Das ist doch bestimmt diese eine berühmte Sternwarte, die größte für den südlichen Sternenhimmel.
 

Bei der Sternwarte

von La Silla

Ja, isses tatsächlich, La Silla, stehen Schilder dran. Der Lkw hält wieder an, am Truck stop, wo die Schotterstraße zur Sternwarte abzweigt. Es ist Mittag geworden, die Sonne brennt heiß vom Himmel. Ich setz mich in den Schatten vor das eine Haus und betrachte mir die Panamericana, an der hin und wieder einige Trucks entlangfahren, und die 15 km entfernte Sternwarte, im Osten auf einem der Hügel vor der Andenkette.
Die Sternwarte haben sie mit Absicht hier in die Wüste gebaut, wegen der guten Sicht. Hier sind nur sehr selten Wolken, und die Luftfeuchtigkeit ist sehr gering.
Es kommt ein Truck von Norden an, mit sehr großer Geschwindigkeit. Die Trucks von Norden sind immer schon über 10 km zu sehen. Oh, er fährt wirklich sehr schnell, schneller als die anderen, kommt ganz schnell angefahren, aber jetzt bremst er, fährt auf unseren Truck stop... - 2 Typen steigen aus und kommen zu mir rübergelaufen... oh nein, es sind die beiden Argentinier, diese Witzbolde!
"Hallo Nestor! Wie geht's ?!"
"M - ähh - was ist mit - den Reisepässen?"
"Na, das ist mal gut, daß wir die nicht zur Polizei gebracht haben... !"
Sie sind da tatsächlich an der einen Tankstelle vom Wagen runter, hatten im Lokal gefrühstückt und erst zu spät gemerkt, daß der Lkw losfuhr. Bei den Bullen seien sie zwar gleich gewesen, die hatten aber anscheinend auch keinen großen Bock, ihnen weiterzuhelfen. Aber dieser Trucker hat sie mitgenommen und sich überreden lassen, den Salztransport einzuholen - mensch, ham die ein Schwein gehabt.
Der Rest der Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, am Nachmittag hatten wir die Wüste hinter uns und waren wieder an der Küste, in La Serena. Dort trennten sich unsere Wege wieder.
(...)
 
 

Per Anhalter durch Patagonien

Brief FORUM 16
26. März 1989, Estancia Sara, Feuerland, Argentinien. (Nur der Anfang. Danach in Göttingen weitergeschrieben, August 1993).

Die Carretera Panamericana (The Pan American Highway) geht nach allgemeiner Auffassung von Alaska nach Feuerland. Tatsächlich tut sie das zwar nicht, aber in den meisten Gegenden auf der Strecke ist diese Kleinigkeit eher nebensächlich und kann daher meist auch mit gutem Gewissen vernachlässigt werden.
Unumstritten ist, daß die auf diese Weise längste Straße der Welt in Südamerika durch die Anden von Kolumbien und Ecuador und danach durch die Küstenwüsten von Peru und Nord-Chile geht. Und die meisten Chilenen sind der Meinung, daß die Straße, die von Santiago de Chile nach Süden rausgeht, auch weiterhin die Panamericana sei. In Wirklichkeit scheint es von der jeweiligen Regierung, von den jeweiligen Verträgen mit anderen südamerikanischen Staaten, von der Konjunktur und in erster Linie vom Geld abhängig zu sein, ob die Panamericana nun wirklich südlich von Santiago rausgeht oder ob sie genau das nicht tut.
Ich selber jedenfalls tat es. Ein Trucker nahm mich in den Süden von Chile mit, er mußte auf der Chiloé-Insel abladen, und nahm mich sogar spaßeshalber für einen Tag auf die Insel mit. Von Puerto Montt sind wir da mit der Fähre rüber.
In der Gegend von Puerto Montt hört Chile dann langsam aber sicher auf, befahrbar zu sein, weil die Küste nach Süden hin immer mehr von steilen Fjorden durchfurcht wird. Wer mit dem Auto an die Orte an den Fjorden oder nach Feuerland will, oder nach Punta Arenas, muß durch argentinisches Gebiet fahren, also auf die andere Seite der Andenkette, durch Patagonien.
In Punta Arenas leben nochmal 100.000 Einwohner, es gehört zu Chile und liegt an der Magellan-Straße. Es ist die südlichste Stadt auf dem Festland des südamerikanischen Kontinents, der sich in lauter Fjorden, Gletschern, Seen, Wasserstraßen, Kanälen und vielen vielen Inseln langsam nach Süden verliert.
Die größte dieser Inseln ist die Große Feuerland-Insel, die ist zwischen Argentinien und Chile aufgeteilt. Etwas größer als Bayern ist die. Feuerland heißt die Insel deswegen, weil es dort Erdgas gibt, und die Indianer hatten das auch schon entdeckt und hatten das an ein paar Stellen an der Küste immer abgefackelt. Das fiel den ersten Europäern, die hier vorbeikamen, auf, und dann nannten die das Tierra del Fuego.
Auch ich mußte also über einen der Pässe über die in der Gegend von Puerto Montt nicht sehr hohen Anden, komme an einer Straßenabzweigung in der Nähe des argentinischen Ortes Esquel an, und versuche wieder mal weiterzukommen.
 

Abzweigung Esquel

Es ist nichts los, ein paar karge Berge am Rand der Pampa, ich gehe ein bißchen die Straße entlang. Trockenes Grasland, es ist Sommer, rechts geht es nach Esquel in die Berge, geradeaus tut sich die weite Ebene auf.
Es ließen sich 2 Möglichkeiten denken, wie der Verkehr von hier nach Feuerland kommen könnte. Es gibt eingezeichnete Straßen, die entlang der Anden führen, über 1000 km nach Süden, bis sie bei Puerto Natales wieder befahrbares chilenisches Gebiet erreichen. Der andere Weg wäre folgender: 600 km an die Atlantikküste und von dort aus weiter auf der Ruta 3, der argentinischen Nationalstraße von Buenos Aires nach Feuerland. Die Leute sagen, die Straßen entlang der Anden seien zwar schön eingezeichnet, aber praktisch nicht befahrbar, und deshalb entscheide ich mich, an die Ruta 3 zu trampen.
Was ich nicht ahne, als ich in der Stille des Nachmittags die Straße in die Ebene hinausgehe, ist, daß das genau die Stelle ist, an der die meisten Tramper nicht weiterkommen. Später werde ich Leute treffen, die genau an dieser Abzweigung etliche Tage gewartet haben und die sagen, es sei einfach hoffnungslos gewesen.
Es ist auch wirklich wenig Verkehr. Patagonien ist ein weites Land. Auf der Strecke zwischen hier und der Atlantikküste liegt nur eine einzige Siedlung, Paso de Indios, nach 300 km auf halbem Weg.
1 km weiter ist eine Art Bahnübergang, und vom Tal kommt ein Personenzug mit alten Waggons und Dampflok in die Ebene geschnauft. Doch, das will ich mir jetzt reinziehn, denk ich mir, und bleib vor den Gleisen stehen... der Zug wird noch gut 10 Minuten brauchen.
Warum bleib ich auf dieser Seite stehen? Warum gehe ich nicht rüber und vielleicht noch ein Stückchen weiter? Nein, ausgerechnet hier direkt vor den Gleisen bleibe ich stehen.
Eine Teerstraße, ein Tramper mit schäbigem Rucksack und Schlafsack, und hinten aus den kargen Bergen ein Zug mit schnaubender Dampflok auf dem Weg in die weite Ebene Patagoniens.
Früher haben Indianer diese Steppe bewohnt, aber das ist lange her. Das Land gehört heute großen Estancias. Na, ob es der Zug wohl noch schafft? Er quält sich ganz schön. Wo mag er wohl hinfahren? Nach Buenos Aires? Wieviele hundert Kilometer sind das? Wieviele Tage mag er brauchen?
2 Autos kommen mir entgegen und halten auch vor den Gleisen an, warten auch die paar Minuten ab, wollen sich's wohl auch nicht entgehen lassen. Die Züge kommen hier wohl nicht gerade im Stundentakt vorbei.
Und dann kommt ein Auto auf meiner Straßenseite an, das erste seit einer halben Stunde. Älteres Modell, voll, 3 Leute, und Gepäck. Vielleicht hätten sie gar nicht angehalten, aber genau in diesem Moment kam der Zug nun doch endlich auf die Straße. Ein Tramper, ein Auto, ein Zug und die karge Landschaft.
Der Zug fährt vorbei. Tja, weiter.
"Wo willst du hin?", fragt der Fahrer.
"Auf die Ruta 3."
"Hm, wart mal, ja, ich glaub wir können dich mitnehmen."
Sie räumen hinten die Sachen zusammen und fahren mich tatsächlich durch die Nacht quer durch ganz Patagonien nach Trelew, an die Atlantikküste!
Und setzen mich, wie im Reisekatalog gefordert, an der für Tramper zuständigen Tankstelle an der Ruta 3 ab, nachts um 4 Uhr.
Die Ruta 3 ist gut befahren. Es ist die Straße, die etwa 3000 km südlich von Buenos Aires (es sind immer Kilometerschilder dran) in Ushuaia rauskommt.
Sie kommt zunächst zur südlichsten argentinischen Stadt auf dem Kontinent, das ist Río Gallegos. In Río Gallegos hört sie auf, geteert zu sein, und nur noch sehr robuste Trucks kommen dann noch mit der Schotterpiste zurecht. Die Pick-ups und Autos, die südlich von hier fahren, haben alle Gitter vor den Lichtern und den Scheiben, wegen der Steine, die durch die Luft fliegen, wenn ein Truck entgegenkommt.
Nach 60 km kommt dann die Grenze, der Grenzort heißt Monte Aymond, die Straße führt ab da durch chilenisches Gebiet, denn der Küstenstreifen um die Magellan-Straße ist chilenisch. Nach weiteren 30 km ist die Abzweigung zur Truck-Fähre nach Feuerland, die Schotterpiste selber geht noch viel weiter nach Punta Arenas, das sind etwa 150 km. Auch von Punta Arenas gibt es eine Fähre nach Feuerland, da ist die Magellan-Straße aber viel breiter, sieht aus wie das offene Meer.
Die Fähre für die argentinischen Trucks aber kreuzt die Wasserstraße an der engsten Stelle zur Feuerland-Insel, braucht eine halbe Stunde und nimmt Tramper kostenlos mit. Auf der anderen Seite geht unsere "Panamericana" dann durch den chilenischen Teil der Feuerland-Insel weiter, bis sie irgendwann an die argentinische Grenze kommt und noch 300 km durch Argentinisch-Feuerland geht, bis Ushuaia.
Nach der zweiten Grenze sind es zunächst 80 km durch eine karge Grasland-Einöde bis zur Stadt Río Grande, das ist die Hauptstadt von Argentinisch-Feuerland. Danach führt die Straße in die Berge, durch eine schöne bewaldete Landschaft. Sie geht über einen Paß, wo sie zum letzten Mal "die Anden" kreuzt, und endet wenige Kilometer weiter im Ort Ushuaia.
Ushuaia ist eine kleine Stadt am Beagle-Kanal, hat den Flair eines norwegischen Fischerortes mit kleinen bunten Häuschen und ist die südlichste Stadt der Welt. Südlich davon gibt es nur noch eine chilenische Militärbase, auf einer anderen Insel. Und auf der Antarktis, die 1000 km weiter anfängt, gibt es noch Forschungsbasen.
 

Vor dem Reisebüro in

Río Gallegos

4 Monate war ich schon in dieser Gegend, habe in Punta Arenas gewohnt, habe mir Ushuaia angeschaut, habe die meiste Zeit auf einer Estancia auf Feuerland verbracht und gelernt, wie man Schafe zählt, und war zuletzt in Río Gallegos gewesen, wo ich ein paar Leuten , die auf dem Bau arbeiteten, geholfen habe.
Argentinien stürzte im Winter 1989 in eine ganz katastrophale Wirtschaftskrise, und da die Inflation im Monat über 100 % lag, schwanden auch die Bauaufträge, und ich mußte bald wieder woanders hin. Ich traf ein paar Tage vorher vor einem Reisebüro am Busbahnhof 2 aus Buenos Aires, die wollten nach Feuerland und hatten kein Geld mehr, um den Flug zu bezahlen.
"Warum fahrt ihr nicht per Anhalter? Die Trucker sind so nett in dieser Gegend, die nehmen euch bestimmt mit. Das Trampen in dieser Gegend bringt richtig Spaß."
"Nein, che, über die Straße können wir nicht nach Feuerland, das geht nicht."
"Natürlich könnt ihr per Anhalter fahren, da ist recht viel Verkehr. Hier nimmt dich jeder mit! Die freuen sich alle über eine Begleitung. Hier ist doch nichts los sonst."
"Nein, es geht deswegen nicht, weil sie erst 20 ist und erst in 4 Monaten 21 wird, und sie darf noch nicht alleine ins Ausland... wir müßten doch in Monte Aymond über die Grenze nach Chile, che, und da werden sie uns nicht rüberlassen, weil sie nicht in Begleitung ihrer Eltern ist."
Das mit dem che kannte ich schon lange. In Argentinien sagen sie nach jedem 3. Satz "che". In der Indianersprache der Mapuches heißt che "Mensch". Es sei schon seit über 100 Jahren eine argentinische Eigenart, hab ich in einem Lexikon gelesen. In Mexico und Mittelamerika sagen sie alle "hombre".
"Ach was, das kann doch nicht sein. Ihr könnt doch nach Feuerland, das ist doch Argentinien."
"Doch, das ist so, che. Sie bräuchte eine notariell beglaubigte Erlaubnis ihres Vaters, mit Stempel der Gemeinde, in der sie wohnt. Und die hat sie nicht."
"Weißt du, wir sind von Buenos Aires abgehauen, weil wir uns verliebt haben und die haben uns das Leben unmöglich gemacht. Weil er doch von der japanischen Gemeinde ist und ich bin von der italienischen. Mich wollten meine Eltern mit einem Italien-Argentinier verheiraten."
"Was, echt ?"
"Ja, und an dem Tag, an dem das passieren sollte, haben wir uns entschlossen, einfach zusammen abzuhauen."
"Was, das glaub ich nicht, daß es sowas hier noch gibt. Das klingt ja verrückt. Wo kommt ihr denn her, Buenos Aires? Aus der Stadt?"
"Ja, aus einem Vorort der Hauptstadt."
Das muß man in Argentinien immer extra fragen, wenn "Buenos Aires" erwähnt wird. Es könnte die Hauptstadt und es könnte die Provinz gemeint sein. Die Provinz Buenos Aires ist eine Region südlich der Hauptstadt, die halb so groß wie Deutschland ist und in der halb Argentinien wohnt. Von daher ist die Angabe "Buenos Aires" immer etwas sehr Schwammiges. Ich hatte mir bei der Hauptstadt Buenos Aires bis jetzt immer eine moderne westliche Millionenstadt vorgestellt.
"Aber du wirst doch selber entscheiden dürfen, mit wem du zusammen sein willst und wen du heiraten willst. Es gibt doch sowas wie - das Selbstbestimmungsrecht der Persönlichkeit, oder das Recht auf -"
"Ja, che, wie denkst du, wie das läuft? Ich bin 20! Die entscheiden das, ich hab da nicht mitzureden."
"Hm. Das ist ja cool. Und wie ist das bei den Japanern? Wollten sie auf dich auch Druck ausüben?"
"Als sie erfuhren, daß ich mit einer Italienerin zusammen war, haben sie mir zweimal eine Japanerin zum Heiraten angeboten. Danach haben sie mich von meiner Arbeitsstelle entlassen."
"Und wo hast du gearbeitet?"
"In einem Supermarkt."
"Aber warum, irgendwo seid ihr doch beide Argentinier. Man kann doch auch mal zwischen den Rassen heiraten. In anderen Ländern ist das ganz normal."
"Ja, aber nicht hier in Argentinien, che. Das ist das schlechte hier an diesem Land! Die Argentinier halten nicht zusammen, weißt du. Hier lebt nur jede Gemeinde für sich. Die Italiener leben unter sich, die Deutschen leben in ihren Kolonien, die Japaner leben unter sich, die Basken leben unter sich... das Land ist hier nur eine Ansammlung von Kolonien, die alle nur in ihre eigene Tasche wirtschaften. Das ist schlecht, aber das ist so. Dazwischen heiraten ist nicht akzeptiert. Naja, manchmal gibt's das schon, und wenn ich sie geheiratet hätte, das hätten einige auch stillschweigend akzeptiert. Aber einfach so zusammenleben, das ist noch viel schlimmer. Außerdem ist Claudia größer als ich, darüber haben sie sich auch tierisch aufgeregt."
"Was, bist du echt größer als er?"
"Na klar bin ich größer als er! Er steht nur auf der Treppe. Hier, che, stell dich mal hier hin, Leo."
Stimmt, Claudia ist größer.
"Und die hatten echt schon alles angesetzt, um dich mit diesem Italiener zu verheiraten?"
"Ja, das war alles fertig. Ich hab am Morgen meine Oma angerufen und gesagt, daß ich nicht komme."
"Und was hat die gesagt?"
"Sie wußte das schon, oder sie hat's geahnt. Sie sagte, daß ich mich jetzt zuhause nicht mehr blicken lassen kann. Aber ich versteh mich ganz gut mit ihr. Sie hat mich nochmal heimlich reingelassen, damit ich meine Sachen holen konnte."
"Haben die dich eigentlich nicht gefragt ob du den Italiener auch wirklich heiraten willst? Ich mein, nur mal so, interessehalber."
"Das war etwa 1 oder 2 Jahre nach unserer Geburt von den beiden Familienclans abgemacht worden, daß wir beide heiraten sollen. Alles hatten sie von Anfang an so eingefädelt. Es war richtig auffällig. Ich wollte es immer rauszögern. Aber sie akzeptierten nicht, daß ich über 21 wär und noch nicht verheiratet. Ja, klar, che, sie wußten, daß sie es gegen meinen Willen machen. Wenn Leo nicht gewesen wär, hätte ich es auch gemacht. Naja, das ist jetzt 6 Tage her."
Sie schauen sich an.
"Nein, 5 Tage. - Erst sind wir nach Bariloche, mit dem Zug, dann nach Bahía Blanca..."
Ich kneife mich in den Arm. Es tut weh. Also ist das kein übler Traum, der mich verarschen will. Es ist vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die beiden die Details aus der Geschichte erzählen. Das ist doch wirklich nicht zu glauben, daß es so etwas in einem modernen westlichen Land noch gibt. Ich schaue zur Sicherheit nochmal auf den nächstbesten Kalender. Tatsächlich: 1989. Steht da drauf. Im Reisebüro. Das muß stimmen. Die müssen pünktlich sein. Zumindest soweit.
"Ja, dann ist mir klar, daß du diese Erlaubnis von deinem Vater nicht kriegen wirst."
"Erst wenn ich 21 bin, darf ich gegen den Willen meines Vaters über die Grenze."
"Aber du willst doch nur nach Feuerland! Das ist doch argentinisch! Was ist denn das für ein komisches Land hier!?"
"Das macht nichts, che, Grenze ist Grenze. Mit den Scheiß-Grenz-milicos ist da nichts zu handeln. Wieso wundert dich das so? Ist das in Europa anders? Kannst du da einfach ohne Erlaubnis ins Ausland, wenn du noch nicht 21 bist?"
"Ja, das wär ja noch schöner, wenn die da so drauf wären. In Deutschland bist du mit 18 volljährig, aber che, auch vorher darfst du doch schon alleine über die Grenzen. Jedenfalls mußt du nicht erst dick aufs Rathaus, wenn du 16 bist und mal nach Österreich willst."
"Hier mußt du zum Notar und zur Gemeinde - mit deinem Vater, der muß persönlich anwesend sein, che. Sonst ist nix mit Österreich. Einmal wollte ich nach Paraguay, die hätten mich da nicht rübergelassen, wenn wir diesen Zettel nicht gefunden hätten."
"Warum wollt ihr eigentlich nach Feuerland? Ich mein, was treibt euch dahin? Einfach nur weit weg zu sein? So weit wie möglich weg von Buenos Aires?"
"Naja, vielleicht auch das. Ein Onkel von mir wohnt in Río Grande, da werden wir erstmal bleiben. Hoffe ich zumindest."
 

Kanadische Dollars

"Es ist ja nicht so, daß wir kein Geld für den Flug hätten, aber Claudia hat nur Kanada-Dollar, und die wollen sie hier nicht eintauschen. Die hier im Reisebüro haben sogar gedacht, das wär gefälscht oder sowas, weil da eine Frau auf dem Geldschein ist."
"Eine Frau? Auf den kanadischen Geldscheinen? Was ist denn für eine Frau? Zeig mal her. - Oh, denen fehlt ganz augenscheinlich der nötige Respekt vor der Königin von England!"
"Ja."
"Wieso wundert die das, sind auf den ganzen argentinischen Scheinen, die alle paar Jahre mit neuen Motiven rauskommen, nicht auch mal Frauen drauf?"
"Auf den argentinischen Scheinen sind doch immer nur irgendwelche bescheuerten Militärs drauf, auf was anderes kommen die hier doch nicht. Uns hat das sehr gewundert, daß die hier den Kanada-Dollar nicht kennen. Die Kurse sind da günstiger als beim US-Dollar, deshalb haben wir die. In Buenos Aires geht das immer ohne Probleme."
US-Dollar ist oft ungünstig. Die Differenz zwischen Ankauf und Verkauf ist zum Teil enorm: Ankauf 650 Austral, Verkauf 240 Austral und so'ne Dinger.
"Ja, aber das hier ist nicht Buenos Aires, che. In den meisten Gegenden wissen sie nicht mal, das es andere westliche Währungen gibt außer US-Dollar. Na, was ist die Währung von Deutschland?"
"Was, Deutschland? Was war das noch, Franco, Corona..., nein, Marco war es, genau, Marco Alemán."
"Ha, ihr wißt das sogar! Die meisten Leute sagen nämlich Dollar."
"Ha, wir wissen das. So, und wissen die in Deutschland auch, was die Währung von Argentinien ist?"
"Welche? Die von diesem Jahr oder die vom letzten Jahr?"
"Stimmt, den Austral gibt es ja erst seit einem halben Jahr, davor warn's Pesos. Che, was war der Austral am Anfang noch wert. Und jetzt... -"
"Hier im Reisebüro tauschen sie das bestimmt nicht. Warum geht ihr nicht mal zur Bank?"
"Ja, warn wir schon, das hat nichts gebracht, das ist ja unser Problem. Dort sagen sie, sie wissen den aktuellen Kurs nicht."
"Ach was, die sollen sich nicht anstellen, die rufen einmal bei ihrer dummen Bankzentrale in Buenos Aires an und dann haben sie den Kurs."
"Ja, aber das geht nicht, überleg doch mal, das Telefon ist doch kaputt."
"Was - ?"
"Ja, denk doch mal nach. Seit 2 Tagen kann man hier doch nicht mehr nach Norden telefonieren."
"Was - ??"
"Weißt du das echt nicht?"
"Nein, ich weiß das echt nicht. Was denn?"
"Che, du bist der erste, den wir hier treffen, der das nicht weiß! Die Telefongesellschaft streikt doch seit 4 Wochen, weil sie denen die Löhne nicht gezahlt haben, und die Inflation so hoch ist, und die keine Zinsen kriegen. Und jetzt ist da was an der Leitung kaputtgegangen, und keiner ist da, der es repariert."
"Ich wußte, daß die Lehrer seit Monaten streiken und die Schulen alle geschlossen sind, weil sie denen auch die Löhne nicht gezahlt haben."
"Ja, die Lehrer streiken sowieso immer, das ist nichts neues, ha."
"Ja, jetzt versteh ich das, dann können sie ja nur den Kurs vom US-Dollar wissen, den geben sie ja inzwischen alle 2 Stunden im Radio durch."
Bei Chilenischen Pesos ist der Kurs auch günstiger, nur da hatte ich nicht mehr viel. US-Dollar hatte ich auch noch ein paar. Wir einigten uns darauf, daß ich ihnen den Flug in US-Dollar und chilenischen Pesos bezahle, und sie gaben mir 6 Kanada-Dollar.
"Und du? Wo willst du eigentlich hin?"
"In paar Tagen wollte ich nochmal nach Punta Arenas, danach nochmal nach Feuerland, zu so'ner Estancia."
"He, wir können dir unsere Adresse in Río Grande geben."
"Ja, du mußt uns unbedingt mal besuchen, wenn du da bist! Wann kommst du denn nach Feuerland?"
"So in 2 Wochen. Vorher will ich noch auf der einen Estancia vorbeischauen, auf der ich gewesen bin. Die ist in der Nähe von Río Grande."
Sie fragten mich genauer nach der Estancia und kamen auf die Idee, daß sie dort vielleicht Arbeit finden könnten.
"Glaubst du, das geht?"
"Wahrscheinlich nicht, ihr seid Argentinier. Auf der Estancia Sara arbeiten nur Chilenen und Bolivianer. Der Chef meinte zu mir mal, Argentinier, die er nicht selber kennt, würde er gar nicht nehmen, hat er wohl schlechte Erfahrungen mit gemacht."
"Wieso?"
"Ja, er sagte, die wären faul oder sowas. Hier in der Gegend leben viel mehr Chilenen als Argentinier. Auf den ganzen Estancias arbeiten fast nur Chilenen."
"Und wem gehören dann diese Estancias?"
"Engländern. Na gut, offiziell sind es argentinische Gesellschaften, aber dahinter stehen die Engländer, denen das ganze Land hier gehört, schon seit 100 Jahren. Vor 100 Jahren kamen sie von den Falkland-Inseln hier rüber, mit ihren Schafen, kauften sich das ganze Land, und seitdem ist hier alles englisch. Die Engländer halten von Haus aus nichts von den Militärs hier. Das stand ja auch hinter dem Falkland-Krieg. Die argentinischen Militärs sind sauer, daß ganz Patagonien irgendwelchen Engländern gehört. Die würden die am liebsten alle enteignen."
"Wir mögen die dummen milicos genausowenig. Wie, und dann haben sie die doch nicht enteignet, im Krieg?"
"Nein, konnten sie nicht, weil die Engländer kurz vorher auf den Trick mit den argentinischen Gesellschaften gekommen sind. Da hätten die Enteignungsverfahren paar Jahre gedauert... und jetzt sind ja die milicos ja nicht mehr dran."
"Ja, zum Glück auch für uns..."
Auf die Militärs sind sie überhaupt nicht gut zu sprechen, in Argentinien.
 

Wieder nach Feuerland

Die einzigen Argentinier, die auf den Estancias arbeiten, sind die Scherer, in der Schersaison im Sommer. Den Rest der Zeit leben die aber in Buenos Aires.
Die Scher-Zeit ist jetzt schon lange vorbei, es ist Mai, der Winter steht vor der Tür, kalt und windig ist es, die Tage sind kurz geworden. Ich will noch ein paar Wochen in dieser ruhigen Gegend bleiben, aber irgenwann will ich mich nach Norden aufmachen, vielleicht nach Brasilien.
Die Leute sagen mir, bis vor 10 Jahren habe es hier jeden Winter immer viel Schnee gegeben, aber seit einiger Zeit werde es wärmer hier... die Auswirkungen des Ozonlochs über der Antarktis. Andere sagen, inzwischen sei es in Feuerland so warm, daß sie ohne weiteres Kartoffeln anbauen könnten. Aber die Engländer wollen das Land dafür nicht hergeben, weil sie mit der Schafswolle an hartes westliches Geld kommen.
Die südlichste Stadt der Welt, Ushuaia, befindet sich auf knapp 55° südlicher Breite, liegt also nicht südlicher, als Flensburg, Glasgow oder Moskau nördlich liegen. Wo hier die Antarktis, ein vollkommen vereister Kontinent, anfängt, ist in Europas Norden Skandinavien noch lange nicht zuende.
Erst bin ich nach Punta Arenas, ein paar Leute besuchen, danach nach Feuerland, auf "meine" Estancia.
 

Auf der Estancia

Die Estancia Sara, auf der ich also einige Monate gearbeitet hatte, liegt direkt an der Panamericana (oder der Ruta 3), auf der argentinischen Seite der Feuerland-Insel, und zwar genau auf halbem Weg zwischen dem chilenischen Grenzübergang (San Sebastián) und der Hauptstadt Río Grande. 2 Tage bleibe ich nochmal hier, und genieße es, mich nochmal an meine Zeit auf der Estancia zu erinnern.
Eins ist immer ganz witzig gewesen: ab und zu kamen Radfahrer "aus Alaska" hier vorbei, auf dem Weg nach Ushuaia. Die chilenischen Arbeiter kannten das schon.
"Ja ja, die Radfahrer, jedes Jahr kommen ungefähr 20 oder noch mehr hier in Feuerland an. Die meisten machen hier auf unserer Estancia Pause, weil es doch die einzige Siedlung zwischen San Sebastián und Río Grande ist. Die kommen immer zum Mittagessen, Schafsfleisch haben wir hier ja genug."
Sie kommen meist von Nordamerika mit dem Rad die Anden runter, sind jahrelang unterwegs und haben alle vor, bis in die südlichste Stadt der Welt zu kommen. Franzosen, Holländer, Schweizer, Italiener, Deutsche, Belgier, Japaner. Eine Französin meinte, sie hätte in Chile mal einen mexikanischen Radler getroffen, aber das war sei die Ausnahme gewesen. Die, die hier im Kontinent selber wohnen, machen sowas normalerweise nicht. Auch die Nordamerikaner seien nicht so verrückt. Mit dem Rad von Alaska nach Feuerland.
An Schafsfleisch ist auf der Estancia wirklich kein Mangel, bei den 75.000 Tieren dieser "Ranch". Es gibt es zum Frühstück, zum Mittagessen und am Abend. 1 kg Schafsfleisch ist in den Läden Patagoniens billiger als 1 kg Nudeln oder 1 kg Reis. Noch teurer sind Kartoffeln.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Die Estancia, das sind vielleicht 20 Häuser an der Schotterstraße, und 2 riesengroße Scheunen, in denen im Sommer die ganzen Schafe geschoren werden. Die Schafe werden nicht wegen Fleisch, sondern hauptsächlich wegen Wolle gehalten, die Wolle wird nach England verkauft. Auf Feuerland ist Sara die größte argentinische Estancia, mit einer Fläche von über 700 km2. Im Vergleich zum Festland sei das aber noch klein.
Die Energie bezieht die Estancia aus eigenen Erdgas-Quellen, den Überschuß gibt sie an den argentinischen Staat ab. Die von der Erdöl-Gesellschaft (YPF)  fahren öfter mit ihren Pick-ups durch die Gegend und nehmen alle Anhalter mit. In Chile gibt's das auch, da sind sie von der COPEC. Beide Länder haben hier Erdöl. Für den Eigenbedarf. Deshalb ist es hier überhaupt auch erschlossen, mit Straßen und so.
Morgens fuhren wir mit dem alten Lkw irgendwo in die Gegend, sortierten oder zählten im Feld dann irgendwelche Schafe, abends kamen wir immer zurück und freuten uns auf die warme Dusche. Um 5 Uhr gab es außerdem immer Tee... ganz klar, five-o'clock-tea, es ist ja ein englisches Unternehmen.
 

José ?

Einmal, das war witzig, waren wir in der casa grande, dem großen Haus vom Verwalter, dabei. Wasserrohr war durchgebrochen und mußte freigelegt werden, 4 Leute von uns sollten das machen. Das war nicht ganz so einsam wie im Feld draußen, immer mal wieder kam jemand vorbei, ich kannte die meisten hier in der casa grande gar nicht.
Ging wieder irgendeine Tür auf -
"¿¡ José - !?"
Schauten ihn an, drehten sich um, paar verlegene Blicke von den 3 Chilenen, kannten wohl keinen José. Der Typ verschwand wieder hinter der Tür... aber das war dann natürlich erstmal das Gesprächsthema.
"Wer ist José?"
"Keine Ahnung."
"Also ich kenn hier keinen José."
"Wen kann er'n damit meinen?" - Anderer Typ kommt vorbei, Argentinier.
"He, kennst du einen José?"
"José? Nee, wer ist das?"
"Wissen wir nich, aber dahinten suchense einen, der José heißt."
"Weiß nicht, wer das sein kann, che." - Geht wieder. Wir schaufeln weiter.
"Oder vielleicht der von der Heizung?"
"Nee, der heißt anders."
"Nein, ich glaub, hier arbeitet kein José."
"Vielleicht war das ja genau, was er wissen wollte." - Lächeln.
"Ich glaub, José... nein, hier ist gar keiner zur Zeit."
"Nein, das gibt hier keinen."
Kleine Pause.
"Doch, das hat hier einen. - Aber der heißt nicht José."
Ich glaub, der Typ hat das am Anfang selber gar nicht gecheckt. Ich wiederhole es nochmal vor mich hin:
"Sí, hay uno por acá. Pero no se llama José. Ja, so ein Schmarrn -", und fang an zu lachen.
Lucho dann auch. Kurz danach lachen wir alle.
"Sí, hay uno. Pero no se llama José. Ha, der ist ja wirklich gut!"
"Aber es gibt einen!"
"Ja, geben tut's einen! Aber der heißt nicht José!"
 

Río Grande

Ein Pick-up von der YPF fährt mich nach Río Grande rein, morgens, Viertel vor 11, und läßt mich bei der ISLAS MALVINAS Ecke VIEDMA raus. Ich soll mich mal durchfragen, wo die CABO DE HORNOS ist, die Straße, die auf meinem kleinen Zettel steht, den mir Claudia und Leo vor 12 Tagen in Río Gallegos gegeben haben, mit ihrer Adresse.
Die argentinischen Straßennamen sind recht einfallslos, die Namen wiederholen sich in jeder Stadt. Kommen wie es scheint von irgendso'ner zentralen Militär-Liste. Sie sind selten an der Gegend oder der Natur ausgerichtet, sondern meist nach irgendwelchem Militärkram. Irgendwelche Generäle (wie BELGRANO, SAN MARTIN, RIVADAVIA oder VIEDMA oder wie sie alle heißen), oder Gebiete, die oft gar nicht zu Argentinien gehören, wo die Militärs aber drauf Anspruch erheben, wie das Kap Horn (Cabo de Hornos), das chilenisch ist, oder die "Argentinische Antarktis", die den Pinguinen gehört, oder die Islas Malvinas (Falkland-Inseln) usw..
Die CABO DE HORNOS sei in der Chacra 2, meinte der Fahrer, der sich aber auch nicht so gut auskannte. Chacra 2, das ist das Neubauviertel im Norden von Río Grande. Feuerlands Hauptstadt hat vielleicht 30.000 Einwohner.
Die ISLAS MALVINAS ist die Ruta 3, also die Panamericana, geht im Westen nach Ushuaia raus und sie teilt das Zentrum im Süden von der Chacra 2 im Norden ab.
Mist, ist das mies organisiert hier, überall irgendwelche Neubaublocks, wie leergefegt, und kaum ein Schild an den Straßen... ah, da hinten, ein Taxistand. Mal fragen.
"Entschuldigen Sie, ich suche die ...- CABO DE HORNOS, Nummer - C S eins -"
"Wo willst du denn hin, zeig mal her... ach, das, ja, dahinten ist das, ungefähr 7 Blocks weiter, links rein, und nochmal links... was du suchst, ist ein hellblaues Haus."
Erstmal merke ich mir den Straßennamen hier vom Taxi-Stand: SANTA ROSA. Gut, und jetzt 7 Blocks weiter... sieht alles ziemlich gleich aus hier... und jetzt eine Querstraße links... hellblaue Häuser gibt es hier überall... Links. Meinte er jetzt diese oder diese hier... Jetzt such ich schon 20 Minuten nach dieser dummen -
"Hey, warte mal, kannst du mir sagen, ob das hier die CABO DE HORNOS ist?", frage ich einen Blonden, der mir gerade dahinten um die Ecke entwischen wollte.
Er weiß es auch nicht so genau, ist auch nicht von hier, wir kommen ein wenig ins Gespräch.
"Deutscher bist du? - Ich habe doch auch deutsche Vorfahren! Ich heiße Hormann. Omar Hormann. Ich wohne in einem Haus da hinten an der AEROPOSTA, ein gelbes Haus."
Ich soll heute Nachmittag mal vorbeikommen. Gut, mach ich gerne, aber erstmal Claudia und Leo finden.
12 Uhr. Endlich hab ich dieses Haus in der CABO DE HORNOS gefunden. So, jetzt wird's spannend. Dingdong.
Ihre Tante ist da. Sie ist alleine.
"Ach, die Claudia? Ja, vor paar Tagen müssen die mal hier gewesen sein, da war mein Mann hier, der hat die wohl einmal übernachten lassen hier. Ich weiß da nichts von, ich war da nicht da..."
"Und wo könnten die beiden jetzt sein?"
"Das weiß ich nicht, mein Mann wüßte das vielleicht, aber der ist jetzt nicht da. Wenn du glaubst, du könntest hier übernachten, dann sag ich dir gleich, daß das nicht geht hier."
"Nein, nein, ich bin nur auf der Durchreise. Ich würde nur gerne wissen, was aus den beiden geworden ist und ob sie noch in Río Grande sind."
"Ja, ich weiß von nichts, wir haben seitdem nichts wieder gehört. Du kannst es ja mal beim Radio oder beim Fernsehen versuchen."
"Naja, dankeschön jedenfalls für die Auskunft."
"Ja, tut mir leid, aber du siehst ja, ich muß wieder an die -"
"Ja, aber natürlich. Auf wiedersehen, Frau Basanetti."
Tür zu, tschüß.
Ach, so eine Scheiße. Mich würde aber schon interessieren, was aus den beiden geworden ist.
Na gut, aber es ist eine Spur. Die waren tatsächlich hier. Hm. So groß ist die Stadt auch nicht. Es müßte doch möglich sein, die trotzdem zu finden, wenn sie noch hier sind... ich kann es zumindest mal versuchen.
Ich wollte schon immer mal Privatdetektiv sein. Jetzt hab ich die Chance dazu. Ausgerechnet in Feuerland.
 

Inspector Columbo

Gut, erste Handlung: Zusehen, daß ich unauffälliger aussehe. Mit Rucksack und Schlafsack auf dem Rücken, das ist wirklich schlecht. Vielleicht kann ich den bei Omar lassen.
Also zur AEROPOSTA, zu der Wohnung von Omar Hormann. Gelbes Haus, das hier könnte es sein. Ein Typ ist da.
"Ist Omar gar nicht da?"
"Omar? Nein, der war heute noch nicht hier... wieso, was willst du von ihm?"
"Ich habe ihn vorhin getroffen, und er meinte, daß er kommen wollte und daß ich ihn hier treffen sollte."
"Du hast ihn getroffen? Was hatte er denn an?"
"Na, seinen blauen Anorak natürlich, bei der Kälte. Ach, dann kommt er wohl gleich noch. Ich bin Deutscher, weißt du, Ausländer. Bin erst gerade hier angekommen, und wollte bei ihm meine Sachen lassen, für paar Stunden. Ich muß kurz noch in die Stadt."
"Ach so, deine Sachen hierlassen, ja, das ist bestimmt kein Problem. Stell sie hier hin. Du kommst ja heute Nachmittag wieder."
"Ja, klar. Er sagt, er kommt ja spätestens am Nachmittag."
"Ja, tschüß bis dann."
Gut, die Sachen sind sicher. So, was mach ich jetzt.
Erst mal schaun, ob ich in meinem Notizbuch noch irgendwelche Adressen von Río Grande habe. Als Tramper schnappt man immer lauter Adressen auf. - Oh, da, tatsächlich, die von diesem Ringo, den ich mal vor 4 Monaten beim Trampen getroffen hatte, das ist in der ROSALES, das hörte sich aber nicht sehr solide an... und hier steht die von Eusebio, der wohnt in der FAGNANO.
Ach ja, und stimmt ja, hier, der Künstler aus Río Gallegos, José Francisco, der hatte mir ja die Adresse von diesem Dichter Julio Leite gegeben, der ihm noch ein Schachspiel schuldet. Warte mal, José Francisco hatten Claudia und Leo doch auch gekannt, vielleicht hat er denen ja dieselbe Adresse gegeben... Julio Leite, da muß ich unbedingt hin.
 

Auf der Suche nach Julio Leite

SARGENTO CABRAL heißt die Straße. Am besten, ich gehe zum Taxi-Stand und frage die wieder, wo das ist. SANTA ROSA war das, also hier die CABO DE HORNOS runter. Tatsächlich, hier ist er, der Taxistand.
"Na, hast du's immer noch nicht gefunden?"
"Doch, das ist erledigt, aber ich brauche jetzt eine andere, die heißt SARGENTO CABRAL."
"Uii, du bist nicht schlecht. Du wirst immer besser, che. Das ist wirklich eine von den ganz komplizierten. Das ist 'ne Nebenstraße."
"Ja, ich bin hier der Taxifahrer-Tester. Ich werde dafür bezahlt."
"Paß gut auf, du mußt jetzt ins Zentrum, über die ISLAS MALVINAS, und dann ..."
Diesmal hatte er es sehr gut beschrieben. Um 1 Uhr bin ich bei dem Mietshaus in der SARGENTO CABRAL. Ich treffe eine Nachbarin, die sagt mir, daß das hier die Wohnung von Leite sei, zur Zeit ist aber leider niemand da.
"Wissen Sie, wo Julio Leite arbeitet?"
"Genau weiß ich's nicht, aber du kannst es mal bei der Municipalidad versuchen."
Das muß das Rathaus sein.
"Wie komm ich denn da am schnellsten hin von hier?"
"Ach, das ist ganz einfach. Du gehst einfach die SAN MARTIN runter, und wenn du über die BELGRANO bist, fragst du nochmal jemanden."
SAN MARTIN runter, BELGRANO... hätt ich mir denken können.
Ich sammel Militärs. Bald hab ich sie hier alle beieinander. Diese Straßennamen wiederholen sich wirklich in jedem Ort. Mal schauen, wo hier die RIVADAVIA und die PIEDRABUENA sind... ach nein, das gibt es doch nicht, die sind ja tatsächlich hier alle, eine Querstraße nach der anderen.
Als guter Detektiv muß ich mir erstmal einen Stadtplan machen. Das geht ganz schnell. Karo-Papier hab ich dabei: es ist alles ganz schachbrettartig angeordnet in Río Grande. Wie überall. Man weiß nur immer vorher nicht, auf welche Linie man BELGRANO, SAN MARTIN oder RIVADAVIA schreiben soll.
Halb 2 Uhr. Ich klopfe an eine bestimmte Tür im ersten Stock der Casa de Cultura an (gehört zum Rathaus), wo ich eben die freudige Entdeckung machte, daß sie hier 2 Türen weiter sogar ein sauberes Klo mit warmem Wasser haben!
Das hatte ich auch redlich verdient. Immerhin habe ich 6 verschiedene Leute in 3 verschiedenen Häusern Löcher in den Bauch gebohrt, und das Ergebnis, daß das hier Julio Leites Zimmer ist, kann sich sehen lassen.
"Julio Leite? Ja, das ist hier sein Zimmer, das ist richtig... er war bis um 9 Uhr hier. Heute nachmittag ist er vielleicht nochmal hier. Ist es denn dringend?"
"Ja, das ist nichts dienstliches, wissen Sie, ich bin ein Freund von ihm, und er sagte mir, er wäre hier und ich sollte unbedingt versuchen, ihn hier irgendwo zu erreichen, und ich solle seine Kollegin fragen."
"Ach so, ich dachte, das war dienstlich."
"Nein nein, das ist es bestimmt nicht."
"Ja, aber ich weiß auch nicht, wo er jetzt ist. Das tut mir jetzt leid... Vielleicht ist er im Haupthaus... geh mal zum Haupthaus, vielleicht können die dir weiterhelfen. Also ich würde es beim Haupthaus versuchen, wenn ich ihn jetzt kriegen wollte."
"Ich versuch das mal. Und besten Dank!"
Mehr war beim besten Willen nicht drin. Alles, was sie wußte, hab ich aus ihr rausgeholt. So, ab zum Haupthaus.
"Julio Leite? Ja, der war hier, der ist wohl zum Holzhacken, frag am besten mal in der Casa de Financias nach. Das ist gleich hier um die Ecke, das Haus."
Casa de Financias. Eine Ecke weiter. Der vierte Typ weiß bescheid.
"Julio Leite? Ja, der ist mit denen da zum Holzhacken rausgefahren, der ist jetzt erstmal weg. Paß auf, ich sag dir, wie du den erreichen kannst. Um 5 Uhr ist hier eine Auszahlung, hier im Foyer, da kommen alle, die Geld haben wollen. Da kommt Julio Leite auch. Du kommst um 5 Uhr hier her, und fragst dich einfach durch. Den kennt jeder."
Gut. Halb 3 ist es inzwischen. Noch weiß ich auch nicht, wo ich schlafen soll, mal ganz nebenbei. Letzte Nacht waren es -15 Grad, und erst jetzt über Mittag fängt es ein bißchen an zu tauen. Mein Schlafsack hält keinen Frost. Ich hoffe, ich muß hier nicht draußen pennen.
Jetzt muß ich meine beiden Adressen abklappern, die von Ringo und Eusebio, ich habe noch Zeit.
 

Ringo und Eusebio

Die ROSALES ist zufällig gleich in der Nähe, und die Pension von Ringo hab ich auch gleich gefunden. Das ging verdächtig schnell.
"Ringo? Ach so, der eine Chilene. Nein, der ist nicht mehr hier, der ist vor 2 Monaten schon nach Viña del Mar..."
Das ging auch verdächtig schnell. Viña del Mar liegt bei Santiago, das ist 3000 km von hier. Mal sehen, ob Eusebio sich in der FAGNANO länger gehalten hat. Der war auch so drauf, daß er mich bei sich übernachten lassen würde.
Die FAGNANO ist die Parallelstraße zur RIVADAVIA, welche wiederum die zur BELGRANO ist... ich bin mir sicher, daß die armen Kinder in der Schule die ganzen Militärs auswendig können müssen. (Kein Wunder, daß die Lehrer streiken!) Dieses Haus muß es sein, die Nummer stimmt.
"Ja, weißt du, der Eusebio wohnt nicht mehr hier. Der ist schon vor 2 Monaten umgezogen. Die Mieten sind hier ja auch so teuer, stell dir mal vor, wir müssen hier für eine kleine Wohnung mit zwei kleinen Zimmern schon 4000 - nein, jetzt sind es ja schon 6000 Australes -"
"Ja, die Mieten sind hier in der FAGNANO besonders teuer, das ist bekannt, da erzählen Sie mir wahrhaftig nichts Neues. Wissen Sie denn, wo der Eusebio hingezogen sein könnte, wo ich ihn vielleicht treffen könnte?"
"Ja, der ist doch in die BELGRANO con OBLIGADO gezogen, aber das ist jetzt auch schon 2 Monate her..."
"Na, ich werde es einfach mal da versuchen. Recht schönen Dank... und wissen Sie... wegen den Mieten hier, da würde ich mich wirklich einmal bei der Stadt beschweren."
Ich werde mich gleich revanchieren.
BELGRANO, also 2 Straßen weiter, und Ecke OBLIGADO muß ich jetzt noch... noch 2 Straßen quer, und irgendwo am Eckhaus klingeln. Es gibt nur eine Klingel.
"Guten Tag, Señora, einen Eusebio suche ich, wohnt der zufällig hier?"
"Wer? Eusebio??"
Das hat nichts tolles zu bedeuten.
"Einen Chico, der vorher in der FAGNANO gewohnt hat und da ausgezogen ist, weil da doch die Mieten so teuer geworden sind, wissen sie, die müssen da jetzt 4000, nein, 6000 Australes für ein -"
"Ach so, der Eusebio, jetzt weiß ich, wen du meinst. Ja, der hat wohl mal hier gewohnt."
"Und jetzt ist er nicht mehr hier?"
"Nein, nein, schon seit Monaten ist der nicht mehr hier... ich weiß auch nicht genau, wo er jetzt wohnt..."
Gut, vergessen wir das auch.
 

Dämmerung in Feuerland

Das Wasser auf den Straßen ist schon wieder zu Glatteis gefroren. Ich stehe auf der BELGRANO und genieße für einige Momente diesen unbeschreiblich schönen Himmel über Feuerland, heute ist es wieder einmal wie aus dem Geo-Magazin. Mit den ganzen bizarren, bald orange, rot, violett und sogar grün gefärbten Cirrus-Wolken ganz hoch über uns... und der Himmel hat auch ganz exotische Farben, komplementär zu den teils sogar von unten von der Sonne angeleuchteten Wolken. Ein Naturschauspiel, daß sich hier jeden Abend wiederholt.
Was mach ich jetzt noch? Soll ich zuerst zu Omar in die Chacra 2, oder zur Casa de Financias wegen Julio Leite? Bei beiden gibt es ein bißchen eine Chance, daß ich da übernachten könnte. Ich muß aufs Klo, das spricht erstmal für die Casa de Cultura.
Mist, muß mich ausgerechnet die Sekretärin da erwischen. Na, was soll's. Ich habe es wenigstens noch geschickt überspielt und nochmal bestätigt bekommen, daß da um 5 tatsächlich eine Auszahlung ist. Es ist schon halb 5, also geh ich rüber und warte im warmen Foyer der Casa de Financias.
Diese Auszahlungen müssen sie wirklich alle paar Tage machen, immer in bar, weil doch die Inflation so hoch ist. Das Geld hält zur Zeit etwa 3 Tage bis eine knappe Woche, bevor es wieder im Wert sinkt. Holzhacken waren sie übrigens, weil die, die die Erdgas- und Wasserversorgung instandhalten sollen, auch streiken, und auf der anderen Seite vom Fluß haben sie kein Gas mehr. Die Wirtschaftskrise hat einen neuen Tiefstand erreicht. Auch die Wasserversorgung wird immer kritischer. Bei der Kälte brechen die Rohre.
Das Foyer beginnt sich langsam zu füllen. Mein Job ist es hier zunächst, überall möglichst laut rumzuerzählen, daß ich Julio Leite suche und daß ich den nicht kenne. Und es stimmt tatsächlich, Julio Leite scheint hier bekannt wie ein bunter Hund zu sein, und jeder will ihn mir genauer beschreiben. So, ab jetzt dürfte sich's von alleine weiter rumsprechen, ich setze mich mit einer druckfrischen Zeitung zu ein paar Leuten auf die Treppe.
 

Estado de sitio

Was, die spinnen wohl, die wollen den Ausnahmezustand verhängen! Das ist ja die letzte Scheiße. Wie war das jetzt noch, es gibt estado de sitio und estado de guerra, Ausnahmezustand und Kriegszustand. Wo die Unterschiede sind, weiß ich auch nicht, hängt wohl nur mit der Mobilisierung zusammen. Paar Supermärkte haben sie geplündert, in einigen nordargentinischen Städten. In Buenos Aires nicht. Die Inflation war gestern bei 12 %, vorgestern bei 8 %. Vom selben Tag der letzten Woche bis heute waren es 50 %.
Ein paar Leute kommen zu mir auf die Treppe, sie haben ein Radio dabei, und versuchen, einen Sender reinzukriegen. Sie sind ziemlich aufgeregt, diskutieren, sind auf einmal aber ganz still und hören zwei Minuten dem Radio zu.
Tatsächlich, sie haben vor einer Stunde den estado de sitio verhängt, landesweit. Einer regt sich besonders darüber auf.
"Bloß weil sie in Rosario und Córdoba ein paar dumme Supermärkte geplündert haben, wird landesweit der estado de sitio verhängt! Die ham sie doch nicht mehr alle! Unsere Politiker, che, das ist doch nichts als ein Haufen Schwachköpfe, die sind doch alle unfähig, man sollte sie alle zusammenpacken, und auf den Mond schießen!"
"Che, nicht so laut, hinter dir steht der Bürgermeister", meint einer lächelnd.
"Der kann das ruhig hören!"
"Warum soll ich das nicht hören? Er hat doch recht!"
"Nun ja - "
"Wir sind doch ein freies Land, hier kann doch jeder laut sagen, was er denkt. Mich kann er ja damit nicht meinen. Ich hab ja nichts zu sagen hier."
Oh, Respekt.
"Wieso verhängen sie den Ausnahmezustand? Ist das wirklich so gefährlich hier?", frage ich einen.
"Ja, merkst du das denn nicht? Du brauchst doch nur auf die Straße zu gehen, da ballern sie doch rum wie die Cowboys!"
"Che, der kann das doch nicht wissen, der ist Ausländer."
"Ach so."
"Der sucht Julio Leite, deswegen ist der hier."
"Was heißt denn das jetzt genau für uns, estado de sitio?"
"Sonderrechte für die Militärs. Das heißt, daß alle ab 10 im Bett sein müssen. Wer dann noch auf der Straße ist, kann erschossen werden."
"Und warum haben sie die Supermärkte geplündert?"
"Na, weil sie alle arbeitslos geworden sind, und weil sie kein Arbeitslosengeld und nichts hier kriegen, und die Banken kommen mit den Zinsen natürlich auch nicht mit der Inflation mit. Was sollen die denn anderes machen, als die Supermärkte plündern?"
"Und hier in Feuerland, ist es also nicht gefährlich jetzt?"
"Naja, man kann es nie wissen -"
"Ach, der größte Schwachsinn ist das! Südlich von Chubut passiert doch nie was! Das ist nur Schikane hier. Quatsch, hier in Feuerland wird nichts passieren, das ist vollkommen ruhig hier. Da brauchst du keine Angst haben hier. Trotzdem solltest du dich nach 11 nicht mehr auf der Straße blicken lassen."
"Offiziell ist es glaub ich schon ab 10, aber hier machen sie's ab 11. Du kannst ja nie wissen, wo hier irgendwelche besoffenen Militärs rumfahren..."
Chubut ist eine Provinz 1000 km weiter nördlich. Der Bürgermeister hat deswegen nichts zu sagen, weil Feuerland kein gleichberechtigtes argentinisches Gebiet ist, sondern die Verwaltung direkt den Militärs untersteht. Es ist ein Militärterritorium hier. Die Wahlplakate von Menem fordern, daß das hier eine Provinz wird.
Julio Leite kommt auf mich zu, und erwähnt, daß ihm mindestens 8 Leute gesagt haben, daß ich ihn suche. Ein kleiner, sympatischer lieber Dichter, mit Halbglatze, der mit seiner Insel verbunden ist.
 

Das Gespräch mit Julio Leite

Sie haben ihm auch erzählt, daß ich von José Francisco käme, und er will genau wissen, wie es ihm so geht in Río Gallegos, alle möglichen Einzelheiten... na klar, das Telefon ist ja kaputt.
"Ja, das Schachspiel, ich weiß, ich hätte ihm das schon längst mal zurückgeben sollen. Das hab ich aber selber zur Zeit gar nicht, das hat ein anderer Typ, dem ich das..."
"Was ich noch fragen wollte, José Francisco kannte auch zwei chicos aus Buenos Aires, hast du von denen vielleicht mal was gehört? Claudia und Leo hießen die."
"Ach, diese beiden. Ja, die waren so vor einer Woche da, die haben einmal bei mir - ich wollte sagen, die haben sich einmal kurz bei mir gemeldet. Seitdem hab ich sie leider nicht mehr wieder gesehen... Stell dir vor, heute haben sie den estado de sitio verhängt, da siehst du mal, was wir für unfähige Politiker haben..."
Schade. Er hat sich versprochen, er wollte fast sagen, sie hätten zuhause bei ihm geschlafen, so hat es sich angehört. Er vermutet, daß ich auch nicht weiß, wo ich schlafen soll, und hat sich im letzten Moment zurückgehalten, das Thema zu erwähnen. Damit ich nicht auf die Idee komme, ihn auch danach zu fragen. Doch, das war ganz klar. Gut, daß mir das aufgefallen ist.
Oder hat er aus einem anderen Grunde so reagiert? Fest steht, aus irgendeinem Grunde scheint er das eben gemacht zu haben. Verschweigt er etwas? Was? Warum bloß?
Wir unterhalten uns über die Wirtschaftskrise, über die Telefongesellschaft und über den estado de sitio. Ich sehe, er fühlt sich sicher, daß ich das eben nicht rausgehört habe. Ich spreche mit Absicht etwas schlechteres Spanisch, mit deutschem Akzent. Währenddessen überlege ich, wie ich in der Frage weiterkomme. Wo kann ich zum Beispiel übernachten?
Direkt werde ich ihn nicht fragen, ob es bei ihm geht. Wenn ich rauskriegen will, warum, muß ich sehr vorsichtig sein. Ich habe ein komisches Gefühl. Von irgendwoher spüre ich, daß das irgendwas mit Leben und Tod zu tun hatte. Ich kann mir nicht helfen, es ist nur so ein Gefühl, daß mich auch im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht losläßt.
Von Natur aus mißtrauisch ist er nicht, das muß ein anderer Grund sein. Es scheint da etwas zu geben, das ich nicht wissen soll, etwas, das er nicht erzählen will. Ich muß sehr vorsichtig sein. Nach etwa 5 Minuten Gespräch entscheide ich mich, daß ich das Thema wieder anschneiden kann, ohne ihn  auf den Gedanken zu bringen, ich könnte Verdacht schöpfen. Ich erzähle ihm ein wenig von den Kanada-Dollars und daß ich ihnen das Geld für den Flug geliehen habe.
"Wo könnten die beiden eigentlich jetzt sein? Ich mein, wenn sie hier in Río Grande waren, was haben sie hier gemacht?"
"Ja, ich weiß nicht genau, was sie hier gemacht haben. Er wollte arbeiten... er wollte im Blanco y Negro arbeiten, kennst du das?"
"Nein, ich bin das erste Mal in Río Grande, ich kenne mich überhaupt nicht aus. Ist es ein Restaurant?"
"Ja, eine Art Restaurant."
"Wo ist das?"
"Die Adresse ist DON BOSCO 1200. Da kannst du es ja mal versuchen."
"Ich war bei ihrer Tante, bei denen sind sie auch nicht, sodaß ich vermute, daß sie auf der Straße sind. Weißt du, wo die Leute schlafen, die kein Geld für das Hotel haben?"
"Ja, bueno, jetzt im Winter, damit die nicht erfrieren, lassen sie die von der Straße immer im Ortskrankenhaus schlafen. Da könnten sie sein. Aber die Stadt ist groß, sie könnten überall sein. Ich habe sie seitdem auch nicht wieder gesehen. Ich würde nicht weiter nach ihnen suchen. Wenn es dir gefällt, kannst du ja im Blanco y Negro nachfragen."
Ich verabschiede mich kurz, drehe mich um, gehe ein paar Schritte Richtung Tür und weiß, er schaut hinter mir her. Dann drehe ich mich noch einmal um, erfasse seinen Blick, drehe mich endgültig zur Tür um und grüße ihn dabei gleichzeitig mit der rechten Hand, und gehe dann zur Tür raus. Genau wie Inspector Columbo. Wenn er so tut, als würde er sich endgültig verabschieden, aber in Wirklichkeit sagen will: "Du glaubst, du wärst mich jetzt los, aber wir sehen uns nochmal wieder".
Das Ortskrankenhaus. Das kann sein. Vielleicht wollte er aber nur ausweichen. Einerseits ist es ein ganz lieber Mensch, vom ersten Moment an sympatisch. Andererseits habe ich dieses beunruhigende Gefühl... sein Verhalten paßt irgendwie nicht zu ihm.
Ich muß zum Blanco y Negro, was das auch immer sein mag. DON BOSCO 1200, das ist eine der Straßen, über die ich eben rüber bin und die schon in meinem Stadtplan sind. Ich muß da sofort hin. Noch bevor ich zu Omar gehe.
 

DON BOSCO 1200

Es ist weit und die Straßen sind schlecht beleuchtet. Die Nummer 1200 ist eine Art Etablissement oder sowas, da steht "Aquelarre" auf dem Haus, aber nicht "Blanco y Negro". Es sieht sehr verdächtig aus. Ich gehe einmal daran vorbei, komme dann von der anderen Seite. Es sieht wirklich sehr verdächtig aus. Aber die Adresse stimmt. Na, vielleicht meinte er das ja trotzdem. Ich gehe rein.
Oh nein, das ist ja tatsächlich genauso, wie ich mir immer einen Puff vorgestellt habe! Alles in weinroter Seide und Samt ausgekleidet, überall rote Lampen, und um die verhangenen Fenster hängen kleine grüne, rosa und blaue Lichter. Der Raum ist leer, nur zwei Frauen sind hinter der Bar. Ich gehe zum Thresen zu einem der samtbezogenen Barhocker, spiele Inspector Columbo und frage die ältere der beiden, ob sie eine gewisse Claudia aus Capital Buenos Aires hier kennen würde, die würde ich suchen, es sei wegen etwas Dringendem. Ich versuche, etwas panik-mäßig oder wie ein Privatdetektiv zu erscheinen, damit sie nicht auf andere Gedanken kommen. Kommen sie aber trotzdem.
"Was für eine chica meinst du denn? Hier, im Aquelarre? Aus Buenos Aires, bist du da sicher?"
"Ja, aus der Hauptstadt Buenos Aires, da bin ich mir ganz sicher."
"Nee, unsere sind meistens aus Córdoba und der Gegend. Aus Capital Buenos Aires haben wir hier nur eine einzige, die heißt Claudia Liliana, eine moracha, meinst du die?"
Mist, was heißt denn moracha? Ich glaub, es heißt dunkelhaarig mit paar Locken.
"Ja, genau, moracha, hat so etwas längere Haare, schwarz, bißchen lockig, eine Italienerin, ist ein bißchen kleiner als ich...", ich stelle mich blöd an, aber anders geht es irgendwie nicht.
Meine exakte Beschreibung paßt nämlich auf weit über 50 % aller Argentinierinnen. Vielleicht sollte ich noch die Begriffe "nett, jung, gutaussehend" und sowas bringen, ich laß es mal sein.
Aber halt mal, sagte sie nicht "Claudia Liliana"? Hatte meine Claudia nicht auch einen Zweitnamen? Ich hole den Zettel mit der Adresse schnell hervor - tatsächlich, meine heißt auch Claudia Liliana. Ja, dann wird es die wohl sein. In diesem Milieu. Ich bin überrascht.
"Die ist aus Buenos Aires, das ist richtig, die ist aber erst seit 3 Tagen hier. Ja, weißt du, bei uns gibt es viele schöne Mädchen...-"
"Seit 3 Tagen erst hier? Die ich suche, kam vor etwa einer Woche hierher nach Río Grande..."
"Ja, wann sie genau hier ankam, weiß ich jetzt auch nicht, es kann sein etwas früher... Aber kann das denn so wichtig sein?"
"Ja, das ist sehr wichtig für mich."
"Aber warum denn? Siehst du, morgen oder an einem anderen Tag wirst du sie bestimmt wieder sehen. Warum möchtest du es heute nicht mal mit einer anderen versuchen? Mit mir zum Beispiel. Schau, ich bin wenigstens hier. Und ich bin bestimmt auch nett zu dir."
"Das glaub ich dir ganz bestimmt, daß du auch so nett bist wie sie, ihr seid ganz bestimmt alle gleich nett. Aber ich wollte eben trotzdem gerne die Claudia."
"Was hat die Claudia, das ich nicht habe? Komm schon, mit mir kannst du doch auch -"
"Laß ihn doch, du siehst doch, er will es nicht."
"Na gut. Also im Moment ist sie nicht da, sie kommt erst um 12 hierher."
"Um 12 erst? Aber es ist doch estado de sitio."
"Ja, das nehmen die hier im Viertel nicht so genau."
Die andere Frau amüsiert sich über meine Frage. Das ist hier wohl das Ausnahmeviertel zum Ausnahmezustand. Wirklich peinlich, sowas nicht zu wissen, Inspector Columbo.
Claudia Liliana können immer noch viele heißen. Ich kann es mir trotzdem irgendwie nicht vorstellen, daß Claudia als Prostituierte arbeitet. Gut, so komm ich aber nicht weiter. Ich versuch's mal mit einer anderen Tour.
"Die ich meine, die ist mit einem Japaner zusammen. Deshalb bin ich hier. Dieser Japaner ist mein Freund. Wir sind zusammen in die Schule gegangen. Gestern habe ich erfahren, daß er auch hier in Río Grande ist. Ich würde gerne wissen, wie's ihm geht. Ich krieg nur nicht raus, wo er wohnt. Claudia könnte seine Adresse wissen."
"Ach, jetzt versteh ich. Ja, das tut mir leid, ich kenne ihre amigos auch nicht so genau... aber sie wohnt hier, du kannst sie ja mal selber fragen. Aber erst nach 12."
 

Zurück in die Chacra 2

So, jetzt aber ab zur Wohnung von Omar Hormann, in die AEROPOSTA, in die Chacra 2. Es ist 6 Uhr. Hoffentlich finde ich das in der Dunkelheit noch. Hierum muß ich erstmal gehen. Nein, ich geh zuerst hoch zur SAN MARTIN, das wird sicherer sein.
So, was haben wir jetzt rausgekriegt? Erstmal ist es verwunderlich, daß dieser Julio Leite die exakte Adresse von diesem Bordell wußte! Er machte auf den ersten Blick nicht den Eindruck, als würde er sich damit so genau auskennen. Das ist verdächtig.
Andererseits ist noch etwas verdächtig. Er sagte "Blanco y Negro", und so hieß das Ding eindeutig nicht. Außerdem meinte er, der Japaner habe da arbeiten wollen, und nicht Claudia. Und wo sollte er hier arbeiten? Ich hatte Julio so verstanden, irgendwie als Kellner oder sowas. Das gibt keinen Sinn.
Hier ist die SAN MARTIN, jetzt links. Die müssen mit Julio Leite längere Zeit als nur ein paar Minuten Kontakt gehabt haben. Die müssen Julio Leite immerhin über ihre Probleme erzählt haben, und es hatte möglicherweise etwas mit diesem Milieu zu tun. Und dann ist da noch mein komisches Gefühl von vorhin... Leben und Tod...
So, jetzt bin ich bei der ISLAS MALVINAS, ab jetzt hab ich keinen Stadtplan mehr, und es ist schwierig, weil die Chacra 2 so chaotisch organisiert ist. Hoffentlich finde ich diese AEROPOSTA.
Eines scheint sich herauszukristallisieren. Meine beiden Leute von Río Gallegos scheinen in einem Milieu zu verkehren, das ich am Anfang nicht vermutet hatte. Ich bin etwas überrascht.
Nein, in meinen Gefühlen kann ich mich aber doch nicht so täuschen. Claudia war nett zu mir, und Leo auch, sie haben sich ganz lieb mit mir unterhalten, und ich sollte sie besuchen kommen. Das hatten die auch ehrlich gemeint. Nein, Claudia, auch wenn du eine Prostituierte bist oder zumindest so tust, da gibt's nichts, ich werde auch weiterhin zu dir halten.
Scheiße, dieses Neubauviertel sieht nachts ganz anders aus als tagsüber. Nichts erkenne ich wieder, aber auch gar nichts. Ich irre irgendwo herum, auf der Suche nach einer bekannten Ecke. Es ist wie in einer völlig fremden Stadt. Wie finde ich meine Sachen wieder? Wie bin ich hierhergekommen? Bin ich überhaupt die richtige Querstraße gekommen, von der ISLAS MALVINAS? Wart mal, keine Panik. Immer ruhig bleiben. Im Notfall gehe ich zurück zur ISLAS MALVINAS, und suche mir dort die VIEDMA.
Was steht auf dem Straßenschild dahinten? - CABO DE HORNOS steht hier drauf. - Wow, ich habe die CABO DE HORNOS gefunden! Die AEROPOSTA war eine der Querstraßen davon. Welche, das haben wir gleich, da gab's nur 6 oder 7.
Vielleicht hat Julio Leite sie einmal bei sich übernachten lassen, und dann hat er sie anscheinend nicht mehr bei sich übernachten lassen. Schlecht auf sie zu sprechen war er nicht. Trotzdem stimmt irgendwas nicht, und das muß ich rauskriegen. In Río Grande scheinen sie auch noch zu sein. Bloß wo?
So, da hab ich sie, die AEROPOSTA, und da hinten ist Omars Haus. Na, war das nichts? Es ist 20 vor 7.
Omar ist wieder nicht da. War er den ganzen Tag wohl nicht.
"Ja, Junge, ich bin hier der dueño von dem Haus, Omar wohnt hier nur zur Untermiete, und der darf auch gar keine fremden Leute hier übernachten lassen. Das weiß er aber auch."
"Kommt er morgen nochmal?"
"Das weiß ich nicht. Kann ich nicht sagen. Hier sind deine Sachen -"
"Naja, dann grüß ihn nochmal schön, mein Name ist Francisco. Und vielen Dank, daß ich hier meine Sachen lassen durfte heute nachmittag."
"Ja, keine Ursache. Tschüß."
Und wieder auf der Straße. Das war vorauszusehen.
Die ersten paar Schritte gehe ich recht zielstrebig irgendwohin, einfach nur, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich wüßte nicht, wohin. Das habe ich mir irgendwann mal angewöhnt in Lateinamerika, es ist langsam so eine Art Paranoia von mir. Nur nicht den Eindruck erwecken, ich wüßte nicht genau, wohin. Nur nicht nachdenklich erscheinen, nur nicht verdächtig erscheinen.
Wie durch einen Zufall, der so tut, als ob er keiner wär, stehe ich auf einmal vor einer Häusergruppe in diesem Neubauviertel, die mir komischerweise bekannt vorkommt.
Ach ja, sehr verdächtig, hier war doch die Wohnung von der Tante von Claudia, wo war das jetzt noch genau... Hier, Nummer 9, genau, das war's. Es brennt Licht. Was mach ich eigentlich jetzt noch? Bald wird es 7 Uhr. Ja genau, was mach ich überhaupt?
Auf einen blöden Gedanken kommen, das mache ich. Ich könnte den Rucksack irgendwo verstecken, und einfach nochmal bei der Frau Basanetti klingeln, vielleicht ist der ihr Macker ja da. Vielleicht verrät der mir noch ein paar Einzelheiten, ein paar Puzzleteile, die ich noch brauche. Vielleicht fügt sich ja endlich mal was zusammen.
Doch, das wäre noch eine Chance. Es könnte sein, daß der Typ etwas besser drauf ist als die Tante. Immerhin steht fest, daß die bei ihm mindestens einmal übernachtet haben. Er hat sie offensichtlich nicht gleich hochkant rausgeschmissen. Was die Tante aber garantiert getan hätte, und zwar sofort, da hab ich keinen Zweifel. Wenn an der Geschichte wirklich etwas faul ist, dann werden sie sich früher oder später verraten. Eines ist ganz klar: in dem Haus wissen sie mehr, als die Tante mir gesagt hatte.
 

Paco

Umdrehn, ob keiner schaut... und schon sind Rucksack und Schlafsack im Bauschutt versteckt. 7 Uhr. Und jetzt hoffentlich nicht wieder sie. Dingdong.
Leider doch.
"Ja, guten Abend, Frau Basanetti, entschuldigen Sie nochmal die Störung, so spät noch. Wissen Sie, ich habe da einen Verdacht, was die Claudia angeht. Irgendetwas scheint ihr passiert zu sein. Vielleicht könnte ich Ihren Mann sprechen, wenn das möglich ist?" - 1:0 für mich. Wenn sie zumacht, hat sie verloren.
"Was willst du denn noch? Hier kannst du auch nicht mehr erfahren als vorhin. Mein Mann ist nicht da. Hier ist keiner da außer mir." - 1:1. Ausgleich. Wenn mir jetzt nichts einfällt, kann sie zumachen.
"Ich hatte nur noch eine Sache vergessen zu fragen, und dachte, vielleicht könnte er mir da weiterhelfen. Aber vielleicht wissen Sie das ja auch. Es tut mir ja ausgesprochen leid jetzt, das müssen Sie mir glauben, wenn ich damit Ihre kostbare Zeit so sehr in Anspruch nehme, es ist ja auch schon spät und ich komme auch sicher sehr ungelegen für Sie-"
"Ja, du kommst wirklich sehr ungelegen, wir sind gerade am Abendessen." - Juhuuu, sie hat sich verraten! 2:1 für mich!
"Ah, ist ihr Mann inzwischen da? Das ist ja gut, vielleicht könnte ich mit ihm ja mal sprechen, er weiß doch sicher mehr als Sie."
"Na, wenn du meinst, daß das was bringt... - Paco! Kommst du mal - ?!"
Wie ich fast schon vermutet hatte, ist der Typ zehnmal lockerer drauf als sie. Fast tut er mir ja leid. Río Gallegos, die Kanada-Dollars, und schon sind wir beim Thema Wirtschaft und Politik. Irgendwann wird es ihr zu dumm, neben uns zu stehen und zuzuhören, wie wir uns über den estado de sitio im besonderen und die Probleme Argentiniens und Deutschlands im allgemeinen unterhalten. Vor allem, uns macht es beiden langsam Spaß. Und sie geht in die Küche. Und bleibt da auch. Er schaut nochmal um die Ecke. Die Luft ist rein.
"Die waren insgesamt 4 Nächte hier, die beiden. Dann mußten sie gehen - du verstehst vielleicht, warum."
"Ja, klar, nur wo sind sie dann hin. Zu Julio Leite?"
"Ja, eine Nacht haben sie bei Julio Leite geschlafen. Ihre Sachen haben sie noch längere Zeit bei Leite gelassen."
"Warum mußten sie da weg, bei Leite?"
"Bei Leite? Das kann ich dir nicht sagen. Aber die mußten da weg. Aus irgendeinem Grund, ich weiß nicht."
"Wo sind sie jetzt?"
"Das weiß ich nicht, seit einer Woche haben sie sich nicht wieder gemeldet hier."
"Seit einer Woche jetzt?"
"Ja, seit ziemlich genau einer Woche jetzt."
"Kennst du irgendwelche Leute, die mir sagen könnten, wo ich sie jetzt finden kann?"
"Ja. Paß auf, du gehst zur Anónima, das ist der Supermarkt, das ist 3 Blocks von hier. Hier die CABO DE HORNOS hoch - GOBERNADOR CAMBACERES heißt die Straße. 3 Blocks von hier, ein großer Supermarkt, kannst du nicht verfehlen. Da sind Leute, die dir weiterhelfen können -"
"Hat der Supermarkt nicht geschlossen? Es ist doch schon nach 7 Uhr."
"Die Anónima hat bis um 9 auf. Das ist überall in Argentinien so. Da arbeiten immer ein paar pibes, weißt du, die Kinder, die Einkaufswagen zusammenstellen, Leuten beim Tragen helfen und sowas -"
"Ja, ich verstehe."
"Gut, momentan sind da Pedro und Luis. Luis ist mein Sohn. Und dann ist da noch ein dritter pibe, dem seinen Namen weiß ich nicht. Aber der arbeitet da auch. Ich war eben kurz da, der war da nicht, aber der Pedro kennt die Adresse von dem."
"Und der kann mir da weiterhelfen?"
"Ja, Claudia und ihr Freund haben mindestens einmal bei ihm im Haus übernachtet, und er dürfte auch wissen, wo sie sich jetzt aufhalten. Vielleicht sind sie immernoch bei ihm."
"Sie sind also noch in Río Grande?"
"Ja, und soweit ich weiß, sind sie auch noch hier in der Chacra 2."
Das war ein gutes Match. Paco hat sich gut gehalten. Es könnte sein, daß das stimmt, was er sagte.
 

Supermarkt Anónima

Meine Sachen habe ich wirklich sehr gut versteckt. Wirklich, unter welche Bretter hatte ich sie denn jetzt hin? Der Countdown gegen den estado de sitio läuft, ich muß zur Anónima. Ich muß den mutmaßlichen dritten pibe finden. Wenn der die beiden übernachten hat lassen, läßt er mich bestimmt auch nicht draußen erfrieren. Das ist meine Chance. Trotzdem - ich habe seine Adresse noch nicht. Na endlich, da ist ja der Schlafsack.
3 Blocks weiter, tatsächlich, riesengroßer Supermarkt. Halb 8 Uhr ist es inzwischen.
"Ihr beiden, seid ihr Pedro und Luis?"
"Ja. Woher weißt du, daß ich Luis heiße?"
Ich erzähle ihm von seinem Vater, und von Claudia... erstmal muß ich antesten, wieviel die beiden wissen, besonders Luis. Und ob das stimmte, was Paco sagte.
"Ja, Claudia ist meine prima, na klar kenn ich die, die war bei uns -"
"Die hat bei euch geschlafen, eine Nacht, stimmt's?"
"Nee, paar Nächte war die bei uns, irgendwie, ich weiß nicht mehr so genau, nicht nur eine -"
"Ich will rauskriegen, wo die jetzt ist. Wißt ihr, wo die jetzt sein könnte? Dein Vater sagte, du weißt das recht gut, er wußte das nicht so gut."
"Weiß ich jetzt nicht mehr, die sind zu so'm Dichter -"
"Ach, und dann sagte er noch, daß mit euch noch ein dritter pibe arbeitet, von dem wußte er den Namen nicht."
"Ach, Beto meint er wohl -"
"Ja, Beto heißt der? Von dem sollt ihr mir die Adresse geben. Er sagte, Pedro, du wüßtest die Adresse von dem. Der Beto weiß, wo die Claudia ist."
"Der Beto?"
"Ja, genau, der Beto."
"Hm, der Beto. Soll der das wissen?"
"Ja, sagt dem Luis sein Vater. Der sagt auch, daß du weißt, wo der Beto wohnt."
"Der Beto. Also ich glaub nicht, daß der das weiß."
"Sag mir halt mal, wo der wohnt, da kann ich ihn ja selber fragen."
"Ja, Pedro, dann sag's ihm doch."
"Weiß nicht, che."
"Komm, dann kann er die endlich finden. Du kannst es ihm doch ruhig sagen."
"Che, ich weiß das echt nicht!"
"Weißt du das wirklich nicht?"
"Nein, ich hab wirklich keine Ahnung, wo der wohnt!"
"Scheiße."
"Woher soll ich das denn wissen? Luis weiß das."
"Che, das war doch PREFECTURA NAVAL, wart mal, 1162 oder 1152, ich weiß das jetzt nicht mehr so genau..."
 

Trabantenstadt

Mehr war nicht drin. Und das hörte sich überhaupt nicht an, als ob es viel wär. Mehr kommt aber nicht raus, es hat keinen Sinn.
Ja, dieses Match habe ich anscheinend verloren. Die PREFECTURA NAVAL geht hinten beim Supermarkt lang und geht einmal ganz quer durch die Chacra 2. Als erstes stelle ich ziemlich schnell fest, daß die 11er Serie bei dieser Straße gar nicht bebaut ist. Also nichts mit 1152 oder 1162. Schade.
Der 10er Block ist bebaut. Es sieht echt wie in einer Trabantenstadt aus, 6- bis 8stöckige Hochhäuser stehen hier, eins neben dem anderen, Wohnklos, einige sind offensichlich überhaupt nicht bewohnt. Sehr verdächtig das alles. Niemand geht auf der Straße. Ein fast vollkommen totes Stadtviertel.
Ich finde ein Haus mit der Nummer 1052. Vielleicht meinte er ja das. Scheiße, hier sind 8 Klingeln dran, wo soll ich denn jetzt klingeln. Ach, vergiß es doch. Ich könnte auch nicht nach "Beto" fragen, weil das ein Spitzname ist und die Erwachsenen ihn im Haus, wenn überhaupt, dann unter einem anderen Namen kennen. Es ist 8 Uhr.
Ein paar 100 m weiter finde ich im Parterre von einem der großen Hochhäuser eine Art Laden drin, und dahinter sind Leute. Oh, es sind Bullen. Es ist tatsächlich ein Bullenrevier.
In Texas geht das, du kannst in jeder Stadt zum Sheriff gehen und den fragen, ob er dich eine Nacht im Knast schlafen läßt. Gibt's sogar Frühstück am Morgen. Vielleicht geht das ja hier auch. Ich will ja nur nicht erfrieren. Es wird tierisch kalt.
"Na, was willst du?"
"Naja, ich wollte eigentlich zwei Freunde finden heute, aber das habe ich nicht geschafft, bei denen hätte ich halt schlafen können. Ihr wißt nicht zufällig, ob es bei der PREFECTURA NAVAL eine 1162 oder 1152 gibt?"
"1162 oder 1152?"
"Ja."
Oh nein, sie haben einen dicken Stadtplan von der Chacra 2, voll perfekt jedes einzelne Haus genau eingezeichnet, und brauchen fast 10 Minuten und 4 Leute, um rauszukriegen, daß die 11er Nummern in dieser Straße nicht vergeben sind. Trotzdem, es wird mir ein bißchen wärmer. Ich erzähle ihnen von Texas und von den Trampern und frage sie, ob es hier sowas ähnliches gebe. Später werden mir alle mild lächelnd sagen, daß die Bullen und milicos hier "andere Aufgaben erfüllen" als sich um die Leute von der Straße zu kümmern.
"Ich meine, ich frage nur so, ich bin Ausländer, ich kann das ja nicht wissen hier. Wo könnte ich denn schlafen, wenn es hier so kalt wird in der Nacht?"
"Nein, hier geht das nicht, du könntest höchstens zum Ortskrankenhaus gehn und es da versuchen."
Oh, hatte das Julio Leite nicht auch gesagt? Dann scheint da was dran zu sein.
 

Adalberto

Um halb 9 bin ich wieder an der Anónima. Es ist nicht mehr viel los, Pedro ist schon weg, Luis weiß noch weniger als vorhin... aber einer, der uns vorhin schon beobachtet hatte, kommt hinzu und interessiert sich für meine Geschichte. Ich erzähle ein bißchen von Río Gallegos, wo ich die beiden kennengelernt habe, daß ich sie finden wollte, daß die Sache an diesem Beto hängt, und daß ich jetzt außerdem bei -15 Grad auf der Straße häng mit einem besonders gut an tropische Temperaturen angepaßten Schlafsack.
Und das Blatt wendet sich wieder.
"Ich heiße Adalberto, ich arbeite hier. Die kennen mich alle. Wenn du willst, kannst du heute nacht bei mir schlafen, das ist kein Problem. Für eine Nacht geht das. Weißt du was, die findest du noch, mach dir mal keine Sorgen. Wir warten jetzt noch bis 9 Uhr, dann fahre ich zu mir, und wenn du willst, kannst du mitkommen."
"Ja, klar."
Er wohnt in der BELGRANO, aber ziemlich weit draußen. Wir unterhalten uns ein wenig auf der Fahrt, und es stellt sich heraus, daß er den Dichter Julio Leite zufällig auch kennt. "Die Stadt ist groß, sie könnten überall sein", fällt mir unweigerlich ein...
Es ist Nacht, und er fährt wie selbstverständlich über alle roten Ampeln. Sowas muß mir natürlich auffallen, als Deutscher.
"Macht das nichts, wenn dich die milicos jetzt erwischen würden? Müßtest du nicht immer anhalten, wenn rot ist?"
"Aber es ist doch nichts los hier, das wäre doch Schwachsinn."
"Und die milicos sagen da nichts?"
"Nein, dann müßten die doch selber auch anhalten, die sind doch nicht blöd! Wieso, halten die in Deutschland etwa an, nachts, wenn es so leer ist wie hier?"
"Ja. Wenn die Ampel rot ist, müssen die immer anhalten. Die Bullen machen das auch."
"Was, auch nachts, wenn echt nichts los ist? So wie hier jetzt, an dieser Kreuzung?"
"Ja. Auch wenn du 10 km siehst, das ist egal. Wenn rot ist und da steht irgendwo'n Bullenwagen, mußt du Strafe zahlen. Sogar mit dem Fahrrad, du mußt anhalten und solange warten, bis es grün ist. Auch nachts."
"Was - ?? Auch mit dem Fahrrad - ?"
"Ja, auch mit dem Fahrrad."
"Was - ?! Sowas hör ich ja zum ersten Mal! Also, wenn du kein Deutscher wärst, würd ich dir das nicht glauben. Che, jetzt mal ohne scheiße: die halten dich an, wenn du bei Nacht mit dem Fahrrad bei rot über eine leere Kreuzung fährst?"
"Ja. Auch wenn Totenstille ist."
"Ist das in den anderen Ländern in Europa auch so?"
"Nein, nein, das ist nur in Deutschland. In den anderen Ländern ist das nicht."
"Naja, okay, ich will dir das mal glauben. Wenn du das so sagst."
"Das ist wirklich kein Scheiß, den ich dir erzähl. Das ist echt so."
"Ich habe gelesen, die Deutschen seien so wenig stolz auf ihr Land. Das würde mir jetzt dazu einfallen."
"Vielleicht verstehst du jetzt, warum."
"Wenn ich das jemand weitererzähl, werden die mich alle für blöd halten. Vor allem, mit dem Fahrrad. Nachts. Die müssen ja verrückt sein, eure Bullen. Wo ist denn da der Sinn?"
"Klarzumachen, was Deutschland ist."
"Naja, Argentinien ist ja auch nicht besser. Du weißt, daß sie heute den estado de sitio verhängt haben?"
"Ja, ich habe es mitgekriegt."
"Diese Politiker sind alle Idioten. Da denkt man, wir wären die milicos endlich los, und jetzt lassen die diese Scheiß-Militärs auch noch freiwillig ran. Wird Zeit, daß die Peronisten endlich drankommen, ich bin für Menem."
Menem hat vor 2 Wochen die Wahlen gewonnen. Sie planen, die Amtsübergabe auf einen früheren Zeitpunkt zu verlegen, weil die Wirtschaft kein Vertrauen mehr in die alte Regierung hat.
In Feuerland sind auch überall Parteibüros von der Justizialistischen Partei ("die Peronisten") von Menem. Die von der Revolutionären Partei, der von Alfonsín, die zur Zeit noch regiert, haben hier das Handtuch geworfen.
 

Spaziergang im Ausnahmezustand

Wir kommen bei Adalbertos Wohnung an, ich lasse meine Sachen hier, wir essen ein wenig, Adalberto selber muß noch woanders hin. Er gibt mir einen Schlüssel und sagt mir nochmal eindringlich, daß ich mich nicht erwischen lassen darf, und ich solle sofort sagen, daß ich Deutscher bin und vom estado de sitio noch nichts gehört habe.
Um halb 12 gehe ich los. Es ist weit, es ist eine halbe Stunde zum Aquelarre. Auf den Straßen ist nichts los. 2 Blocks hinter mir fuhr eben ein Militärjeep um die Ecke. Hat mich zum Glück nicht gesehen. Hoffentlich kommt hier keiner vorbei. Wenn ja, dann darf ich keine auffälligen Bewegungen machen. Auf keinen Fall versuchen, mich zu verstecken. Sonst schießen sie.
Ab der DON BOSCO 1400 gehen doch noch einige auf der Straße. Hier fängt also das Bordellviertel an. Doch, das scheint hier tatsächlich eine Art Oase zu sein, wo es lockerer zugeht.
Im Aquelarre ist die eine Frau von heute nachmittag wieder da. Sie sagt, im Sol de Mayo sei auch eine Claudia aus Buenos Aires. Ihre Claudia Liliana sei noch nicht da, ich könne es später aber nochmal versuchen. Sie beschreibt mir, wo das Sol de Mayo ist, 2 Blocks von hier.
Das Sol de Mayo ist eine Art Lokal, wie eine Pommesbude, es ist mir symatischer als dieses Bordell in der DON BOSCO 1200.
"Ja, das gibt hier eine Claudia Liliana, die arbeitet im Aquelarre, das ist richtig. Die ist jetzt noch nicht da. Im Chi-Chis arbeitet aber auch eine Claudia aus Buenos Aires, hast du's da schon probiert?"
Oh gut, gehe ich zum Chi-Chis. Das ist auch eine kleine Bude, stehen 3 oder 4 Tische drin, es ist nichts los. Nicht, weil estado de sitio ist, sondern einfach, weil es noch zu früh ist. Ein Mädchen ist da, und siehe da, es ist - nicht Claudia.
"Heißt du Claudia?"
"Ja, warum?"
"Ach, schade. Ich suche eine, die hat den selben Namen wie du. Die kommt aus Capital Buenos Aires."
"Ich komme auch aus Buenos Aires, aber aus der Provinz. Kennst du Necochea? Das liegt zwischen Mar del Plata und Bahía Blanca."
"Aber ich war doch noch nie in Buenos Aires."
"Bist du Chilene?"
"Ich bin kein Chilene, nein, ich komm von Europa, weißt du, aus Deutschland."
"Oh, und was machst du hier?"
"Nicht viel. Ich suche diese eine Claudia aus Capital Buenos Aires, und man hat mir heute nachmittag gesagt, daß ich sie im Blanco y Negro in der DON BOSCO 1200 finden würde."
"DON BOSCO 1200? Aber da ist doch das Aquelarre."
"Ist das nicht dasselbe?"
"Nein, das ist nicht dasselbe. Das Blanco y Negro und das Aquelarre sind verschiedene Unternehmen."
Sie beschreibt mir, wo das Blanco y Negro ist, ich gehe hin. Es ist dicht. Offenbar schon seit einiger Zeit. Muß auch eine Art Bordell gewesen sein. Der Besitzer hat wohl pleite gemacht.
Leite wußte die Adressen von den einzelnen Bordells hier also doch nicht so genau. Vielleicht war das Blanco y Negro früher ein ganz renommierter Laden, und Leite hatte Leo das vorgeschlagen, es da zu versuchen, ohne zu wissen, daß dieser Betrieb nicht mehr lief. Oder Leite wußte ganz genau, was er sagte, und wollte mich loswerden. Mich zum Aufgeben bringen. Ich sollte nicht weiter nachforschen.
Ich gehe nochmal zum Sol de Mayo, wo sie mir einen gewissen "Padrino" beschreiben, der in einem Lokal, das "Thorne" heißt, arbeiten soll, und der wisse, was für Leute hier im Viertel arbeiten. Scheint irgendso ein Zuhälter oder sowas zu sein.
Es ist inzwischen schon nach 12, ich komme wieder zum Aquelarre, sie sagen mir, inzwischen sei sie da, ich klopfe an ihrer Tür, und ist sie's? - Nein. Es ist eine andere Claudia Liliana.
Später erfahre ich, Claudia ist tatsächlich einer der häufigsten Namen in Argentinien. Sogar Claudia Liliana sei schon so häufig, daß es in den Schulklassen oft mehrere davon gebe. Ich habe eine andere Idee und gehe zum Thorne. Der Japaner müßte doch auffälliger sein als sie. Der "Padrino" ist tatsächlich da.
"Nein, die du beschreibst, die arbeiten hier nicht. Hier arbeitet auch kein Japaner. Überhaupt im ganzen Viertel arbeitet kein Japaner zur Zeit. Das würde ich wissen."
Eine der Frauen, die um uns herumstehen, schaltet sich in das Gespräch ein.
"Ein Japaner, sagst du? Wart mal, hier war doch so ein Japaner gewesen, vor einer Woche. Der war eine Nacht da, mit einem Mädchen. Die wußten nicht, wo sie schlafen sollten. Haben hier aber nicht gearbeitet, aber die waren einmal hier."
"Wo wollten sie denn noch hin? Wo könnten sie heute sein?"
"Das weiß ich nicht, das ist ja auch schon eine Woche her. Sie wollte Babysitten oder sowas machen. Versuch es doch mal bei der Zeitung oder beim Radio."
 

Eine kurze Nacht bei Adalberto

Auch beim Rückweg zur BELGRANO hatte ich zum Glück keine Probleme. Die Nacht tat gut und war angenehm warm.
Es war noch eine Überraschung gewesen, daß sie auf einmal doch von dem Japaner wußten im Thorne. Ich hatte am Ende geglaubt, einer Geisterspur hinterherzulaufen, aber dann war die Spur urplötzlich doch wieder real da. Sie habe es mit Babysitten versucht, das hörte sich realistischer an. Ich werde es morgen bei den Zeitungen versuchen. Warum hat eigentlich die Prostituierte von ihnen gewußt und der Padrino nicht?
Doch, stimmt, es fügt sich noch etwas zusammen. Die meisten Prostituierten haben hier Kinder und sind alleinstehend. Es liegt nahe, bei den Prostituierten nachzufragen, wenn du Babysitten willst. Dazu kommt, daß in Zeiten der Wirtschaftskrise die Prostituierten zu den wenigen gehören, die weiterhin an Bargeld kommen. Ich sollte Volkswirtschaft studieren.

Aufstehen um 20 vor 6, Adalberto muß früh raus. Meine Sachen kann ich nicht bei ihm lassen, und wie er schon angekündigt hatte, es ging nur für diese Nacht, weil sein Mitbewohner nicht da war heute nacht.
Um 20 nach 7 bin ich beim Hospital Local, dem Ortskrankenhaus. Diesen Raum, wo die Obdachlosen übernachten können, gibt es tatsächlich. Es ist eines der Wartezimmer im Eingangsfoyer, das sie nachts auflassen. Ein paar Obdachlose sind da, aber sie haben alle nie einen Japaner hier gesehen.
Gleich 2 Blocks weiter, in der EL CANO, das ist die Straße, die unten an der Atlantikküste langgeht, ist das große Truck-Terminal. Ich frage einen im Kiosk und einen anderen, der an der Tankstelle arbeitet, aber einen Japaner haben sie hier alle nicht gesehen. Der im Kiosk gibt mir die Adresse von der Zeitung "El Tiempo" und meint auch, ich könne es beim Radio versuchen.
 

Ana Leite

Um 20 nach 9 Unr stehe ich vor der Wohnungstür von Julio Leite, diesmal ist jemand da.
Es ist Ana Leite, seine Frau. Sie ist sehr nett und lädt mich zu einem Tee ein. Sie spricht nicht laut, und bittet mich, ich solle auch nicht so laut sein.
"Warum denn  nicht? Werden wir hier abgehört? Hat es was mit der Militärregierung zu tun? Wir können uns auch Zettel schreiben, wenn dir das sicherer ist."
"Aber nein... -", meint sie, lächelt über meine komischen Gedanken, "komm, ich zeig es dir."
Leise öffnet sie eine Tür. Oh. Ein kleines Baby schläft in der Wiege.
"Wie alt?"
"14 Tage. Vor einer Woche hatten wir noch sehr große Angst, es hatte sich erkältet. Aber jetzt ist es vorbei. Zur Zeit schläft es sehr viel. Der Arzt sagt, das sei ein gutes Zeichen."
"Lassen wir es lieber schlafen."
Das war also der Grund gewesen. Leben und Tod. Ein kleines Baby! Deshalb konnten sie nicht weiter bei Leite bleiben. Ana sagt, es tat ihnen so leid, daß sie die beiden rausschmeißen mußten, aber es ging um das Leben des Babys.
"Ja, der Leo wollte doch als Kellner im Blanco y Negro arbeiten."
"Aber das existiert doch gar nicht mehr."
"Ja, irgendwie wurde da nichts draus. Ach, das hat dichtgemacht?"
"Es sieht aus, als hätte es pleite gemacht. Wo mögen sie jetzt sein?"
"Sie sind bestimmt noch in Chacra 2. Die wollten hier bleiben und arbeiten. Ich glaube, sie haben über eine Unidad Básica der Peronisten ein Zimmer bekommen. Irgendwie eine kleine 2-Zimmer-Wohnung. Ich bin mir aber nicht sicher."
"Was ist das, eine Unidad Básica?"
"Das sind die Parteibüros der Peronisten, die von Menem. Seitdem sie die Wahl gewonnen haben, sprießen die Unidades Básicas hier wie die Pilze aus dem Boden. Gibt es bald in jedem Stadtviertel. Ich weiß jetzt auch nicht, an welche die sich gewendet haben, frag halt mal rum."
"Ach du meinst, diese Büros, wo die Plakate von Menem immer dranhängen?"
"Ja, genau."
"Aber das sind ja tierisch viele. Die gibt's ja alle 3 Blocks eins."
"Oder versuch, sie über das Radio zu finden..."
Meine Sachen könne ich selbstverständlich bei ihr lassen. Den ganzen Nachmittag sei sie da. Gestern sei sie nur kurz einmal beim Arzt gewesen mit dem Baby. Deswegen war sie nicht da. Ich bin froh.
 

Bei der Zeitung

Das Anzeigenannahme-Büro der Zeitung El Tiempo war mir schon vorher aufgefallen und ich hatte es in meinen Stadtplan eingetragen, in der PERITO MORENO.
"Ein Japaner, sagst du? Ach ja, stimmt, da war einer dagewesen. Das ist aber schon gut eine Woche her jetzt. Stimmt, der war mal hier, mit einer chica, so einer -"
"Italienerin? Einer moracha?"
"Ja, genau. Ja, die taten mir leid. Sie sagten, sie wußten nicht, wo sie schlafen sollten. Sie wollten eventuell zurück nach Buenos Aires mit Aerolineas."
"Haben sie hier eine Anzeige aufgegeben?"
"Nein, ich glaube nicht, aber ich kann ja zur Sicherheit noch mal nachsehen. - Nein, haben sie nicht. Ich glaube, sie sagten, sie hätten kein Geld."
"Warum hatten sie kein Geld?"
"Ja, die kamen ja aus Buenos Aires. Und die Banken hatten die ganze letzte Woche für Giros dicht. Wir sind praktisch abgeschnitten von Buenos Aires. Sie hätten hier ein Konto haben müssen."
"Gibt es hier Unidades Básicas in der Nähe?"
"Unidades Básicas? Hier in der Nähe? Ja, sicher, allein in der PERITO MORENO gibt es schon zwei, eine ist hier gleich nebenan, eine andere ist 3 Blocks hier runter."
Heute liegen die Dinge besser. Werde ich sie heute finden? Ich habe mehrere Chancen.
Schlecht ist die Idee, es an den Unidades Básicas zu versuchen. Das sind zu viele. Ich gehe zur ersten, dort ist nur eine Person, die sagt mir, sie kenne keinen Japaner.
Die andere ist auf dem Weg zum Reisebüro von Aerolineas Argentinas, und dieses interessiert mich jetzt mehr. Denn der Typ bei El Tiempo war der erste, der mir sagte, sie wollten wieder zurück nach Buenos Aires fliegen. Alle hatten bisher gesagt, sie wären noch in Río Grande, und zwar in Chacra 2.
An der zweiten Unidad Básica weiß auch keiner was von einem Japaner. In der Chacra 2 gebe es eine Unidad Básica, die hieße "Juan Perón". Vielleicht würden die da mehr wissen.
Im großen, modernen Reisebüro von Aerolineas suchen sie mir die Namen aller Passagiere, die in der vergangenen Woche nach Norden geflogen sind, raus. Die Nachnamen der beiden seien nicht sehr geläufig, das müßte rauszukriegen sein, meint die Angestellte. Nach einer Weile und nach mehreren Überprüfungen meint sie zu mir:
"Also, von hier sind sie diese und vergangene Woche mit Sicherheit nicht weg."
Sehr gut, das wollte ich wissen.
Es gibt noch zwei andere Reisebüros, Lade und Austral, die sind auch im Zentrum, da gehe ich auch hin und bekomme dasselbe Ergebnis. An einen Japaner können sie sich nicht erinnern. Da sie nicht über Land aus Río Grande wegkönnen, habe ich damit eine ziemliche Sicherheit, daß sie noch in der Stadt sind. Jetzt muß ich sie nur noch finden.
Viertel nach 10 ist es, jetzt kommt meine Stunde, jetzt gehe ich zum Radio. Die Sendestation von Radio Nacional ist auch mitten in der Stadt. Von den ganzen Büros her bin ich inzwischen schon geübt, mein Problem in wenigen Worten vorzutragen, auch der Moderator der laufenden Musik-Sendung versteht schnell, worum es geht. Wir sitzen im Senderaum, er spielt leichte Musik, am Ende des Liedes sagt er mir, jetzt soll ich nichts sagen, und gibt einen Aufruf an die Bürger, wer den Japaner und seine Freundin gesehen habe, solle beim Radio anrufen.
Er selber meint, die Chancen seien wohl nicht so groß, daß sich da jemand meldet. 20 Minuten später macht er es nochmal und bezieht mich sogar im Gespräch mit ein. Das erste Mal, daß ich im Radio war. Und auch noch live... Gebracht hat es aber wohl nichts. Leider.
In einer anderen Unidad Básica sagen sie mir, sie kennen auch keinen Japaner, aber in der Chacra 2 gebe es zwei Unidades Básicas. Was da auch immer stimmen mag. Die Angaben der Leute hören sich nicht sehr zuverlässig an. Da kann ich irgendwie meine Erfahrung als Anhalter einbringen. Das hör ich raus, daß die Angaben der Leute über die hiesige Mikrogeographie nicht viel taugen.
Und wieder in die Chacra 2, ich muß diesen Beto finden. Von einer Unidad Básica, die Juan Perón heißen soll, weiß hier in diesem Wohnviertel jedenfalls keiner. Ich habe hier auch selber keine Menem-Plakate gesehen gestern, nur im Zentrum sind sie an jeder Ecke. Die im Zentrum haben keine Ahnung, was hier in der Chacra 2 ist.
 

Beto

12 Uhr, ich bin wieder an der Anónima. Der Laden ist fast leer. Aber die pibes sind da - oh, ja, und Beto auch, tatsächlich. Jetzt wird es nochmal spannend. Jetzt oder nie. Luis und Pedro haben ihm schon erzählt, warum ich hierbin.
"Hey, Beto, du bist der einzige, der mir weiterhelfen kann. Du weißt die Adresse von denen. Die sind doch noch in Chacra 2, oder?"
"Ja, die sind noch hier, glaub ich."
"Kannst du mir die Adresse geben?"
"Hm. Weiß ich jetzt nicht, die Adresse."
"Aber du weißt, wo die wohnen?"
"Ja, kann sein. Aber den Straßennamen weiß ich jetzt nicht."
"Che, ich häng hier auf der Straße rum, und weiß nicht, wie ich die finden soll. Seit 24 Stunden such ich die jetzt schon, bin bei allen möglichen Leuten gewesen, war beim Radio, bei der Zeitung, den Reisebüros, die haben mir alle nicht weiterhelfen können, und du weißt, wo die wohnen, dann kannst du mir es doch wenigstens mal zeigen."
"Ja, gut. Komm am Montag mal vorbei."
Dieser Kerl! Ich faß es nicht! Adalberto kommt hinzu.
"Was ist denn, che? Weißt du jetzt, wo die wohnen oder nicht?"
"Ja, er weiß es."
"Nein, ich selber weiß es nicht. Mein Vater weiß es, aber ich weiß es nicht."
"Ja, dann bring ihn doch zu deim Vater!"
"Ja, ich hab ja gesagt, er soll am Montag mal vorbeikommen. Hab keine Zeit jetzt -"
"Was, du hast keine Zeit?! Wie lang soll der denn noch warten?! Che, du bringst den jetzt zu deim Vater, und zwar auf der Stelle, sonst gibt's hier Zoff, ja?! Du gehst mit ihm zu deim Vater, fragst, wo die wohnen, und bringst ihn dann dahin, ja? Er kennt sich hier nicht aus. Und vorher brauchst du hier gar nicht wiederzukommen."
Mann, hat das jetzt gebraucht, bis dieser Typ in die Latschen kam. Ich sag mal lieber nichts auf dem Weg, ist sicherer. Jetzt oder nie.
 

Final feliz

Wir kommen bei seinem Haus an, es ist die PREFECTURA NAVAL 1052. Er klingelt. Dritte Klingel von unten. Und ist sein Vater da? - Ja, er ist da!
Noch einmal muß ich die ganze Geschichte erzählen, nicht von vorne, sondern alles durcheinander, solange, bis es ihm zuviel wird und er mich möglichst schnell wieder los sein will.
Wir gehen ein paar Blocks weiter durch die Trabantenstadt und zu einem Haus, wo ich gestern nacht den Eindruck hatte, hier würde keiner wohnen. 20 nach 12 Uhr. An einer Tür klingelt er. Wer macht auf?
Claudia und Leo! Ich habe sie gefunden!
2 Wochen werde ich bei ihnen bleiben. Wir haben uns viel zu erzählen. Die 2-Zimmer-Wohnung im Neubauviertel haben sie tatsächlich über Kontakte mit einer der Unidades Básicas im Zentrum bekommen - natürlich einer von denen, wo ich am Vormittag noch nicht gewesen bin.
Ich erfahre, daß es in Argentinien sehr wohl erlaubt ist, ein leerstehendes Haus oder eine leerstehende Wohnung zu besetzen, man darf sogar das Schloß dazu aufbrechen. Genau das haben sie gemacht hier. Sie leben mit 3 anderen Leuten von dieser Unidad Básica hier.
Miete brauchen sie nicht zu zahlen, weil das Haus leerstand. Gas (Heizung) und Wasser stehen ihnen auch zu, brauchen sie auch nicht zu bezahlen. Nur Strom müßten sie bezahlen. Weil keiner Geld hat, gibt es also auch keinen Strom. Wasser gibt es nur noch 2 Stunden am Tag, wir drehen alle Wasserhähne auf, stellen Eimer drunter und warten. Die Wasserwerke werden noch wochenlang weiterstreiken, und die Temperaturen bleiben so kalt.
 

 Leben am Rande des

Existenzminimums

Claudia arbeitet tatsächlich als Babysitterin bei einer Prostituierten, Susana, die ebenfalls hier im Haus wohnt. Auf die Weise ist Claudia die einzige, die Bargeld in den Haushalt einbringt. Wirklich fast die gesamte restliche Wirtschaft im Ort liegt brach, keiner findet auch nur für 5 Minuten einen Job.
Abends gehen wir manchmal zu Susana runter, unterhalten uns mit ihr über die Probleme des Alltags. Ihr "Freund" kommt jeden Tag um 3 Uhr betrunken nach Hause und würde nicht auf die Kinder aufpassen, wie er es verspricht. Leider zahlt sie Claudia auch nur am Anfang zuverlässig aus, aber das läßt nach. Claudia, Leo und ich wechseln uns im Babysitten ab, wir freunden uns mit den Kindern an und machen es am Ende vor allem, weil die Kinder uns leidtun. Schade, daß Susana am Ende anfängt, das auszunützen.
Essen müssen wir uns "organisieren". Jeder geht woanders hin. Beim Supermarkt geben sie uns ein wenig Gemüse, oder ein paar Konserven. Manchmal gibt es Reis, Mehl, Tee oder sogar Zucker bei einem der Lager, wo die Trucks ankommen. Claudia schnappt sich eines der Kinder und geht zur Caritas, dort gibt es auch Rationen, die an die armen Leute, vor allem an die Frauen, vergeben werden.
Alles, was reinkommt, wird geteilt. Am meisten mangelt es an Zucker.
Die zwei Jungen von der Menem-Partei sind auch noch nicht lange in Río Grande. Irgendein gewählter Politiker hat ihnen versprochen, ihnen in der Verwaltung später einen Job zu verschaffen. Doch die idealistischen Ansprüche unserer mit den gewonnenen Wahlen frisch gebackenen justizialistischen "Spring-auf-den-Zug-Politiker" mit dem Traum von einer neuen Welt finden in der engen Wohnung schon nach wenigen Tagen eine Ernüchterung. Schnell müssen sie erkennen, daß es offenbar doch nicht ganz so einfach scheint, die Welt zu verbessern.
Die Konflikte drehen sich vor allem um den Zucker. Zucker ist eine ganz eigenartige Ware. Etwas Zucker wird zum Kochen gebraucht. Der meiste Zucker wandert aber in den Tee. Zucker als Luxusgut. Ein Rest von Luxusgefühl am Existenzminimum.
Am Anfang wurde er geteilt. Aber Zucker war immer knapp. Dann regten sich die einen auf, die anderen würden zuviel Zucker in den Tee nehmen. Wir mußten uns am Ende einigen, daß Zucker jeder sich seinen eigenen organisieren muß. Es lief darauf hinaus, daß Claudia, Leo und ich immer genug davon hatten, weil wir es gut einteilen konnten. Was zwangsläufig den Neid der anderen provozierte, denn die hatten oft gar nichts mehr, haben auch nicht soviel organisiert.
Einmal bin ich auf die Estancia gefahren, danach gab's ein paar Tage lang nur Schafsfleisch. Am schönsten war, mitzuerleben, wie Claudia, die in Buenos Aires aufgewachsen war, zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee sah. Mitten in der Nacht im gespenstisch beleuchteten Neubauviertel, wir waren gerade beim Babysitten in der Parterrewohnung von Susana, ein scheußliches Sauwetter draußen, kalt, stürmisch, es fängt sogar an zu schneien. Claudia sieht das, rennt raus und kriegt sich eine halbe Stunde lang nicht mehr ein vor Freude.

Die Woche darauf war ganz Río Grande unter einer dicken Schneedecke versunken, ganz Feuerland war weiß. Auf den Straßen der Stadt war eine Woche lang Glatteis, einen Streudienst gibt es in Río Grande nicht. Irgendwie habe ich die Stadt liebgewonnen, auch wenn es keine Zukunft gab.
 

Wenige Wochen später ging ich einige 1000 km weiter nördlich im tropischen Wald bei den Iguazú-Wasserfällen über die Grenze nach Brasilien... Final feliz ist der Titel einer brasilianischen Telenovelle und heißt übersetzt: Happy End.
 

Anfang 1990 - mit dem

Fahrrad durch Brasilien
 

Brief FORUM 21
2. April 1990, Cayenne, Französisch-Guyana.
(...)
 

Wann fing dieses Jahrzehnt an? Richtig, am 1. 1. 1990. Wir befinden uns irgendwo im Norden Brasiliens, vielleicht 100 Kilometer von der Küste entfernt. Dort, wo die Bundesstraße BR 316 den Rio Gurupi  überquert, die Bundesstaatsgrenze zwischen Maranhâo und Pará.
Und so blenden wir uns am 1.1.1990 einmal in das Leben ein, ein Posto , eine Überlandstraße und irgendein europäischer Radfahrer, der um 5.30 Uhr dabei ist, aufzustehn und langsam seine Sachen auf's Fahrrad zu packen.

1.1.90 - Montag, 10. Tag.
Los 6.00 Uhr vom Posto "Paramar", Tacho 772 km, wo ich gestern bei stockdunkler Nacht (ohne Licht) angekommen war. Wunderschöner stiller Sonnenaufgang über dem ebenen Land. Mein Schatten (vor mir) ist am Anfang noch 30 m lang. Auch nach einer halben Stunde immer noch kein Auto.
Erst fahr ich recht langsam, die Straße nimmt jetzt wieder ein paar Hügel, ist aber auch im neuen Bundesstaat vom Teer her ganz gut. Nur ab und zu kommt eine etwas schwerere Steinteerstrecke.
Um 7.00 Uhr halte ich auf einsamer ebener Strecke an, zieh mir den Rest vom Fleisch von gestern abend rein, zum Frühstück, und die Sonne ist jetzt schon ziemlich warm, hier, so nah beim Äquator.
20 km bleibt es noch eben, aber vor Cachoeira geht es den dicken Berg hoch, ganz steil, 15 Minuten schiebe ich hoch. Das Dorf liegt genau auf der Spitze eines einsamen Berges, der sich hier aus irgendeinem Grunde in die Ebene verirrt hat.
8.25 an Cachoeira, Tacho 802 km, erstmal Pause, kühles Wasser am Posto "Marichal II". Ich komme mit einem aus Belém ins Gespräch... mit dem Fahrrad aus Bahia, das findet er gut, das sei mutig, und er spendiert mir einen Saft irgendeiner tropischen Frucht, er sagt mir auch den Namen dazu.
Aber mir jedesmal den Namen der unendlich vielen tropischen Früchte hier zu merken, habe ich in den vergangenen Monaten in Brasilien langsam aufgegeben. Ich hatte in Bahia bald das Gefühl, daß es jeden Tag einen anderen Fuchtsaft gab, wo sie mir jedesmal den Namen sagten, ohne daß sich das einmal wiederholte. Tagesfrüchte: weil's jeden Tag andere sind.
Weiter 9.20, und auch nicht zu schnell. Erstmal den Berg wieder runter, laß ich rollen, dann in der Ebene weiter, mit vielleicht 20 km/h. Das Vorderrad sagt heute überhaupt nix mehr, nicht mal der Tacho quietscht: weil sie mir gestern im Posto "Maranhâozinho" fast einen halben Liter Lkw-Schmierflüssigkeit auf die Achse gekippt haben, seitdem quietscht wirklich nichts mehr. Ein ruhiges zufriedenes Surren von Kilometerzähler.
Es ist kein besonders gutes Fahrrad. Nachdem ich einige Monate in einem Sägewerk im Bundesstaat Bahia verbracht und ihnen ein paar architektonische Zeichnungen angefertigt hatte, bekam ich quasi als Lohn ein gebrauchtes Fahrrad für umgerechnet 80,- DM geschenkt, mit dem ich weiterfahren konnte, durch das Hinterland Brasiliens. Per-Anhalter-fahren bringt in Brasilien keinen Spaß, es ist auch sehr gefährlich. So fahre ich mit dem Rad weiter.
Die Straße ist gut zu fahren, fast kein Verkehr, nur heiß wird es jetzt. Um 9.00 kamen ein paar Wolken auf, wie jeden Tag, nur sind die leider nie da, wo ich fahre, und irgendwann im Lauf des Vormittags schluckt sie die Hitze auch wieder weg, langsam wird es wirklich unerträglich heiß. Tagesklima: weil's jeden Tag gleich ist.
Tacho 822, kurz vor 11.00 Uhr - Posto "Com. Baviera" auf der linken Seite, ich mache halt und setze mich in das Café in den Schatten. Der Ort hier heißt "Quilómetro 74", weil's noch 74 km bis Capanema sind. In der Mittagssonne durch die Hitze zu fahren, wäre wirklich keine gute Idee. Ich döse ein bißchen rum, schlafe vielleicht eine Stunde... ein Kleinbus aus Belém kommt an, muß Reifen wechseln.
Mir fällt die Musik aus Picnic at Hanging Rock ein. Ich weiß nicht, irgendwie.
15.00 Uhr weiter. An den brasilianischen Bundesstraßen sind immer Kilometerschilder. 2 Stunden später bin ich in Santa Luzia auf Km 47, Tacho 849, Wasser auftanken, gleich weiter. Die Straße nimmt wieder schwere Steigungen, ich schaffe nur noch einen Schnitt von 15 km/h. Langsam wird es Abend, die Straße wird nicht besser, ab und zu kommen jetzt Schlaglöcher, und das ist gefährlich in der Nacht. Ich habe kein Licht. Ich fahre soweit, wie ich komme. Ab 872 sehe ich auch den Tacho nicht mehr. Irgendwie ist der Verkehr stärker geworden.
Etwas später kommt wieder ein Ort, leider ist hier kein Posto, aber ein netter Mensch läßt mich im Kindergarten schlafen, sogar zu einer Dusche komme ich. Tacho 877.
109 km waren's heute, wenig, wegen der Sonne. An manchen Tagen regnet es auch, dann kann ich mittags durchfahren, einmal habe ich schon 155 km gemacht.
Das mit den Postos ist gut organisiert in Brasilien. An jeder Bundesstraße ist alle 20-30 km eine Tankstelle für die Überland-Trucker. Jeder Posto hat einen Namen, meistens ein Restaurant, Duschen, und einen Platz, wo ein Radfahrer halbwegs sicher übernachten kann.
Gestern, in Nova Olinda, habe ich einen Radler getroffen, an einem Posto, das hatte ich nicht erwartet. Er kam mir praktisch die Strecke entgegen, fuhr von Belém nach Fortaleza. Seine Eltern waren US-Amerikaner, er selber war in Nordbrasilien aufgewachsen, genauer, in einem Indianerreservat an der Grenze zu Französisch-Guyana. Es schrieb mir eine Nachricht in der Indianersprache palikúr auf einen Zettel, falls ich einmal nach Oiapoque und Saint Georges kommen sollte.
Oiapoque heißt der Grenzfluß, und heißt auch der Ort, wo sprichwörtlich die letzte Straße Brasiliens endet. Saint Georges heißt der Grenzort auf der französischen Seite, mitten im Urwald. Dort gibt es keine Straßen mehr, nur den Fluß und das Flugzeug.
Ich weiß nicht, ob ich bis nach Französisch-Guyana will, aber jetzt, mit dieser Nachricht für die Indianer in der Tasche, gefällt mir die Idee immer besser. Ich kenne Rugatto, einen Deutschen, in Macapá, das liegt an der Mündung des Amazonas, und das ist zunächst mein Etappenziel. Macapá liegt genau auf dem Äquator.
Was ich danach will, weiß ich noch nicht, vielleicht den Amazonas hoch... aber vieleicht auch zu diesen Indianern an den Oiapoque. Ich werde es schon sehen, das Jahrzehnt hat ja erst angefangen.
 

Die letzten 150 km bis Belém

2.1.90 - Dienstag, 11. Tag.
Der Ort, den ich um 6.00 morgens mit dem Sonnenaufgang verlasse, heißt Jacamim. Es ist leider nicht so ruhig wie gestern, hier ist mehr Verkehr. Aber es geht ja noch. Um 7.15 bin ich in Capanema. Wasser, weiter.
Straße: Steigungen. Asfalt: geht noch so. Aber nicht mehr optimal. Wird ab Capanema noch schwächer. 150 km sind es noch bis Belém. Von dort muß ich mit der Fähre nach Macapá.
Immer mehr Verkehr. Ein kleiner naïver Radfahrer aus Mitteleuropa würde sagen: "diese Lkw-Fahrer hier fahren aber sehr rücksichtslos". Mir aber hatten sie das schon in Bahia erklärt: auf einer stark befahrenen Straße in Brasilien fährt das Fahrrad nicht auf dem Rand der rechten Fahrspur, sondern auf dem Straßenrand der entgegenkommenden, also der linken Spur. Das mache ich jetzt.
Das ist keine Verkehrsregel (sowas dürfte es in Brasilien nicht geben), sondern purer Pragmatismus: was dir entgegenkommt, kannst du sehen - was hinter dir kommt, nicht. Die Privatautos weichen in der Regel zwar aus, aber nicht so die Lkw-Fahrer, Hell drivers, die drängen dich ab, in den Straßengraben.
Ich habe extra lauter bunte Fahnen hinten auf dem Gepäck, damit es etwas exotisch aussieht, und damit die wenigen, die wissen, daß es andere Länder gibt, erkennen, daß ich Ausländer bin.
Nur wenn die Straße einsam ist, fährst du auf der rechten Spur. Ist etwas mehr Verkehr, fährst du auf der linken Seite, und wenn ein Lkw kommt, schaust du dich schnell um, ob von hinten etwas kommt. Ist frei, wechselst du auf die rechte Spur, läßt den Gegenverkehr passieren und wechselst danach wieder auf die Gegenspur. Und so fahre ich praktisch Slalom zwischen den Trucks und den Schlaglöchern. Es ist schlecht, daß ich keinen Spiegel habe.
Ab 8.00 brennt die Sonne vom Himmel herab. 8.25 an Posto "Gaucha", Tacho 916, noch 130 km bis Belém. Wolken kommen wieder auf, verdecken die Sonne aber wieder nicht, jeden Tag dasselbe.
9.20 fahre ich weiter, Slalom, und es wird immer heißer. 10 km weiter ist ein einladendes Becken mit Wasser, ich tauche meinen Kopf ganz ein, fahre weiter und schaffe es sogar noch, nun ständig auf der linken Fahrspur, bis zum Posto "Santa Maria", wo ich um 11.00 ankomme. Tacho 942 = noch 102 km bis Belém. Mittagspause.
Die, die mir gesagt haben, das sei mutig, mit dem Fahrrad durch Brasilien, die wußten, was sie damit meinten.
Auch das mit dem Slalom-fahren, das ist ganz schön gefährlich. In Deutschland würde es als "grob leichtsinnig" bezeichnet werden - hier ist es bisweilen die sicherste Möglichkeit, mit dem Fahrrad von A nach B zu kommen. Aber du kannst es natürlich nur bis zu einer gewissen Verkehrsdichte treiben, du bist ja nicht Rosi Mittermaier.
Wird es also noch etwas dichter, mußt du ganz auf der linken Spur bleiben, so wie ich eben, dich haarscharf am Straßenrand halten und dich mit dem Gegenverkehr arrangieren.
Wenn es dann noch dichter wird, ist es wieder sicherer, auf der rechten Fahrspur zu fahren. Das ist dann das allerschlimmste, was dir passieren kann, und als ich noch im Posto "Santa Maria" Mittagspause mache, ahne ich schon fast, daß mir in den nächsten knapp 100 km genau das bevorsteht.
Wenn der Verkehr dann allerdings noch dichter wird, wird er langsamer, dann ist es wieder weniger gefährlich. Dann steigt auch die Anzahl der Pkw's, die Anzahl der Frauen, die fahren, dann wird wieder vorsichtiger und etwas rücksichtsvoller gefahren. Der Stadtverkehr ist vergleichsweise harmlos.
Um 14.00 kommen ein paar Wolken, es regnet fast, die Hitze ist weg, ich kann weiterfahren. Und tatsächlich, ab "Santa Maria" die 102 km bis Belém die Strecke ist mörderisch. Sofort sehe ich, daß ich auf die rechte Fahrspur muß. Der Abstand zwischen den entgegenkommenden Fahrzeugen ist so kurz geworden, daß sie mich nicht mehr rechtzeitig erkennen können. Dazu kommen noch die Kamikaze-Überholer, die dich ohne Rücksicht auch auf dem Rand der linken Fahrspur von hinten nehmen würden.
Also radel ich auf der rechten Spur, oder besser am Rand, immer mit irgendwelchen beteigeuzischen Abschiedsformeln auf den Lippen, und ständig weiche ich auf den Randstreifen aus, muß stehenbleiben. Wenn ein Mensch auf einer Überlandstraße von einem Lkw totgefahren wird, passiert in Brasilien übrigens folgendes: gar nichts. Kein Auto würde anhalten. Die Toten werden von der Landbevölkerung am Straßenrand vergraben... und das vielleicht auch nur, damit keine Seuchen verbreitet werden. Es gibt zu viele Menschen in Brasilien, und es überleben nur die besten.
Immer häufiger muß ich auf den nicht existierenden Randstreifen ausweichen. Die Lkw-Fahrer drängen mich oft sogar mit Absicht ab, machen richtig Jagd auf mich. Es ist klar: sie wollen keine Radfahrer auf dieser Strecke. Aber es gibt keine andere Straße nach Belém, die ich fahren könnte. Noch ein halber Kilometer, noch ein halber Kilometer... um 15.45 komme ich, total fertig, an einem Texaco-Posto an. Mich erstaunt, daß ich trotz des dauernden Anhaltens einen Schnitt von 14 km/h gemacht habe.
Einen Moment überlege ich, ob ich einen Kleinbus oder einen Pick-up anhalten sollte, aber niemand würde hier anhalten. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit auf 90 oder 85 %, daß ich die Fahrt bis Belém lebend überstehe.
Aber gut, so sind die Spielregeln, wenn du draufgehst, dann gehst du eben drauf. Es gibt keinen anderen Weg, weiter.
200 m, abbremsen, von der Straße runter, weiter... 100 m, wieder'n Lkw, wieder abbremsen, anhalten, wieder in' Graben... weiter... noch 200 m, wieder runter... jeder Kilometer will hart erkämpft sein, ein erbitterter Kampf gegen den Tod auf der brasilianischen Straße. Warum mache ich sowas? Wie komme ich dazu, sowas zu machen? Egal, nicht überlegen, weiterfahren.
In Pernambuco vor 2 Wochen an einem Posto meinten einige Trucker, die mich zum Essen eingeladen hatten:
"Du siehst, heute spendieren wir dir das Essen, aber hinterher, auf der Straße, werden wir dich nicht kennen. Das mußt du wissen. Auf der Straße gelten eigene Gesetze."
Ich fange an, mit den Lkw's zu spielen. Ich fahre etwa 1 m vom Rand entfernt, und kurz bevor er angerast kommt, im letzten Moment, weiche ich auf den äußersten Rand aus. So muß ich nicht abbremsen und komme schneller voran. Die Lkw's fahren dann mit etwa 50 cm Abstand an mir vorbei, weichen also weiter aus, als wenn ich von vornherein auf dem äußeren Rand fahren würde.
Es ist ein lebensgefährliches Spiel, denn ein zu knapp hinter dem Truck fahrender Wagen würde mich nicht sehen. Und was ist, wenn einer betrunken ist?
17.20 - ich komme in Castanhal an, fahre langsam durch, schaffe es noch bis zum Posto "Ipanema" auf Km 57. Ausnahmsweise Esso, das sind in der Regel die unfreundlichsten, aber das ist hier wohl die Ausnahme von der Regel. Sogar mit Fenseher, draußen auf der Terrasse.
115 km waren's heute. Brasilien hat 5 % am Welt-Straßenverkehrsaufkommen, haben sie eben im Fernsehen gesagt. Aber 11 % Anteil an den Schwerunfällen in der Welt. Sie fahren wie die Hölle. Mir fallen die Augen zu.
Überall erzählen sie mir von Radfahrern, auch Europäern, die sie totgefahren haben.

Wir machen auch die Augen zu und befinden uns einige Tage später, lebend, mit Fahrrad, aber leider ohne Hängematte, auf einer ziemlich überfüllten Fähre und überqueren einen kleinen Fluß, der hier an seiner Mündung so etwas über 200 km breit ist. Das Boot sucht sich seinen Weg zwischen den Inseln, Belém - Macapá.
 

 Auf der Fähre nach Macapá

"Klein" meine ich natürlich im Verhältnis zu anderen Flüssen in der Galaxis, im Universum... hier auf diesem Planeten ist allerdings keiner größer als der Amazonas.
Ich schreibe ein bißchen "Tagebuch eines Radfahrers", oder sitze vorne am Bug, sehe mir die Inseln an, und lerne einen Argentinier kennen, Omar, aus Buenos Aires. Er ist zufällig aus genau demselben Stadtviertel in der 12-Millionen-Stadt, wo ich im Juli 2 Wochen verbracht hatte. Ich muß öfter an seinem Haus vorbeigelaufen sein.
Was mich wundert, ist, daß er (mit den Leuten) schlechter portugiesisch spricht als ich. Omar haben sie als blinden Passagier auf's Boot gelassen, weil er kein Geld hat und das brasilianische Territorium wieder verlassen muß, über Macapá nach Französisch-Guyana.
5 US-$ kostet die Überfahrt, die über 30 Stunden dauert. Omar will ein paar Tage in Macapá bleiben, dann nach Oiapoque, und von dort, irgendwann nachts, mit irgendeinem brüchigen Einbaum voll mit Brasilianern, in die französischen Gewässer, wo sie die "boat people" in der Nähe von Cayenne um Mitternacht an die Küste lassen. In Cayenne will er Arbeit finden.
Unsere Fähre ist voll mit garimpeiros, Goldgräbern, die wissen nicht, daß es außer portugiesisch noch andere Sprachen gibt. Sie sehen uns an mit einem Gesicht, als würden sie sagen wollen: "Hä, warum reden die denn so verdreht?" Ganz so Unrecht hätten sie dabei nicht: ich mix in mein Spanisch immer wieder portugiesische Vokabeln mit rein, und der Witz ist: bei Omar genau dasselbe. Er spricht tatsächlich kein reines spanisch mehr, es ist kaum zu glauben. Omar ist auch schon länger in Brasilien, 1 Jahr etwa, und in Französisch-Guyana war er auch schon.
 

Frankreich

Nach einer sehr abenteuerlichen Lkw-Fahrt über das, was sie die Straße zwischen Macapá und Oiapoque nennen, komme ich 2 Wochen später mit dem Boot in einem Land an, das aus einem letzten Endes absolut unergründlichen Zufall Frankreich heißt.
Französisch-Guyana ist keine Kolonie, sondern ein gleichberechtigtes französisches Départment, genauso wie Puy-de-Dôme, la Seine-et-Marne oder les Alpes maritimes. Ist auch Teil der EG und alles. Es gelten dieselben Gesetze, dieselben Löhne, Steuern...
Die Indianer freuen sich über die Nachricht von ihrem Freund. Sie sprechen portugiesisch, sind auch aus Brasilien, wohnen aber seit einiger Zeit in Saint Georges. Das dürfen sie, weil die Palikúr-Indianer seit jeher beiderseits der Grenze wohnen. Die Kinder lernen französisch in der Schule.
Es gibt Briefkästen, die auch geleert werden, Telefonzellen (mit Karten), Sitzbänke, die gepflegt werden, die einfachen Leute (auch die Indianer) kennen auf einmal so Sachen wie Bankkonten (bei der Post), Sozialversicherung, es gibt eine medizinische Versorgung, geregeltes Schulsystem mit Schulpflicht... alle diese Kleinigkeiten, die Südamerika soweit weg von Europa machen.
2 Wochen bleibe ich dort, dann nehme ich das Flugzeug nach Régina. Ich weiß auch nicht, warum genau. Irgendwie hatte ich keine Lust, diese Schlammpiste zurück nach Macapá zu fahren, und außerdem hatte ich zwar ein neues Land kennengelernt (ich war noch nie in Frankreich gewesen), aber ich habe trotzdem immer noch nichts richtiges erlebt. Da kann ich ja noch nicht wieder zurück nach Macapá.
Von Oiapoque nach Régina sind es 80 km Luftlinie, aber der Urwaldpfad ist in der Regenzeit nicht passierbar. Eine Straße bauen sie nicht: die Industrieländer haben es ganz gerne, wenn es keinen billigen Weg von der 3. in die 1. Welt gibt...
Von Régina gibt es eine Straße nach Cayenne, die laufe ich entlang. Eine Stunde, dann fängt es an zu regnen. Das darf es, es ist Regenzeit. Noch eine Stunde weiter im Regen. Ein regnerischer Donnerstag. Regen Typ 17.
Was will ich in Cayenne? Stimmt, ich habe vergessen, mir zu überlegen, was ich überhaupt in Cayenne will.
Eigentlich hätte ich Lust zu arbeiten. Ja, das wär doch 'ne Idee. Ich hätte richtig Lust, einen ganzen Monat, nein, mehr, 2 Monate zu arbeiten. Mit morgens aufstehn, zur Arbeit gehn, regelmäßig essen, abends nach Hause kommen und fertig sein... ich hätte Lust, einmal richtig wie die Arbeiter zu leben. Irgendwelche harte Arbeit, hätt ich richtig Bock drauf. In Macapá meinten etliche Leute, daß es möglich wäre, in Cayenne Arbeit zu finden.
Ein (schwarzer) Einheimischer hält an, aus Mitleid, und nimmt mich die restlichen 130 km bis nach Cayenne mit. Der Rest der Story spielt in Cayenne. Er setzt mich im Zentrum am Place des Palmistes ab.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Cayenne

Witzigerweise bin und bleibe ich der einzige in dieser Story, der per Anhalter in dieser Stadt angekommen ist. Nicht mit dem Boot und nicht mit dem Flugzeug. An einem regnerischen Donnerstag.
Und mir fällt wieder die Musik von Picnic at Hanging Rock ein. Es ist die Musik von diesem Brief.

Der Regen hört langsam wieder auf. Ich latsch ein bißchen durchs Zentrum und setz mich an einen Tisch vor ein Straßencafé, Chez Mathilde, in der Avenue Charles de Gaulle. Es ist tatsächlich Frankreich hier.
Ein wenig unterhalte ich mich mit einem Franzosen aus Paris. Er findet es witzig, daß ich das erste Mal in Frankreich bin, ausgerechnet in dieser Ecke des Landes. Sehr viel ist nicht los auf der Straße, hin und wieder kommen ein paar vorbei.
Und jetzt? Warum sitze ich eigentlich hier? Wieviel Uhr es wohl ist? 2 Uhr? Oder schon 4? Wo soll ich - he, dieses Gesicht kenn ich doch - halt - nicht vorbeilatschen! - ha, das ist ja Omar, der Argentinier von der Fähre vom Amazonas!
"Ola, Alemán, che, was machst du denn hier?!", er hat mich auch gleich erkannt und setzt sich dazu. Ja, jetzt haben wir uns aber was zu erzählen.
"... und du, bist du schon lange hier in Cayenne?"
"Paar Wochen. Heut ham sie uns aus unsrer alten Wohnung geschmissen... besser gesagt, wir sind freiwillig raus - kurz bevor ein Bulldozer kam und das Haus abgerissen hat."
"Wieviele seid ihr denn?"
"Ach, nicht viele. Ein Chilene, ein Peruaner, ich, und 2 Italiener. Aber wir haben schon wieder ein neues Haus gefunden."
"Und das - wird nicht vom Bulldozer abgerissen?"
"Nein. Ich hoffe, nicht... aber gegen Bulldozer versichert isses natürlich auch nicht..."
"Ist das weit von hier?"
"Nein, weit ist das nicht. Du weißt auch nicht, wo du jetzt bleiben sollst, wenn du gerade erst angekommen bist und niemand kennst hier... wenn du willst, können wir gleich mal hingehn, ich bin grad auf dem Weg dahin."
"Ja, klar, wenn ihr da noch einen Platz bei euch habt..."
"Na, auf einen mehr oder weniger kommt's auch nicht so an. Die Italiener gehen sowieso morgen wieder, erst nach Kourou, und dann nach Italien."
Ich erklär's dem Franzosen am Tisch, Omar spricht kein Französisch und der Franzose kein Spanisch.
"... ach, und da habt ihr euch jetzt genau hier zufällig wiedergetroffen?"
"Ja, genau."
"Und er ist Argentinier, und du bist - Franzose?"
"Oh, merci beaucoup pour les fleurs - vielen Dank für die Blumen für mein katastrophales Französisch - ich bin aus Westdeutschland."
 

Marie

Ungefähr in diesem Moment kommt Marie vorbei.
"A, wie geht's, Argentinier, pardon", setzt sich dazu, "so, heut hab ich kein' Bock mehr, mann, bin ich fertig, jetzt will ich erstmal ein Bier... e, madame, une bière, s'il vous plaît..."
"Ah, Marie, was, du arbeitest?", Omar fällt in so'n flaches Portugiesisch, wie er es schon auf der Fähre draufhatte.
"Ja, klar, was hast du gedacht?"
"In was arbeitest du denn?"
"Wie heißt das, ménagère -"
"Menagé... was ist das, versteh ich nicht -" (zu mir)
"Wenn sie saubermacht, wie heißt das auf spanisch... Wohnung saubermachen und so -"
"¿Quehaceres domésticos?"
"Ja, genau."
"Und das ist so hart?"
"Red nicht davon, ich will nichts mehr davon wissen. Wer ist das?", meint sie mich. Marie redet so ein Französisch-portugiesisch-Gemix.
"Ach, darf ich vorstellen: das ist Alemâo - das ist Marie."
"Hallo Allemand. Du bist Deutscher?"
"Ja. Und du bist Französin?"
"Mais non! Brasileira. Warum? Spreche ich so gut französisch? - Ey, Argentinier, stimmt es, daß sie euch heute rausgeschmissen haben? Hat mir Nicolas erzählt..."
Das Schönste ist die Sprache. Der Franzose gibt sogar einen aus - bleiben wir also noch ein wenig sitzen und unterhalten uns noch darüber, ob es für mich wohl eine Chance gibt, in Cayenne Arbeit zu finden. Wenn ich den Dialog auf deutsch schreibe, geht die Hälfte schon wieder bei raus.
4 Nationen sind also am Tisch, 2 Kontinente und 4 Muttersprachen. Der Franzose spricht französisch und ein wenig englisch. Omar spricht spanisch, und sagen wir, leicht gebrochenes Portugiesisch. Marie spricht portugiesisch und französisch, das heißt, sie spricht eigentlich beides gleichzeitig.
Während ich sonst mit Omar spanisch spreche, nehme ich nun portugiesisch, dann versteht es Marie auch, dann ist der Franzose außen vor. Marie, der Franzose und ich können zusammen auf französisch, dann muß es für Omar am Ende übersetzt werden. Englisch verstehen weder Omar noch Marie.
Es dauert nicht lange, dann reden wir alle so ein Mischmasch aus den 3 lateinischen Sprachen, so eine Art Ultra-neu-Latein... ein Außenstehender würde nur den Kopf schütteln, aber es geht erstaunlich gut, sich so zu unterhalten.
 

Ultra-neu-Latein

Ich werde diesen historischen Dialog jetzt im Original hinschreiben, wer ein paar Sprachen kann, wird vielleicht ein bißchen draus verstehn. Es ist keine hochgeistige Diskussion.
Französisch, portugiesisch, spanisch, englisch & deutsch. Es geht also damit los, daß ich nicht check, was artisan heißt, "Künstler" ja offenbar nicht.

Ich:   Artisan? O que é?
Marie:   Artisan - artesano.
Ich:   Je ne comprend pas ça. Qu'est-ce que c'est?
Franzose:  Artisan, tu ne sais pas ce que c'est, un artisan?
Ich:   Non.
Omar:   Artesano.
Ich:   Sí, ¿pero qué es? ¿Algo para comer?
Omar (lacht, Marie lacht auch):  No -
Franzose (zu Marie): Qu'est-ce qu'il a dit?
Marie:   Si c'est quelque chose à manger!
Omar:   No, no é pra comer. Artesano. Te pode dar trabalho. ¿No sabés que es un artesano?
Ich:   Que dá trabalho? ¿Pero no en artesanía?
Omar:   Nâo, no hace artesanías. El te da travalho.
Maire:   Oui, trabalho. Olha, tu viens hoje la nuit às sete horas a mia casa. Ahi tu parle avec David. David é artesano. Ele vem às sete horas, porai. Lá tu parle avec lui, que tu cherche du travail, que tu es allemand, que tu viens d'arriver ici... tout ça -
Ich:   El vive em tua casa?
Marie:   Dans mon apartamento, sim. E Nicolas aussi mora lá, nous sommes trois: Nicolas, David e eu. Nicolas aussi travaille là, no même chantier. Tu viens às sete horas, eu vou estar ahi, ahi te vou presentar à David, ahi tu parle avec David, que tu cherche du travail, et ça, ahi tu vai ver, ahi tu vai ter trabalho.
Ich:   E - trabalho de que?
Marie:   Trabalho em chantier.
Ich:   O qué é que vou ter que fazer?
Marie:   En chantier. Nâo sei que é o tabalho que têm lá - quelque chose en chantier.
Ich:   O qué é, enchantier?
Marie:   Chantier -
Ich:   Mas o qué é isso? É francés?
Marie:   Sim, é français - chantier.
Ich (zum Franzosen): Qu'est-ce c'est, un chantier?
Franzose:  Alors, un chantier, où l'on travaille, où travaillent beaucoup de gens... tu connais pas le mot?
Ich:   Eh - non. Chantier... Do you know the english word?
Franzose:  Chantier... non, je ne sais pas. Je ne le parle pas très bien. Par exemple, si l'on construit une maison, où travaillent beaucoup de gens...
Ich:   Construction place?
Franzose:  Ah, c'est l'expression anglaise?
Ich:   Eh - je ne sais pas... Baustelle vielleicht, tu ne parle rien d'allemand?
Franzose:  Ah, non, je regrette, et surtout pas pour traduir Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden..
Ich (zu Marie): O qué é chantier em português?
Marie:   Bah, je ne sais pas. Tudo mundo disse chantier.
Omar:   Chantier - lugar de construcción.
Ich:   Also doch Baustelle, sag das doch gleich. E é seguro que lá têm trabalho?
Marie:   Ah, bon, seguro nâo sei... mas tu fala pra ele, que tu cherche du travail, ele é artesano, ele ahi te dá trabalho.
Ich:   Qué? Será fácil isso?
Marie:   Oui, il dá travail pra muita gente...

Daß ich's nicht glaube, hab ich zu ihr noch gemeint. Daß ich's einfach nicht glaube, daß es so einfach sei, in einer wildfremden Stadt so schnell Arbeit zu finden.
So, und was heißt jetzt artisan? - Ganz einfach, das heißt artesano. David ist also artesano.
Um 7 soll ich heute abend zu ihrer Wohnung kommen, sie sei da und würde mich David und Nicolas vorstellen. David würde mir "ganz bestimmt" Arbeit geben können. Wir gehen ein paar Straßen weiter, sie zeigt uns ihre Wohnung, sogar mit Dusche - Omar und ich nutzen es gleich aus - und dann gehen Omar und ich erstmal zu "seinem neuen Haus" in die Rue Becker. Also mein erstes Zuhause in Cayenne.
Durch die knarzende Türe und über Bauschutt nach hinten, und dann so'ne morsche Holztreppe hoch, in den ersten Stock. Das Haus ist ganz aus Holz. Glasfenster hat es auch nicht.
Die Italiener sind nicht da, haben aber einen Besen organisiert, mit dem wir also erstmal ausfegen. 2 kleine Räume, keine Möbel. Aber ein mieser Köter im Nachbarhaus, der kein Bock hat, mit seiner dummen Rumbellerei aufzuhören.
 

Im Appartment bei David

und Nicolas

Abends um 7.00 dann wie verabredet zu Maries Appartment-Wohnung, ich klopf an die Tür, und - gleich die erste Enttäuschung: Marie ist nicht da.
"Du - bist David?"
"Nein, das ist Nicolas. Ich bin David."
Was soll's, dann erzähl ich's halt selber...  wo ich herkomme, das mit Marie, daß ich Arbeit suche, und so... die beiden machen Abendessen. Wo Marie abbleibt, wollen sie wissen. Wir unterhalten uns noch ein wenig, und ziemlich schnell meint David zu mir, "Ja, ab Montag hast du Arbeit. Ich geb dir Arbeit."
Übrigens alles auf französisch - daß David von Geburt her Chilene ist, erzählen mir andere Leute erst viel später. Seit 15 Jahren hat er die französische Staatsbürgerschaft.
Post hat er, irgendwas aus Paris, scheint ihm gar nicht zu gefallen. Endlich kommt Marie, total betrunken, legt ihnen 12.- Francs auf den Tisch, und macht der Welt Vorwürfe, wie wenig sie doch verdienen würde, alles sei so teuer hier. Kennen die beiden offenbar schon. Nicolas ist enttäuscht, hatte er aber geahnt. David sorgt sich immer noch wegen dem Brief aus Paris.
"Sag, die Post hier, ist die heute angekommen? - Ist die von heute?"
"Hä?"
"Ist die von heute, die Post?"
"Hä, was -?"
"Ach, laß sie doch, du siehst doch, sie ist -"
"Nein, ich will das jetzt wissen - Marie, he, die Post, sicher das kam heute hier an?"
"Hä, die Post?"
"Ja, dieser Brief? War der heute früh hier im Briefkasten?"
"Ja, klar, wann denn sonst..." - gefällt ihm überhaupt nicht.
"Was ist denn das? Wieso ist das denn so wichtig?", fragt Nicolas.
"Mit dem Gericht in Paris. Gibt Probleme. Scheiße ist das..."
Auch das noch. Sie haben schon genug Probleme. Sie werden wahrscheinlich zum 25. oder so aus dem Appartment müssen. Haben vor paar Tagen wohl 'ne zu laute Fete gemacht, und der Vermieter schmeißt sie jetzt raus.
Eins bringt Marie aber noch raus:
"Hab ich's dir nicht gesagt - mit David kannst du Arbeit finden! Hab ich nicht gesagt, David gibt dir Arbeit!"

Marie, blonde, kurze, gelockte Haare (deshalb hatte ich sie für eine Französin gehalten, heute nachmittag) ist aus Bahia. Keine 100 km von dem kleinen Ort Wenceslau Guimarâes entfernt, wo ich 4 Monate in einem Sägewerk gewohnt, Architekt gespielt und portugiesisch gelernt hatte. Und sie hat ein Haus an der Küste, südlich von Salvador, in Morro de Sâo Paulo... ja, stimmt, das hatten mir die Leute in Bahia auch immer gesagt, daß ich da unbedingt einmal hinsollte, das sei so schön da. Am Ende bin ich nur einmal auf der Insel Itaparica gewesen... oh, ich träume ja.
 

Pato

"... pero chucha, en esta casa no hay ni luz ni agua ni nada - esto es un escuat de emergencia -" Jetzt fällt's schon zum dritten Mal.
"¿Escuat? Was heißt escuat?"
"¿Escuat? - Skwat!"
Pato, Chilene, lange Haare, geborener Jesus Christ Superstar, ist kaum zu erkennen im dunklen Zimmer: nur die Straßenbeleuchtung der Rue Becker scheint ein bißchen durch's Fenster.
"Was, ist das englisch, squat - oder italienisch?"
"Nein, englisch, squatt. Das hier - ist ein squatt."
"Wie, diese Art Holzhäuser, die werden squatt genannt?"
"Nur in bestimmten Fällen", meint Omar, und lächelt.
"Was ist das jetzt, squatt?"
"Squatt - das hier, compadre, wie soll ich sagen, casa abandonada, wo welche illegal wohnen, keine Miete zahlen...", Pato hat sichtlich Schwierigkeiten mit der Definition.
Hausbesetzung würde ich sagen, das scheint in Südamerika aber so etwas wie normal zu sein: wer keine Miete zahlt, lebt im squatt.
Die Augen gewöhnen sich nur langsam an das dunkle Licht. Wir sitzen zu viert in einem kleinen Zimmer: Pato, Omar, ein Peruaner und ich, und unterhalten uns, auf spanisch.
Irgendwas geht von Pato aus, und es hat mit "fast immer guter Laune" und zufriedener Unzufriedenheit zu tun. Der Chilene ist seit über einem halben Jahr in Cayenne, und arbeitet zur Zeit auch im chantier  beim Madeleine-Krankenhaus.
"Ach, im Krankenhaus-chantier, da arbeitest du?"
"Ja -"
"Mir hat grad so'n Typ gesagt, daß ich da morgen vorbeischauen soll. Montag würde ich da anfangen zu arbeiten."
"Im Krankenhaus an der Madeleine? Dieser riesige chantier?"
"Ich kenn das noch nicht. Was machst du denn da?"
"Ha, Gräben ausheben, mit Spitzhacke und Schaufel... und was sollst du machen?"
"Weiß ich noch nicht so genau, er hat gesagt, irgendwas mit Maurer oder so -"
"Ach, dann ist es bestimmt mit David. Kannst du gut mauern?"
"Nein, ich habe keinen blassen Schimmer davon, aber ich muß es ihm sehr überzeugend verklickert haben, daß ich der Crack dafür bin. - Hab kein Geld, hab keine Ahnung, ich hab nur ein großes Maul... bin nur gespannt, wie lange es dauert, bis er das checkt. Und solange muß er mich ja ausbezahlen."
"Das könnte David sein. Weißt du, wie der heißt, der artesano?"
"Ja, David heißt der, wieso, kennst du den?"
"Ja, klar, jeder kennt den hier. Hey, Omar, hast du gehört, der arbeitet mit David! Ich hab auch schonmal für den gearbeitet. Vor paar Wochen... aber nur 3 Tage, danach hatte ich kein' Bock mehr."
"War es bei dir wohl genauso? Oder zahlt er dann nicht?"
"Doch, er zahlt. Doch, mich hat er ausbezahlt, anstandslos. Du mußt aufpassen mit den artesanos, es gibt da im chantier einige huevones , die zahlen einen nicht aus. Aber keine Angst, David zahlt."

200,- Francs am Tag, und nach 3 Tagen hatte er sich mit David verkracht, dann war Sense. Sollte das mit mir jetzt anders werden? Na, wenn schon. Auch mit 600,- Francs könnte ich mich eine Zeitlang über Wasser halten.
Die Italiener kommen rauf. Buona sera, comment ça va, welche Sprache wollen wir sprechen... was ihr wollt, italienisch, portugiesisch, englisch, französisch... also portugiesisch. Sie waren die ganze Zeit in Brasilien, morgen wollen sie nach Kourou , und dann nach Italien. Die Nachbarn hätten übrigens rumgemosert, weil wir hier sind, meinen sie.
Omar gefällt vor allem der miese Köter nicht, der wird auch die halbe Nacht weiterbellen. Omar und Pato gehen zu einem anderen squatt, sie nennen es den escuat latino. Dort leben noch andere Spanisch-Südamerikaner.
Mit dem Peruaner bleibe ich heute nacht in der Rue Becker, und mit den beiden Italienern, die zu zweit in der Hängematte schlafen. Mücken hat's, die Italiener fühlen sich auch genervt.
Und so klingt der 8. Februar 1990 mit einem langsam müder werdenden Hundegebell aus... was bleibt, ist die Musik von Picnic at Hanging Rock, und das Gesiepe der Moskitos... Cayenne, Französisch-Guyana.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Squatt in der Rue Becker, heute mit vernagelten Türen

... ziiiiiiiiiji...ziiiiiiih... ziiiii - iiiiji - ziiiii... ih ...ziiiiiiji...ziiijiiii... weniger sind's als in Saint Georges... ziiiijiii - jiiiih... ziiiiii... ziiiiiiiiiiiii - ziiii... In Saint Georges hatte ich auch kein Moskito-Netz, blöd war das. 20 % der Bevölkerung hatten dort Malaria. Als ich da war, hat's zum Beispiel den Pastor aus dem Nachbarhaus erwischt. Malaria ist mies... ziiiii... iiiijiiii... ziiiijii... ziiiiihiiih - iiiihiii... ziiiiiiiji... Die Moskitos hier kommen am Abend raus und sind die ganze Nacht aktiv, bis Sonnenaufgang, dann ist Ruhe. In Saint Georges hatte ich mich fast schon dran gewöhnt... ziiiii... ziiii - iiii... ziiiiii - iiiii - iih ... iiii ... jiiii ...

Freitagmorgen, 9.2.1990. Ein sonniger Tag. Ich gehe zuerst mal zu Marie, es gibt Frühstück, sogar mit Kaffee, dann beschreibt sie mir den Weg zum chantier an der Madeleine, wo Nicolas und David arbeiten.
 

Auf dem chantier

Es ist eine riesengroße Baustelle mit 3 Kränen - und erstmal finde ich den Eingang nicht. Es ist gar nicht so einfach, zu erkennen, was bei so einer riesigen Baustelle hinten und vorne ist.
 
 
 
 
 

Während ich noch überlege, was ich sagen soll, wenn sie fragen, "was für'n David", kommt einer genau auf mich zu - es ist der Gabelstapler-Fahrer... ein Weißer, hat blonde, kurze Haare... oh, Nicolas!
"Ja, warte hier am Eingang, ich komme gleich!", ruft er mir zu, er scheint wenig Zeit zu haben.
Dennoch, er sagt gleich David bescheid, nie hätte ich den gefunden, und David zeigt mir, wo ich am Montag anfangen soll.
Ein Maurerjob, mit sehr großen Ziegeln, carrobrics  nennen sie die, er will mir zeigen, wie das geht.
"Ich nehme dich auf Probe. Wenn du nicht gut arbeitest, fliegst du sofort wieder raus, das muß dir klar sein. Also bis Montag!"
Danach latsche ich noch ein bißchen über den chantier, und treffe Pato, beim Gräben ausheben, irgendwas im Kanalsystem. Er arbeitet zusammen mit Fernando, der ist auch Chilene, und wohnt auch im escuat latino.
"Hey, Pato! Tatsächlich, mit der Spitzhacke in der Hand!"
"Ja, das hast du wohl nicht erwartet, wir sind hier das Monument der Arbeiterklasse!"
"Die arme Arbeiterklasse! Ihr macht euch ja nicht gerade kaputt hier."
"Nein, der Chef ist gerade nicht da, dann ist hier immer lockere Welle... wenn dir der Job bei David nicht paßt, kannst du ja bei uns mitmachen."
Komisch, dazu hätte ich irgendwie gar keine Lust. Vielleicht wird das mit dem Gräben ausheben langsam zu alt, es scheint hier ja nicht anders abzugehen als in Bolivien. Ich entscheide mich, am Montag mit David anzufangen und zu versuchen, so lange wie möglich durchzuhalten, bis er mich in hohem Bogen rausschmeißt.
Das absolute Ziel meiner Träume wäre hier, tatsächlich eine feste Arbeitsstelle zu finden, mit geregelter Arbeitszeit und so weiter. Alltag eines Arbeiters, einfach mal mitmachen, und dafür noch Geld kriegen. Ich finde, es ist eine sehr ausgefallene Idee. Nun gut, ein Wuschtraum, fern von jeder Realität.
Und zwar gar nicht so wenig Geld: 200,- Francs dürfte der höchste Tageslohn im ganzen Kontinent sein, den du für Gräben-ausheben oder Mauern-hochziehen bekommen kannst.

Pato hat eine Freundin in Mannheim, Julia, und würde ihr gerne einen Brief schreiben. Hat aber keine Briefmarken, und Geld dafür erst recht nicht.
"Aber Pato, du bist hier doch nicht irgendwo, du bist hier in Frankreich, EG, Europa... Zivilisation! Du kannst doch einfach Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. draufschreiben! Du brauchst keine Briefmarken."
"Was - ??"
"Gebühr bezahlt Empfänger. - Taxe paie destinateur. Schreibst du drauf - fertig." - er glaubt gar nicht, daß es so etwas überhaupt gibt.
"Du meinst, einfach draufschreiben, daß der Empfänger das bezahlt? Und nichts weiter?"
"Ja, genau."
"Nein, also in Chile geht das jedenfalls nicht. Dort wäre sowas undenkbar..."
Fragt er extra bei der Post nach. Natürlich geht das.
Pato und die anderen Latinos sind auch sehr mißtrauisch gegenüber dem Briefkasten an der Avenue Charles de Gaulle, obwohl die Entleerungszeiten genau angegeben sind. Bis sich einer einmal mal hinstellt, wartet und überrascht ist, als der Kasten tatsächlich pünktlich geleert wird.

Inzwischen ist Sonntag, und ich bin nun auch mit Pato, Omar und Fernando im escuat latino. Rue Lallouette, Ecke Boulevard Jubelin. Im oberen Stockwerk eines dreistöckigen Hauses, es wohnen etwa 20 Spanisch-Amerikaner in den 4 Zimmern des wackligen Holzhauses mit Wellblechdach und einer sehr brüchigen Holztreppe, die außen angebracht ist.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Glasfenster, Strom oder fließend Wasser hat es natürlich auch nicht. Dafür hat es im luftigen 2. Stock auch keine Moskitos. Und es sind lauter bunte Bilder an den Wänden in unserem Zimmer, in Ölfarben mit Fingern gemalt. Sie sehen sehr wild aus.
 

Der erste Arbeitstag,

mit David

Montag, 12. Februar.
Aufstehen mit Pato und Fernando, wir gehen zusammen zum chantier. Wir sind ein wenig spät, aber egal, es ist Montag.
David kommt um halb 8. Er zeigt mir, wie Türrahmen im Mauerwerk fixiert werden, macht mir vor, wie es geht, danach bin ich den ganzen Tag über bei dieser Arbeit. Ich habe Glück gehabt, daß ich nicht mauern muß, nur Mörtel in Türrahmen reinschmieren.
Einen Arbeitsvertrag scheinen die Leute hier ja nicht zu bekommen. Wie das mit der Bezahlung aussieht, frage ich ihn.
"Kommt drauf an."
"Wie? Auf was kommt das drauf an?"
"Kommt drauf an. Wenn du gut arbeitest, zahl ich gut - wenn du schlecht arbeitest, zahl ich schlecht."
Pato meinte aber, 200,- Francs sei das mindeste, weniger dürfte er mir gar nicht zahlen. Den ganzen Vormittag pest David um mich rum, organisiert eine elektrische Mischpistole, und verschwindet irgandwann von der Bühne. Am Nachmittag um 3 will er nochmal vorbeischauen.
Nun, daß ich "gut" arbeite, glaube ich ja wohl nicht im Ernst. Ehrlich gesagt, bin ich froh, daß er um 3 nicht kommt, und um 4 auch nicht, um sich den Murks anzusehen, den ich hier fabriziere. Scheiße, ich kann es tatsächlich nicht.
Ein Brasilianer aus Paraná zeigt mir ein- oder zweimal, wie ich es machen soll. Und daß ich auf mein Werkzeug gut aufpassen muß, und es nach 5 Uhr gut verstecken muß. Weil alles geklaut wird. Die Mischpistole nicht, das sei Davids Job, die zu verstecken oder anzuschließen. Nur mein Werkzeug.
Ein paar Schwarze arbeiten auch für David, sie unterhalten sich in einer Sprache, die taki-taki heißt, verstehen aber auch deutsch (sie können holländisch) und englisch. Aus Surinam sind sie, und zwar genauso illegal wie die ganzen Brasilianer, die überall in chantier arbeiten.
Die Surinamies gehen um 5, ich gehe dann auch, wasche meine Kellen ab. Ich lege sie in den Eimer, den ich zwei Stockwerke tiefer in irgendeinem Raum im dunklen Kellergeschoß verstecke. Die Mischpistole lasse ich da. Paraná meint nochmal zu mir, ich solle sie stehenlassen.

Dienstag, 13. Februar.
2. Arbeitstag, diesmal bin ich pünktlicher, schließlich will ich wissen, ob David nochmal dagewesen ist und sich meinen Schrott angesehen hat. Keiner im squatt hat eine Uhr, aber kurz nach 6 schalten sie die Straßenlampe vom Boulevard Jubelin aus, dann müssen wir hoch.
7 Uhr. David ist nicht da. Er ist anscheinend auch tatsächlich nicht mehr gekommen, denn seine Mischpistole steht immernoch da. Aber ich weiß ja, was ich zu tun habe, ich mache also meinen Murks mit den Türrahmen weiter. Es ist die letzte Scheiße, aber ich muß durchhalten.
Der Paraná meint, das sei sehr ungewöhnlich, das sei nicht Davids Art, seine Geräte einfach liegenzulassen.
 

Praim

David meinte gestern zu mir, erst eine Tür, dann sollte ich 2 machen, dann 3 - am Ende meinte er, ich solle alle Türen in diesem Durchgang machen, 8 oder 9 sind das. Ein Scheißjob, ein mieser Fummelmurks, er selbst hatte es mir gestern wirklich bei der leichtesten Tür vorgemacht... "good morning, do you speak english?"
"Was? Do you speak electrish - yes, a paar Funken..." - mann, ich bin ja schon vollkommen blöd.
Ob ich der Chef hier sei, will Praim, ein Inder aus Guyana  wissen. Irgendwie verstehen wir uns vom ersten Moment an.
"Nein, ich bin zwar Weißer, aber es ist nicht direkt so, daß ich hier der Boss wär. Du mußt mit einem Typen sprechen, der David heißt, der ist jetzt nicht da... und das ist auch besser so."
"Was machst du denn da für einen Murks?"
Müll mache ich, das sehe ich auch selber, aber solange David nicht da ist, kann er mich ja nicht rausschmeißen.
Praim erzählt, daß er erst gestern aus Surinam gekommen sei, mit dem Boot, nachts, über den Grenzfluß. Er wohne in Surinam, in Paramaribo. Jetzt war er ein halbes Jahr in Surinam, aber davor habe er auch schon etliche Monate hier im Krankenhaus-chantier gearbeitet.
" - diese Wand hier habe ich gemacht, schau mal, und diese hier auch, und diese 2 Ecken..., paß auf, gib mir mal die Kelle, da kann ja kein Mensch zusehn, was du da machst. So macht man das, die Masse muß ein bißchen weniger feucht sein... wieso ist da Sand drin?"
"David hat mir das so vorgemacht."
"Das ist ein Depp, der dir das gesagt hat, daß da Sand reinsoll. Das hier - das heißt lacol", er rührt kurz was an, "gib mir mal den Spachtel -", nun versucht er sich an der Türe. Es gelingt ihm aber offenbar auch nicht so gut, wie er es sich vorstellte.
"Der Spachtel ist scheiße, du brauchst einen dünneren, wenn du das machen willst, mit dem hier geht das schwer. Kennst du Gilbert?"
"Gilbert? Who's that?"
"Das war mein Boss. Vor einem halben Jahr. Aber vielleicht ist der ja wieder weg hier."
Ein wenig spachtelt er noch rum, dann überläßt er die Türen wieder mir und geht. Auf einmal kommt er jedoch wieder, mir einem freudestrahlenden Gesicht:
"Da - du siehst die zwei da vorne in dem Gang?! Das war mein Boss, Gilbert, der eine, und der andere ist sein Sohn, mit dem habe ich ein Jahr lang gearbeitet! Gilbert ist ein guter Boss!"
Er geht zu ihnen hin, oh, sie kennen ihn tatsächlich, sprechen kurz mit ihm, und suchen dann den Paraná. Praim kommt nochmal zu mir:
"Ab morgen habe ich hier Arbeit! Gilbert kauft mir bis morgen die Geräte, und Schuhe und Schutzhelm, morgen fange ich hier an! Ich arbeite für Gilbert! Gilbert ist ein guter Boss!"
Pato meinte, das sei obligatorisch, jeder artesano müsse den Arbeitern Sicherheitsschuhe und Schutzhelm zur Verfügung stellen. Ich arbeite zur Zeit so, wie ich in Macapá mit dem Fahrrad angekommen bin: in Shorts, T-Shirt und Strandsandalen.
 

Das Rätsel um David

Der Paraná kommt an, mit Gilbert und Patrick, seinem Sohn. Sie suchen mich. Ich kann französisch und soll übersetzen, was Gilbert dem Paraná sagt.
"Also, David hat Probleme. Alle, die für David gearbeitet haben, arbeiten ab sofort für mich. Alles klar?"
"Wie, kommt David nicht mehr? Wir haben für David gearbeitet! Seit Monaten schon!"
"Ich sage, David hat Probleme. Ich weiß nicht, ob er noch kommt - ich bin Davids Chef. Und solange er nicht da ist, arbeiten die von David für mich. Wir müssen jetzt gehen, ich komme vielleicht um halb 5 nochmal wieder."

Tja, das war dann wohl die Nachricht des Tages. Mir ist selber in dem Moment noch gar nicht klar, was für eine Lawine an Reaktionen die jetzt auslösen wird. Die große Befürchtung, die dem Paraná sofort hochkam, lag darin begründet, daß David uns jetzt wohl nicht mehr ausbezahlen würde.
Cayenne ist nicht groß und die Nachrichten um David verbreiten sich schnell. David, seit über einem halben Jahr als artesano in Französisch-Guyana, hat tatsächlich Probleme mit der Justiz in Paris: er ist heute morgen von der Polizei festgenommen worden und wird noch diese Woche nach Paris geflogen werden. Die Nachricht schlägt überall ein wie eine Bombe.
Niemand kann sich vorstellen, was für Probleme er dort genau hat. Einige vermuten, Drogen. Nicolas, der 3 Wochen mit ihm zusammengewohnt hat, kamen einige Sachen verdächtig und rätselhaft vor. David habe eindeutig mehr Geld verbraucht als er überhaupt ausgegeben haben könne. Er müsse große Mengen Geld irgendwohin überwiesen haben. Von Nicolas hat er sich zum Beispiel einmal 3000 Francs geliehen, und die sind weg, das weiß Nicolas. David schuldet allen möglichen Leuten hier Geld.
Der artesano David arbeitet für die Nord-France, das ist eine multinationale Baufirma, die chantiers auf der ganzen Welt hat. Nicolas weiß, daß David vorhatte, in einigen Monaten nach Kenia zu gehen. Er selber war auch schon in Afrika gewesen, er in Senegal. Er meint, es sei sehr unwahrscheinlich, daß David wieder hierher zurückkäme.
Für mich wird es praktisch bedeuten, daß ich gestern und heute vormittag hier umsonst gearbeitet habe, und ab jetzt arbeite ich für Gilbert und Patrick. Möglicherweise ist das aber sogar noch besser, denn Praim meint, Gilbert sei immer sehr anständig und zuverlässig gewesen mit der Bezahlung. Den Lohn zahle er monatlich, und schon nach 2 Wochen gebe es einen Vorschuß.
Bis 5 arbeiten wir weiter, Gilbert kommt nicht mehr. Aber Patrick, und bringt ein wenig Geld, vielleicht als Zeichen des guten Willens. Ich freue mich, denn bis jetzt hatte ich fast ohne zu essen gearbeitet.
Nicolas und Marie müssen innerhalb von 24 Stunden aus dem Appartment, sie kommen kurzfristig bei einem Franzosen unter. Nicolas und Marie hatten vor 3 Wochen auch in dem squatt mit Pato und Omar gewohnt, aber als das mit den Abrißdrohungen dort akuter wurde, sind sie dann zu David. Den kannte Nicolas von chantier. Pato ging in dieser Zeit zu Fernando in den escuat latino, nur Omar und der eine Peruaner blieben dort bis zum bitteren Ende, mit Bulldozer, vom 8. Februar.

Mittwoch, 14. Februar.
3. Arbeitstag. Gilbert hat also alle Arbeiter von David einfach übernommen - ich erzähle natürlich niemandem, daß ich für David nur auf Probe gearbeitet habe. Und erst recht nicht, daß er mich ohne jeden Zweifel schon längst wieder gefeuert hätte, wenn er meinen Müll gesehen hätte.
Die Gruppe, das sind etwa 10 Leute. Ein paar Brasilianer, die Surinamies, ich, und Rafael. Rafael ist Peruaner, aus Iquitos.
Und Praim. Praim fängt heute an, sie haben ihm tatsächlich auf der Stelle Geräte, einen gelben Schutzhelm und Schuhe besorgt. Er macht das mit den Türen weiter, er sagt, das sei zu schwer für mich. Ich bin sehr froh, daß ich woanders hinkomme und carrobrics schleppen soll. Danach soll ich Schutt aus irgendwelchen Räumen beseitigen, das geht auch einfach. Es ist gut, daß Praim mich von den Türen erlöst hat.
Die Mehrheit auf dem chantier sind Haïtianer und Brasilianer. In unserer Gruppe sind aber keine Haïtianer.
Bei Pato und Fernando ändern sie das System: nicht mehr Tageslohn, sondern nach Leistung wird jetzt bezahlt - sie geben beide auf. Pato will sich neue Arbeit suchen: "Lieber frei und arm sein, als Sklave mit Gold", ist einer seiner Lieblingssprüche, die er in solchen Situationen draufhat.
Fernando will sein Geld abwarten und dann ab, nach Brasilien, Kolumbien, wer weiß es.

Donnerstag, 15. Februar.
4. Arbeitstag. Heute wieder Bauschutt wegräumen. Alles saubermachen. Es fängt fast an, mir Spaß zu machen... Aber es liegt irgendwas in der Luft... die Musik von Picnic at Hanging Rock... es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis wir alle rausfliegen. Und ich als erster. Auch Rafael gefällt die Situation überhaupt nicht. Rafael arbeitet schon bald seit einem Jahr in Cayenne, meistens hier auf dem chantier.
Langsam verstehe ich auch das System hier. Die Baufirma, also die Nord-France, vergibt immer gewisse Aufträge an die artesanos. Sachen, die in wenigen Wochen oder Monaten zu erledigen sind. Ein Vertrag wird abgeschlossen, eine Summe wird festgelegt. Wie und mit welchen Leuten die artesanos dann ihren Teil erfüllen, ist ihre Sache. Wenn die Firma sieht, daß die Arbeit gut vorankommt, zahlt sie einen Vorschuß.
Gilbert wird jetzt wohl Davids Vertrag übernehmen. Wieviel Vorschuß David wohl schon bekommen hat? Blöder Gedanke. Er hätte die letzten Stunden tatsächlich nutzen können, das ausgezahlte Geld noch schnell auf die Seite zu schaffen. Lieber nicht dran denken.
Um 5 sind wir wieder fertig, und am Abend sitzen Pato, Fernando, Omar und ich wieder zusammen im escuat latino und unterhalten uns.

Ein bißchen Geschichte.
Pato und Marie kennen sich von Bahia, von Morro de Sâo Paulo, schon 1986 war er einmal dagewesen. Marie hat dort ein Ferienhaus. Pato lernte dort Julia kennen, die nach dem Abitur nach Brasilien gegangen war, und mit ihr ist er dann viele Monate quer durch ganz Südamerika gezogen, bis in die Karibik. Sie ging irgendwann wieder nach Mannheim, Sprachen studieren - er kam bis nach Kalifornien, blieb dort einige Zeit, und ging dann wieder nach Südamerika.
Marie ist in Bahia verheiratet, in Iaçu, mit einem Chilenen. Der arme Typ, meint Pato, und sie hat sogar 2 kleine Kinder. Vor ein paar Jahren ist sie auch schon einmal einfach los, eines Morgens, sie wollte nur schnell Zigaretten holen gehen, und kam ein halbes Jahr später aus Paraguay wieder.
Nicolas arbeitete in Senegal, hatte aber irgandwann keinen Bock mehr auf Afrika und ging nach Brasilien. Und hatte dort nichts besseres zu tun als sich in Marie zu verlieben, ausgerechnet in Marie, das Leben ist ja gnadenlos.
Letzten April oder wann, es muß eine Romeo-und-Julia-Szene gewesen sein in Iaçu, als Nicolas Marie praktisch entführt, dem Ehemann entrissen und mit nach Französisch-Guyana genommen hat. Wo sie dann im Juli ankamen.
Pato kam im August nach Cayenne, auch mit dem Boot vom Oiapoque. Nicolas und Pato kannten sich vorher nicht.
Ich betrachte immer wieder diese unruhigen Bilder an den 4 Wänden im Zimmer - doch sie sagen mir irgendwie nichts. Sie müssen von einer einzigen Person gemalt worden sein.

Freitag, 16. Februar.
Wir arbeiten hart, bis um 11.00 Uhr, und dann ist es soweit. Gilbert kommt, mit Patrick. Er hält die Arbeit an, Ende der Vorstellung, die Arbeitsgruppe wird aufgelöst, Bezahlung heute nachmittag. Eigentlich hatten wir schon gestern damit gerechnet, dafür kommt es aber noch schlimmer, als wir befürchtet hatten.
Große Diskussion. Ich muß wieder übersetzen. David sei mit über der Hälfte des ihm anvertrauten Geldes in den Knast gegangen. Nur das Rest-Geld habe Gilbert behalten, und das werde er jetzt versuchen, halbwegs gerecht aufzuteilen.
Paraná und Rafael werden über 1000,- Francs  verlieren. Mir zahlen sie 600,- Francs für 4 Tage Arbeit, und die Show für heute war umsonst. Und damit sind wir alle in hohem Bogen rausgeflogen.
 

Ein wenig Hoffnung

Nicht, ohne daß ein schwacher Schimmer Hoffnung bleibt: am Montag soll ein neuer artesano anfangen, ein Brasilianer, Carlos. Morgen um 10.00 Uhr will der hier mit Gilbert den Vertrag abschließen. Das erfährt Paraná, und übernimmt gleich die Initiative, will auch da sein, morgen. Ja, ich könne auch mitkommen, "zum übersetzen". Doch - er hat recht, es ist eine Hoffnung. Es ist nicht alles aus, ich kann wieder mit einer Hoffnung nach Hause gehen.

David kam im September. Niemand anders als Gilbert selber hatte ihn hierhergeholt, aus Frankreich. Er hatte ihm die Flugreise bezahlt, die Appartment-Miete, alle Ausgaben. David arbeitete von Anfang hier im Madeleine-Krankenhaus.
Rafael erzählt mir, David sei am Anfang der einzige gewesen, der Ahnung hatte, als das mit den großen carrobric-Ziegeln losging. Alle anderen hier - er, der Paraná, die anderen Brasilianer, alle hätten das von David gelernt.
Pato hatte ein paar Tage mit David, Nicolas und Marie im Appartment gewohnt, da sei er aber schnell wieder raus, weil sie nachts immer bis 2 Uhr wie die Löcher gesoffen hätten, und es ihnen dann allen bei der Arbeit entsprechend schlecht ging. Alle sagen, David sei starker Alkoholiker.
"Vielleicht hat er das Geld in Alkohol umgesetzt?", meine ich zu Nicolas.
"Nein, das war zuviel. Er kann es nicht alles in Alkohol umgesetzt haben. Ich habe gesehen, was er für ein Zeug säuft, das war nie so teuer. Das Geld muß woanders hingegangen sein."

Die Einheimischen hier sind Schwarze, und es ist ganz schön was los auf den Straßen. Ich gehe wieder zum squatt.
Ich bin glücklich, daß sie mir heute 600,- Francs ausbezahlt haben. Mein Etappenziel habe ich erreicht: mit dem Geld komme ich, wenn ich sparsam bin, etliche Wochen aus. Und ich habe eine Hoffnung. Eine Hoffnung für die Zukunft... für eine bessere Zukunft, in Gleichheit und Gerechtigkeit... ich sollte feiern, doch das tun heute abend genug andere für mich: in Südafrika ist heute Nelson Mandela freigelassen worden.

Am Samstag vormittag komme ich zu spät zum chantier, und habe das Glück eines Anfängers: ich komme zu Gilbert, Carlos und Paraná, die sich gerade zusammensetzen, den Job auszuhandeln. Paraná meint, er nehme sich 3 Brasilianer und Rafael, also 4 als Maurer, und einen Helfer. Carlos meint, das sei okay, aber als Helfer, da will er seinen cunhado für. Ich weiß nicht, was das auf deutsch heißt, wörtlich ist es irgendwas angeheiratetes Verwandtes, aber Carlos meinte "Freund".
Paraná gefällt das aber mit mir, weil ich ihm immer übersetze, was Gilbert sagt. Er meint zu Carlos, es gehe ja auch mit 2 Helfern, und setzt mich eigenmächtig mit auf die Liste für Montag. Er fragt Carlos aber nicht nach seinem Einverständnis dafür.
Die Spannung am Sonntag besteht jetzt also darin, ob ich am Montag tatsächlich da anfangen kann, und ob sie mich behalten. Carlos meinte übrigens, er würde am Montag nicht kommen. Hoffentlich kommt er auch wirklich nicht.
So erwarten wir mit Spannung den Beginn der nächsten Woche. Fünf sind wir inzwischen im squatt, und keiner hat Arbeit. Marcelo, ein 20jähriger Chilene, kam am Dienstag, frisch aus Santiago. Auch er kam mit dem Boot vom Oiapoque. Langsam geht es ihm wieder etwas besser. Er liegt immer noch in Patos Hängematte, wir bringen ihm das Wasser hoch und ein wenig zu essen.
Es fällt mir schwer, die Bilder an den Wänden zu verstehen. Zu Pato passen sie irgendwie auch nicht. Sie würden auch gar nicht passen zu der Musik von Picnic at Hanging Rock.
 

Der zweite Montag in Cayenne

Montag, 19. Februar.
Die erste Überraschung gleich am frühen Morgen: Carlos' cunhado kommt nicht. Das ist mein Glück, so kann heute erstmal ich als Helfer arbeiten.
Von den Surinamies, die am Freitag auch alle nach Hause wanderten, läßt der Paraná keinen einzigen mit in die Gruppe. Weil er rassistisch ist, die Schwarzen seien alle faul und würden nicht arbeiten.
Praim läßt er auch nicht. Ich sage ihm, daß Praim doch Inder sei, und von Gilbert die Sachen bekommen hat, aber er will ihn trotzdem nicht. Reine Vorurteile, dieser Rassist hat nie was mit Indern zu tun gehabt. Schade, es tut mir leid für meinen Freund aus Guyana. Praim spricht sogar hindu, bei sich zuhause sprechen sie das.
Der Paraná spricht auch englisch, gebrochen. Überall ist der schon gewesen, als Seemann, in Hamburg war er auch mal ein paar Monate. Einmal überrascht er mich voll, als er plötzlich mit griechisch anfängt: er hat 1 Jahr in Athen gearbeitet, und auf griechischen Schiffen. Nur französisch kann er nicht.
Die Arbeit gefällt mir besser als letzte Woche. Immer wenn ich Zement aus dem Lager organisiere, fährt mir Nicolas den mit dem Gabelstapler rüber.
Hoffentlich kommt der cunhado auch morgen nicht. Praim kommt hin und wieder vorbei, mit Schutzhelm, Arbeitsschuhen und Werkzeug, schaut sich auf dem chantier um. Unter Gilbert direkt kann er leider nicht arbeiten.
 

Die schwarze Stunde im

Nachbar-squatt

Am Abend gehe ich, wie immer in Strandsandalen, nochmal kurz zu einem anderen squatt, einen Block weiter, wo auch lauter Chilenen wohnen. Es ist dunkel, die Wege um die Häuser sind nicht beleuchtet. Wir trinken etwas Tee, dann stehe ich auf und will aus der Türe gehen, bleibe stehen, drehe mich um, als hätte ich etwas vergessen, und gehe noch einmal in das Zimmer.
Nein, vergessen habe ich nichts. Ich gehe wieder hinaus, den dunklen Weg entlang, und kurz vor der Gartentür passiert es.
Ich haue in der Dunkelheit voll mit dem großen Zeh gegen eine Betonschwelle. Es tut sofort höllisch weh, ich krümme mich vor Schmerzen. Pato und Marcelo sind auf der Stelle da, tragen mich wieder in das Zimmer. Scheiße, hoffentlich ist das jetzt nicht gebrochen, denke ich, ich wüßte gar nicht, was ich da machen sollte.
Aber der Schmerz läßt nicht nach, der Zeh schwillt ganz rot an, ich kann die ganze Nacht nicht schlafen. Oh je, jetzt ist es wohl aus. Alle meine Träume.

Dienstag, 20. Februar.
Bald wird es dämmern. Kann ich auftreten? - Ja, ich glaube, es geht. Mach ich's? - Ja, komm, was hab ich zu verlieren. Ich stehe extra früher auf, und humpel mit dem total schmerzenden Fuß die 3 Kilometer die Route de la Madeleine entlang, zum chantier.
Zunächst hänge ich ein bißchen bei Rafael rum, der Paraná sieht mich die ersten 2 Stunden zum Glück gar nicht. Daß ich fast nicht laufen kann, fällt ihm erst noch später auf.
Aber es kommt noch besser: Weder Carlos noch sein langsam schon berüchtigter cunhado lassen sich blicken. Und irgendwann schließlich meint der Paraná zu mir:
"Ja, es sieht ja so aus, als ob der cunhado nicht kommt. Also machst du das jetzt an seiner Stelle."
Es ist nicht zu glauben: ausgerechnet heute, wo ich fast nicht laufen kann, nichts gefrühstückt habe, nach einer Nacht ohne Schlaf, ausgerechnet heute habe ich einen sicheren Arbeitsplatz.
Und Praim auch! Er versucht es heute wieder, hängt die ganze Zeit bei uns rum. Solange, bis ihn der Paraná, wohl um ihn loszuwerden, probeweise etwas fieses, schwieriges hinbauen läßt. Aber Praim kann die Chose - und zwar besser als der Paraná selber. Und seitdem hat auch Praim einen sicheren Arbeitsplatz.

Die Schmerzen im Fuß lassen in den nächsten Tagen langsam nach, sehr langsam nur, aber gebrochen ist der Zeh zum Glück nicht. Am nächsten Tag komme ich, wie vorgeschrieben, an ein Paar Arbeitsschuhe, am Donnerstag bringt mir Gilbert einen weißen Schutzhelm mit. Es gefällt mir immer besser auf den chantier. Ich als Arbeiter.

Jeden Morgen mit dem Sonnenaufgang aufstehen, Wasser aus der Flasche ins Gesicht, losgehen, 3 Kilometer, und auf dem Weg zieh ich mir ein Baguette mit Ölsardinen rein. Fließend Wasser gibt es auf dem Friedhof, 2 Blocks vom squatt.
Gearbeitet wird von 7-17 Uhr, Samstags genauso. Zu Mittag mache ich mir Müesli. Das kennen die Latinos nicht, und klauen mir auch nicht die Zutaten, während ich im chantier bin. Haferflocken, Nüsse, Rosinen, Maniokmehl, Milchpulver. Nur der Zucker wird immer geklaut. Abends eine schöne kalte Dusche im chantier, ich ziehe das gewaschene T-Shirt naß wieder an, es trocknet auf den Nachhauseweg. Es ist immer sehr warm hier. Nachts kühlt es nicht unter 25° C ab. Zum schlafen genügt ein Bettlaken als Decke.
Unterwegs gehe ich noch bei einer Bäckerei vorbei, wo ich zu meiner Freude eine Marktlücke entdeckt habe: für 1 oder 2 Francs geben sie mir die alten Baguettes von gestern, wenn welche übriggeblieben sind. Manchmal ist es ganz schön viel, dann hat der ganze squatt was davon. An sowas kommst du natürlich nur, wenn du die Verkäuferin auf französisch fragen kannst.

Besonders Pato und Marcelo leben tagelang nur von diesem Brot. Marcelo hat es schwer, Arbeit zu finden, weil er nur spanisch spricht. Und Pato...
Pato wartet erst ab, bis sie ihm seine 2000,- Francs ausbezahlen. Dann sehen wir ihn 10 Tage lang praktisch nicht... nein, weniger als 10, dann ist das Geld weg. Nix mehr übrig, er muß sich neue Arbeit suchen.
Fernando kassiert auch, holt sich aber für das Geld ein paar Dollar und ein Ticket nach Saint Georges, und reist weiter, nach Belém... nach Manaus und vielleicht nach Kolumbien. Oder nach Sâo Paulo und vielleicht nach Chile, sagen andere.
Der Besitzer des Hauses, in dem Marie und Nicolas wohnen, kommt kurzzeitig nach Cayenne. Es ist ein Franzose, der auf der Karibikinsel Martinique zuhause ist. So müssen sie beide schnell raus. Nicolas nimmt seine Hängematte und pennt etliche Tage im chantier, und Marie kommt am

Samstag, 24. Februar
zu uns ins Zimmer. Marie und Nicolas hatten in den vergangenen Wochen, aber auch bei David schon, sich öfter gestritten, sogar geschlagen. Vor allem Marie.
Nicolas erzählt, Marie würde unmöglich, wenn sie betrunken sei, richtig aggressiv. Und das hat wohl mit der Zeit immer mehr die Beziehung verletzt.
Vielleicht hat es mit Französisch-Guyana zu tun: es ist kein nettes, freundliches Land hier, das sagen hier alle Ausländer. Du hast wirklich auf Schritt und Tritt das Gefühl, du bist hier bei den Nachfahren der Gefängniswärter. Das Land war französische Strafkolonie, bis Anfang dieses Jahrhunderts. Nein, es ist kein gutes Land zum Leben.
Marie ist am Samstagabend ziemlich blau und pennt sich den ganzen Sonntag über erstmal aus. Am Montagvormittag wird sie wieder zur Arbeit gehen.
 

Ehemalige Strafkolonie

Ja, was ist das, Französisch-Guyana? Was die Atmosphäre macht, sind die Ausländer. Kaum einer in den ganzen squatts hat Kontakt zu Einheimischen. Die mögen die Ausländer auch gar nicht.
"Wo kommst du her, was willst du von uns", diese Einstellung begegnet auch den Franzosen aus Paris. Die nennen es Rassismus. Aber nur die Schwarzen sind so drauf, nicht die Indianer aus dem Hinterland. Die sind viel freundlicher.
Ein französischer Unternehmer aus Nizza meinte zu mir, Paris wäre besser dran, die einfach frechweg in die Unabhängigkeit zu entlassen. Das war zynisch, denn auf einen Schlag würden sämtliche Ausländer (das ist die Mehrheit der Bevölkerung), Franzosen und ein Großteil der Einheimischen Schwarzen das Land verlassen, vielleicht 90 % der Bevölkerung.
Andere nennen sie die reichsten Schwarzen der Welt, weil sie alle Autos haben. Produziert wird in diesem Land außer einigen wenigen Milchprodukten, die den Eigenbedarf nicht decken, nichts. Rein gar nichts. Die Supermärkte sind voll mit Importwaren aus allen Ländern der Erde.
Nicht nur die Raketenbasis in Kourou, sondern auch alles andere wird mit Geldern aus Paris gebaut. Die Latinos und Brasilianer regen sich auch auf. Pato:
"Wer baut ihnen zum Beispiel das neue Krankenhaus in ihrer Hauptstadt? Alles Ausländer! Ich hab noch nie einen Einheimischen im chantier gesehen!"
Doch, einer ist da, ein Kranfahrer. Der ist auch ganz nett. Ein Einheimischer unter vielleicht 200 Arbeitern. Das heißt, einen zweiten gibt es noch, aber der ist Indianer.
 

 Sprachenvielfalt auf dem Bau

Wer sich die Geschichte mit dem Turmbau von Babylon ausgedacht hat, die haben wohl auch keine Ahnung gehabt, wie es auf einer Großbaustelle zugeht, wo Leute aus allen denkbaren Nationen arbeiten. Die Lösung des Sprachproblems ist viel einfacher, als ich es mir vorgestellt hätte.
Zunächst sind die Arbeiter allein aufgrund des Konkurrenzsystems gezwungen, sich gegenseitig zu verstehen. Und dann gibt es immer einige, die mehrere Sprachen sprechen. Trotz des ganzen Sprachwirrwarrs auf dem chantier beeinträchtigen Sprachschwierigkeiten die Arbeit so gut wie überhaupt nicht.
So sprechen nur die Franzosen und die Brasilianer meist nur eine Sprache (französisch, portugiesisch). Einige Franzosen sprechen auch englisch, Nicolas portugiesisch, der Chef vom chantier spricht spanisch.
Die aus Haïti sprechen kreol und französisch. Die aus Surinam sprechen taki-taki, englisch und holländisch. Die aus Guyana englisch, viele auch taki-taki, manche hindu, wie Praim. Die Spanisch-Amerikaner sprechen spanisch und portugiesisch. Einige sind aus Santa Lucia (Karibikinsel), die srechen englisch, können aber auch kreol. Die Architekten und Bauchefs sind Portugiesen, sprechen portugiesisch und englisch oder französisch, und gewisse Abenteurer, wie der Spanier oder der Deutsche, die sprechen alles zusammen.
Einige Brasilianer sind schon lange hier, die sprechen dann auch kreol. Kreol ist auch eine lateinische Sprache, das haben die Schwarzen aus französisch entwickelt, in Haïti. Taki-taki ist eine Mischung aus 30 % englisch, 30 % holländisch, afrikanischen und indianischen Elementen. Praim macht es Spaß, mir ein wenig davon beizubringen, weil der Paraná das nicht versteht.
 

Der Anschlag auf Marie

Montag, 26. Februar.
Um 12.00 Uhr - ich bin im chantier, und Nicolas natürlich auch - kommt Marie von der Arbeit, geht hoch, in unser Zimmer im squatt. Omar und Marcelo sitzen in einer Ecke des Zimmers und unterhalten sich.
Es kommt eine Chilenin in das Zimmer im zweiten Stock. Diese Chilenin wohnt im anderen squatt: dort, wo ich mir an dem Montag den Zeh angehauen hatte. Sie beschuldigt Marie, ihr ziemlich viel Geld gestohlen zu haben. Die Chilenin ist recht bekannt, aber nicht sehr beliebt. Sie arbeitet als Prostituierte in Stadtviertel "La Crique". Es gehe um etwas über 10000 Francs.
Es kommt zu einer Streiterei, die Chilenin wird lauter, Omar und Marcelo verlassen das Zimmer, und gehen runter. Irgendwann zückt die Chilenin plötzlich eine Waffe, und Marie stürzt sich in ihrer Not blitzartig aus dem Fenster.
Polizei, Krankenwagen - Marie schwerverletzt mit Schock ins Krankenhaus. Die Chilenin kommt für einen halben Tag in den Knast... jedoch ist Marie, wie sich herausstellt, zwar blond, aber "nur" Brasilianerin, dazu noch illegal hier, da machen sich die Bullen keine große Arbeit mit, und lassen die Chilenin wieder raus. Marie ist auf der Seite aufgekommen, hat sich einige Knochen gebrochen und wird jetzt mehr als 4 Wochen im Krankenhaus bleiben.
Sonst kommt nicht viel nach. Die Chilenin weicht dem Druck, muß aus dem squatt, und verschwindet in die Crique... und ein Peruaner flüchtet nach Kourou: die Polizei entdeckt die Waffe, die er bei sich im Zimmer versteckt hat, in dem Zimmer unter uns im escuat latino. Marie hatte übrigens absolut nichts mit dem geklauten Geld zu tun.
Sofort hat es sich herumgesprochen und ganz Cayenne weiß es. Nur der chantier ist weit weg: Nicolas erfährt es von mir erst am nächsten Morgen. Pato kommt irgendwann auch.
Nicolas regt sich im ersten Moment ziemlich auf. Er besucht Marie danach regelmäßig im Krankenhaus. Aber irgendwie war das Verhältnis zwischen den beiden schon vorher gebrochen gewesen, mit Maries Trinkerei war das kaputtgegangen. Nicolas spürt immer mehr Distanz zu ihr und entscheidet sich schließlich, zu gehen. Er will nach Ecuador aufbrechen, alleine.

Rafael entscheidet sich, nach Peru zu reisen, sich dort einen Reisepaß zu besorgen und 2 Monate später mit Gilbert auf die Karibikinsel Guadeloupe zu gehen. Auch Rafael, er ist 26, kam illegal nach Cayenne. Mit dem, was er jetzt nach einem Jahr auf die Bank getan hat, könnte er in Peru etwa 20 Jahre leben, meint er.
Pato nimmt eine Arbeit in Matoury an, 20 km von Cayenne, kommt aber nach einer Woche wieder zurück und zieht es wieder vor, seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: auf die Bezahlung warten.
Marcelo und - kaum zu glauben - Omar nehmen ein Arbeitsangebot von einem Chilenen an, der zuverlässig 30,- Francs die Stunde zahlt. Am Anfang arbeiten sie sogar nachts, Fliesenlegen, in einem Supermarkt. Der sonst doch so faule Omar steigt richtig im Kurs, französisch lernt er auch, ganz fleißig.
Aber irgendwann ist es auch wieder vorbei und er fängt wieder an, Fahrräder zu klauen, oder im Supermarkt. Schließlich zieht er mit ein paar Gleichgesinnten in einen neuen squatt nach Montjoly, 10 km weiter.

Samstag, 24. März.
Heute ist Nicolas' letzter Arbeitstag. Nächste Woche holt er seinen Lohn ab und für den 2. April kauft er sich ein Ticket nach Brasilien. Er will den Amazonas hoch, nach Ecuador, Kolumbien, Antillen...
Vor zwei Tagen hatten sie Praims guten Hammer geklaut. Der Paraná meinte, das wäre verschwendete Zeit, und ich solle den nicht suchen. So tat ich es heimlich, und war richtig stolz, daß ich ihn nach einigen Stunden Suchen entdeckt hatte, bei irgendwelchen Haïtianern. Praim hat sich riesig gefreut - nur der Paraná wirkte sehr zerknirscht, weil ich seinen Anweisungen nicht Folge geleistet hatte.
Inzwischen ist ein wenig durchgesickert, was mit David gewesen war. Gilbert erzählt mir hin und wieder, wenn er etwas erfährt. Die Methode, den Leuten den Lohn nicht auszuzahlen, sondern kurz vorher mit dem Geld zu verschwinden, ist nicht nur auf Französisch-Guyana beschränkt.
Nur EG-Bürger haben einen gesetzlichen Schutz, es gibt Arbeitsschutzgesetze, und solche Methoden sind in Europa kriminell und werden hartnäckig von der Justiz verfolgt. Leute, die nicht illegal arbeiten, können das in Anspruch nehmen. Von David müssen auf einem chantier vor über zwei Jahren aber einmal zwei Spanier um den Lohn geprellt worden sein, die ihn daraufhin wohl angezeigt haben.
 

Sie zahlen Rafael nicht aus

Montag, 26. März.
Rafaels letzter Arbeitstag. In 3 Tagen geht auch sein Flug, nach Macapá. Rafael kämpft in den 2 folgenden Tagen um seinen Lohn: Gilbert ist anständig und zahlt ihn voll aus, aber Carlos bleibt ihm noch 700,- Francs schuldig. Das ist Paranás Einfluß, der einiges Geld von Carlos für sich behält. Rafael kann sich nicht wehren, wie alle ist auch er illegal hier.
Paraná hat sich in den letzten Wochen immer unbeliebter gemacht im chantier mit seinen Mätzchen und unsauberen Methoden. Den Job behält er nur, weil Carlos keinen anderen findet, der es macht. Mit den 700,- Francs von Rafael, das war aber das fieseste bis jetzt.
Carlos' cunhado kam nachher doch noch, und so waren wir 2 Helfer, Jimmy und ich. Der Paraná war sehr überrascht, daß der Junge Surinami war und kein Brasilianer. Als erstes zeigte ich ihm, wie man sich hier Schuhe besorgt, seitdem waren wir Freunde. Der Paraná mochte es überhaupt nicht, wenn wir uns auf deutsch/holländisch unterhielten, und versuchte erfolgreich, ihn aus der Gruppe herauszuekeln. Nach 2 Wochen hatte der Schwarze keine Lust mehr.
Carlos, der nur hin und wieder vorbeischaut, ist nordbrasilianischer Indianer. Er hat keine Rassen-Vorurteile und mag den Paraná, der aus Südbrasilien stammt, auch nicht besonders. Aber sich gegen ihn durchsetzen kann er auch nicht.
Der Paraná führt sich auf wie der King. Praim und ich nennen ihn pang-pang, das ist taki-taki und heißt "Schwein": weil er die Arbeit sehr ungerecht einteilt. In Brasilien verdient der Boss 10000, und die anderen Arbeiter zusammen 1000. Und seit David weg ist, hält er sich selbst für den Boss. Leider meint er, er könne mit seinen brasilianischen Ideen auch hier ankommen. Er ist sehr unzufrieden, daß er nicht mehr als doppelt so viel verdient wie wir.

Dienstag, 27. März.
Nur ich weiß natürlich vorher nicht, wann mein letzter Arbeitstag ist. Der Paraná braucht den ganzen Nachmittag, um ein paar lächerliche Mauern zu messen. Er labert ständig mit Carlos über irgendwelchen Müll, macht Rafael mies, wie schlecht er gearbeitet hätte, trödelt rum, und kann nicht rechnen. Er hat das Rechnen in der Grundschule gelernt, und seitdem anscheinend nie wieder was davon gehört.
Es kommt, wie es nicht anders zu erwarten war: ob ich heute "ausnahmsweise" bis "halb 6" (soll heißen, bis 6 oder noch später) arbeiten könne. Es sei so dringend.
Nee, Junge, also bei aller Geduld, aber den Kram hätte er auch in 2 Stunden erledigen können.
"Ich arbeite bis 5 Uhr. Hättest du gearbeitet anstatt dumm rumzulabern, wären wir jetzt schon längst fertig. Das jetzt als dringend hinzustellen ist nicht."
"Was, soll das heißen, du willst nicht?"
"Genau das. Ich gehe jetzt nach Hause."
"Du willst jetzt gehen? Und ich soll das wohl hier alleine weitermachen?"
"Wir arbeiten hier bis 5 Uhr. Es ist jetzt 5 und ich habe Feierabend."
"Gut, amanhâ você nâo precisa vir mais. Você é dispensado."
 

Entlassen.

Und mit einem irgenwie zufrieden strahlenden Gesicht, mit einer unerklärlichen inneren Freude gehe ich durch den chantier, zur Dusche, und nach Hause. The winner takes it all...
Ja, es hat Spaß gemacht. Der letzte Nachhauseweg, die Arbeit ist zuende. Etwas Neues fängt an. Mich hat überrascht, daß es so schnell ging, aber ich bin sehr zufrieden. Für 2 Monate war ich ein Arbeiter. Meinen Schutzhelm werde ich als Andenken behalten.
Pierre hält neben mir, fragt, ob er mich mitnehmen kann. Nein, ich habe es nicht eilig. Ich gehe gerne zu Fuß, mache einen Umweg, gehe zum Hafen, gehe am Place des Palmistes vorbei... es fängt an zu dämmern - und da ist sie wieder: die Melodie von Picnic at Hanging Rock.
Ich spendiere den Chilenen, die in der Nachbarwohnung bei uns oben im squatt wohnen, eine große Flasche Bier (sie honorieren's nicht mal, die Saufköppe), und Pato fragt:
"Was? Entlassen?"
"Ja, richtig! Entlassen, weil ich mich geweigert habe, außerhalb der vorgeschriebenen Zeit zu arbeiten!"
"Echt? Er hat dich entlassen, weil du um 5 nach Hause bist?"
"Genau! Weil ich nicht mehr als 54 Stunden in der Woche arbeiten wollte, Pausen schon abgezogen. Für den gesetzlichen Mindestlohn. Deswegen hat er mich entlassen."

Auch die E-Werke streiken jetzt. Nicht mal mehr die Straßenbeleuchtung haben wir.
Seit fast 2 Monaten hat die Post gestreikt - dieser Streik ist heute zuendegegangen. Ich gehe zum Place des Palmistes, wo heute die andine Folkloregruppe "Boliviamanta" spielt. Doch zuvor bringt mir Marcelo die Krönung des Tages: ich habe Post aus Deutschland. Mein Freund Jörg lädt mich nach Europa ein, und ich werde die Einladung annehmen.
Marcelo ist schon lange aus unserem Zimmer raus. Er wohnt heute im anderen squatt, einen Block weiter, in dem Zimmer, wo damals die Chilenin rausmußte.
In den nächsten Tagen habe ich endlich einmal Zeit, mir die Straßen bei Tag anzuschauen. Die Flüge nach Paris sind nicht sehr teuer, und sie sagen, in ein paar Wochen sei etwas frei.
Praim arbeitet ohne mich auch nur noch einige Tage mit pang-pang, er sucht sich so schnell wie möglich eine neue Arbeitsgruppe und einen besseren Boss.

Donnerstag, 29. März.
Rafael ist nach Brasilien geflogen, wir haben ihn zum Flughafen begleitet.
Heute ist Marie aus dem Krankenhaus gekommen. Bezahlen wird es die Sozialkasse. Marie meint, sie sei immer gut behandelt worden. Sie weiß, daß sie Glück gehabt hat, daß es ausgerechnet in Frankreich passiert ist - in Brasilien hätte es kaum einen Unterschied gemacht, ob sie den Sturz überlebt hätte oder nicht. Eine Sozialkasse gibt es dort nicht. Behandelt wird dort nur gegen Bargeld.
Ich habe tatsächlich keine Arbeit mehr. Hin und wieder komme ich innerhalb der nächsten Wochen beim chantier vorbei, weil ich möchte, daß Carlos mir den Lohn auszahlt. Wie gesagt, das ist nicht selbstverständlich in diesem Land.
Nach etwa einer Woche bittet mich der Paraná in einem ganz freundlichen und fast reumütigen Ton, doch wieder in die Gruppe zu kommen und wieder zu arbeiten.
"Es tut mir leid mit der Sache von letzte Woche. Vergessen wir das. Wir brauchen jemand, der organisieren kann - und seit du weg bist, klappt hier gar nichts mehr."
Der Paraná hat nie mitbekommen, wo ich die ganzen Sachen immer organisiert hatte. Er hielt es für selbstverständlich, daß Wasser da war, wenn es gebraucht wurde, oder Zement, Sand, Ziegel, Stangen, Trolleywagen. Ich habe ihm natürlich nicht verraten, wo ich das immer her hatte. Er tut mir aber auch nicht sehr leid, wenn er sich jetzt den Zement selber mit der Hand holen muß.
Carlos zahlt mir nur sehr wenig, bis ich zu Gilbert gehe, und mit Gilbert zur Bauverwaltung. Dort erreichen wir, daß ich wenigstens einen Teil ausbezahlt bekomme, zum Ärger des Paraná. Doch Carlos bleibt mir am Ende noch 1500,- Francs schuldig.
Aber ich habe keine Lust, mir das gefallen zu lassen. Pierre, der Zimmermann, ein Franzose, erklärt mir, wo die Inspection de Travail ist - denn als Europäer habe ich das seltene Glück, nicht illegal hier im Land zu sein. Ich brauche nur bescheid zu sagen - die von der Inspection de Travail kümmern sich um alles weitere. Zwei Monate später wird mir Carlos den fehlenden Betrag per Postanweisung nach Deutschland schicken.

Im squatt sind neue Leute, neue Gesichter. Oscar, ein Argentinier, kam vor einigen Wochen aus Buenos Aires hier an. Eine Haïtianerin aus der "Crique" kommt manchmal, wenn sie dort Ärger hat, und schläft sich bei uns aus.
Leonel, ein Franzose, blieb 2 Wochen, auch ein Amerikaner wartete auf seinen Flug, danach ein Kanadier, ein Spanier, zwei aus Guyana... Pato schleppt immer alle möglichen Leute an. Das macht er solange, bis er fühlt, daß seine Gutmütigkeit ausgenutzt wird.
Besonders, daß Rickie, der Surinami, der auch schon seit 5 Wochen bei uns im kleinen Zimmer ist, nichts anderes zu tun hat, als dauernd ausgerechnet in Patos alter Hängematte rumzuhängen. Pato selber bekam zwar eine bessere von Fernando, trotzdem hatte er seine alte nicht verschenken wollen, auch nicht an Rickie.
Rickie hat in der ganzen Zeit nur 2 Tage gearbeitet, und das ist selbst unter Patos Durchschnitt, der wahrhaftig nicht der fleißigste ist. Und das regt Pato auch auf. Schließlich findet er in der "Crique" einen, der ihm die alte Hängematte abkauft - und es tut dem langhaarigen Chilenen nicht leid, daß Rickie ab dann, genauso wie ich es auch gewöhnt bin, auf dem Fußboden schlafen muß.
Irgendwann reist Rickie wieder ab, nach Surinam. Ich begleite ihn noch ein paar Kilometer, er war ein netter Junge. Ein wenig naïv vielleicht. Er hat meinen Zucker geklaut. Okay, was soll's, ist ja egal, das hat Pato ja auch gemacht. Immer dieser Zucker, ein komischer Stoff ist das.

Nicolas fliegt am 2. April nach Brasilien und zieht von dort allein weiter, steuert die Anden an. Nicolas begleiten 6 Leute zum Flughafen, nur Marie nicht.

Marie hat genug von Französisch-Guyana. Nach dem langen Krankenhaus-Aufenthalt nimmt sie der Franzose wieder auf, wo sie vor einem Monat rausmußte. Ich glaube, es tat ihm leid, was passiert ist.
Aber auch Marie will nicht mehr bleiben. "Nicolas ist weg", meint sie zu mir, sie will wieder nach Brasilien, nach Bahia. Irgendwann gehen wir zu den Bullen, die deportieren einige hundert Brasilianer im Monat: stecken sie alle ins Flugzeug nach Belém. Das ist praktisch, denn so bräuchte sie den Flug nicht zu bezahlen. Die Bullen sind freundlich und verständnisvoll, und wollen sich bei ihr melden, wenn ein Platz frei ist.
Es ist traurig mit Marie, denn sie weiß, daß sie auch in Bahia keine Zukunft hat. Sie arbeitet wieder, in einem vietnamesischen Restaurant, vielleicht kann sie dort ja bleiben.
Die Spanisch-amerikanischen Ausländer sind zwar alle illegal, doch solange es nicht stört, kümmern sich die hiesigen Behörden nicht um sie. Der Flug in ihre Länder, den die Regierung bezahlen müßte, wäre zu teuer. Nur nach Europa dürfen sie nicht. Abgeschoben werden nur immer wieder einige Brasilianer - und davon offenbar nur die, die nicht arbeiten.
Omar ist in einen squatt nach Montjoly gegangen, einmal besuchen wir ihn dort. Er versucht, Tätowieren zu lernen, das ist seine neueste Idee. Das Haus liegt in der Nähe vom Strand. Wenn schönes Wetter ist, das kommt hin und wieder vor, gehe ich mit Pato und ein paar Chilenen aus der Nachbarwohnung zum Strand, baden. Das Wasser ist hier immer noch gelblich-trübe und nur wenig salzig, obwohl die Amazonas-Mündung schon 1000 km südlich liegt.

Pato hat wieder Arbeit gefunden, mit diesem Chilenen. Sonst wäre er wieder nach Brasilien. Über 7 Monate ist er jetzt schon hier. Irgendwo tut er mir ein bißchen leid, er ist zu lange hier hängengeblieben, "ja, zu lange, viel zu lange".
Aber er hat eine neue Perspektive: Julia aus Mannheim kommt nach Brasilien, in einem Monat will sie nach Recife fliegen, und dort wollen sie sich treffen. Das scheint ihn wieder zu motivieren, er strengt sich an zu arbeiten, etwas Geld zu verdienen. Auf einmal ist Pato wieder lebendig, auf einmal hat er wieder Energie, das Leben macht ihm wieder Spaß. Eigentlich strahlt er immer gute Laune aus, nur in der letzten Zeit war er nachdenklicher geworden.
Dort wo Marie wohnt, gibt es sogar ein Telefon, und Julia ruft ihn hin und wieder an.
Einmal, ganz am Ende meiner Zeit, habe ich sie auch mal am Apparat... oh, das ist wirklich weit weg: ein lachendes, verliebtes Mädchen am Telefon zu haben. Wie ein Gruß aus einer anderen Welt...

Y así, viajaremos por el infinito... steht auf der Tür zu unserem Zimmer im squatt. Neben diesen wilden Bildern an den Wänden.
Und so reisen wir durch die Unendlichkeit... manchmal ohne Perspektive, aber vielleicht lohnt es sich ja trotzdem.
Daneben habe ich einen Spruch von Zaphod Beelebrox an die Wand geschrieben: "Ihr wißt ja, ich flippe ganz schön rum. Mir fällt irgendwas ein was ich machen will und - he! warum nicht? ich mach's einfach."
Ich habe mir ein Flugticket für den 12. April geholt. Marcelo wird mich zum Flughafen begleiten. Er will noch etwas in Cayenne bleiben, später möchte er dann in die Karibik, auf einer Insel Arbeit finden.
Pato wird ein oder zwei Tage nach mir fliegen, nach Belém, und von dort nach Recife, ein halbes Jahr später mit Julia nach Chile.
 

Abend

Heute ist der 10. April, Dienstag. Euch diese Zeilen zu schreiben, habe ich mich noch einmal zu Marie auf die Veranda gesetzt. Die Veranda, die mit einer alten, vermoosten Plastikplane überdacht ist, auf die der Regen trommelt. Es ist Regenzeit, immernoch.

Und an manchen Abenden, Pato in der Hängematte und ich im Sessel, erzählen wir uns was, vom Leben. Von Marie, von Bahia, von David, ja, vom berühmten David, von Julia, vom squatt...
"Wer hat die ganzen Bilder gemalt, hier an den Wänden?"
"Ach, die... ein Franzose, der hier war. Der hat hier gewohnt, hier im Zimmer. Eines Tages hat er eine riesengroße Party gegeben, jede Menge Wein und Bier, unten im Garten, eine richtig große Party. Er sagte, er würde weggehen von hier, und alle dachten, er hätte einen Flug oder sowas. Aber er hat sein ganzes Geld, das er hatte, nur in diese Party gesteckt. Es gab jede Menge zu saufen. Und das teuerste Zeug."
"Bist du dabeigewesen?"
"Ich, nein. Ich kam leider 5 Monate zu spät.
"Ach, du kanntest den gar nicht."
"Nein, ich kannte den nicht. Muß 'ne wirklich große Party gewesen sein."
"Da unten im Garten?"
"Ja, im Garten, und hier im ganzen Haus. Hier im Zimmer auch. Sie haben die ganze Nacht gefeiert. Am Tag danach ist er runter und hat sich erschossen."
"Erschossen? Wie das?"
"Mit so'm Kleinkalibergewehr. Peng. War'n Idiot."