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„Wie steht es mit deinem Herzen"

Über das Verhältnis Karl Barths zu August Tholuck


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I.

Im Werk des reifen und älteren Karl Barth taucht der Name Tholucks fast nicht auf. An drei Stellen erwähnt er dessen Namen: Jedesmal geschieht es in Erinnerung an eine Anekdote, in der sich seine frühere Beschäftigung mit dem Hallenser Theologen und alles, was ihm an ihm eindrücklich geworden war, verdichtet. In seiner Kirchlichen Dogmatik schreibt er: „Sind wir denn wiedergeboren, bekehrt, erneuert? Sind wir also Christen?“ Die Frage greift „tiefer und ist wirklich bedrohlicher als alle die, durch die sich der Christ etwa von einer Philosophie und Weltanschauung oder von einer durch solche begründete Bibel-, Dogmen- und Kirchenkritik her beunruhigt finden könnte. Sie geht ihn ja im Unterschied zu allen derartigen Fragen persönlich an. ‘Bruder, wie steht es mit deinem Herzen?’, wie der alte Tholuck seine Studenten höchst privatissimae anzureden pflegte.“ Schließlich und zuletzt reduzierte sich für Barth die theologiegeschichtliche Bedeutung Tholucks auf die Hervorhebung dieser Frage, und er anerkannte ihr sachliches Recht, wenn er es auch relativierte als ein berechtigtes „Nebenthema“, jedoch nicht als „Hauptthema“ christlicher Theologie. 1
Stellen wir daneben noch die vielleicht letzte Erwähnung Tholucks in Barths letzter Vorlesung! Ein Christenmensch sei, so hören wir, der auch persönlich „von Gottes Wort Betroffene, Gefragte und Verklagte, Gerichtete und Aufgerichtete, Getröstete und Gemahnte. Eben ihn macht Gott damit zu einem Ich, daß er ihn mit Du anredet. Von dem einst berühmten Hallenser Professor Tholuck wird erzählt, daß er seinen Studenten auf die Bude zu steigen und sie mit der Frage zu bedrängen pflegte: ‘Bruder, wie steht es mit deinem Herzen?’ - nicht mit deinen Ohren, nicht mit deinem Kopf, nicht mit deinem Mundwerk, auch nicht mit deinem Sitzleder (obwohl das Alles auch zum Theologen gehört), sondern mit dir selbst ...? Eine sehr wohl angebrachte Frage an jeden jungen und alten Theologen!“ 2 Auch hier eine Anerkennung des Anliegens Tholucks, hier sogar ohne relativierende Einschränkung vorgetragen, obwohl sie sinngemäß mitgemeint ist.
Freilich ist nicht anzunehmen, daß Barth sich in seinen mittleren und späteren Jahren noch einmal nennenswert mit Tholucks Werk beschäftigt hätte. Die Berufung auf jene Frage Tholucks ist ein kondensierter Gesamteindruck von dessen theologiegeschichtlicher Bedeutung - ein Eindruck, der Barth übrig geblieben ist von einer früheren Einlassung auf sein Werk. Eine solche hat tatsächlich in den Jahren seiner theologischen Anfänge stattgefunden. Die Frage wird im folgenden nicht nur sein, was er von Tholuck zur Kenntnis genommen und wie er ihn verstanden hat. Beides hängt zusammen mit der anderen Frage, was überhaupt der Anlaß war, sich mit ihm eingehender zu befassen.
Obwohl und indem Barth Tholucks Name von früh an vertraut war 3, fand seine nähere Beschäftigung mit dem Hallenser entscheidend während der Entstehung seiner ersten Auslegung des Römerbriefes statt. Gemeint ist hier weniger dies, daß dabei Barth u.a. auch unbefangen des Kommentar Tholucks benutzte. Auch wenn dessen Kommentar für ihn nicht so einflußreich war wie der von Tobias Beck, so respektierte er ihn jedenfalls als Exegeten. 4 Ihm verdankte er etwa den so interessanten rabbinischen Satz: „Das Geheimnis Adams ist das Geheimnis des Messias.“ 5 In einem Vorwort-Entwurf zählt Barth ihn zu den treuen und unentbehrlichen Ratgebern seiner Exegese. 6 Doch schrieb er später: „Tholuck besaß eine achtunggebietende (besonders orientalistische) Gelehrsamkeit. ... Aber nicht um dieser Dinge willen hat er einen großen, sogar international berühmten Namen bekommen“, sondern darum, weil Unzählige an ihm „eine christliche Seele“ erleben konnten. 7 Barth unterscheidet bei ihm also zwischen dem Gelehrten, mit dem er durchaus positiv umgehen konnte, und dem anderen, dem „erweckten“ Tholuck, mit dem er sich nun während seiner Verständnisbemühung um den paulinischen Römerbrief zugleich kritisch auseinandersetzte. Warum gerade mit ihm? Warum vor allem im Sommer 1917? Nach M. Kähler hat Tholuck „die verschiedenen Seiten der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts am vollständigsten und wirksamsten in seiner Person zusammengefaßt.“ 8 K. Barth hat ähnlich geurteilt: „Reiner Erweckungstheologe gewesen und geblieben ist der eine Tholuck und keiner neben ihm, und wenn der Einschlag jener Erweckungsbewegung für das Ganze der theologischen Problematik des 19. Jahrhunderts wichtig genug ist, ... so müssen wir uns an diesen Einen halten.“ 9
Es läßt sich von da aus feststellen, was für seine Sicht Tholucks wohl zu beachten ist: In, mit und unter seiner ersten Römerbriefauslegung setzte Barth zu einem Klärungsversuch seiner eigenen theologischen Grundlagen an; und das verband sich bei ihm mit einer Auseinandersetzung mit den ihm vor Augen stehenden herrschenden theologischen Strömungen und namentlich speziell mit einer Revision seiner eigenen geistigen und religiösen Wurzeln. Dazu gehörte für ihn offenbar an prominenter Stelle eben jene Erweckungsbewegung, die ihm in verschiedenen Gestalten in seiner Umwelt begegnete. In gewisser Weise begegnete sie ihm in dem Freien Gymnasium in Bern, in der er seine ganze Schulzeit verbrachte und die betont pietistisch geprägt war, und schon vorher auch in seinem Elternhaus, wenn auch der Vater in seiner Prägung durch den Tübinger Tobias Beck ein Gegengewicht gegenüber dem Halle Tholucks hatte. Der Sohn schrieb im Alter die kryptischen Worte, daß ihm bei der in Angriffnahme der Römerbriefauslegung „der Gedanke durch den Kopf schoß, ich wolle und werde nun eine Art Vergeltung an denen üben, die meinen Vater, obwohl er soviel wußte wie sie (nur eben anders), so in den Schatten gestellt hatten!“ 10 Barth mag dabei auch daran gedacht haben, daß sein Vater gern von Bern weg auf den Lehrstuhl für Neues Testament in Halle wechseln wollte, dort aber übergangen wurde. 11
Sicher ist, daß er durch seinen Vater wohl seine erste - eine durchaus wohlwollende - Kenntnis von Tholuck bekam. In einer Vorlesung von Fritz Barth „Geschichte des Christentums im 19. Jahrhundert“ im Winter 1901/2, die er im Sommer 1905, nun unter Zuhörerschaft seines Sohnes Karl, wiederholte, stellte er neben August Neander vor allem Tholuck als Exponenten der „biblisch-positiven Richtung“ vor, die sich „in Gegensatz zum Rationalismus“ stellte. Sie „betonte aber weniger (sc. als der Konfessionalismus) die alten Bekenntnisse und Dogmen, als den biblischen Lehrgehalt“, und zwar so, daß sie „die Resultate der Erweckung theologisch zu verwerten“ suchte. Tholuck war „weitherzig, aber energisch die Notwendigkeit der Bekehrung und des persoenlichen Verhältnisses zu Christus betonend, einflußreich als akademischer Prediger und im Privatverkehr mit den Studenten.“ Erst zu Neander diktierte der Vater den Satz, den sich der Sohn notierte: „Pectus est, quod theologum facit.“ 12
Noch eine andere Spur ist hier zu beachten. Keine andere Theologie hat Karl Barth in seinen theologischen Anfängen so beeinflußt und beeindruckt wie die von Wilhelm Herrmann vertretene. Darum ist interessant, daß er 1925 über ihn mit Worten F. Kattenbuschs schrieb, wie er es dann wenig später ähnlich über das Verhältnis von Schleiermacher und Tholuck sagte 13 : „Was bei Ritschl den Anstrich bloßer Reflexion über den geschichtlichen Christus, einer ab- strakten Theorie in Hinsicht seiner haben kann, tritt bei Herrmann wie eine Intuition auf, so sehr, daß man gewissermaßen von Christusmystik bei ihm sprechen kann.“ Und weiter: „Hier ist bei Herrmann der Einfluß, den Tholuck (der Prediger!) auf ihn geübt, zu erkennen.“ 14 Ferner bemerkte Barth mit Blick auf die zentrale Bedeutung der „inneren Umwandlung“ des Menschen zur „freien Hingabe“ an Gott in Herrmanns Theologie: „Vermutlich im Blick darauf hat ihn Troeltsch ... ‘einen unserer lebendigsten Erbauungsschriftsteller’ genannt. Es ist das im guten und weniger guten Sinn Pietistische bei Herrmann, auf das wir hier aufmerksam werden. Ganz umsonst ist er gewiß nicht in seiner Jugend amanuensis bei dem großen Herzensvirtuosen Tholuck gewesen.“ 15

II.

Wenn Barth im Zuge seiner eigenen theologischen Klärungsbemühung sich auch mit der Erweckungsbewegung, aber auch wenigstens stillschweigend mit der Theologie seines Lehrers Herrmann auseinanderzusetzen gedrängt sah, so versteht sich nun, daß es sich ihm nahelegen konnte, dabei zu dem Punkt vorzustoßen, wo für ihn und ja nicht nur für ihn das erweckliche Anliegen wie in einem Brennpunkt versammelt war: eben bei Tholuck. Barth las darum im Sommer 1917 die beiden Bände der Biographie Wittes über ihn 16 - und zwar während er sich im Eingang zur Auslegung von Röm. 5 befand. 17 Es läßt sich die Vermutung wagen, daß er sich mit Gestalten der Erweckungsbewegung und namentlich mit Tholuck befaßte in der wohl zunächst positiven Erwartung, bei ihnen Sukkurs zu finden im Verständnis der starken paulinischen Aussagen gerade in Röm. 5 („Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott ...“). Ist die Vermutung richtig, so ist die Erwartung dann doch enttäuscht worden, so daß er dann die Eindrücke von seiner Lektüre erst Ende 1917 - ausgerechnet in der Auslegung von Röm. 7 explizit verarbeitete. 18 Nach vollbrachter Lektüre der Tholuck-Biographie schrieb er an Freund Thurneysen: „Ich habe ... allerlei Merkwürdiges entdeckt, aber mehr Merkwürdiges als Erfreuliches. Das Bild vom Pietismus, das man sich macht, rundet sich nach und nach ab.“ 19
Demnach gibt es dort wohl auch ein Erfreuliches zu entdecken; und es blieb für Barths Umgang mit Tholuck wie mit der Erweckungsbewegung im Ganzen bezeichnend, daß er sie differenziert sah: nicht nur in Zustimmung, aber auch nicht nur in Abgrenzung, nicht nur im Licht, aber auch nicht nur im Dunkel. Besonders an zwei Stellen kommt die Zustimmung zum Ausdruck. Einmal dort, wo er sich auf Tholucks Satz von der Gemeinde Jesu als der Schar von Tragenden und Getragenen beruft für das Verständnis der durch Christus bestimmten, rechten Gemeinschaft: „Die Kraft Gottes offenbart sich uns als die Kraft, die Schwachen zu tragen.“ 20 Barth hätte sich hier auch auf den von ihm noch mehr geschätzten Tersteegen berufen können: „Sollt’ wo ein Schwacher fallen, der Stärkre spring ihm bei; man trag, man helfe allen ...“ Hier ist der Gedanke präfiguriert, der später in der Ekklesiologie von Barths Kirchlicher Dogmatik ausgeführt wird: Die Gemeinde Christi „existiert ekstatisch, ekzentrisch: auch innerhalb der Welt, zu der sie gehört, nicht auf sich selbst, sondern ganz auf sie, auf ihre Umgebung bezogen. Sie errettet und erhält ihr eigenes Leben, indem sie es für die übrige menschliche Kreatur einsetzt ... Das Zentrum, um das sie sich ‘ekzentrisch’ bewegt, ist ... nicht einfach die Welt als solche, wohl aber die Welt, für die Gott ist.“ 21
Das andere Zitat Tholucks soll für Barth die Erkenntnis belegen: „Keine Vernichtung der Welt und ihrer Elemente!“ 22 Barth setzt hinzu: Das sowenig wie die „Erhaltung der jetzigen Existenz- und Erscheinungsformen, sondern radikale Verwandlung, indem er gütig und gebieterisch eins ums andere heimruft aus der Fremde ins Vaterhaus, in sein wahres, reales Sein.“ Auch diese Erkenntnis ist in Barths späterem Werk bestimmend geblieben, jedoch nicht im Sinn des thomistischen Systems: gratia non destruit naturam, sed praesupponit et perficit, sondern dies in dem genau umgekehrten, von der Gnadenoffenbarung her gedachten Sinn, den man so umschreiben könnte: gratia non destruit naturam, quia gratia creationem et creaturam se praesupponit et creat in analogia revelationis sive gratiae foederis. 23 Die Gnade bejaht die geschöpfliche Welt, indem sie nicht die in sich unzerstörbar gute Schöpfung, sondern die in sie eingedrungene Verkehrung und Selbstentfremdung der menschlichen Kreatur beseitigt. 24 So wenig wie das Neue Testament die Ersetzung eines „alten“ durch einen „neuen“ Bund bedeutet, sondern eine „radikale Strukturveränderung“ innerhalb des einen, ungekündigten Bundes 25, dessen der Israel-Bund „fähig“ ist, so wenig kann daher nun auch der biblische Begriff der „Neuschöpfung“ eine Ersetzung der guten Schöpfung durch eine andere bedeuten, so als hätte Gott diese Schöpfung nicht gut genug gemacht, oder als ob es in der Macht des Menschen stünde das von Gott Gutgemachte tatsächlich in ein Böses zu verwandeln; sondern Neuschöpfung bedeutet nur die alles zum Guten wendende Vollendung des inmitten von Gottes Schöpfung geschlossenen Gnadenbundes in endgültiger Überwindung allen Widerspruchs gegen ihn. Gott „wird die Wirklichkeit des Geschöpfs wandeln, er wird sie aber nicht zerstören; er wird sie ihm nicht mehr nehmen.“ 26 Aber eben, am Anfang dieser für Barth wichtigen Erkenntnis steht ein Zitat von Tholuck.
Aber was ist nun das mehr „Merkwürdige“, auf das er bei diesem stieß? Das läßt sich aus seiner Römerbrief-Auslegung nur in Andeutungen erfassen, da er natürlich nicht thematisch von Tholuck handelt, wenn auch immerhin die Passage die Röm. 7,14-25 überschrieben ist: „Das Gesetz und der Pietismus“. 27 Barth vertritt in diesem Abschnitt die Auffassung: „Gott und die Seele - die Seele und ihr Gott!“ sei das Thema des Pietismus und der Rahmen dessen, innerhalb dessen sich alle seine Fragen und Aussagen abspielen. Mit diesem Thema und in diesem Rahmen könne der Mensch aber immer nur vermeintlich erlöst sein, verharre er vielmehr - das ist „die ganze Trostlosigkeit der pietistischen Dialektik“ 28 - in der unerlösten Welt, weil in der für sein verkehrtes Wesen charakteristischen selbstbezogenen, selbstsüchtigen, so oder so auf private Bereicherung bedachten „Individualisierung“. Und so hat er, indem er Gott zu erfahren meint, es nur vermeintlich mit Gott, in Wahrheit nur mit sich selbst und seiner Welt zu tun, nicht mit dem Neuen, das von Gott her in Christus dem Menschen begegnet und ihn aus seiner individualistischen Isolation hineinnimmt in seinen „Leib“.
Ein Beleg für diese Deutung Barths ist der von Witte 29 überlieferte Traum des 22-jährigen Tholuck, der mit seinen Freunden zwischen brennenden Häusern „Jesum Christum mit der Siegesfahne mitten unter schwarzen Wolken stehend“ sah. Aber die Hoffnung, jetzt dem Herrn „entgegengerückt“ zu werden, wird enttäuscht; es geschieht nichts und ein Freund bemerkt: „O ..., es war nur eine Naturerscheinung.“ Schon als Barth das im Juli 1917 las, schrieb er an Thurneysen: „Da wirds ziemlich deutlich, was sie im Grunde selber von sich denken mußten!“ 30 Im Zusammenhang der Auslegung zu Röm.7,24f. greift Barth diesen Traum auf: „Die vermeintliche triumphierende Enderscheinung Jesu Christi löst sich, wie in jenem warnenden Traum des jungen Tholuck, in ein simples Naturphänomen auf, und der Mensch findet sich selbst wieder in seiner ganzen traurigen Blöße: unerlöst trotz aller Erlösungskünste. Es kann nicht anders sein. Aus nichts wird nichts. Solange sich mir Alles darum dreht, daß die Seele die Heimat, die Ruhe finden möchte, muß auch mein innigstes, feurigstes Streben erfolglos sein, denn die Seele, die etwas für sich sein und es nicht fassen will, daß sie im Christus gerade aus diesem Fürsichsein, aus dieser falschen Mittelpunktstellung erlöst ist, sie kann nicht in Gott zur Heimat und zur Ruhe kommen, sie ist und bleibt im ‘Leibe des Todes’“. 31
Die Illusion, um die es hier geht, ist nach Barth auf der einen Seite unheimlich. „Auch bei ihm raucht es nur, aber es brennt nicht“ 32 , sagt Barth über den Erweckungspietisten. Aber der Rauch kann durch seinen Nebel vortäuschen, als brenne es - nach dem scheinbar logischen Spruch: „Wo ein Rauch ist, ist auch ein Feuer.“ Die Illusion enthält vielmehr in sich gewissermaßen einen Mechanismus, durch den man sich verbergen kann, was sich hier abspielt. Indem jenes selbstische Ich sich wohl nach Erlösung sehnen kann, aber in seinem „Fürsichsein“ doch immer wieder bei sich selbst landet, mündet die Unruhe bald in einem Sichzufriedengeben, in einer Selbstzufriedenheit, das Hungern und Dürsten in einem Haben und Besitzen. Es setzt sich eines Tages durch. Es kommt zu Erfolg. Es siegt - so, daß es seinen Gewinn, sein Haben genießen kann. In diesem Sinn bemerkt Barth den Blick auf die 1917 gelesenen „Pietistenbiographien“: „was für ein tragischer Moment es vor 100 Jahren war, als sie anfingen, begehrt und gehört zu werden und die Wüste verlassen konnten.“ 33 Entsprechend notiert er in seiner Auslegung zu Röm. 10,16f.: „Gerade das einseitig und ausschließlich Göttliche will die Kirche nicht.“ Es graut ihr „vor dem Bruch, den sie vollziehen, vor dem Selbstopfer, das sie bringen müßte. Sie hat für eine wirkliche Buße keinen Sinn ... Sie möchte ihr Leben erhalten.“ Sie faßt das verkündigte Gottesreich auf „als eine neue Variante von Religiosität“, als „’Erscheinung’, interessiert sich (dies die besondere Pest des Jahrhunderts) für die redenden und schreibenden Persönlichkeiten.“ 34
Auf der anderen Seite ist jene Illusion aber auch gefährlich. Denn indem in ihr das selbstische Ich nur eben eine religiöse Variante erfährt, wird dabei nicht hinausgegangen, ja, nicht einmal hinausgewiesen über die verkehrte „alte“ Welt hin auf die neue Welt Gottes. Damit vollzieht sich in Wahrheit nur eine Anpassung an das die sonstige („alte“) Welt prägende Unwesen des selbstischen Ichs. Vielmehr: Durch die religiöse Überhöhung der Bestrebungen dieser („alten“) Welt werden diese nur erst recht verfestigt und sanktioniert. Barth schreibt: „Stark entwickelte Religiosität und Moralität ist noch immer eine besonders kräftige Stütze der dunklen Gewalten gewesen. Die Himmelsstürmer von 1825 sind 1850 Konsistorialräte Friedrich Wilhelms IV.“. 35 Es ist wahrscheinlich 36, daß Barth hier besonders auch an Tholuck denkt, der 1843 ins Magdeburger Konsistorium berufen wurde und in seinen Predigten ein Lobredner dieses „von einer überspannten Vorstellung seiner königlichen Machtvollkommenheit“ bestimmten preußischen Monarchen 37 sein konnte. Jedenfalls, meint Barth: „Wie sollte der Pietist etwas zu sagen oder zu tun wissen gegen Mammon, Krieg, Krankheit, Schicksal, Tod 38, wo sein tiefstes Wesen in demselben Abfall von Gott besteht, wie das Wesen jener Mächte? Er begegnet in der Welt überall der gleichen Eigenherrlichkeit, deren er sich selber schuldig weiß, und so kann er sich kraft seines besseren Wissens und Wollens wohl in Gegensatz stellen zu ihrer religiösen Oberflächlichkeit und zu ihrem moralischen Leichtsinn, aber niemals kraft eines besseren Tuns hindurchbrechen durch die Naturgesetze ihres Daseins.“ 39
Von hier aus, rückwärts gelesen, leuchtet es ein, daß Barth sich doch schon bei seiner Auslegung zu Röm. 5 - also unmittelbar parallel zur literarischen Beschäftigung mit Tholuck - implizit mit ihm auseinandergesetzt hat, implizit auch in dem Sinn, daß hier auch deutlicher die Position hervortritt, in der das Kritische eingeschlossen ist:

„Die Liebe Gottes ist es, die sich uns durch die Gabe des Geistes zuwendet, ja noch mehr: die durch sie unser eigener Besitz und jenseitiger Lebensgrund wird. Nicht als ‘Gefühl’. Es ist vielleicht gar kein ‘Gefühl’ davon vorhanden in uns. Sie bewährt sich auch gegenüber dem stärksten Ansturm der entgegengesetzten ‘Gefühle’. Sondern als die wiedergewonnene Erkenntnis Gottes, mit der Gott unmittelbar sich selbst erkennt und erkannt wird und die nun als Kraft dem Menschen zu eigen wird. Nicht als eigener seelischer Besitz. Was daran eigen und seelisch ist, ist dem Zweifel und der Veränderung unterworfen. Sie kann gerade da am stärksten sein, wo das eigene Seelische, das Pathos, die Überzeugung am Dürftigsten, wo das Rufen aus der Tiefe: wo ist nun dein Gott?, wo die geistliche Armut ... am größten ist. Sondern als Besitz Gottes, der aber durch den Heiligen Geist Wesensgrund des Menschen wird ... Er ist unser Lebensgrund, nicht unser Erlebnis. Wir stehen im Sieg des Lebens, weil Gott Sieger ist, nicht weil wir gesiegt haben. Wir sind neue Menschen, nicht weil wir uns ‘bekehrt’ haben, sondern weil Gott unzweideutig sein Recht aufgestellt hat. Das Neue an uns ist die neue Welt, in deren Luft wir atmen dürfen, nicht die neuen Erfahrungen, die wir da vielleicht gemacht haben. Wir schließen nicht vom Kleinern aufs Größere, von unserem veränderten Seelenzustand auf die geschehene Erlösung, sondern vom Größern ... aufs Kleinere, vom Anbruch des Gottesreiches auf unsere persönliche Rechtfertigung und Errettung. Wir gründen unsre Zuversicht nicht auf die von uns durchgemachten innern Kämpfe, Krämpfe, Windungen und Anstrengungen, sondern auf eine Tatsache, die über unsern persönlichen Errungenschaften und Torheiten steht ... Wir halten uns an die objektive Wahrheit. Der Glaube schneidet den Umweg des Pietismus über das Seelische ab. Er fängt mit dem an, mit dem der Pietismus im besten Fall unsicher endet ... mit der Zuversicht und mit dem Trotzen auf Gottes Wahrheit.“ 40

Halten wir fest: Barth nahm sich damals Tholuck vor im Rahmen einer Auseinandersetzung. Und diese galt nicht an sich dem ja von ihm respektierten Hallenser Gelehrten, sondern der (von ihm allerdings repräsentierten) Erweckungsbewegung. Die Auseinandersetzung erfolgte im Zuge eines theologischen Klärungsprozesses, in dem Barth in der Folgezeit auch noch sich selbst zu korrigieren Anlaß bekam. Gewann er dabei auch ihm bleibende Einsichten, so wurden die damals gewonnenen Abgrenzungen auch nicht einfach hinfällig; sie blieben, indem das dabei Verneinte freilich nicht an die Erweckungsbewegung gebunden bleiben mußte. So konnte Barth etwa später ein wesentliches Merkmal neuzeitlichen Denkens überhaupt mit dem Stichwort „Individualisierung“ bezeichnen, womit nun freilich nicht das Einzelner-Sein gemeint und kritisiert wird, sondern dies: die „Inthronisierung des Menschen ..., je des hier und jetzt sich erlebenden Menschen zum heimlichen, aber für ihn selbst höchst realen König mindestens der sublunarischen Welt ... Individualisierung heißt ... Verinnerlichung des Außen, des dem Menschen Gegenständlichen, wodurch es seiner Gegenständlichkeit beraubt, sozusagen verspiesen und verdaut, zu einem menschlichen Innen gemacht wird.“ Und die heißt zugleich „Veräußerlichung“, in der „der Mensch sein Innen so nach außen projiziert, daß es nun ganz auch da draußen ist, sich dem Gegenstand aufdrängt, sich selbst mit dem Gegenstand identifiziert. Individualisierung heißt Aneignung des Gegenstandes zum Zweck seiner Beherrschung.“ 41

III.

Das sachlich hier Abgelehnte blieb für Barth auch später abgelehnt. Eine Revision an diesem Punkt kam für ihn nicht in Frage. Aber seine Abgrenzung dagegen trifft nun also nicht mehr die Erweckungsbewegung oder einen ihrer Vertreter, sondern trifft sie nur mit, sofern sie durch dieses neuzeitliche Wollen bestimmt sind. Das ermöglicht für ihn immerhin neue Differenzierungsmöglichkeiten im Blick auf diese Bewegung. Vor allem war die Abgrenzung in der zuletzt zitierten Akzentuierung erst möglich, nachdem Barth bei sich selbst neuen Erkenntnissen Raum gegeben hat. Eben, das Problem, das eine theologische Neubesinnung provoziert, liegt nicht im Verständnis des Menschen als Einzelnen, so daß dann etwa gar ein Kollektivismus die Lösung des Problems bedeuten könnte. Das Problem liegt in dem Streit gegen ein auf das menschliche Selbstbewußtsein konzentriertes Denken. Dieses Denken versteht Barth als die Rebellion gegen die Begrenzung des Menschen durch das Gegenüber eines anderen. Barth nennt das den „Gegenstand“ des Glaubens, der Verkündigung, der Theologie, gerade nicht im Sinn eines dem Ich zur beliebigen Verfügung zustehenden Objektes, sondern genau umgekehrt: im Sinn eines jedem verfügenden Zugriff Entgegen-Stehenden. Entscheidend Gott ist dem Menschen solches Gegenüber, das des („ganz“) Anderen. Indem dieser Gott dem Menschen begegnet und entgegenkommt, macht er sich zum Gegenstand des Menschen und beendet damit jenen „Individualisierungs“-Versuch. Er begegnet dem Menschen von sich aus, in seinem „Wort“, das für Barth fortan das „Hauptthema“ der Theologie ist. Damit, daß er den Menschen in seinem Wort anspricht, macht er ihn seinerseits (nicht etwa umgekehrt zu einem Objekt, über das nun Gott verfügte, sondern) zu seinem Gegenüber, das dank des gnädigen An-spruchs Gottes an den Menschen Gott anerkennen und erkennen kann und darf und soll. In dieser Richtung setzte sich Barths theologischer Klärungsprozeß über seine 1. Römerbriefauslegung hinaus fort.
Das brachte auch eine Revision in seiner Stellung zur Erweckungsbewegung und zu ihrem prominenten Vertreter mit sich. Etwa 10 Jahre später befaßte er sich erneut mit Tholuck. 42 Daß seine neu dazugewonnene theologische Perspektive auch eine neue Umgangsweise in sich schloß, auch mit diesem Theologen, dessen war er sich bewußt. Am 11.6.1926 schrieb er an Thurneysen, er sei bemüht, die Theologen jener Epoche so zu besprechen, „daß neben der Bedenklichkeit des Ganzen bei jedem ein gutes Haar bzw. die dem Ganzen verheißene Sündenvergebung irgendwie sichtbar wird ... Demnächst komme ich zu Tholuck!“ 43 Gewiß, diese Verheißung, nicht eine abstrakte Vermittlungstheologie, soll das Licht sein und eine in ihm gegebene Solidarität, in dem jeder der Besprochenen, statt sich von ihm bloß abzugrenzen, zu einem ernstzunehmenden Gesprächspartner wird - zu einem, dem gegenüber es am Platz ist: „Aufgeschlossenheit und Interesse für seine konkrete Gestalt mit ihren besonderen Konturen, Verständnis für die ihm vorgegebenen Zusammenhänge, viel Geduld und auch viel Humor angesichts seiner offenkundigen Schranken und Schwächen, ein wenig Grazie im Sichtbarmachen auch der tiefgehendsten Kritik, ... im letzten Grund sogar immer (und das auch im schlimmsten Fall) eine gewisse ruhige Freude an seinem Sosein.“ 44
Wie tritt Tholuck nun also Barth 1926 in den Blick? Vor allem „als reiner Erweckungstheologe“, der um deswillen - unbeschadet allen Respektes vor seiner Gelehrsamkeit - denkwürdig geworden ist und bleibt. „Rein“, d.h. er zeichnet sich vor anderen Mitmenschen und Mittheologen seiner Zeit dadurch aus, daß von seiner Theologie entscheidend nur dies zu sagen ist, „daß er sie als erweckter und erweckender Mensch getrieben hat.“ „Theologische Beschäftigung ist bei Tholuck ... in der dramatischsten Weise Beschäftigung mit sich selbst ... Wichtiger kann das religiöse Individuum, gestaltloser alles Übrige gar nicht werden, kräftiger kann die Biographie gar nicht an die Stelle der Theologie treten, mehr kann die christliche Sache unmöglich im Menschen aufgehen, als dies bei Tholuck der Fall gewesen ist.“ Während bei Schleiermacher Theologie „Rede über ...“, ist sie bei ihm „Rede aus Religion ... Schleiermacher verhält sich zu Tholuck gerade in Bezug auf den Zentralbegriff seiner Theologie, das vielberufene ‘Gefühl’ wie eine gemalte Blume zu einer wirklichen oder wie ein Spiel mit Streichhölzern zu einer Feuersbrunst. Umsichtige, scharfsinnige Lehre vom Gefühl dort, unumsichtige, stürmische, einseitige Sprache des Gefühls selber hier ... Wir haben es bei Tholuck mit wirklicher persönlicher Erregung zu tun, nicht mit dem Begriff, sondern mit dem ungemeisterten Ereignis der Erregung des jenseits von aller Verständigkeit und Absichtlichkeit liegenden Bewußtseins- und Lebenszentrums, mit dem ‘Unmittelbaren’, wie Tholuck gerne sagt.“ 45
Wie ist diese eigentümliche Theologie zu beurteilen? Barth antwortet mit einem Nein und zugleich einem Ja. Das Nein ist unumwunden. Es bezieht sich eben auf den Punkt, den er mit dem Stichwort „Individualisierung“ aufgedeckt hat, verstanden als „Aneignung des Gegenstandes zum Zweck seiner Beherrschung“. Er kann die Absicht Tholucks darauf mit dessen eigenen Worten belegen: Das von Natur aus Gott verwandte Innere des Menschen dränge je länger, je mehr zu dem ihm „Verwandten“ hin, suche „in dasselbe einzudringen, sich seiner zu bemächtigen“, durch „Aneignen des geliebten Gegenstandes“. 46 Eben damit ordne er sich den Bemühungen seiner durchaus „unerweckten theologischen Zeitgenossen“ nahtlos ein. Und damit setze auch er sich zumindest dem dann von Ludwig Feuerbach geäußerten Verdacht aus, daß der da gemeinte „Gott“, indem er aus seiner Gegenständlichkeit in ein Eigentum des Menschen überführt werden soll, gerade nicht Gott ist, sondern ein Spiegelbild des trotz seiner religiösen Erregung, ja vielmehr in ihr nur erst recht um sich selbst kreisenden „Herzens“. 47 „Gibt es kein prinzipielles Gegenüber von Gott und Mensch, und ein solches hat die Erweckungstheologie so wenig herausgearbeitet wie Schleiermacher“, dann drohen Hand in Hand eine Selbstvergottung des Menschen und eine Entgottung Gottes. 48 Barth kann seine Kritik auch mit den Worten eines zeitgenössischen Briefeschreibers an Tholuck aussprechen: „Du bist im Dogma vom Heiligen Geist nicht ganz richtig, der der alleinige Lehrer und Bekehrer zu Christo ist.“ 49
Aber Barth sagt zugleich auch ein Ja, und zwar bewußt, ohne es mit jenem Nein auszugleichen: nicht weil er Tholuck in einer Art Schizophrenie gefangen sah, noch weil er nach Art des Schemas von Erscheinung und Idee zwischen tatsächlich Gesagtem und eigentlich Gemeintem unterschied, noch weil er selbst in einer Unentschiedenheit ihm gegenüberstand, die es offenließe, ob man sich lieber mehr dieses oder jenes für sich aussuchen möchte. Das anscheinend so unausgeglichen sich gegenüberstehende Nein und Ja hat seine Einheit wie seinen Grund in jenem Licht der verheißenen Sündenvergebung, die es erlaubt und nahelegt, denselben Theologen so und zugleich noch einmal anders zu sehen, zu lesen, zu verstehen. Weil das Nein und das Ja in jenem Licht seinen Ursprung hat, darum kann an der Klarheit kein Zweifel sein, in der hier Nein und dort Ja gesagt wird, so als ob sie sich gegenseitig relativieren oder gar in Frage stellten. Darum ist es wiederum müßig, eine Grenze zwischen zu verneinenden und zu bejahenden Aussagen zu ziehen; das Ja bezieht sich ja auf Aussagen, hinter die ein großes Fragezeichen zu setzen ist, wie das Nein auf solche, die nachdem sie kritisch beurteilt wurden, dann doch nicht einfach verworfen, sondern, noch einmal in einem anderen Licht besehen, positiv aufgenommen werden.
Das Ja bezieht sich nach Barth besonders auf zweierlei, „was die Erweckungsbewegung in der Theologie geleistet hat und wofür Tholuck repräsentativ ist“. Zum einen hat sie in Erinnerung gebracht: „Es gibt keine theologischen Wahrheiten im Allgemeinen, es gibt nur solche, die im Munde dieses und dieses in einer bestimmten Situation redenden Menschen Wahrheit sind, indem sie nun gerade in seinem Munde und in dieser Situation zeugniskräftig und insofern erkenntnisbegründend sind.“ Sie hat das geltendgemacht in einer, wie gesagt, gefährlichen und bedenklichen Weise: in Gestalt der Tatsache von im Vergleich mit den übrigen Zeitgenossen religiös „ungleich tiefer beunruhigter und heftiger bewegter Menschen“. Ja, aber sie hat diesen beunruhigten und bewegten Menschen „in einer so akuten Gestalt auf den Plan geführt, wie es jene herrschende Theologie nicht vorgesehen hatte. 50 Man könnte sagen: Nicht durch ihr Zutun, aber durch das Zutun eines Anderen haben ihre Erfahrungen und Äußerungen faktisch noch ein anderes bedeutet, als was sie sie verstanden. „So fremd und erstaunlich wirkten diese Geister mit ihren Berichten aus dem Innenland des frommen Gemüts, daß der Zweifel entstehen konnte, ob diese Berichte, wie sie selbst allerdings ausgaben, nur aus diesem Innenland stammten, ... ob sie nicht entgegen ihren eigenen Erklärungen nicht als Botschafter ihres Herzenserlebnisses, sondern bei aller anhaftenden Torheit als Zeugen Christi zu verstehen waren“. Man könnte auch sagen: Indem sie zwar ein „Nebenthema“ zum Hauptthema machten, indem sie dadurch jenes andere Hauptthema, nämlich das Wort Gottes, zwar verdunkelten, in dem es eigentlich nur mitgesetzt ist, aber immerhin mitgesetzt, hatten sie faktisch doch recht damit, daß sie es geltendmachten - eben die etwas zudringliche, aber „recht verstanden doch ganz sachgemäß aufzuwerfende“ Frage 51 : „Bruder, wie steht es mit deinem Herzen?“ Oder denn den Satz: pectus facit theologum. „Sie hat ihn so kräftig zur Geltung gebracht, daß er in seiner ganzen Zweideutigkeit über sich selbst hinauswies.“ 52
Zum anderen, Barth weist auf Tholucks Satz hin: „Das dritte Kapitel der Genesis und das siebente des Römerbriefes, das sind die zween Pfeiler, auf denen des lebendigen Christentums Gebäude ruht, das sind die zwei engen Pforten, durch die der Mensch zum Leben eingeht.“ 53 Für Barth hatte der Verdacht mehr als Wahrscheinlichkeit, daß Tholuck diese „zween Pfeiler“ mühelos in das System seiner Herzenstheologie einbauen konnte, so daß sie gegenüber der Bewußtseinstheologie seiner Zeitgenossen ihre Tragkraft und Tragweite nicht merklich erweisen konnten. Aber indem es doch diese Pfeiler waren, die darin steckten, war es nun auch hier faktisch so, „daß jener emotionalen Erregung das Wissen um das, was mehr ist als Erregung, nicht fehlte.“ Faktisch war es so, daß die Erweckungsbewegung hier „ein bestimmtes Stück christlichen Erkenntnisgutes jedenfalls wieder an die Oberfläche, ins Bewußtsein der Zeit gebracht hat.“ 54 Sie hat „den Gedanken der freien Sündergnade wieder gekannt, wenn auch nicht eigentlich nachgedacht“, und hat ihn, „verstanden oder unverstanden, dem Jahrhundert in einer Weise zugerufen ..., daß es ihn nicht mehr ganz vergessen konnte.“ 55 Barth fragt zuletzt, ob die Erinnerung daran nicht schließlich für Tholucks Sendung bedeutungsvoller gewesen ist und bleibt als alles andere, was sich im Gedanken an ihn in den Vordergrund drängen konnte: ob er nicht „eine Art Briefträger“ sein möchte, „der dies auszurichten hatte.“ Er wäre also zu verstehen als jemand, der nicht der Verfasser und Absender dessen war, was er überbrachte, ja, der anscheinend nicht einmal selbst genau wußte, was er weitergab, und der doch derjenige war, der diese Funktion ausübte. Und - „es gibt ja wirklich Situationen, in denen einem der Besuch des Briefträgers lieber ist als alle anderen, an sich viel wertvolleren Besuche.“ 56

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1 K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV/3, S. 777; vgl. auch IV/1, S. 554. Barth bezieht sich wohl auf den Bericht bei L. Witte, Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck’s, Bd. 2, Bielefeld / Leipzig 1886, S. 306: Er „zog einen jeden neben sich nieder auf sein Sofa, legte auch wohl den Arm ihm um den Nacken und leuchtete mit einer hellen Frage in die Herzenskammern des inwendigen Menschen.“
2 K. Barth, Einführung in die evangelische Theologie, Zürich 1962, S. 93.
3 Vgl. die Zitierungen aus Tholucks Werken in den Seminararbeiten des 19- bzw. 20-jährigen Theologiestudenten Barth, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1905-1909, Zürich 1992, S. 24.127.
4 Vgl. auch noch K. Barth, Erklärung des Johannes-Evangeliums 1925/1926, Zürich 1976, S. 41f.139.
5 K. Barth, Der Römerbrief (1. Fassung) 1919, neu hrsg. von H. Schmidt, Zürich 1985, S. 188, = A. Tholuck, Auslegung des Briefes Pauli an die Römer nebst fortlaufenden Auszügen aus den exegetischen Schriften der Kirchenväter und Reformatoren, Berlin 31831, S. 193.
6 K. Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 589.
7 K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 31960, S. 460.
8 Art. Tholuck, RE3, Bd. 19, S. 696.
9 K. Barth, Die protestantische Theologie, S. 460.
10 K. Barth, Nachwort, in: Schleiermacher-Auswahl, hrsg. von H. Bolli, München / Hamburg 1968, S. 295.
11 Nach mündlichem Bericht Barths an den Verfasser wurde der Vater - es muß sich, wenn die Mitteilung zutrifft, wohl um die Besetzung der Stelle 1888 gehandelt haben - wegen seiner Bestreitung der Lehre von der Jungfrauengeburt dort übergangen, aber dafür dann mit der Auszeichnung eines Ehrendoktors „abgefunden“. Wenn Fritz Barth als Dank für diese Auszeichnung der Fakultät Halle die 3. Auflage seines Buches: Die Hauptprobleme des Lebens Jesu. Eine geschichtliche Untersuchung, Gütersloh 1907, widmete, so hätte das die pikante Spitze, daß er eben darin S. 271ff. seine Kritik der Lehre von der Jungfrauengeburt ausgiebig dartut.
12 Handschriftliche Dokumente im Karl Barth-Archiv, Basel.
13 Siehe unten; vgl. K. Barth, Die protestantische Theologie, S. 462; und ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925-1930, Zürich 1994, S. 169-9.
14 K. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1922-1925, Zürich 1990, S. 573.
15 A.a.O., S. 589.
16 L. Witte, Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck’s, Bielefeld / Leipzig 1884/1886.
17 Karl Barth - Eduard Thurneysen, Briefwechsel. Bd. 1: 1913-1921, Zürich 1973, S. 220.
18 Vgl. a.a.O., S. 241.245. Die Auseinandersetzung wird, wie noch zu zeigen sein wird, implizit und ohne Namensnennung doch schon in der Auslegung von Röm. 5 angedeutet.
19 A.a.O., S. 215.
20 K. Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 560.
21 K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV/3, S. 872.
22 K. Barth, Der Römerbrief, a.a.O. S. 330 - Der Satz bezieht sich auf Tholucks Satz in dessen Römerbriefkommentar, S. 313: „Wie der Mensch zum Sein gelangen wird, so soll auch die Erscheinung der Natur im Sein ihr Urbild erreichen.“
23 Ob Tholuck es so gemeint hat, wenn er sagt: „Gott als der Offenbarende ist der Quell des natürlichen Lebens“?, in: Kommentar zu dem „Evangelio Johannis“, Hamburg 21828, S. 43. Vgl. Barths Fragezeichen dazu in: Erklärung des Johannesevangeliums 1925/1926, Zürich 1976, S. 45f. Vgl. im übrigen K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/1, S. 67.
24 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/1, S. 44ff.
25 K. Barth, Kirchliche Dogmatik IV/1, S. 32.
26 K. Barth, Kirchliche Dogmatik III/1, S. 45.
27 K. Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 276.
28 A.a.O., S. 291.
29 L. Witte, Das Leben Tholucks, Bd. 1, S. 453.
30 Barth - Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, S. 215.
31 K. Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 292f.
32 A.a.O., S. 290.
33 Barth - Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 1, S. 200.
34 K. Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 419. Der Herausgeber weist an dieser Stelle zu Recht auch auf die von Barth gelesene Biographie über Tholuck hin.
35 A.a.O., S. 290.
36 So auch der Herausgeber der Neuausgabe des Römerbriefs H. Schmidt, ebd., Anm. 54 mit Belegen.
37 So Meyers Konversationslexikon, Bd. 6, Leipzig / Wien 51895, S. 923.
38 Vgl. K. Barth, Die Protestantische Theologie, a.a.O., S. 467, wo Barth im Zusammenhang mit Tholuck auf ein Schwanken des Pietismus zwischen Pelegianismus und Erinnerung an reformatorische Erkenntnis feststellt: Zutrauen zum guten Kern im Menschen aufgrund einer eingegossenen Gnade „und zum Schluß auch noch eine üble Sterbebettromantik gehen wunderlich genug neben erstaunlich klaren Einsichten her.“
39 K. Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 289.
40 K. Barth, Der Römerbrief, a.a.O., S. 158-160.
41 K. Barth, Die protestantische Theologie, a.a.O., S. 92f. Vielleicht hatte Barth bei dieser Formulierung die gegen ihn gerichtete These A. von Harnacks im Ohr: Die Wissenschaft, inklusive der Theologie, sei die „Möglichkeit, sich des Gegenstandes erkenntnismäßig zu bemächtigen.“, in: K. Barth, Theologische Fragen und Antworten. Ges. Vortr. Bd. 3, Zollikon 1957, S. 14.
42 Ich beziehe mich im folgenden auf das erst 1946 publizierte Kapitel über ihn in Barths Buch: Die Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, a.a.O. Das Buch gibt, ohne Verbesserungen (vgl. S. V) Barths Bonner Vorlesung 1932/1933 wieder. Diese Vorlesung aber geht in ihrem zweiten Teil zurück auf eine frühere, im Sommer 1926, in der er die „Geschichte“ der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert vortrug. Ob Barth das damals verfaßte Kapitel über Tholuck 1933 noch einmal nennenswert änderte, ist mir unbekannt, aber unwahrscheinlich. In Kurzfassung kommen Aussagen aus jenem Kapitel auch vor in Barths Vortrag: Das Wort in der Theologie von Schleiermacher bis Ritschl, vom Oktober 1927, in: K. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten 1925-1930, Zürich 1994, S. 196-202.
43 Karl Barth - Eduard Thurneysen, Briefwechsel 1921-1930, Zürich 1974, S. 423.
44 K. Barth, Die protestantische Theologie, a.a.O., S. VI.
45 A.a.O., S. 460-463.
46 A.a.O., S. 463.
47 So Barth in seinem Aufsatz über Feuerbach, in: ders., Vorträge und kleinere Arbeiten 1925-1930, a.a.O., S. 487. Vgl. auch S. 197: Indem hier „Alles, alles kreisen darf um ... die Erlebnisfähigkeit des Menschen“ ist das Wunder und die Dialektik der Theologie „schlechterdings das Wunder und die Dialektik des menschlichen Herzens, des erregten, des enthusiastischen, des erweckten, des christlichen, aber - Fleisch ist Fleisch - des menschlichen Herzens.“
48 K. Barth, Vorträge und kleinere Arbeiten, a.a.O., S. 199.
49 A.a.O., S. 198; so auch in: Die Protestantische Theologie, a.a.O., S. 464.
50 K. Barth, Die protestantische Theologie, a.a.O., S. 465.
51 So Kirchliche Dogmatik IV/1, S. 554.
52 K. Barth, Die protestantische Theologie, a.a.O., S. 466. Erinnern wir uns des Satzes im 1. Römerbrief über den Erweckungstheologen: „Bei ihm raucht es nur, aber es brennt nicht“, so könnte das von 1926 soeben über das Verhältnis Tholucks zu Schleiermacher Zitierte (statt Spiel mit Zündhölzern, eine Feuersbrunst), eine Anspielung auf den frühen Satz und eine gewisse Korrektur ihm gegenüber bedeuten.
53 A. Tholuck, Guido und Julius. Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder Die wahre Weihe des Zweiflers (1823), dort S. 22; zitiert von Barth, Die protestantische Theologie, a.a.O., S. 466.
54 Ebd.
55 A.a.O., S. 468. - An einer (neben den eingangs genannten drei Stellen) vierten Stelle, an der der alte Barth noch einmal auf Tholuck zu reden kam, beruft er sich auf ihn als Zeugen der Rechtfertigung des Sünders gegenüber einem falschen Verständnis von Heiligung - so in Barths Gespräch mit Methodistenpredigern am 16.5.1961 - in: Gespräche 1959-1962, Zürich 1995, S. 184: „Der alte Tholuck hat in seinen letzten Lebenswochen die schwersten Glaubensanfechtungen durchmachen müssen : Darauf müssen wir alle gefaßt sein. Und dann hilft doch nichts als das: ‘Mein Gott, ich bitt’ durch Christi Blut, mach’s nur mit meinem Ende gut!’ Durch Christi Blut! - nicht durch das, was ich da aufgebaut habe! Wir werden alle noch einmal froh sein, aus reiner, purer Gnade selig zu werden.“
56 K. Barth, Die protestantische Theologie, a.a.O., S. 468.

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© Eberhard Busch 1998


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