Rezensions-Exemplare [1998]

Als ich vor rund zehn Jahren auf Einladung eines Referatenorgans damit begann, die Bände einer neuen Kleist-Ausgabe vorzustellen, die ein Ereignis zu werden versprach, konnte ich nicht voraussehen, daß meine Anzeigen gleichfalls einiges Aufsehen erregen, Herausgeber und Verleger zu Interventionen veranlassen, die Zeitschrift selbst in Schwierigkeiten bringen würden. Es sollten wirklich nur – wie an anderen Stellen bald auch durch andere Rezensenten – die erheblichen Mängel einer Ausgabe bezeichnet werden, der zunächst Tages- und Wochenzeitungen viel Lob und dann Bundes- und Landesministerien, ja selbst die Deutsche Forschungsgemeinschaft viel Geld gespendet haben. Inzwischen ist etwa die Hälfte der seinerzeit angekündigten Bände erschienen, und ich nehme die Gelegenheit wahr, meine Besprechungen, die nicht jeder Empfänger der glössen in der Germanistik gelesen haben wird, einmal zu sammeln. Sie sind beim Teufel nicht das Schlechteste, was ich in meinem Leben gemacht habe.                                   CW

 

Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke, Berliner [später: Brandenburger] Ausgabe. Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Mit Beilagen: Berliner [später: Brandenburger] Kleist-Blätter. Basel, Frankfurt a. M.: Stroemfeld/ Roter Stern.

II/4: Die Verlobung in St. Domingo. 1988.

Nachdem Kanzog und Kreutzer die mit großem Aufwand vorbereitete historisch-kritische Kleist-Ausgabe schuldig geblieben sind, hat nun der durch Sattlers Hölderlin-Ausgabe rühmlich bekannte Verlag Stroemfeld / Roter Stern mit ähnlich hohem Anspruch seine »Berliner Ausgabe« der Werke Kleists zu publizieren begonnen. Daß als Herausgeber zwei jüngere Wissenschaftler verantwortlich zeichnen, die sich bisher weder als Editoren noch in Sachen Kleist ausgewiesen haben, muß nichts zu bedeuten haben – sofern nur die Ausgabe selbst sich imstande zeigt Erich Schmidts verjährte, aber noch immer unentbehrliche Edition (1904-06) abzulösen. Der Eröffnungsband stimmt die Hoffnungen jedoch beträchtlich herab.

Die Herausgeber bieten Die Verlobung in St. Domingo nach der Fassung letzter Hand in Band 2 der Erzählungen von 1811 (E) und verzeichnen die Abweichungen des Erstdrucks (im Freimüthigen, F) und des Wiener Nachdrucks (im Sammler, S) lemmatisiert im Apparat. Allerdings folgen sie bei der Konstitution des Textes E nur »Im allgemeinen« – ohne daß in dem knapp zwei Seiten langen Nachwort Zu dieser Ausgabe die Regeln angegeben würden, nach denen Emendationen bald vorgenommen, bald unterlassen worden sind. Tatsächlich aber verstehen sich die textkritischen Entscheidungen der Herausgeber (sieht man von Korrekturen offenkundiger Druckfehler ab) an vielen Stellen keineswegs von selbst. Grammatik und Interpunktion von E werden je fünfmal, öfter als in diesen Fällen selbst von Sembdner, nach F korrigiert – während allerlei gröbere Fehler, die der Setzer der Erzählungen verschuldet hat, hier anders als bei Sembdner (und schon bei Schmidt) nicht nach F korrigiert werden. Und da die Herausgeber Konjekturen (hier also: Änderungen gegen F und E) offenbar prinzipiell verwerfen, müssen sie freilich außer dem wunderlichen Namenswechsel des Protagonisten von »Gustav« zu »August« (den sie für einen »gewaltsamen Akt in der Faktur des Textes« halten) auch die Allographien einiger Wörter und die Unvollständigkeit mancher Rede-Markierung in den Text ihrer Ausgabe übernehmen. Obwohl sie aber so gut wie immer auf E setzen, haben sie doch selbst diesen Druck keiner ›internen Kollation‹ unterzogen – die etwa ergeben hätte, daß »südwestlich« nur eine Preßkorruptele bildet, die nicht in jedem Exemplar von E zu finden ist. Demgegenüber fällt es kaum ins Gewicht, daß im Verzeichnis der »Abweichungen von der Orthographie der Originaldrucke« weder die Differenzierung von »I« und »J« noch auch die Umsetzung von »zz« in »tz« (bei Worttrennung am Zeilenschluß) aufgeführt werden.

Ebenso mißlich wie um den Text der Ausgabe ist es auch um ihren Apparat bestellt. Weil er »einer vollständigen Darstellung der Varianz« dienen soll, sind darin außer den vergleichsweise wenigen für E abgeänderten Stellen auch die sehr viel zahlreicheren Fälle verzeichnet, wo dem Setzer von F ein Fehler unterlaufen ist (Wunsche] Wuusche F) und wo sich der Setzer von s nach der Orthographie seiner Offizin gerichtet hat (rund fünfzigmal: bei] bey s). Statt solche ›Lesarten‹ nur summarisch und exemplarisch darzustellen und in den Apparat allein die eigentlichen ›Varianten‹ aufzunehmen, legen die Herausgeber das heterogene Material ohne textkritische Unterscheidung in einer Reihe vor – als wäre es nicht ihre Sache, die Spreu vom Weizen zu trennen.

Gewiß kann die neue (übrigens vortrefflich gedruckte) Ausgabe es sich zum Verdienst anrechnen, erstmals den »Text jedes einzelnen Zeugen«, zumal des belanglosen Wiener Nachdrucks, »rekonstruierbar und für jede weitere Beschäftigung mit der Dichtung Kleists verfügbar« gemacht zu haben. Aber dies wäre bequemer auch mit einem bloßen Abdruck von E und einer rein mechanischen Verzeichnung der Abweichungen in F und s zu bewerkstelligen gewesen. Was die Herausgeber darüber hinaus geleistet haben, bleibt sowohl In textphilologischer als auch In editionstechnischer Hinsicht weit hinter den Ansprüchen zurück, die an eine kritische Kleist-Ausgabe heute zu stellen wären.

Dieses Fazit wird den nicht überraschen, der sich der Mühe unterzogen hat, das beigefügte erste der Berliner Kleist-Blätter, Reuß' Einführung in Kleists Erzählen, zu lesen – eine offenbar unfreiwillige Parodie des ›rasenden Gefasels der Gegenaufklärung‹ (Laermann) mit Sätzen wie »Klelsts Text ›Die Verlobung in St. Domingo‹ sucht den Ort der Dichtung.« (17). Der editorische Ertrag dieser neuen »Lekture« ist jedenfalls nicht des Aufhebens wert. (1989)

II/2: Die Marquise von O..... 1989.

Wie bei der Verlobung setzen die Herausgeber auch bei der Marquise ganz auf die möglichst vollständige Darbietung der Textzeugen – hier: des Dresdner Erstdrucks im Phöbus (P) und der Berliner Ausgabe letzter Hand in Band 1 der Erzählungen (E). Ediert wird unter Korrektur offenbarer Druckfehler der durch E überlieferte Text; die Lesarten des Erstdrucks sind (einschließlich seiner Druckfehler) lemmatisiert im Apparat verzeichnet. (Es fehlt nur 12, 17 zweifelhaft] zweifelhalft. E.) Obwohl aber die Herausgeber für E etwa doppelt so viele Satzversehen annehmen wie für P, vermeiden sie doch selbst die nächstliegenden Emendationen jenseits des Trivialen. Diese hätten vielfach der Zeichensetzung, wiederholt der Schreibung, bisweilen dem Wortlaut gelten und zumal dort nicht ausbleiben sollen, wo alles auf eine Verschlimmbesserung des Berliner Setzers weist. (So 68, 8-9: »Ein einziges, heimliches Geflüstertes – !« E gegen »Ein einziges, heimliches, geflüstertes – !« P.) Statt dessen rechnen die Herausgeber bei Differenzen zwischen P und E allemal lieber mit planmäßigen Eingriffen Kleists (dem sie sogar die »Veränderung von ›sein‹ zu ›seyn‹« zuschreiben), und halten insbesondere den »Unterschied der Schreibweisen ›Commendant‹ und ›Kommandant‹, der in E deutlicher als in P hervortritt«, für eine »schwerlich belanglose« Angelegenheit.

Der Apparat weist wieder Differenzen jeder Art in einer Reihe nach – so daß der Benutzer die wenigen, aber wichtigen ›Varianten‹ auch diesmal erst aus der Überfülle bloßer ›Lesarten‹ (rund vierzigmal: sey] sei P) heraussuchen muß – was im Falle von Wortumstellungen noch dadurch erschwert ist, daß der Apparat sie jeweils mit zwei Einträgen bucht (37, 8-9: rein] rein wieder P / Fluth wieder] Fluth P). Und auch diesmal wird die antiquierte Apparatgestaltung im Nachwort, das sonst gegenüber dem zum ersterschienenen Band merklich verbessert scheint, mit keinem Wort begründet.

Desto ausführlicher teilt Reuß im 2. der Berliner Kleist-Blätter »Erste Gedanken« zu der Frage mit, was »das Kritische an einer kritischen Ausgabe« sei. Er plädiert gegen die angeblich »traditionelle Verachtung der Interpretation in Editionsfragen« und erklärt in Sachen Kleist dessen Texte [...] souverän und radikal den gesellschaftlichen Konsens über das Schickliche attackieren«, jede Normalisierung im Feld der »konventionellen Signifikanten des Textes« für unzulässig. im Fall der Marquise läuft das de facto »auf eine reine Reprintausgabe hinaus«, die Reuß an anderer Stelle programmatisch verwirft. Wer die Erzählung selbst (nicht bloß als das von Druckfehlern befreite Werk des Berliner Setzers) lesen will, ist selbst mit Erich Schmidts verjährter Edition besser bedient. (1990)

II/1: Michael Kohlhaas. 1990.

Um weder dem Kohlhaas-Fragment im Phöbus von 1808 (P) noch dem fertigen Werk in den Erzählungen von 1810 (E) die »Herrschaft« einzuräumen, legen die Herausgeber die beiden Texte (statt wie neuerdings Müller-Salget im Paralleldruck) in selbständigen (jedoch durchgehend paginierten) Teilbänden vor – was zwar den Preis erhöht und den Vergleich erschwert, aber auch den Vorteil bietet, daß der Leser das Fragment nun als »eigenständigen Text« wahrzunehmen gehalten ist. Ähnlich verfahren aus demselben Grund ja auch manche Goethe-Ausgaben mit den ersten Fassungen etwa des Faust und des Werther.

Die Wiedergabe folgt mit den üblichen typographischen Modifikationen den Originaldrucken P und E. Außer Trivialversehen à la 238,17 »lächelud« sind auch einige Kasus-Fehler berichtigt – freilich nicht alle, da z. B. 263,3 »In dem Schooß regnete« beibehalten ist. Und während die Herausgeber einmal gar das Genus korrigieren (196,15: das] den E). lassen sie andernorts doch selbst die Möglichkeit eines Textfehlers unerwähnt, geschweige denn, daß sie ihn mit Sembdner (und anderen) im edierten Text zu beheben suchten (119,22: nicht] fehlt E; 127,20: furchtbarer] fruchtbarer E; 189,18 gerückt] gezückt E; 235,7: herzlichen] herrlichen E).

Ebenso werden fehlende An- oder Abführungszeichen nicht ergänzt (110,12; 210,23) und bleibt ein mitten in eine Satzperiode geratener Punkt (275,14) streng nach E erhalten. Wieder gibt das Nachwort Zu dieser Ausgabe nichts über die Regeln bekannt, nach denen Emendatlonen bald vorgenommen, bald unterlassen worden sind, und auch im beigefügten 3. der Berliner Kleist-Blätter begründet Reuß in dieser Sache nur die gegen E vorgenommene Absatz-Bildung bei 122, 8-9 (die man gutheißen kann, auch wenn einen die Begründung nicht überzeugt). Wie mindestens dieser Fall erkennen läßt, liegt dem insgesamt eher ängstlichen Verfahren der Herausgeber, jedenfalls nicht Hans Zellers rigide Definition des Textfehlers zugrunde (wonach ein solcher nur dann anzunehmen ist, wenn die bezeugte Stelle ›keinen Sinn zuläßt‹). Was aber dann? (1990)

l/4:Amphitryon. 1991.

Der Text von Kleists Arnphitryon ist allein durch den Erstdruck von 1807 bezeugt und dieser Druck scheint insgesamt mit Sorgfalt überwacht worden zu sein. Mit der Berichtigung von rund dreißig größtenteils interpunktionellen Fehlern ist editorisch schon beinahe alles getan. Zwei ähnlich offensichtliche Fehler (V. 1258: »Ein – und Ein'gen« statt »Ein- und Ein'gen«; V. 2283: »mit Blitzen in Nacht« statt »mit Blitzen in die Nacht«) lassen die Herausgeber unkorrigiert - im Unterschied zu einem überdies nur scheinbar falschen Kasusgebrauch (in V. 248), den sie mit Erich Schmidt und Sembdner über den Leisten der Regelgrammatlk schlagen. Hingegen wird man es der neuen Ausgabe nicht verdenken, daß auch sie sich nicht getraut die Schein-Verse 2348 und 2350 als Teile eines Verses (der freilich durch V. 2349 gewissermaßen unterbrochen wird) erkennbar zu machen.

Der schmale Apparat verzeichnet lemmatisiert die editorischen Eingriffe (siebenmal: Soslas.] Sosias A). Durchaus verfehlt ist nur der Vermerk zu V. 388: ‹Beide Vershälften in A zentriert› - der richtig hätte lauten müssen: ‹Die erste Vershälfte in A eingerückt›.

Die typographische Einrichtung des Satzes, die auch für die übrigen Dramen-Bände der Ausgabe gelten soll, ist ohne Vorbehalt zu rühmen. Allenfalls sollte die Einheit aufgeteilter Verse künftig weniger oft als hier (wie bei V. 1580: S. 91/92) durch Seitenwechsel gestört werden - und zwar auch im Sinne des beigefügten Essays Zu Kleists »Amphitryon«, in dem Reuß seine an Hölderlin entwickelte Metaphysik des Enjambements auf Kleist zu übertragen sucht. Liebhabern des wilden Denkens seien aber vor allem die Spekulationen über »Scene«, »Schloß« und »Platz« (mit welchem Wort bei Kleist »immer auch die Gedanken des ›Auseinander-‹ und des ›Aufplatzens in Stücke‹ zu verbinden sind«) empfohlen. (1991)

          I/5: Penthesilea. 1992.

Die vielberedete Berliner, jetzt Brandenburger Kleist-Ausgabe hatte sich mit ihrem jüngsten Band erstmals an einem der in editorischer Hinsicht schwierigeren Werke Kleists zu bewähren. Entsprechend ausführlich muß in der Anzeige davon die Rede sein.

Kleist hat die Penthesilea zunächst auszugswelse im Phöbus (P) dann revidiert als Buch erscheinen lassen (Pe). Außerdem ist die Niederschrift einer älteren Fassung erhalten (H) – von fremder Hand, aber mit Korrekturen Kleists, die zum Teil jünger sein könnten als die Buchausgabe. Weil sich nach Meinung der Herausgeber dieser »Überlieferungszusammenhang den reduktionistischen [sic] Darstellungsweisen der Stufenapparate und Paralleldrucke« entzieht (651), geben sie die drei Versionen des Dramas (ähnlich wie Streller und BarthISeeba) im Nacheinander wieder – H jedoch unter Einschluß auch der späteren Korrekturen, die bisher nur der Apparat von Erich Schmidts Edition verzeichnet hat.

Das Faksimile und die Transkription der Handschrift die beide vortrefflich gelungen sind, machen das eigentliche Verdienst des Bandes aus. Denn was die Edition des Dramas in der Fassung des Buches betrifft, so hat sie kaum mehr zu bieten als Sembdners Reprint von 1967. Die »verhältnismäßig vielen Eingriffe« der Herausgeber (641) dienen größtenteils der Berichtigung unverkennbarer Druckfehler – unter Einschluß auch sämtlicher Zwiebelfische, die Stück für Stück im Apparat verzeichnet werden. Bei der Emendation gröberer Versehen verfährt die Ausgabe uneinheitlich: ergänzt nach H einen fehlenden Redepart (in 1364) und ersetzt eine Sprecherangabe (vor 1515), läßt aber die falsche Sprecherangabe vor 2749/2 bestehen und fügt die fehlende vor 2761 nicht ein. Metri causa hätten ferner emendiert werden sollen: 1987 Fraun] Frauen gemäß P und 2450 vertraue] anvertraue gemäß H und P. Am Schluß von 1420 und 1421 wäre (nach H) jeweils statt eines Punktes ein Ausrufzeichen zu ergänzen gewesen.

Das Nachwort »Zu dieser Ausgabe« läßt sich in editorischer Hinsicht wieder nur über einige orthographische und typographische Regulierungen aus – unnötigerweise auch über die Behandlung von Worttrennungen des Typs z-/z und unzureichend über die Einrichtung der Begleitangaben (»Regieanweisungen«), die abweichend von der Buchausgabe nicht durchweg in kleinerer Schrift erscheinen. Bei der Modernisierung der Umlautschreibung dürfte übersehen worden sein, daß der Erstdruck fast durchgängig »Ä« in griechischen Namen (Ätolier, Äginer), »Ae« jedoch in deutschen Wörtern bietet (Aermster, Aeußerstes).

Für die editorischen Defizite auch dieses Bandes der BKA (die dem Prospekt zufolge in »Orthographie, Zeichensetzung, Semantik und Syntax« [sic] streng den Handschriften und Drucken folgt und der ein Rundbrief des Verlags geradezu den Charakter einer »ersten kritischen Kleist-Ausgabe« bescheinigt), kann schwerlich Reußens Essay im 5, der Brandenburger (vormals Berliner) Kleist-Blätter entschädigen, eine wahrhaft abgründige Interpretation des Dramas, die noch den Klammern im Personenverzeichnis eine geheime Nachricht (»Bogen«!) abzulesen weiß. Wohl zur Förderung ähnlicher Spekulationen wird im Apparat der Ausgabe erstmals auch jeder »Spieß« (!) verzeichnet (38, 69). Im Göttinger Exemplar, das die Herausgeber kollationiert haben wollen, ist davon allerdings nur einer zu finden. (1992)(1993)

II/3: Das Erdbeben in Chili. 1993.

Kleists erste Novelle ist zunächst in Cottas Morgenblatt erschienen (1807), dann im ersten Band der Erzählungen (1810). Ediert wird die Fassung der Buchausgabe – unter Wahrung auch der sparsamen Absatzgliederung, die Sembdner aus schlechten Gründen meinte aufgeben zu müssen. Außer allerlei Trivialversehen (wie 39,9: uud) sind nur wenige Fehler der Buchausgabe nach dem Erstdruck berichtigt – törichterweise nicht auch die einmalige Kleinschreibung der Anrede (31,12: sie). Dem Nachwort ist wieder nichts über die Prinzipien der Emendation zu entnehmen, und wieder faßt der Apparat Varianten (etwa: hämische] eigennützige) mit Lesarten (mehr als zwanzigmal: bei] bey) zusammen. Selbst ein »Spieß« im Morgenblatt wird registriert (18,4). Als ein Verdienst der neuen Ausgabe kann nur die im Nachwort referierte »Lagenbestimmung im Buchblock« gelten – der sich entnehmen läßt, daß das Titelblatt, mit dem Inhaltsverzeichnis, erst mit dem letzten (vollständigen) Bogen des Bandes gesetzt worden ist.

Das obligate Beiheft bietet außer einer (auf Hamachers Spuren spökenkiekerischen) Interpretation der Novelle eine Sammlung von Zeugnissen um Wilhelmine von Zenge sowie einen ersten Bericht über die Erschließung des Nachlasses von Georg Minde-Pouet. Die irreführende Behauptung (61), die »von Erich Schmidt herausgegebene, kritische Gesamtausgabe« sei »bearbeitet« worden von Minde-Pouet und Reinhold Steig, wird gelegentlich korrigiert werden müssen. (1994)

II/6: Der Zweikampf. 1994.

Kleists späte Erzählung ist allein im 2. Band der Erzählungen (1811) überliefert. Die neue Ausgabe folgt diesem Druck buchstaben- und beinahe seitengetreu – unter Berichtigung einiger wohl dem Setzer anzulastender Versehen, jedoch ohne Ausgleichung orthographischer Varianten (Gräfin / Herzoginn, Mistallen / Mißtrauen). Dagegen ist auch gar nichts zu sagen. Problematisch jedoch: daß die auch diesmal nicht seltenen Kasusfehler teils (wie 46,21) korrigiert, teils aber (52,8; 72,11) stillschweigend beibehalten sind. Unnützerweise verzeichnet der Apparat wiederum einen »Spieß« (35,12). Und was den Schriftsatz des Buches betrifft, für den (nicht zum erstenmal) der Herausgeber selbst verantwortlich zeichnet, so fällt eine gewisse Unbeholfenheit des Zeilenumbruchs ins Auge – wenn beispielsweise der erste Satz der Erzählung nicht weniger als acht Worttrennungen (davon fünf in Folge) aufzuweisen hat gegenüber dreien des Originals, das schon seinerseits nicht zu den Meisterstücken des Setzerhandwerks gehört. Im Sinne von Reußens wortspielerischen Darlegungen jedoch, die unter dem Titel Mit gebrochenen Worten dem Verständnis der Erzählung nachhelfen sollen, möchten außer der Vielzahl solcher Trennungen auch allerlei stil- oder regelwidrige Einzelfälle wie Lit-tegarde (56,22f.) und Her-olds (39,18f.) für wohlbedacht zu halten sein.

Neben der im übrigen fehlerfreien Wiedergabe des Textes verdient vor allem der Umstand gebührende Anerkennung, daß anders als etwa in den Ausgaben des Deutschen Klassiker Verlags die Interpretation des Herausgebers, die hier freilich in besonders hohem Maße dem Veralten ausgesetzt scheint dem Leser wenigstens nur separat, in der Beilage, überliefert wird. (1995)

II/3: Der zerbrochne Krug. 1995.

Die Fassungen, in denen Kleists Lustspiel überliefert ist, sind dergestalt miteinander verquickt, daß eine Edition klassischen Zuschnitts, mit »Text« und »Apparat«, davon nur einen unzureichenden Begriff vermitteln könnte. Deshalb führt Reuß (ähnlich wie Barth/Seeba 1991) die Zeugen einzeln und gesondert vor: die Buchausgabe von 1811 mit dem »Variant« (ZIV), die 1808 im Phöbus veröffentlichten Fragmente (P), und das wohl 1806 begonnene Manuskript (H). auf das über verschollene Abschriften beide Drucke zurückzuführen sind. Die Wiedergabe von ZIV erfolgt ohne Rücksicht auf P und H, unter Bewahrung auch von Druckfehlern (V. 734, 744, 996, 1227/1230). Dem stark verkleinerten Schwarzweiß-Faksimile der Handschrift ist eine im ganzen wohlgeratene Transkription zur Seite gestellt. Leider schweigt sich das Nachwort über die Maßgaben dieser »diplomatischen Umschrift« aus – so daß die Gründe im Dunkeln bleiben, aus denen etwa die nicht in P und Z übernommenen Korrekturen (V. 465, 470, 491, 872) auf unterschiedliche Weisen bezeichnet sind. Rätselhaft auch: wie Kleist den Vers (559) »Das ich von einem Indienfahrer kaufte« über zwei Schritte zu »Das 2jüngst ein2 Indienfahrer 1mir geschenkt1« verändert haben soll. Aber das verschlägt wenig – angesichts dessen, daß der Fachmann wie der Laie, wenn er das Lustspiel im Faksimile der Handschrift studieren will, jetzt nicht mehr auf Hoffmanns kostbare Ausgabe (1941) angewiesen ist. Und eine in jedes Detail gehende Transkription hat ja selbst Woffls »Kritische Ausgabe nach der Handschrift« (1898) nicht geboten. (1996)                                                                      

IV/1: Briefe 1. 1996.

Die BKA bietet das seit Erich Schmidts Ausgabe (1904/06, 21936/38) leider nur um wenige Stücke angewachsene Corpus der kaum 250 Briefe, davon 42 im vorliegenden Band, erstmals im Faksimile (verkleinert) aller erhalten gebliebenen Handschriften mit einer detaillierten Kennzeichnung der Zeugen (einschließlich Wasserzeichen und Provenlenz) sowie einer sorgfältigen Transkription, die auch »sämtlichen Spuren, Zufällen der Niederschrift« und insbesondere »sämtlichen Tilgungen« Rechnung zu tragen sucht. Die kritische Ausgabe hatte seinerzeit zwar viele, aber keineswegs alle aufschlußreichen Fälle verzeichnet – so zum Beispiel nicht die Ersetzung von »meiner Entfernung« durch »unsrer Trennung« in einem Brief an die Braut (339,32).

In typographischer Hinsicht läßt der (vom Herausgeber gesetzte) Band kaum etwas zu wünschen übrig. Im Blick auf die leidigen Kapitälchen der neuen Droste-Ausgabe ist insbesondere die Wahl der ›Frutiger‹ für die Wiedergabe lateinischer Schreibschrift zu loben. Einige Versehen in der Anwendung (12,21-22, 209,33 und 360,3 und 14) fallen ebenso wenig ins Gewicht wie eine wohl unnötige Emendation im Brief an Martini (40,10). Beigefügt sind ein Personen- und ein Ortsregister sowie im 9. der Kleist-Blätter eine recht nützliche »Chronik zu Kleists Lebensstationen« von Anfang 1793 bis April 1801.      (1997)

II/5: Das Bettelweib von Locarno. Der Findling. Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik. 1997.

In 10 Jahren sind 10 Bände der neuerdings auf 25 Bände berechneten Ausgabe erschienen. Mit II/5 liegen die Erzählungen vollständig vor: das Hauptstück der Abteilung »Prosa«, der auch die Berliner Abendblätter (jedoch nicht die Briefe) zugeschlagen werden. Wohl nur aus praktischen Gründen ist Der Findling, der wie Das Erdbeben in Chili einen eigenen Band verdient hatte, mit den beiden kürzesten Stücken der Sammlung (Bettelweib und Cäcilie) zusammengestellt. Die für die Buchausgabe (E) stärker umgearbeitete Cäcilien-Legende wird – wie schon von Müller-Salget – außerdem in der Fassung des Erstdrucks in den Berliner Abendblättern (BA) wiedergegeben. Was die textkritische Behandlung der drei Erzählungen betrifft, so hält der Herausgeber an den anscheinend ein für allemal festgelegten Grundsätzen fest – korrigiert also wieder vermeintliche Kasusfehler (25,2) und läßt wieder offenbare Korruptelen (15,2-4) unkorrigiert. Und wieder verzeichnet der Apparat (nun aber mit einem Justament an die Adresse des Rezensenten) zu 62,12 im Erstdruck einen »Spieß«. Das editorische Nachwort enthält eine Reihe von schiefen Formulierungen (als wäre z. B. die »graphische Identität von ›I‹ und ›J‹« nur in E und nicht auch in BA zu finden), und Reußens im Beiheft gedruckte »Notiz zur Geschichte einer Konjektur« wartet gar mit dem blanken Unsinn der Behauptung auf, es komme »das Wort ›herausrasseln‹ [...] fast in jedem umfangreicheren Text« des Kleist'schen Werkes vor. Tatsächlich steht es nur in der Bettelweib-Erzählung.

Im Beiheft, das ferner zwei überaus komische Interpretationen (Gerhard Buhr zum Bettelweib, Thomas Groß zur Cäcilie) bietet, kann Peter Staengle einige bisher unbekannte Wirkungszeugnisse aus der Vossischen Zeitung mitteilen, darunter die wohl erste Rezension der Erzählungen von 1810. Kaum zu glauben: die zünftige Kleist-Forschung hat sich diesen Fund entgehen lassen. (1998)

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Inzwischen ist ein neuer Band der BKA anzuzeigen. Aus den Vorarbeiten zu dieser Rezension hier eine Probe.

Das Heidelberger Institut für Textkritik e. V., das die Brandenburger Kleist-Ausgabe zu verantworten hat, will Druckfehler am liebsten gar nicht gelten lassen. Darum schrickt es vor Korrekturen auch dann zurück, wenn wie im Fall der Penthesilea ein autorisierter Vorabdruck den besseren Wortlaut bietet. Desto befremdlicher mutet es an, daß die Herausgeber in den seltenen Fällen, wo sie wenigstens dem Setzer der Berliner Abendblätter etwas am Zeug zu flicken haben, ihn mehr als einmal zu Unrecht beschuldigen. Da heißt es etwa in der Nummer vom 2. Oktober 1810:

Es zeigt offenbar von Rohheit politischer Ansichten, wenn usw.

Wovon aber zeugt es, wenn die Herausgeber nicht wissen, daß im älteren Deutsch »zeigen« auch für »zeugen« stehen kann? Das Grimmsche Wörterbuch gibt gerade für die Verbindung »zeigen von« allerlei Belege noch aus dem 19. Jahrhundert an. Gleichwohl ist in der neuen Kleist-Ausgabe zu lesen:

Es zeugt offenbar von Rohheit politischer Ansichten, wenn usw.

in den Abendblättern vom 3. Dezember 1810 war der offenbare Unsinn gedruckt:

So wie im 15ten Jahrhundert der Durst nach Gold den Höfen von ganz Europa und alles was Neigung oder Dürftigkeit zu kühnen Abendtheuern anregte, nach dem neuentdeckten Westindien hinlockte, so werden usw.

Das hat Kleist am 6. Dezember 1810 richtiggestellt: »anstatt Höfen lies Hefen«. Wieder genügt ein Blick ins Grimmsche Wörterbuch, um sich dessen zu vergewissern; daß um 1800 »Hefe / Hefen« auch als Maskulinum gebräuchlich war. So bei Lenz: »Hier ist der Hefen von Spanien Welcher Teufel nun reitet die Herausgeber der neuen Kleist-Ausgabe, noch in der Druckfehlerberichtigung einen Druckfehler anzunehmen – und hier wie im Text selber ein vollkommen unsinniges »Häfen« einzusetzen? Zu einem kühneren Abenteuer können Neigung und Dürftigkeit auch die Konquistadoren des 15. Jahrhunderts nicht verlockt haben.

Wenn das Institut für Textkritik sich einmal entschließen sollte, auf dieselbe Manier Goethes Schriften zu behandeln, werden ähnliche Druckfehler in großer Zahl zu berichtigen sein. Auch da »zeigt« allerlei – etwa »von vieler Einsicht«. In Dichtung und Wahrheit heißt Lenz »ein vorübergehendes Meteor«, und in der Italienischen Reise ist »das römische Karneval« beschrieben. In einer neuen Faust-Ausgabe wird der Erdgeist dann »Wer ruft mich rufen müssen.

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II/7, 8: Berliner Abendblätter 1, 2. 1997.

Während die 'Berliner Ausgabe' noch auf hergebrachte Weise die kleineren Schriften Kleists, die er zumeist in der eigenen Tageszeitung hat erscheinen lassen, nach Gattungen sortiert vereinigen sollte (II/7: Anekdoten und kleinere Erzählungen, II/8: Tagesberichterstattung, politische Schriften), füllt nun die 'Brandenburger Ausgabe' die beiden Bände mit den beiden Quartalen der Berliner Abendblätter von 1810/11 (BA) zur Gänze – und will das Übrige, zumal die politischen Schriften aus dem Jahre 1809, in einem besonderen Band (II/9: Sonstige Prosa) zusammenstellen. Damit liegt die Zeitung nach den Faksimile-Ausgaben von Minde-Pouet (1925) und Sembdner (1959) erstmals vollständig im Neusatz vor – erschlossen zugleich durch mehrere Verzeichnisse ("Personen", "Orte", "Verfasser", "Titel und Überschriften" [sic]) und ergänzt um fortlaufende Marginalien mit "Autorzuschreibungen und Quellenangaben". Das 11. der Brandenburger Kleist-Blätter, gewidmet "Dem Andenken Helmut Sembdners", gibt auf mehr als 300 Seiten "Polizeirapporte" sowie "Zensur- und andere Verwaltungsakten" wieder, die unsere Kenntnis der Redaktionsarbeit um viele Details bereichern können. Auf ihre Weise ebenso nützlich: die beigefügte "Chronik" der Ereignisse. Gleichfalls beigefügt ist eine CD-ROM, die außer dem Text der Ausgabe auch Faksimilia der BA und der von Kleist verwendeten Quellen enthält. Die Suchfunktion des Programms erleichtert das Nachschlagen ungemein.

Angesichts solchen technischen Aufwands, dem die Überzeugung zugrunde liegt, die BA seien "eines, ein Werk", und zwar nicht das geringste unter den Werken Kleists, fallen die philologischen Mängel der Ausgabe kaum ins Gewicht – wie insbesondere einige Unstimmigkeiten der typographischen Einrichtung einschließlich des peinlich-falschen "s" in der für die Kopftitel verwendeten Fraktur (II/7, 282, 349). Die diesmal besonders häufigen Druckfehler der Quelle sind mit gewohnter Gründlichkeit im Text berichtigt und im Apparat einzeln verzeichnet (II/7, 32: "selbst] seblst"). Selbst in einer Kleist'schen Druckfehlerberichtigung nehmen die Herausgeber einen Druckfehler wahr (ibid. 296) – aber zu Unrecht, weil anstatt "Höfen" durchaus nicht "Häfen" zu lesen ist, was an Ort und Stelle (ibid. 287) gleichfalls einen Unsinn ergäbe, sondern ganz wie vorgeschrieben "Hefen", der Akkusativ des um 1800 auch sonst noch bezeugten Maskulinums "Hefe". In den angekündigten "Erläuterungen" werden solche Errata leicht zu berichtigen sein. (1998)

I,2: Robert Guiscard. 2000.

Wir kennen von diesem Trauerspiel nur das “Fragment”, das K. 1808 im Phöbus veröffentlicht hat. Textkritisch bleibt da wenig zu tun. Im vorliegenden Band sind zwei mutmaßliche Setzerfehler berichtigt: 131 “Maria” > “Marin”, 140 “stets” > “steht’s”; ein dritter, den Sembdners Ausgabe ebenfalls berichtigt hat, ist wie schon bei Barth/Seeba (1991) unbeanstandet geblieben: 383 “Vor seinem blassen Hemde sich verneigen” – vielleicht weil bei Shakespeare Hamlet einmal “pale as his shirt” erscheint? Beibehalten sind auch 198 “ja” (“je”?) und 492 “bange” (“lange”?). – Während das Fragment nur 30 Seiten des Bandes füllt, ist auf weiteren 60 Seiten außerdem “die wohl wichtigste Informationsquelle, die Kleist bei der Konzeption seines Dramas inspiriert” haben soll, abgedruckt: ein Aufsatz aus Schillers Horen, den man bequem auch im Reprint der Zeitschrift nachlesen kann. Im Fall des Michael Kohlhaas hatte Reuß sich noch mit der Faksimilierung der mutmaßlichen Quellen im Beiheft begnügt. – Diesmal bieten die Brandenburger Kleist-Blätter neben einer waghalsigen Interpretati­on des Fragments auf mehr als 400 Seiten den ersten Teil eines “Biographischen Archivs”, das die Dokumente, von denen Sembdner in seine Samm­lung der Lebens­spuren nur die K. betreffenden Partien aufgenommen hat, “möglichst integral” wiedergeben soll, und zwar alphabetisch geordnet nach den Namen der Verfasser bzw. der Herausgeber, so daß man z. B. Goethes Äußerungen teils unter “Goethe” (Werke), teils unter “Herwig” (Gespräche) zu suchen hat. Für das nächste Beiheft sind aber “ausführliche Register” versprochen. (2000)                                                                                                                         

I/7: Die Herrmannsschlacht. 2001.

Kleists Herrmannsschlacht ist vollständig nur durch zwei postume Drucke überliefert: in den Nachgelassenen und den Gesammelten Schriften, die Ludwig Tieck 1821 bzw. 1826 herausgegeben hat. Aus Gründen, die das Nachwort Zu dieser Ausgabe aber nicht verrät, folgt die BKA der ersten Ausgabe – sogar an den Stellen, wo wenig später die zweite die besseren Lesarten bietet. Darum heißt Herrmann auch bei Reuß und Staengle (in einer Schreibung, die Kleist vielleicht von Klopstock übernommen hat) spaßigerweise der Fürst der Uhren (2473). Ebenso werden einige offenbare Fehler des Erstdrucks nicht korrigiert: wie 235 frei Seele (statt freie Seele) | 283 Marsen’ (statt Marsen) | 1278 Fürstenhand (statt Fürsten Hand). Alle diese Varianten sind nicht einmal im Apparat verzeichnet – der stattdessen mitzuteilen weiß, daß der senk­rechte Strich eines Ausrufezeichens „in manchen [von vier benutzten] Exemplaren abgebrochen“ ist (zu 995). Auch der separate Abdruck des Zeit­schwingen-Fragments von 1818 korrigiert zwar eine harmlose Wiederholung (69/2506 und und), nicht aber die sinnstörende Auslassung eines Wortes (147/2598 Fürsten). Den textkritischen Mängeln entspricht ein typo­graphisches Ärgernis: daß die für Kleists Dialoge charakteristische Doppelung von Satz­zeichen anders als in den Originalausgaben (und selbst in der neuen Ausgabe des Robert Guiskard) durch kein Spatium gegliedert ist, man also statt – ? und – ! durchgehend –? und –! zu lesen bekommt. Wenigstens in diesem Punkt bleibt die Ausgabe aber nicht hinter der des Deutschen Klassiker Verlags zurück.

Die neuen Kleist-Blätter, mit dem zweiten Teil des „Biographischen Archivs“, sind diesmal besonders umfangreich geraten – auch darum, weil zum Beispiel Theophil Zollings Kleist-Biographie von 1885 wegen einiger Anekdoten, die in Sembdners Sammlung der Lebensspuren kaum mehr als zwei Seiten in Anspruch nehmen, auf 150 Seiten vollständig wiedergegeben ist. Die schon einmal versprochenen Register sollen nun im nächsten Heft der BKB erscheinen. (2002)

Fortgeführt Juli 2002

 

Nachträge

 

NAMENKUNDE – Kleist hat von seinem Robert Guiskard nach wiederholten Versuchen, das Trauerspiel zu vollenden, 1808 nur ein Fragment erscheinen lassen. Die gewiß originellste Antwort auf die Frage, warum der Dichter seinen ehrgeizigsten Plan nicht verwirklicht hat, stammt von Bernhard Greiner:

Soll diese Tragödie des Scheiterns – eines Scheiterns gerade des Erhabenen – dennoch erhabene Wirkung hervorbringen, müßte sie aus dem gemacht werden, was sie vorstellt, d.h. aus dem Scheitern an der erhabenen Tragödie. Ein Paradox, für den Schaffenden zugleich eine Aporie. Das Werk, die Tragödie, kann dann nur im Mißlingen gelingen, das Mißlingen ist das Gelingen.

Mit ein bißchen andern Worten:

Die aufgefundene Aporie, daß eine Tragödie erhabenen Scheiterns, die die Erfahrung des Erhabenen vermitteln würde, nur so zu gewinnen sei, daß sie aus dem Scheitern an der erhabenen Tragödie gemacht werde, [...] erklärt allererst, inwiefern das Guiskard-Projekt prinzipiell unausführbar wurde.

Hätte doch schon Kleist das erkannt! Ihm wären die tiefste Verzweiflung, die schmerzlichste Resignation erspart geblieben. Aber es gibt in Greiners Interpretation auch noch andere Pretiosen. Zu den Versen:

Ei, was zum Henker, nein! Ich wehre mich –   

Im Lager hier kriegt ihr mich nicht ins Grab:

In Stambul halt ich still, und eher nicht!

weiß der Gelehrte anzumerken:

Das Wort ‹Stambul› ist ein Anachronismus; ist er Kleist unterlaufen? Hat er ihn des Metrums wegen gewählt (‹Konstantinopel› läßt sich schwer in Jamben unterbringen, als Zweisilber hätte aber auch ‹Byzanz› gewählt werden können)?

Nun ja, aber ein passabler Blankvers könnte auch lauten:

Erst in Konstantinopel halt ich still!

und ‹Byzánz› kann jedenfalls an dieser Stelle im Vers nicht für ‹Stámbul› stehen. Weiter im Text:

Aus ‹Konstantinopel› wurde ‹Istanbul› mit der Eroberung durch die Türken (1453), 368 Jahre nach dem Tod des historischen Guiskard (1085). Guiskard widerspricht sich mithin, er sagt das Gegenteil dessen, was er sagen will: Nach ‹Stambul› wird er nie gelangen [...].

Aber selbst wenn Kleist sich mit den verschiedenen Namen der Stadt eigens befaßt haben sollte: konnte er voraussetzen, daß auch die Leser seines Trauerspiels es getan haben? Hat doch sogar die Forschung fast zweihundert Jahre gebraucht, bis sie der dramatischen Ironie dieser Stelle endlich auf die Spur gekommen ist.

 

EINMAL IST KEINMAL – In eben diesem «Fragment aus dem Trauerspiel: Robert Guiskard», das wir nur aus dem Druck im Phöbus kennen, heißt es an einer Stelle:

Doch eh‘ wird Guiskard’s Stiefel rücken vor

Byzanz, eh‘ wird an ihre eh’rnen Thore

Sein Handschuh klopfen, eh‘ die stolze Zinne

Vor seinem blassen Hemde sich verneigen,

Als dieser Sohn, wenn Guiskard fehlt, die Krone

Alexius, dem Rebellen dort, entreißen!   (v. 381-386)

Zwar ist dem Setzer des Fragments sonst kaum mehr als ein Fehler unterlaufen (v. 140: «stets» statt «steht’s»), hier aber soll er, nach Julian Schmidts Vermutung, ein «bloßen» der Handschrift irrig mit «blassen» wiedergegeben haben. Dieser Vermutung (sowie der entsprechenden Korrektur in den Ausgaben von Erich Schmidt und Helmut Sembdner) hat vor kurzem Ilse-Marie Barth in der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags widersprochen – mit dem Argument, es handele sich in v. 384 «um ein Kleidungsstück, stellvertretend für Robert Guiskard. Vgl. Geßlers Hut in Schillers Wilhelm Tell.» Das soll gewiß nicht heißen, auch Geßlers Hut sei blaß gewesen. Aber auch wenn man wüßte, daß Guiskard mit Vorliebe helle Hemden getragen hat, wäre doch der Grund noch anzugeben, aus dem Kleist auf diesen Umstand eigens hätte hinweisen wollen. Der Stolz der Zinne wäre ja auch um nichts weniger gekränkt, wenn sie sich vor einem farbigen Hemd verneigen müßte. Hingegen spricht für die Korrektur: daß bei Kleists zwar einmal von einem blassen Gesicht die Rede ist, die Bezeichnungen von Kleidungsstücken jedoch wiederholt mit «bloß» verbunden werden:

   Der Sohn, im bloßen Hemde fast

   Im bloßen leichten Hemdchen

   einen bloßen Rock um die Hüften geworfen

Es wäre jedenfalls ein völlig neues Verfahren der Textkritik, wenn eine vermutlich falsche Fügung darum für richtig gehalten werden soll, weil ihr sämtliche Parallelstellen widersprechen. Oder sollte man erwägen, ob die alte Babekan, nächtens aus dem Schlaf gerissen, sich einen blassen Rock um die Hüften geworfen hat? Das hat nicht einmal Roland Reuß im jüngsten Band der Brandenburger Kleist-Ausgabe getan – der aber im Vertrauen auf den textkritischen Sachverstand des Setzers auch das blasse Hemd Guiskards ohne weiteres gelten läßt. 

 

FLACHKOPF – Wie man hierzulande aus mehreren Kommentaren zu Kleists Novelle weiß, ist die von Tränen und Küssen überströmende Szene, in der sich die Marquise von O... und der Obrist von G..., ihr Vater, in Gegenwart der Mutter miteinander versöhnen, einer ähnlichen Szene in Rousseaus Nouvelle Héloise nachgebildet – weshalb mit einigem Recht gesagt werden kann, der Auftritt sei von A bis Z dem Kultus exzessiver Zärtlichkeit im Zeitalter der Empfindsamkeit verpflichtet, wie man ihn etwa aus Goethes Werther und den Romanen der Werther-Nachfolge kennt. Das hat sich aber noch nicht bis Bloomington, Indiana, herumgesprochen. Jedenfalls läßt Fritz Breithaupt, Dozent an der dortigen Universität, vielseitiger Verfasser von Aufsätzen über „Geschichte des Selbst, Theorie des Geldes, Fragen der Ästhetik, Kultur des Verbrechens“, die Leser einer Sammlung mit dem Titel Kleist lesen, die Marianne Schuller vor kurzem veranstaltet hat, ohne Wenn und Aber wissen: daß die am Anfang der Novelle zitierte Anzeige der Marquise „nichts als ein Ablenkungsmanöver ist“, das sie vor dem Verdacht schützen soll, der gesuchte Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sei bereits gefunden: „der Vater der Marquise als Vaterschaftskandidat seines eigenen Kindes“. Denn die Schilderung der „krass inzestuös gefärbten Versöhnungsszene“ lasse die Vermutung zu, „daß hier eine alte Beziehung aufgefrischt wird“, ja daß „auch die anderen Kinder [der Marquise] bereits Kinder ihres Großvaters sind“. Ihr Gemahl, heiße es beziehungsvoll, starb auf Reisen – die also der Obrist dazu benutzt hätte, die geliebte Tochter wiederholt zu schwängern. Und weil nun nach dem Allgemeinen Landrecht für die preußischen Staaten auf Inzest die Todesstrafe stand, mußte der Marquise „jede und noch die kompromittierendste Alternative zum Inzest“ willkommen sein. Also darum heiratet sie am Ende sogar einen russischen Grafen! Bleibt nur zu hoffen, daß ihre späteren Kinder (die ganze Reihe von jungen Russen, die jetzt noch dem ersten folgte) in Wahrheit nicht ebenfalls vom Großvater sind.

 

KLEIST LESEN – In einer Abhandlung über Kleists letztes Drama, die Marianne Schuller in ihren Sammelband aufgenommen hat, spricht Jan Mieczkowski (Reed College, Oregon) von einer Unfähigkeit des Prinzen von Homburg, „sich selber zu benennen“ – nicht ohne anzumerken:

Der Prinz, so sollte angemerkt werden, taucht nur im Titel und in der Auflistung der Figuren zu Beginn des Textes als „Friedrich“ auf. Ansonsten heißt er immer „Arthur“.

Das ist zwar nicht ganz richtig, denn der Prinz heißt „Friedrich“ auch in der Bittschrift des Heeres, sonst aber wird er in der Tat immer „Arthur“ genannt, wenngleich nur vom Grafen Hohenzollern, seinem Vetter. Allerdings sollte angemerkt werden, und das hat Jan Mieczkowski leider versäumt, daß bei Kleist der Prinz vorzugsweise „Arthur“ wohl auch darum gerufen wird, weil der Kurfürst mit erstem Vornamen ebenfalls „Friedrich“ heißt. Mit der Unfähigkeit des Prinzen, sich selber zu benennen, ist es also nicht weit her. Aber die Herausgeberin hat ja auch niemandem versprochen, die Beiträger würden Kleist genau lesen.

 

METAPHYSIK DES DOPPELPUNKTS – „Bis auf das als Fragment überlieferte Drama Robert Guiskard, Herzog der Normänner hat Kleist die Gattungsangabe ‚Trauerspiel’ nur zweimal vergeben“. Vielleicht hängt diese Zurückhaltung damit zusammen, daß er (außer dem genannten Fragment) überhaupt nur zwei Trauerspiele geschrieben hat. Was die Penthesilea betrifft, mit der sich Marianne Schuller in ihrem eigenen Beitrag hauptsächlich – wie sagt man doch? – auseinandersetzt, so findet die Interpretin bereits die Angabe:

Scene: Schlachtfeld bei Troja.

bemerkens- und bedenkenswert:

Das durch den Doppelpunkt durchlöcherte und verletzte Syntagma der Ortsangabe kann als „Inanspruchnahme und Reflex der griechisch-abendländischen Tradition des Theaters verstanden werden“.

Der zitierte Gedanke ist von Reuß, aber Schuller macht ihn sich zu eigen. Damit hat sie insofern Recht, als die Ortsangabe ja auch anders beschaffen sein könnte – wie zum Beispiel bei Goethe:

Schauplatz | Hain vor Dianens Tempel.

oder bei Lessing:

Die Scene, ein Zelt in dem Lager des Aridäus.

oder wie bei Shakespeare:

        Scene – Troy, and the Greek camp before it.

Wenn nun aber gelten soll, was Marianne Schuller über den Doppelpunkt in der Penthesilea sagt, dann müssen wohl wie in den Stücken, die Kleist als „Schauspiele“ bezeichnet hat, auch die entsprechenden Syntagmen im Robert Guiskard:

Scene: Cypressen vor einem Hügel, auf welchem das Zelt Guiskard’s steht, im Lager der Normänner vor Constantinopel.

und im Zerbrochnen Krug:

Scene: Die Gerichtsstube.

durch den Doppelpunkt durchlöchert und verletzt worden sein. Die Ärmsten!

 

K LIEST – Marianne Schuller rühmt an den Autoren ihrer Sammlung „eine neue Aufmerksamkeit für buchstäbliche Merkwürdigkeiten, die in der Vergangenheit häufig als Fehler oder irrelevanter Zufall betrachtet wurden“. Niemand hat für solche Buchstäblichkeiten ein schärferes Auge als Thomas Schestag – in Schullers Band vertreten mit einem Aufsatz über Brockes. Freundschaft und Pest bei Heinrich von Kleist. Diesmal entdeckt der Frankfurter Germanist in memoria außer mora (nicht: moria) auch amor, im Lager den Logos, in der Pest den englischen step und im Sterben ein Bersten. Wenn Kleist in einem Brief an die Verlobte schreibt:

Wahre, ächte Freundschaft kann fast die Genüsse der Liebe ersetzen [...]. Wenigstens giebt es keine anderen Genüsse, zu welchen sich die Liebe so gern herab ließe, wenn sie ihr ganzes Glück genossen hat u. auf eine Zeitlang feiern muß, als die Genüsse der Freundschaft.

– läßt dieser Kleist-Forscher sich wie folgt vernehmen:

Das im fast entstellte, fast ersetzte Fest, das im Fest entstellte fast, entspricht der Entstellung des und, aus der Nähe zum Freund, der Entstellung der Freundschaft aus der Nähe zur Liebe.

Da in dem Brief von einem Fest keine Rede ist, hat Schestag wohl das Feiern der Liebe (‚die Arbeit ruhen lassen’) in diesem Sinne mißverstanden. Was er sich vollends zum Namen des Freundes, den Kleist bald Brockes, bald (phonetisch) Brokes nennt, so alles einfallen läßt, vom Zerbrechen und Bröckeln bis zum Zerbrochnen Krug und vom Cor zum Kores- und Correspondenten – das geht, mit Verlaub zu sagen, auf keine Kuhhaut. Wohl aber, mit fast vierzig Seiten, in Marianne Schullers Buch.

 

VERTRAUEN IST GUT – Wie ein Aufsatz über das Käthchen von Heilbronn in Marianne Schullers Sammelband verrät, gehört zu den Wegbereitern der neuen Aufmerksamkeit für buchstäbliche Merkwürdigkeiten auch eine angesehene Kleist-Interpretin:

Ruth Klüger deutet Kleists anagrammatisches Spiel, dem gemäß sich sein Namenskürzel (‚H.v.K’) in dem der Heldin (‚K.v.H.’) spiegelsymmetrisch verkehrt, als eine Form von imaginärem Geschlechtswechsel zwischen Dramatiker und dramatischer Figur.

In Wahrheit kommt das Namenskürzel „K.v.H.“, das in Kleists Briefen sein Käthchen von Heilbronn bezeichnen soll, und zwar, wie Ruth Klüger versichert: „immer“, an sämtlichen Stellen, wo von dem Stück die Rede ist, kein einziges Mal vor. Vermutlich hat die Autorin ein beim Abschreiben verwendetes Kürzel später irrtümlich für ein Element des abgeschriebenen Textes selber gehalten. Oder lesen Frauen wirklich anders?

 

GEHAUEN NICHT UND NICHT GESTOCHEN – Die Salzburger Aufführung der Penthesilea mag ja (wie es scheint) vollkommen mißraten sein, ein Musterbeispiel selbstherrlichen Regietheaters, aber darum muß doch die Besprechung nicht ihrerseits ein Musterbeispiel selbstherrlicher Theaterkritik abgeben. Und sollte sich der bezahlte Kritiker nicht wenigstens im Tatsächlichen besser auskennen als ein auf eigene Kosten angereister Besucher?

Kleist. Man kann ihn sich so oder so vom Leib halten. Goethe schmiss dessen „Robert Guiskard“ ins Feuer, weil er ihn nicht aufführen wollte.

Daran ist richtig nur, daß Goethe sich mit zwei anderen Dramen (Amphitryon und Penthesilea) nicht hat anfreunden können. Welche Papiere (außer Briefen) in mehreren Autodafés untergegangen sind, weiß man nicht so genau. Den Robert Guiskard hingegen hat Kleist selber, fünf Jahre vor der Weimarer Aufführung des Zerbrochnen Krugs, ins Feuer geworfen. Was wohl hätte er mit dieser Rezension gemacht?

 

NAMENLOSE VATERSCHAFT – Im jüngsten Heft der Brandenburger Kleist-Blätter erinnert der Schweizer Germanist Davide Giuriato an die wohlbekannte Tatsache, daß Heinrich v. Kleist seine Beiträge zum Phöbus, den er mit Adam H. Müller 1808 herausgegeben hat, mit „H. v. K.“ zu unterzeichnen pflegte. Im Fall der Marquise von O.... allerdings, im zweiten Stück der Zeitschrift,

vermißt man am Ende des Textes die Unterschrift des Autors [...]. Man muß zuerst den darauf folgenden Beitrag [Die beiden Tauben, eine Fabel nach Lafontaine] zu Ende lesen, um die gewohnte Signatur zu finden, die nun verschoben und disloziert wirkt. Der Autor scheint damit vom Text Abstand genommen und eine Leerstelle hinterlassen zu haben, welche er [im ersten Stück] mit seiner Präsenz zu füllen pflegte. Gleichwohl ist der Text nicht ganz vaterlos, kein Findling. Die Unterschrift ist lediglich verschoben, an einen anderen Ort versetzt. Der Autor des Textes ist als eine leerstehende, namenlose Vaterschaft lesbar, er ist genaugenommen nur mutmaßlich „H. v. K..

Das ist nun wohl der blanke Unsinn. Giuriato weist selbst darauf hin, daß es sich ganz ebenso im dritten Stück mit den Fragmenten aus dem Lustspiel Der zerbrochne Krug verhält, dessen Autor sich gleichfalls erst am Ende der nachfolgenden beiden Fabeln zu erkennen gibt. Sollte also der Grund der vermeintlichen Dislokation nicht vielmehr darin zu suchen sein, daß die Herausgeber des Phöbus gemeint haben, es müsse der Name des Autors einer Reihe von Beiträgen nur einmal, an deren Schluß, genannt werden – wie ja noch heute in Lyrik-Anthologien am Anfang einer Reihe von Gedichten? Jedenfalls werden sie nicht im Traum daran gedacht haben, daß der redaktionelle Usus zwei Jahrhunderte später einer tiefsinnigen Interpretation unterzogen würde. Durch einen Interpreten, der das Objekt seiner „Lektüre“ nicht einmal ordentlich gelesen hat! Denn natürlich wird die flüchtende Marquise nicht von „russischen Offizieren“, wie Giuriato versichert, sondern (schlimm genug) von einem „Trupp feindlicher Scharfschützen“ gewaltsam fortgeführt – einer „Rotte“ von „Hunden“, die dann ein einzelner russischer Offizier, nämlich der Graf F..., „mit wütenden Hieben“ zerstreut. Hingegen kann man dem Interpreten nur zustimmen, wenn er es für „völlig verfehlt“ erklärt, „die Namensinitialen, in welcher Form auch immer, zu einem vollen Namen ergänzen zu wollen“. Um seinen eigenen Versuch ist es leider kaum besser bestellt:

Denn die Leerstellen in den Namen verweisen auf eine unübersehbare Störung, die die Ökonomie erschüttert, auf ihren unsicheren Ursprung aufmerksam macht und ihn auf eine irreduzible Pluralität hin öffnet. Das Patronym der Marquise ist in diesem Sinn O-ffen, ohne determinierten Wert, ein namenloses Land, das zum Schlachtfeld besitzergreifender, namengebender und grenzensetzender Männer wird.

Das Patronym der Marquise wäre allerdings nicht O..., sondern G.... Seinen besten Witz hat sich Giuriato aber für den Schluß des Artikels aufgespart: wo es von der „Leerstelle“ des berühmten Gedankenstrichs heißt, daß sie „unzählige Male im Text wiederkehrt“. Die Anmerkung lautet:

Ich zähle nebst dem ersten Gedankenstrich „Hier – traf er“ weitere 78 Gedankenstriche im Text.

Also unzählig viele. – Im Impressum des Heftes heißt es:

Gesetzt von Roland Reuß aus der BKAStempel-Garamond und der Frutiger45 auf Geräten, die freundlicherweise die Firma Siemens/Nixdorf der BKA zur Verfügung stellte.

Vielleicht hätte Reuß Giuriatos Text nicht bloß setzen, sondern bei dieser Gelegenheit auch lesen sollen. Was übrigens die leerstehende Vaterschaft betrifft, so gibt jedenfalls die Inhaltsanzeige des Phöbus-Heftes sie ohne Umstände preis: „Die Marquise von O...., von Heinrich von Kleist“.

 

EIN GLEICHES – Daß sich das Heidelberger Institut für Textkritik e. V. die Niederschrift nicht entgehen lassen würde, die Kleist wahrscheinlich 1806 (oder später) von Wandrers Nachtlied angefertigt hat, Jahre nach dem fehlerhaften Erstdruck des Gedichts in einer Altonaer Zeitschrift – war zu erwarten. Der Wortlaut (wie in glõssen 21, 8):

Unter allen Zweigen ist Ruh,

In allen Wipfeln hörest du

Keinen Laut.

Die Vögelein schlafen im Walde,

Warte nur, balde

Schläfest du auch.

Zugleich mit dem Abdruck dieser Aufzeichnung im jüngsten Band der Brandenburger Kleist-Ausgabe hat Roland Reuß sie im obligatorischen Beiheft einer ausführlichen Interpretation unterzogen. Wie schon ander-wärts vermutet worden ist, soll Kleists Version des Gedichts eine Art „Gegengedicht“ bilden, Reuß zufolge sogar „mittels einer Transformation ihrer Vorlage zum Autor ebendieser Vorlage“ sprechen:

Ein Leser von Kleists Text, der weiß, daß dieser sich auf das Goethe-sche Gedicht bezieht, liest die Verwendung des Pronomens „du“ auch in ihrer dialogischen Ausrichtung auf Goethe hin – und man wird dann [...] die Schlußwendung des Gedichts durchaus auch als mani-feste Todesdrohung lesen können. [...] Was an Gemeinsamkeit mit der Natur am Ende bleibt, ist der Tod. Mors ultima linea rerum est, das ist – für dich – die triste Weisheit, die der Redende des Kleist-schen Gedichts seinem Gegenüber mit auf den Weg gibt.

Das hätte Katharina Mommsen wissen sollen, als sie vor Jahrzehnten unter den vielen Spuren, die Kleists Kampf mit Goethe bezeugen sollen, auch das Gerücht angeführt hat, der Dichter des Zerbrochnen Krugs habe den Theaterleiter Goethe wegen der mißglückten Weimarer Aufführung zum Duell fordern wollen. Zu Goethes Glück hat Kleist es dann aber bei der Verballhornung von Wandrers Nachtlied bewenden lassen.

 

VELWECHSERT – In den Heilbronner Kleist-Blättern, die sonst leider nur selten etwas Erheiterndes zu bieten haben, finde ich zu meiner Überraschung dies:

„Er lebte lang und litt / in trüber, schwerer Zeit, / er suchte hier den Tod / und fand Unsterblichkeit.“ Ob die Zeile „er lebte lang“ für einen so früh Vollendeten passend erscheint, mag dahingestellt bleiben.

Das soll in einem vor kurzem erschienenen Kleist-Buch stehen, zusammen mit einer Fotografie des Grabsteins am Kleinen Wannsee, auf der man deutlich lesen kann: „Er lebte sang und litt“ usw. Ein Trost immerhin, daß der Autor das lange s (das bisher nur mit dem f verwechselt worden ist) nicht auch in anderen Wörtern mißdeutet hat. Wie leicht könnte umgekehrt ein Läufer (wie im Prinzen von Homburg) sich in einen Säufer verwandeln! Ferner weiß dieser Kleist-Kenner zu melden:

Viele Jahre später hat man der Grabschrift ein Zitat aus dem „Prinz von Homburg“ hinzugefügt „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein.

Auf der Abbildung ist davon nichts zu sehen, stattdessen liest man den Vermerk: „Matth. 6. v. 12.“, der erst viele Jahre später einer Renovierung zum Opfer gefallen ist. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

 

DIE GRENZE ALLER ZEICHEN (für Arthur Henkel in memoriam) – „In Offenbachs Prinzessin von Trapezunt wird die Nostalgie nach den früheren Verhältnissen“, wie Karl Kraus einmal erzählt, „mit wehmütiger Komik an einer Artistenfamilie gezeigt, die den Haupttreffer gemacht und damit die Baronie und ein Schloß erworben hat. Nachts schleicht der Alte doch in die Küche, um ein bißchen Feuer zu schlucken.“ So schleicht auch Ingeborg Harms, obwohl seit langem in der FAZ zu Hause, immer wieder gern ins germanistische Seminar – wie noch vor ein paar Jahren mit einem Aufsatz, der den postmodernen (oder nach einem neueren Sprachgebrauch: postmodernistischen) Titel führt:

Wortbruch. Niedergeträumt. Kleists Anagramme.

Auch sonst verleugnet sie ihre akademische Herkunft nicht: spricht von einem „Tennisplatzschwur“, womit sie das bisher als Ballhausschwur be-kannte Gelöbnis meint, und sagt von einer Satzperiode des Redners Mirabeau, er habe sie „aufs geradewohl“ begonnen. (Als Assistant Professor in Yale, 1992, hat sie in einer begeisterten Rezension der Brandenburger Kleist-Ausgabe sogar von einer „Gradwanderung“ ge-sprochen.) In Kleists Verlobung in San Domingo soll Gustavs „Begriff des Eidschwurs durch seine Redundanz die von ihm [?] behauptete Verbindlichkeit“ desavouieren – obwohl doch Lessing, Herder, Goethe und Schiller das (etymologisch allerdings pleonastische) Wort unbedenklich verwenden. Natürlich geht auch Ingeborg Harms des längeren auf die Stelle ein, die schon Roland Reuß auf Abwege geführt hat: wo der Erzähler (oder viel-leicht auch nur der Berliner Setzer der Erzählungen) die Kurzform „lies’t“ gebraucht. Reuß zufolge „exponiert“ das Elisionszeichen „in der Anzeige der Lücke im ‚Lesen’ die Scheinhaftigkeit des Materials als solche“; Ingeborg Harms aber läßt es bei dieser schon ziemlich gewundenen Erklärung nicht bewenden:

Man könnte die Interpretation dieser Stelle noch eine Windung weiter drehen: Dieser Umschlagplatz von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit ist durch das Anagramm des Autornamen markiert, – dann nämlich, wenn man die Elision nicht durch ein e, sondern durch ein K ausfüllt.

Worauf bekanntlich schon Thomas Schestag verfallen ist. Ganz von selbst aber hat die Phantastin die eigentliche Bedeutung der Namen Mariane und Toni entdeckt: der „verstümmelten“ Namen von Gustavs erster und zweiter Verlobter. „Marianes voller [!] Name dürfte Marianne sein“ – ungeachtet dessen, daß es auch im Käthchen von Heilbronn eine Mariane gibt (sowie nirgends bei Kleist eine Marianne) und daß man in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts leicht ein Dutzend weiterer Marianen (und nur wenige Mariannen) finden kann. Und „Toni steht“, daran gibt es für Ingeborg Harms gar keinen Zweifel, „für Antonie“. Die beiden „Namensstummel“ lassen sich aber auch noch auf andere Weise, nämlich „durch ihre wechselseitige Ergänzung komplettieren“:

Es ist Mari(e) Antonie, der Taufname der auf dem Schafott geendeten [sic] französischen Königin österreichischer Herkunft, zu dem sich die Namen der Frauen um Gustav zusammensetzen lassen.

Kleist hätte demnach den Taufnamen der unglücklichen Marie Antoinette gekannt – wie auch das Datum der zweiten Heirat des Kaisers Napoleon (auf den in der Erzählung der Name August verweisen soll), die zweimal, im März und im April 1810 stattgefunden hat: also „genau ein Jahr“ vor dem Erstdruck der Novelle in einer Reihe von März- und April-Nummern des Berliner Freimüthigen. Dieser merkwürdigen Beziehung werden künftige Kleist-Biographen nachzugehen haben. Was aber jenes ominöse Ana-gramm selber betrifft, so dreht Ingeborg Harms nun auch die eigene Interpretation noch einige Windungen weiter:

So wie Gustav vom Blick der sterbenden Frauen beunruhigt wird, so zeichnet das Anagramm als Augenblick hermeneutischer Präsenz seine Leser.

Auf kleinstem Raum inszeniert das Anagramm die Bedingung der Möglichkeit von Erscheinung und damit die Grenze aller Zeichen und jeder Schrift.

Ein Anagramm ist als solches nicht schriftlich fixierbar. Als Anagramm bleibt es niedergeträumt, in einem Traum, den Autor und Leser teilen, ohne je ganz zu erwachen.

Kann man es deutlicher sagen? Fragt sich nur, ob diese Kennzeichnung tatsächlich von allen Anagrammen gelten soll, beispielsweise auch von jenem sagenhaften Palindrom, das schon die junge Ingeborg Harms einmal im Zerbrochnen Krug entschlüsselt hat: Riegel / leg Ei’r. Wird damit etwa nicht die Bedingung der Möglichkeit von Erscheinung und die Grenze aller Zeichen und jeder Schrift inszeniert?

 

VARIATIO DELECTAT – „Alles Gescheidte ist schon gedacht worden, man muß nur versuchen es noch einmal zu denken.“ Unter den Professoren, die sich auf Goethes Devise berufen, wenn sie ein und denselben Vortrag nicht allein an verschiedenen Orten halten, sondern auch an verschiedenen Orten (wenngleich unter wechselndem Titel) im Druck publizieren, nimmt Gerhard Neumann noch immer die erste Stelle ein. Inzwischen aber sind auch jüngere Gelehrte (beiderlei Geschlechts) von der Bedeutung der eigenen Gedanken nicht selten dermaßen überzeugt, daß sie beispielsweise die Ergebnisse ihrer Doktorarbeiten einer größeren Öffentlichkeit in Vorträgen und Aufsätzen bekannt zu machen suchen. Da ist vor einigen Jahren Sibylle Peters in Hamburg (wohl bei Marianne Schuller) mit einer Arbeit über Kleists Berliner Abendblätter promoviert worden – und nun kann man im jüngsten Kleist-Jahrbuch unter dem Titel Die Experimente der ‚Berliner Abendblätter’ einen Aufsatz lesen, den sie im Jahr zuvor auf der Jahrestagung der Kleist-Gesellschaft vorgetragen hat und der unter anderem die These wörtlich wiederholt, daß in Kleists Anekdote vom Griffel Gottes mit der Signifikation des Kontingenten zugleich das Kontingente der Signifikation zum Vorschein kommt. Es fehlt auch nicht der wiederholte Hinweis auf den Doppelsinn des Wortes „Leiche“, das bei den deutschen Buchdruckern den „fehler den der setzer begeht, wenn er eins oder mehrere wörter ausläszt“ bezeichnet: „Und so wollen auch die Drucktexte der ‚Berliner Abendblätter’ über die Leerstellen zwischen ihnen hinweg zusammen gelesen werden“. Anderes hat Sibylle Peters wohl erst später entdeckt und macht es nun zum erstenmal publik: daß Kleists bekannter Aphorismus über die Möglichkeit, die Menschen in zwei Klassen einzuteilen, einen „Dreizeiler“ bilde (offenbar weil die fünf Zeilen des Originals im breiteren Format des Kleist-Jahrbuchs tatsächlich nur drei Zeilen in Anspruch nehmen) oder daß die „zentrale Silbe“ im Titel des Allerneuesten Erziehungsplans, nämlich „neu, auch im Namen eines Ortes begegnet, der zwei Wochen zuvor an derselben Stelle in einem Schreiben aus Berlin zu lesen war: „Wer-neu-chen. Da kann man nur sagen: Donnerwetter! Das ist noch nicht einmal Gerhard Neumann aufgefallen.

 

SI TACUISSES – Unter der Überschrift Vermeidung des Namens bemerkt Kiran Desai-Breun in ihrer Erfurter Dissertation über Das Schweigen und die Gabe bei Kleist, daß Achill von Penthesilea statt bei seinem Eigen-namen nur „Pelide“ und „Nereïdensohn“ genannt wird. Das ist wohl richtig, besagt aber insofern wenig, als in dieser Sphäre Götter und Helden oft nach dem Vater heißen – wie schon bei Homer: Tochter Kronions, Atreus’ Sohn. Und heißt es nicht bei Schiller sogar: „Weil der herrliche Pelide | Priams schöne Tochter freit“? Und nennt bei Kleist nicht auch Odysseus, der Laer-tiade, Achill den Peliden? Umgekehrt soll aber ebenfalls Achill Penthesilea „nur zweimal“ bei ihrem Namen nennen, in den Versen 1828 und 2664; sonst heiße sie ihm eine „Glanzerscheinung“ und ein „wunderbares Weib“. Abgesehen davon, daß er sie auch in Vers 2280 Penthesilea nennt, also nicht zwei-, sondern dreimal, nennt er sie doch außerdem noch „Geliebte“, „Liebliche“, „Treffliche“, „meine Königin“ – mit Worten, die in einem rechten Liebesdialog allesamt ebenso am Platze sind wie der Eigenname der Geliebten. Das sieht aber Kiran Desai-Breun ein wenig anders:

Die Vermeidung des Namens hat möglicherweise ihren Sinn darin, daß Penthesilea sich von Achill in ihren individuellen Zügen gefunden wissen möchte. Doch in der gegenseitigen Vermeidung des Namens liegt die Vermeidung der individuellen Ansprechbarkeit. Dieser Widerspruch bleibt bestehen.

Daß eine Doktorandin solchen Unfug niederschreibt, wird niemanden verwundern, der jemals Dissertationen zu begutachten hatte. Was ihn aber befremden muß, ist der Umstand, daß entweder die Gutachter keine Einwände vorgebracht haben oder daß ihre Einwände nicht berücksichtigt worden sind. Oder hat etwa Bettine Menke in ihrer Eigenschaft als Gleichstellungsbeauftragte der Fakultät die Arbeit allein betreut und beurteilt? Inzwischen ist Dr. Kiran Desai-Breun wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie an der Universität Erfurt.

 

FIGURAE VENERIS – Resignation und das Sich-Fügen ins Unvermeidliche war Kleists Sache nicht, versichert Karl-Heinz Maurer (Galesburg, Illinois). Das mag schon sein, aber der Kenner fügt hinzu:

Selbst Kleists Selbstmord und – wenn man es so nennen kann – seine Beihilfe zum Selbstmord der Henriette Vogel zeigen seinen Willen, noch seinen Tod aesthetisch durchzugestalten. Er erschießt sich so, daß sein Körper auf den bereits toten Henriette Vogels fällt – in einer Position, die sexuelle Vereinigung andeutet.

Woher der Professor das wohl weiß? Jedenfalls nicht aus den Protokollen der alsbald eröffneten Untersuchung, aus denen zweifelsfrei hervorgeht, daß man die Toten in einer kleinen Grube fand,

mit dem Gesicht gegen einander über, Fuß zwischen Fuß sitzend, ihre Oberkörper jedoch rückwärts über gelegt

– also in einer Position, die selbst der beliebten Missionarsstellung nur von weitem ähnlich sieht. Den Herausgebern der Deutschen Vierteljahrsschrift, Gerhart von Graevenitz und David E. Wellbery, muß das Geflunker gleich-wohl eingeleuchtet haben.

 

VOM GESTADE DES RHEINS – Wer während seines Studiums, etwa bei Claudia Liebrand, gelernt hat, das Gras wachsen zu hören, wird gewiß einen guten Sinn darin erblicken, daß in Kleists Herrmannsschlacht die Kombattanten, nämlich auf germanischer Seite zwar nicht Herrmann der Cherusker, jedoch der Fürst der Katten und auf römischer Seite zwar nicht Varus, wohl aber Rom selbst denselben Namen tragen. Der Schluß der ersten Szene:

Wolf indem er sich erhebt:

[…] Es bricht der Wolf, o Deutschland,

In deine Hürde ein, und deine Hirten streiten

Um eine Handvoll Wolle sich.

Diesen Gleichklang hat im jüngsten Kleist-Jahrbuch Stefan Börnchen aufgedeckt und interpretiert:

Nicht ‚homo homini lupus’, sondern ‚lupa Romana lupo Germanio [sic] lupa’: Nicht der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, sondern die römische Wölfin dem germanischen Wolf eine Wölfin.

Was auch wohl eine friedliche Paarung bewirken könnte. Schließlich wollen beide Seiten im Grunde ja dasselbe:

die Sorge der Germanen um die „Wolle“, das heißt das blonde […] Haar ihrer Frauen, ist metonymisch als Euphemismus, also als Sorge um ihr Fleisch zu verstehen.

Denn es geht um die „Penetrationsmacht“ der germanischen Männer über den weiblichen Körper. Der weibliche Körper wiederum repräsentiert den „germanischen Nationalkörper“, der ihm ja „bis ins anatomische Detail“ nachgebildet ist:

So gesehen, dreht sich der Streit im ersten Auftritt um Sexualterrain

– nämlich um „einen Strich“ am Gestade „der Lippe“. Beide Ausdrücke „verweisen“, wie Stefan Börnchen mit Roland Reuß bemerkt, auf den Frauenkörper, ja das „anatomisch-genitale pars pro toto“ lasse sich „als Verschiebung des Hymen“ verstehen. Liege nicht auch der Dichter selbst, dem Motto zufolge, getreu dem Vaterland im Schoß? Am Schluß des Dramas jedoch verkehren sich die Fronten:

Es ist nämlich Ventidius, der von der Bärin penetriert wird, und er kommentiert diesen Vorgang als seine eigene Effeminierung, wenn er ruft: „Sie schlägt die Klaun in meine weiche Brust!“

Denn eine weiche Brust –  die hat natürlich nur die Kriegerin Thusnelda, nicht aber (oder erst nach seiner Effeminierung) ein römischer Legat. – Das Kleist-Jahrbuch wird herausgegeben von Günter Blamberger, Köln, der Claudia Liebrand, Köln, auch die albernsten Wünsche kollegialiter erfüllt.

 

ZWEIDEUTIGKEITEN – In Kleists Amphitryon, am Schluß des zweiten Aktes, glaubt Charis, die Gemahlin des Dieners Sosias, in ihrem Ehemann den fernhintreffenden Apollon zu erkennen, auch und gerade als er verlangt:

                      und wenn ich wieder komme,

Will ich gebratne Wurst mit Kohlköpf’ essen.

Sosias hält seine Frau für verrückt und stellt im Abgehen den Irrtum richtig. Darauf Charis (allein):

                   Sosias? Was? Der alte

Mir wohlbekannte Esel du, Sosias?

Halunke, gut, daß ich das weiß,

So wird die Bratwurst heute dir nicht heiß.

Die Verse sind (einer Rezension zufolge, die Axel Springers Welt veröffentlicht hat) auch in der jüngsten Amphitryon-Aufführung am Deutschen Theater Berlin zu hören:

Diese Kleistschen Zweideutigkeiten liebt die Inszenierung.

Gewiß kann man (frau) die Szene so spielen, daß sie einen sexuellen Doppelsinn ergibt. Aber der ist dann ebenso gewiß eine unnütze Zugabe des Berliner Regisseurs (hier: Stefan Bachmann) und darf nicht mit einer Kleistschen Zweideutigkeit verwechselt werden. Warum auch sollte Sosias wünschen, daß Charis ihm Penis mit Kohl serviert? Sonst aber fallen dem Kritiker vor allem die Defizite dieser Inszenierung auf. Von Kleists „Alters und Klassenrassismus“ sei nichts mehr zu spüren, die „politische Dimension des Stückes, die Verzweiflung über die totalitäre Herrschaft der Götter“ leider ganz in den Hintergrund gerückt. Am Ende auch das noch:

Am Ende [unter Blitz und Donnerschlag] rennt Alkmene im Dunkeln mit der Taschenlampe dem entschwindenden Jupiter hinterher. Ihr berühmtes „Ach“ verhallt nach so viel Krach.

Was aber insofern kein großer Schade ist, als ja dieser Krach das berühmte Ach schon enthält. Bisher hat die Kleistforschung, wie Bernhard Greiner (Tübingen) sie vertritt, das Wort nur in der Spr/Ach/e wahrgenommen.

 

ZUM LESEN EMPFOHLEN – Wenn in der Herrmannsschlacht der römische Legat, als die Bärin ihn zu zerfleischen beginnt, in Todesangst jammert: „Sie schlägt die Klaun in meine weiche Brust!“, soll er damit (dem jüngsten Kleist-Jahrbuch zufolge) den Vorgang „als seine eigene Effeminierung kommentieren“. Vielleicht wäre dem Interpreten dieser Unsinn gar nicht erst eingefallen, hätte er zuvor einige Parallelstellen aus der Literatur der Goethezeit in Betracht gezogen. Gewiß, im allgemeinen ist die „weiche Brust“ verständlicherweise ein Merkmal weiblicher Gestalten, wie ebenfalls bei Kleist in der Penthesilea; aber anderwärts (in Grillparzers Sappho) sehnt eine Frau sich heim „an des Vertrauens weiche Brust“, und bei Hoffmann (Der Artushof) verletzt der bittre Hohn des Geschicks sogar „des armen Menschen weiche Brust“. Das sind Metaphern, gewiß; aber von einer Effeminierung kann doch auch da keine Rede sein. Kurzum: Man sollte, auch wenn man nur über Kleist etwas Neues sagen will, mehr als nur eben Kleist gelesen haben.

 

KOMMENTARE  ̶  Die Herren vom Heidelberger Institut für Textkritik e. V. sind zwar die versprochenen drei Erläuterungs-Bände zu ihrer Kleist-Ausgabe bis heute schuldig geblieben und allem Anschein nach auch nicht gesonnen, sie in naher oder ferner Zukunft wenigstens nachträglich zu liefern, sie haben aber für eine gewisse Entschädigung dadurch gesorgt, daß Helmut Sembdners verdienstliche Ausgabe, die sie ersetzen wollen, nun um allerlei kleinere oder größere Stücke ergänzt und zugleich das Ganze auf 250 Seiten mit Abmerkungen versehen worden ist. Eine erste Durchsicht hat jedoch wenig Gutes ergeben. Natürlich wollten Reuß und Staengle sich nicht damit begnügen, bloß nachzusprechen, was in hundert Jahre angestrengter Kleist-Forschung an brauchbaren Erläuterungen zusammen-gekommen ist; desto schwerer aber mußte es ihnen fallen, auf diesem ja doch vergleichsweise schmalen Feld noch mit etwas Neuem aufzuwarten. Ich habe es mir leicht gemacht und zunächst nur den Stellenkommentar zu Kleists Trauerspiel-Fragment Robert Guiskard genauer angesehen, der auf weniger als einer halben Seite die nachfolgend zitierten sechs Anmerkungen umfaßt. Mein Gutachten:

Das Szenar verzeichnet „Cypressen vor einem Hügel“. Reuß und Staengle erläutern:

Vor 1. Scene           Cypressen] traditionell mit Todesverfallenheit assoziiert.

Den Lexika zufolge bildet die Zypresse „das ehrwürdigste und allgemeinste Symbol der weiblichen Gottheit in ihrer zwiefachen Beziehung zu Zeugung und Tod.“ So der Kleine Pauly.

29                 Kaiserstadt] Kaiser Constantinus (regierte 325-337) benannte

330 n. Chr. das frühere Byzantium zu Konstantinopel um. Sie wurde
neue römische Hauptstadt; seit der Teilung von 395 Hauptstadt des

oströmischen Reiches.

Dagegen ist nichts zu sagen, ungefähr so steht es auch im Ploetz.

38                             gischt] Verbbildung zu Gischt.

So schon Barth/Seeba. Dem Grimmschen Wörterbuch zufolge dürfte vielmehr „Gischt“ Nominalbildung zu „gischen“ sein. Belegt wird das ziemlich seltene Verbum außer bei Kleist auch bei Goethe, Anzengruber und Gorch Fock.

Im Fünften Auftritt erscheint ein „Normann“ namens Franz, der zunächst einen Greis „Armin“ nennt und dann einen Ersten Krieger „Maria“, was Reuß und Staengle wie schon Sembdner für einen Lesefehler des Setzers halten und durch „Marin“ ersetzen. Anders als Sembdner fügen sie aber hinzu:

          131               Marin] Maria D. Anagramm Arnim/Marin.

Daß schon „Armin“ ein Anagramm von „Arnim“ wäre, sagen sie nicht, ebenso nichts über den Sinn einer solchen Anspielung auf den Freund Achim von Arnim.

140                          steht’s] stets D

Einverstanden.

Im Siebenten Auftritt sagt Abälard: „Nessus und Loxias, den Griechenfürsten, ê[…]  Heut’ einen Boten sandt’ er ihnen zu, êMit einer Schrift, die diesen Punct bewilligt.“ Dazu hat Erich Schmidt bemerkt: „Die Namen entlehnte Kleist der Mythologie.“ Ausführlicher geben Reuß und Staengle Bescheid:

366               Nessus und Loxias] Nessus (griech. Nessos) ist der Name eines Kentauren. Er rächt sich für seine unerwiderte Liebe zu HerakIes' Gemahlin Deianeira durch einen schlimmen Rat. Er empfiehlt ihr als Liebeszauber, ein Hemd mit seinem Blut zu bestreichen. In ihm verbrennt schließlich Herakles; Loxias: Beiname des Apoll.

Kentaur, Herakles, Deianeira, Apoll: Schon recht. Aber wo sind die Griechenfürsten geblieben?

Haben die Herausgeber hier eher des Guten zu viel getan, so umgekehrt zu wenig im Fall des Verses 384:

    Doch eh’ wird Guiskard’s Stiefel rücken vor

    Byzanz, eh’ wird an ihre eh’rnen Tore

    Sein Handschuh klopfen, eh die stolze Zinne

    Vor seinem blassen Hemde sich verneigen,

    Als dieser Sohn, wenn Guiskard fehlt, die Krone

    Alexius, dem Rebellen dort, entreißen!

Denn was für ein blasses Hemd soll Guiskard tragen? Von einem „bloßen leichten Hemdchen“ ist bei Kleist (wie von einem „bloßen Hemde“ oder einem „bloßen Rock“) auch anderswo die Rede. Hätte da der Kommentar nicht die Möglichkeit eines Schreib- oder Druckfehlers ausdrücklich einräumen sollen? Stattdessen gibt er lieber bloßen Vermutungen Raum wie mehrfach im Falle des Zerbrochnen Krugs: wenn es zum Angsttraum des Richters (V. 269-273) heißt:

          Analog Sophokles’ Tragödie Oidipus Tyrannos

̶  nur weil auch da einmal von einem Traum die Rede ist:

    Du brauchst den Beischlaf mit der Mutter nicht zu fürchten;

    schon mancher Sterbliche begattete im Traum

    die eigne Mutter!

Oder wenn Ruprechts Versicherung, er hätte seine Augen hingegeben, um Evchens vermeintliche Untreue nicht sehen zu müssen (Vers 1032),

Bezug auf die Selbstblendung des Ödipus

nehmen soll. Und natürlich wird zur Feuersbrunst von Sechs und sechzig“ (Vers 706) auch ein

Bezug auf die apokalyptische Zahl 666 (Apok. 13,18)

vermerkt. Man vermißt nur die entsprechende Bemerkung zu V. 666, zu der sich Roland Reuß bei früherer Gelegenheit einmal verstiegen hat.

Hätten die angekündigten Kommentarbände nach dem Beispiel dieser Probe abgefaßt werden sollen, kann man ihr schließliches Ausbleiben nur begrüßen.