Universität Göttingen
Projekt VIAMUS

Das Göttinger Internetprojekt „Virtuelles Antikenmuseum (VIAMUS)“

Das Projekt „Virtuelles Antikenmuseum“ (VIAMUS) wird seit September 2002 am Göttinger Archäologischen Institut realisiert. Ermöglicht wurde es durch großzügige finanzielle Förderung von Seiten der Stiftung Niedersachsen in Hannover.

Grundlage des Projekts bilden die Bestände der Göttinger Gipsabgußsammlung. 1767 als erste Abgußsammlung an einer Universität gegründet, ist sie mittlerweile auf nahezu 2000 Objekte angewachsen und zählt damit zu den weltweit größten Einrichtungen ihrer Art. 1912 wurde ihr ein eigener, damals sehr großzügig angelegter Gebäudetrakt errichtet, der inzwischen jedoch die Grenzen seines Fassungsvermögens erreicht hat. Teile der Sammlung, vor allem die seit den 1970er Jahren sehr stark erweiterten Bestände an griechischen und römischen Porträts, sind in randvoll gefüllten Kellermagazinen untergebracht.

Nach wie vor wird die Sammlung intensiv zu Lehrzwecken genutzt. Dementsprechend ist für größtmögliche Mobilität der Abgüsse gesorgt, um sie je nach Thema der Lehrveranstaltung neu zu gruppieren. Andererseits ist auf Beschriftungen weitgehend verzichtet, um die Studierenden zur aktiven Auseinandersetzung mit den Abgüssen zu animieren und die Durchführung von Prüfungen zu erleichtern.

Einen hohen Stellenwert hat neben dem Lehr- der Forschungsaspekt. Insbesondere dank der bekannten Rekonstruktionen griechischer Porträtstatuen, die Klaus Fittschen in den 1980er Jahren in der Göttinger Sammlung durchgeführt hat, ist das Erkenntnispotential von Gipssammlungen als Experimentierwerkstätten der Forschung wieder deutlicher ins Bewußtsein gerückt worden. Weniger spektakulär, aber ähnlich nützlich für die Forschung ist ein zweiter Aspekt von Gipssammlungen: Gipse eignen sich hervorragend, um Skulpturen nach einheitlichen Gesichtspunkten, unter gleichartigen Lichtverhältnissen etc. photographisch zu dokumentieren. Gerade die Göttinger Sammlung mit ihren reichen, systematisch aufgebauten Beständen hat sich dadurch zu einer international genutzten Bildquelle für die archäologische Forschung entwickelt, wie Photobestellungen aus aller Welt täglich aufs neue beweisen. Dies wird durch das 1990 publizierte Bestandsverzeichnis erleichtert, in dem allerdings aus Kostengründen nur ein geringer Anteil der Abgüsse abgebildet werden konnte und der wie alle gedruckten Kataloge einen inzwischen überholten Stand verkörpert, denn seit 1990 sind fast 200 Abgüsse hinzugekommen.

Neben den traditionellen Funktionen der Sammlung in Forschung und Lehre hat in den letzten Jahren ihre Erschließung für das Publikum zunehmend an Bedeutung gewonnen. Auch die Göttinger Institutssammlung sieht sich mehr und mehr mit einem Problem konfrontiert, das die Situation von universitären Sammlungen weltweit charakterisiert: Angesichts knapper werdender Resourcen und schärfer werdender inneruniversitärer Verteilungskämpfe wird der Verweis auf den Nutzen, den Institutssammlungen für Forschung und Lehre besitzen, immer weniger als ausreichende Legitimation akzeptiert. Neue Begründungen werden dafür erwartet, daß ein kleines Fach wie die Klassische Archäologie Gebäudeflächen und Infrastruktureinrichtungen (Restaurierungswerkstatt etc.) in Anspruch nimmt, von denen Fächer mit höheren Absolventenzahlen nur träumen können.

Andererseits ist das Interesse der Öffentlichkeit an Universitätssammlungen in den letzten Jahren deutlich gewachsen. Gerade archäologische Sammlungen erhalten damit die Chance, sich als publikumswirksame Aushängeschilder ihrer Universität zu profilieren. Viele Sammlungen haben diese Chance erkannt und versuchen sie nach Möglichkeit zu nutzen. Doch ist dies nicht immer einfach, wie sich gerade am Göttinger Beispiel zeigen läßt. Mittel, um die Sammlung zu einem regulären Publikumsmuseum weiterzuentwickeln, mit festen Öffnungszeiten, eigenen Aufsichtskräften und einem museumspädagogischen Angebot, wie er heute von öffentlichen Museum erwartet wird, stehen in Göttingen auf absehbare Zeit nicht zur Verfügung. Und auch wenn es diese Mittel gäbe, wäre es fraglich, inwieweit die geschilderten Vorteile einer mobilen Lehrsammlung zugunsten einer statischen musealen „Dauerausstellung“ geopfert werden sollten. Schon die öffentlichen Sonderausstellungen, die die Sammlung in den letzten Jahren veranstaltet hat und die auf ein lebhaftes öffentliches Echo stießen, haben gezeigt, wie stark durch solche publikumsfreundlichen Maßnahmen die Benutzbarkeit der Sammlung für die Lehre beeinträchtigt wird.

Eine Antwort auf all diese divergierenden Anforderungen bildet das Projekt des „Virtuellen Antikenmuseums“, das den reichen Fundus der Göttinger Gipsabgüsse auf neue Weise für unterschiedlichste Zielgruppen erschließt, vom interessierten Laien, über Schüler, Lehrer und Studenten bis hin zum Fachwissenschaftler.

Die Bezeichnung „Virtuelles Museum“ erscheint dabei nicht nur in jenem vordergründigen Sinne gerechtfertigt, in dem sie heute gern verwendet wird, nämlich insofern, als mit multimedialen Mitteln im Internet ein Rundgang durch die Sammlung inszeniert wird, bei dem sich ein weit von Göttingen entfernter Betrachter mit Hilfe von 360°-Raumpanoramen durch die einzelnen Säle bewegen und einzelne Skulpturen interaktiv am Bildschirm drehen und allseitig betrachten kann, so als befände er sich in der Sammlung selbst.

In einem erweiterten Sinne ist bereits die Abgußsammlung selbst ein „Virtuelles Museum“, erlaubt sie doch, Skulpturen direkt nebeneinander zu betrachten und miteinander zu vergleichen, die in Wirklichkeit auf über 150 Museen in aller Welt verteilt sind. So kann man in Göttingen – wie in anderen großen Abgußsammlungen auch – anhand der unter einem Dach versammelten Hauptwerke der antiken Skulptur wie in einem entwicklungsgeschichtlich aufgebauten Lehrbuch die Geschichte dieser Kunstgattung systematischer und vollständiger überblicken als selbst in den größten jener 150 Museen, in denen die Originalwerke stehen. Auch die oben hervorgehobene Mobilität der Sammlung, die Möglichkeit immer neue Gegenüberstellungen zu arrangieren, antizipiert einen wichtigen Aspekt der heutigen, digitalen „virtuellen Museen“.

Die angestrebte Lösung stellt also gewissermaßen ein ‘virtuelles Museum in zweiter Potenz’ dar, keine beliebige Internetpräsentation einer beliebigen Sammlung, sondern die konsequente Weiterführung einer schon in der Ausgangssammlung angelegten Form der Virtualität, die auf die Darstellung übergreifender Zusammenhänge zielt. Dem systematischen Aspekt kommt dementsprechend innerhalb des Projekts größere Bedeutung zu als der getreuen Abbildung der Göttinger Sammlung in ihrer individuellen räumlichen Disposition, wie sie durch die 360°-Saalpanoramen ermöglicht wird. Der optisch sicherlich reizvolle, aber über Göttingen hinaus nur begrenzt interessante „virtuelle Rundgang“ durch die Sammlungsräume wird deshalb zu einer exemplarischen Übersicht über die Geschichte der antiken Bildhauerkunst genutzt und zugleich in weitere didaktische Kontexte eingebunden: So kann sich der Benutzer anhand einer interaktiven Zeitleiste einen Überblick über die Epochen der antiken Plastik verschaffen, sogenannte Hintergrundtexte vermitteln Informationen über größere kulturgeschichtliche Zusammenhänge, Videosequenzen liefern Einblicke z. B. in die Technik des Gipsabgusses.

Den eigentlichen Mittelpunkt des Projekts aber bildet ein umfangreiches elektronisches Lernprogramm, das sich einen in Göttingen außerordentlich gut ausgebauten Sammlungsschwerpunkt zum Thema gewählt hat: das antike Porträt. Dieses bekanntlich gerade in Göttingen intensiv erforschte Themengebiet gehört heute sicher zu den am gründlichsten bearbeiteten Bereichen der Klassischen Archäologie. Andererseits gibt es bis heute keine übergreifende Darstellung, die die Forschungsergebnisse der letzten dreißig Jahre anschaulich zusammenfaßt. Diese Lücke wollen wir mit dem von Rita Amedick in enger Zusammenarbeit mit Marianne Bergmann entwickelten Lernprogramm schließen. Es soll Studenten im Grundstudium eine systematische, problemorientierte Einführung in den neuesten Stand der Porträtforschung geben und es ihnen ermöglichen, die komplexe Forschungsdiskussion der letzten Jahre rasch zu erfassen. Daß dies in Form eines multimedialen Angebots geschieht, soll zugleich eine Antwort auf die Frage liefern, inwieweit sich elektronische Lernprogramme in den archäologischen Studienbetrieb integrieren lassen.

Während sich die wissenschaftliche Version des Lernprogramms primär an Studierende der Klassischen Archäologie und ihrer Nachbarfächer richtet, ist eine zweite Version darauf angelegt, ausgewählte Aspekte der archäologischen Porträtforschung für den Schulunterricht aufzubereiten. Wir sind uns der besonderen Schwierigkeit dieses Experiments bewußt und legen daher großen Wert auf die professionelle medienpädagogische Betreuung des Projekts und auf enge Anbindung an die Schulpraxis. Dementsprechend konzentrieren sich die sechs, für unterschiedliche Altersstufen konzipierten Themenreihen (z. B. „Männer- und Frauenporträts“, „Weise und Lehrer“, „Denkmal – Mahnmal – Monument“) auf exemplarische Phänomene und bemühen sich, durch gezielte Gegenwartsbezüge die grundsätzlichen, verallgemeinerbaren Aspekte dieser Phänomene herausarbeiten. Unser Hauptanliegen ist es, die Schüler für die Wahrnehmung der Komplexität visueller Botschaften und Manipulationen zu sensibilisieren – anhand eines Themas, das uns besonders geeignet erscheint, Geschichts-, Latein-, Deutsch- und Kunstunterricht in fächerübergreifend relevanten Fragestellungen zusammenzuführen.

Den dritten großen Bereich innerhalb unseres Projekts neben dem „virtuellen Rundgang“ und dem Lernprogramm bildet eine wissenschaftliche Bilddatenbank aller in Göttingen aufbewahrten Abgüsse. Sie beruht auf dem 1990 von K. Fittschen herausgegebenen Katalog der Abgußsammlung, dessen Daten in die Datenbank eingelesen, aktualisiert und um zahlreiche neue Datenfelder sowie die seither erworbenen Gipsabgüsse erweitert wurden. Alle Stücke werden auch bildlich abrufbar gemacht, wobei einfache Arbeitsphotos nach und nach durch qualitativ hochwertige, heutigen wissenschaftlichen Erfordernissen entsprechende Aufnahmen ersetzt werden. Wie alle anderen Teile des Programms wird diese Bilddatenbank (die auch in das Projekt Prometheus einfließt) frei über das Internet abrufbar sein und der erwähnten Funktion der Abgußsammlung als wichtiger Bildquelle für die Forschung zusätzliches Gewicht verleihen.

Wie dieser kurze Überblick zeigen sollte, ist das Göttinger „Virtuelle Antikenmuseum“ darauf ausgerichtet, eine Vielzahl unterschiedlicher Benutzerinteressen innerhalb einer übergreifenden Programmstruktur zu integrieren und zugleich über ein komplexes System von Vertiefungsebenen zu differenzieren. Jeder Benutzer soll rasch zu den Informationen gelangen, die seinem Interessenprofil und seinen Verständnisvoraussetzungen entsprechen. Doch sind die einzelnen Bereiche keineswegs hermetisch voneinander abgeschottet: Durch ein elaboriertes System von Querlinks ist dafür gesorgt, daß zu jedem Thema und jedem Objekt rasch auch diejenigen Informationen erreichbar sind, die eigentlich für eine andere Benutzergruppe gedacht sind. So führen Links von den Objekten des Sammlungsrundgangs (der sich primär an interessierte Laien richtet) zur wissenschaftlichen Datenbank und umgekehrt oder von den beiden Versionen des Lernprogramms sowohl zum Sammlungsrundgang als auch zur Datenbank. Erleichtert wird diese interne Vernetzung dadurch, daß sämtliche Elemente des Programms in einem einheitlichen Content-Management-System verwaltet werden. Dies führt z. B. dazu, daß ein Bild, das in der Bilddatenbank durch eine bessere Aufnahme ersetzt wird, augenblicklich auch an allen anderen Stellen im Programm, an denen dieses Bild auftaucht (z. B. in unterschiedlichen Lektionen der Lernsoftware), ausgetauscht wird.

Ein weiterer wichtiger technischer Grundzug des Programms besteht darin, daß es eine Benutzung aller für das Verständnis unverzichtbaren Komponenten auch bei sehr rudimentärer, veralteter technischer Ausstattung möglich macht. Dies ist vor allem in Hinblick auf die Schulen wichtig, deren computertechnische Möglichkeiten z. T. noch immer sehr begrenzt sind. Alle technisch anspruchsvolleren Multimedia-Anwendungen (3D-Ansichten mit Viewpoint- bzw. Quicktime-Player, Flash-Filme, Video, Ton usw.) sind als fakultative Angebote in das Programm eingebaut, so daß sie zur Not auch weggelassen werden können, ohne daß dies die Rezipierbarkeit der wesentlichen Inhalte beeinträchtigen würde.

Das Virtuelle Antikenmuseum ist seit März 2004 im Internet unter der Adresse www.viamus.de allgemein zugänglich. Wir hoffen, damit die Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, daß die Göttinger Gipssammlung weiterhin ihre bewährte Rolle in Forschung und Lehre bewahren und zugleich ihr immenses didaktisches Potential in ganz neuartiger Form für eine größere Öffentlichkeit wirksam werden lassen kann.

Daniel Graepler

(Text eines Vortrags, gehalten auf der Tagung “Archäologie und Medien” des Deutschen Archäologenverbandes in Köln 2003)