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Die "Religionsgeschichtliche Schule"


Die Entwicklung "religionsgeschichtlicher Kreise" in Deutschland (1890-1898) und der Bruch mit den "Ritschlianern"

    (=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS1)

Bereits früh hielten die Mitglieder der "kleinen Göttinger Fakultät" Vorträge in ganz Norddeutschland und begannen auf diese Weise, ihre wissenschaftlichen Forschungsergebnisse in kirchlichen und gemeindlichen Kreisen bekannt zu machen.

Neben die Untersuchungen des zeitgenössischen Judentums traten nun sporadisch Untersuchungen zur hellenistischen Religion als demjenigen Hintergrund, auf dem die neutestamentlichen Schriften entstanden waren, und ihrem Einfluß auf den Kultus des jungen Christentums. Gleichzeitig grenzten sich die "Religionsgeschichtler" - die "Jungen" - weiter von den Bewahrern des Erbes Ritschls - den "Alten" - ab [Die Termini beziehen sich dabei nicht auf das Lebensalter der Personen, sondern auch ihr Stellung contra bzw. pro Ritschl]: "Die Abkehr von Ritschl vollzog sich zunächst durch die Entdeckung des 'Spätjudentums', sodann durch die Erkenntnis der hellenistischen Religionswelt als entscheidenden historischen Voraussetzungen der neutestamentlichen Schriften" [Gerd Lüdemann, Die Religionsgeschichtliche Schule, in: Bernd Moeller, Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttinger Universitätsschriften A1, Göttingen 1987, S. 325-361, hier S. 335 Anm. 55; Hervorhebungen im Original].

1895 waren fast alle Mitglieder der "kleinen Göttinger Fakultät" an andere Universitäten berufen worden [Zu diesem Zeitpunkt waren lediglich Bousset und Rahlfs, der sich allerdings inzwischen ausschließlich Spezialstudien am griechischen Text des Alten Testaments widmete und sich an keiner der für die anderen "Religionsgeschichtler" typischen Aktivitäten beteiligte, noch in Göttingen]. Dort traf ihr Wirken zumeist auf fruchtbaren Boden. Doch außer Hackmann, der schon 1894 nach Asien aufgebrochen war, blieben die "Religionsgeschichtler" untereinander in ständigem Kontakt und wirkten auch weiterhin in denselben Gruppen mit ("Christliche Welt" bzw. "Freunde der Christlichen Welt", "Wissenschaftlicher Predigerverein" u.a.).
Zumeist fand ihr radikal-historischer Forschungsansatz an den jeweiligen neuen Wirkungsstätten Anhänger, was auch dort zur Bildung von "religionsgeschichtlichen Kreisen" führte (z.B. in Bonn, Halle, Kiel, Marburg) - allerdings mit jeweils lokalspezifischen Eigenarten und unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Außerdem entstanden forschungsverwandte Gruppen unabhängig von den Göttinger "Religionsgeschichtlern" unter Aufnahme von Ansätzen derselben Lehrer (z.B. durch Duhm in Basel und Harnack in Berlin). Ihnen entstammen u.a. Alfred Bertholet (1868-1951), Carl Clemen (1865-1940), Adolf Deißmann (1866-1937), Hugo Greßmann (1877-1927), Arnold Meyer (1861-1934), Friedrich Michael Schiele (1867-1913) und Heinrich Weinel (1864-1936).

Diese Zeitspanne ist anfangs gekennzeichnet von Dialogbereitschaft auf allen Seiten der "liberalen" Theologie. Diskussionen zwischen unterschiedlichen, ja oft gegensätzlichen theologischen Positionen wurden zwar vehement, aber sachlich in "liberalen" Publikationsorganen geführt. Zum wichtigsten Diskussionsforum entwickelte sich die Zeitschrift "Christliche Welt". Obwohl diese von Martin Rade u.a. 1886 ohne jegliche kirchen- oder parteipolitischen Bindungen gegründet wurde, hatten sich viele "konservative" Mitarbeiter schon bald zurückgezogen. In den Jahren kurz vor der Jahrhundertwende bestand der Autorenkreis der "Christlichen Welt" fast ausschließlich aus "liberalen" Mitarbeitern Ritschl'scher Prägung, und zwar verstärkt aus Mitgliedern der "Jungen". Der Vorwurf, Rade würde den "Jungen" in seiner Zeitschrift zu viel Raum gewähren, wurde von ihm zurückgewiesen mit dem Hinweis, daß ja erst die mangelnde Mitarbeit der "Alten" das Emporkommen der "Jungen" fördern würde.

Die in lockerer Folge einberufenen Eisenacher Zusammenkünfte der "Freunde der Christlichen Welt" boten jedes Jahr Gelegenheit zu Aussprache und Diskussion. Gerade der hier in Vorträgen der "Religionsgeschichtler" propagierte (historische) Radikalismus bot Zündstoff für erhitzte Debatten zwischen "alt" und "jung" [Die Vorträge der Mitglieder der "kleinen Göttinger Fakultät" waren: Bousset, Der geschichtliche Christus (1893); Weiß, Die gegenwärtige kirchliche Lage (1893); Troeltsch, Über den Begriff der Offenbarung (1895); Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (1901)]. Auf der Versammlung von 1896 ging es besonders kontrovers zu. Hier wurde in der Debatte über die Vorträge von Julius Kaftan ("Das Verhältnis des evangelischen Glaubens zur Logoslehre") und Adolf Harnack ("Die gegenwärtige Lage des Protestantismus") die eigentliche Trennung zwischen "alt" und "jung" innerhalb des Freundeskreises der "Christlichen Welt" eingeleitet.
Ferdinand Kattenbusch resümierte:

    "Ich empfinde den Widerspruch [gegen die 'Jüngeren'] so stark, daß ich nur dann einwilligen kann, daß wir noch länger vor der Öffentlichkeit z.B. in der 'Christlichen Welt' zusammengehen, wenn wir auch ausdrücklich markieren dürfen, daß wir Älteren eine 'Gruppe' relativ geschlossener Art bilden."
      [Brief von Ferdinand Kattenbusch an Martin Rade vom 17.1.1898. zitiert nach Johannes Rathje, Die Welt des freien Protestantismus, Stuttgart 1952, S. 94.]

In ChW 12 setzte sich Kattenbusch 1898 eingehend mit der durch den Einbruch der "Jungen" geschaffenen theologischen Lage auseinander. Dabei wird der Kritikpunkt deutlich:

    "Ritschl und wir 'alten' Ritschlianer sehen im Christentum oder in der Möglichkeit, c h r i s t l i c h e n Gottesglauben zu hegen, einen Faktor wirksam, der 'von außen' in die Geschichte hineingetreten ist [...]. Wir sehen in Christus eine eigentümliche und eine eigentlich supranaturale Manifestation Gottes. Troeltsch und andere sehen in ihm den Genius, der klar auszusprechen und ungebrochen vorzuleben wußte, was in aller Religionsgeschichte das gleiche Motiv oder Geheimnis sei [...]. Troeltsch glaubt durch das Studium der Kirchengeschichte gezwungen zu sein, nicht die Wahrheit des Christentums oder seinen Charakter als 'absoluter', will sagen der r e i f gewordnen Religion zu leugnen, wohl aber sein Recht als eine oder die supranaturale Religion gegenüber den andern zu gelten [...]."
      [Ferdinand Kattenbusch, In Sachen der Ritschlschen Theologie, in: ChW 12 (1898), Sp. 59-62.75-81, hier 79f; Hervorhebungen im Original.]

Troeltsch wollte zu dieser Kritik nicht schweigen und formulierte die Trennungspunkte zwischen "alt" und "jung" seinerseits noch im selben Jahrgang der ChW:

    "Die Wirkung der neuen geistigen Atmosphäre auf die Theologie besteht also darin, daß in ihr die historischen Studien einen bedeutsamen Aufschwung genommen haben und die dogmatischen fast ganz zurückgetreten sind, daß die Talente sich fast alle der Historie zuwenden und daß man an den dogmatischen Fragen mit möglichst kurzen und unbestimmten Andeutungen vorübergeht. Vor allem haben sich dabei ganz von selbst unter dem Zwange der Sache die alten Grenzen zwischen Christentum und Nicht-Christentum, zwischen den Gebieten natürlichen und übernatürlichen Geschehens verflüchtigt. Die stärkste und geistig bedeutendste Gruppe der Dogmatiker, die Schule Ritschls, hat sich in dieser Lage nur gehalten, indem sie alle aus der Historie entspringenden Probleme ebenso von sich abschob, wie sie die aus der Philosophie und der Naturwissenschaft hervorgehenden abgewiesen hatte, womit sie schließlich bei einer großen Armut an Problemen anlangte." Der "jungen" Theologengarde dagegen komme es darauf an, "die lebendige Schätzung des christlich-religiösen Lebens mit der Erkenntnis zu vereinigen, daß alles religiöse Leben der Menschheit den gleichen Methoden der Forschung unterliegen muß, und daß die Würdigung des Christentums als der tiefsten uns geschenkten religiösen Wahrheit mit den aus den Analogien des übrigen Geschehens geschöpften Methoden und Forderungen der historischen Einzelforschung sich nicht entzweien darf. [...] Es gilt, die allgemeinen religionsgeschichtlichen Methoden, denen wir außerhalb des christlichen Gebietes alle Erfolge verdanken, und denen auch das Maß geschichtlichen Verständnisses, das wir auf christlichem Gebiete besitzen, teils willig, teils widerwillig verdankt wird, ohne jeden Vorbehalt anzuwenden und zu sehen, was dabei herauskommt, eine Aufgabe, deren Lösung von der Dogmatik der Schule Ritschls überall im Keime erstickt wird."
      [Ernst Troeltsch, Zur theologischen Lage, in: ChW 12 (1898), Sp. 627-631.651-657; hier 629f.]

Die Forderung Troeltschs nach radikaler historischer Forschung ohne dogmatische Rücksichten macht noch einmal die Abgrenzung von Ritschl und dessen Anhängern deutlich.

Alf Özen, 1996