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Die "Religionsgeschichtliche Schule"


Die Keimzelle der "Religionsgeschichtlichen Schule" in Göttingen um Albert Eichhorn (1884-1888)

    (=> Auszug aus: "Die Göttinger Wurzeln der 'Religionsgeschichtlichen Schule", STRS1)

Als Impulsgeber der Entwicklung zur "Religionsgeschichtlichen Schule" wird allgemein Albert Eichhorn (1856-1926) angesehen. Während seiner Göttinger Vorbereitungszeit auf die Habilitation (1884-1886) sammelte sich um ihn ein Kreis junger Theologen, zu dem die angehenden Lizentiaten Wilhelm Bornemann, Karl Mirbt und William Wrede, aber auch bereits die Studenten Hermann Gunkel, Heinrich Hackmann, Alfred Rahlfs und Johannes Weiß zählten. In steter Diskussion wurden hier Ansätze entwickelt, die nach Eichhorns Umzug nach Halle (1886) zunächst zur Bildung der sogenannten "kleinen Göttinger Fakultät" führten und sich später, in weiterentwickelter und modifizierter Form, zur "Religionsgeschichtlichen Schule" verfestigten.

Der "Eichhorn-Kreis" entwickelte erste eigenständige Gedanken zur wissenschaftlichen Erforschung des frühen Christentums, die in den folgenden Jahren zu radikaler historischer Beschäftigung mit neutestamentlichen und urchristlichen Texten führte. Dabei ging es zunächst um Untersuchungen zum Judentum der Zeitenwende und dessen Einfluß auf das entstehende Christentum.

Schon früh regte sich durch die Beobachtung tiefer Gegensätze zwischen christlicher Religion und moderner Kultur Kritik an Ritschls harmonistischer Synthese von Luthertum und bürgerlichem Fortschrittsglauben. Um die christliche Religiosität von ihren Anfängen her verstehen zu können, wurde eine Beschäftigung mit dem frühen Christentum in seinem historischen Entstehen und Wachsen als notwendig erachtet. Ausgangspunkt für Eichhorns Überlegungen war dabei sein Geschichtsverständnis, das er im Lebenslauf vom 12. März 1886, den er mit seiner Bewerbung "betr. Licentiatenexamen und Habilitation" in Halle einreichte, näher darlegte:

    "Um noch ganz kurz das Interesse zu bezeichnen, welches mich bei kirchenhistorischen Untersuchungen leitet, so bemerke ich, daß die unbedeutenderen Parteien der Geschichte mich besonders anziehen. Es scheint mir wichtig zu sein, nicht nur die Ideen der vorzüglichsten Männer jener Periode kennen zu lernen, sondern auch die von ihnen ausgegangenen Wirkungen. Die Höhen der Geschichte erglänzen im Licht, aber ohne die tausendfachen Abschattungen an den Abhängen und in den Tälern würde der Anblick ohne Reiz sein. [...] Die Geschichte soll die Aufgaben der Gegenwart erkennen lehren. Dies ist nur möglich, wenn der Historiker die Mannigfaltigkeit der bewegenden Kräfte ebenso wie den Widerstand der zu bewegenden Massen zur Anschauung zu bringen versteht."
      [Ernst Barnikol, Albert Eichhorn (1856-1926). Sein "Lebenslauf", seine Thesen 1886, seine Abendmahlsthese 1898 und seine Leidensbriefe an seinen Schüler Erich Franz (1913/1919) nebst seinen Bekenntnissen über Heilige Geschichte und Evangelium, über Orthodoxie und Liberalismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Ges.-Sprachwi. Reihe IX/1, Halle 1960, S. 141-152, hier S. 142.]

Eichhorns Kritik an Ritschls Geschichtsverständnis wird in seinen Lizentiatenthesen desselben Jahres deutlich:

    "Für alle historische Einzeluntersuchung muß der Grundsatz gelten, niemals einzelne Fragen, sondern stets von vornherein das ganze Gebiet, dem die einzelne Frage angehört, in Angriff zu nehmen. [...]"
      [These 14, a.a.O., S. 144.]

Dies war u.a. ein Angriff auf die von Ritschl geübte Praxis, den Kanon von Altem und Neuem Testament isoliert von seiner Umwelt zu betrachten und das Neue Testament lediglich vom Alten her zu verstehen. Konsequenterweise fordert Eichhorn dann auch:

    "Die N[eu] t[estament] l.[iche] Einleitung muß urchristliche Literaturgeschichte sein."
      [These 3, ebd.]

Das Interesse des "Eichhorn-Kreises" beschränkte sich nun nicht mehr allein auf biblische Aussagen - zeitgleich entstandene urchristliche Zeugnisse wurden unter die zu untersuchenden Schriften aufgenommen. Getreu der Überzeugung, daß Texte vor ihrer Niederschrift eine oft lange Stoffgeschichte durchliefen, begann man, nicht in erster Linie Texte in ihrer Endgestalt, sondern die Herkunft der in ihnen verarbeiteten Traditionen zu erforschen. Doch Bibel und Christentum sollten nicht länger losgelöst von profangeschichtlichen Entwicklungen, sondern als in einen universalen geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang gehörig gesehen werden. Auch dies wurde schon von Eichhorn in seinen Lizentiatenthesen gefordert:

    "Die religiöse Betrachtung der Kirchengeschichte muß sich auf die geschichtliche Entwicklung des ganzen Menschengeschlechts beziehen."
      [These 18, ebd.]

Diese drei Thesen Eichhorns können geradezu als Programm für den Theologenkreis gelten, der 1890 die "kleine Göttinger Fakultät" und ab 1898/1903 die "Religionsgeschichtliche Schule" bilden sollte.

Die kompromißlose, keinen dogmatischen Zwängen unterworfene Beschäftigung mit ntl. bzw. urchristl. Texten in streng historischem Geist brachte den späteren "Religionsgeschichtlern" schon früh den Vorwurf des Radikalismus ein.

Die erste Publikation in diesem neuen, "religionsgeschichtlichen" Sinn war Hermann Gunkels "Die Wirkungen des heiligen Geistes, nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus" (Göttingen 1888).

Alf Özen, 1996