Peter Höeg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee

München : Hanser, 1994

EST: Fröken Smillas fornemmelse for sne (1993)

Eine Woche später liegen wir beim Vogelfjäll und haben seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Man muß, das ist die Technik, mit der Landschaft verschmelzen, warten und den Vogel dann mit einem großen Kescher fangen. Beim zweiten Versuch erwischte ich drei.

Es waren Weibchen, die auf dem Weg zu ihren Jungen waren. Sie brüten in Löchern an den Steilhängen. Von dort her machen die Jungen einen höllischen Lärm. Die Mütter verstecken die Würmer, die sie finden, in einer Art Schnabeltasche. Man tötet sie, indem man ihnen aufs Herz drückt. Drei Vögel hatte ich.

Es war nicht das erste Mal, davor hatte es viele andere Male gegeben. So viele Vögel. Getötet, in Lehm gebacken und gegessen, es waren so viele, daß ich mich an die Zahl nicht mehr erinnern kann. Und trotzdem sehe ich jetzt plötzlich ihre Augen als Tunnel, an deren Ende das Narwaljunge ist, dessen Blick wiederum nach innen und weg führt. Ganz langsam drehe ich den Kescher um, in einer kurzen Lärmexplosion steigen die Vögel in die Luft.

Meine Mutter sitzt ganz still direkt neben mir. Sie schaut mich an, als sähe sie etwas zum erstenmal.

Ich weiß nicht, was mich zurückhielt. Mitleid ist in der Arktis keine Qualität, sondern eher eine Art Fühllosigkeit, das fehlende Gespür für die Tiere, die Umgebung und das jeweils Notwendige.

(...)

Im Jahr darauf - es war das Jahr, bevor sie verschwand - wurde mir beim Fischen übel. Ich muß etwa sechs gewesen sein. Nicht alt genug, um über die Ursache nachzugrübeln. Aber alt genug, um zu verstehen, daß es sich um eine Naturentfremdung handelte. Daß mir ein Teil der Natur nicht mehr so selbstverständlich zugänglich war wie zuvor. Vielleicht fing ich bereits damals an, das Eis verstehen zu wollen. Verstehen wollen heißt, daß wir etwas zurückzuerobern versuchen, was wir verloren haben.

(S. 37 - 39)

Back