VIELFALT UND TRANSVERSALE VERNUNFT
VIELFALT UND TRANSVERSALE VERNUNFT

Prinzipien  postmodernen  Denkens  und  die Modernisierungskrise in Bildungssystemen

(Internes Arbeitspapier 1992)


1. ZWANZIG JAHRE MODERNISIERUNGSKRITIK - 1972-1992
 

Das Jahr 1972 brachte einige ziemlich bemerkenswerte Ereignisse  mit sich:

- In St. Louis / Missouri wird ein nach dem Konzept moderner Schuhkarton-Architektur gestalteter Wohnblock gesprengt, ein Ereignis, das der Architekturhistoriker Charles Jencks als den Zeitpunkt ansetzt, an dem die moderne Architektur ihren Exitus, die postmoderne ihren Durchbruch erreicht (1).

- Im gleichen Jahr veröffentlicht der Club of Rome den sogenannten Meadows-Bericht mit dem Titel „Grenzen des Wachstums“, der mit Hochrechnungen empirischer Befunde auf dramatische Weise belegt, dass die Praxis moderner Kultur kurz davor steht, ihre Lebensgrundlagen zu vernichten (2).

- Ebenfalls 1972 hält der Ökonom Ernst Friedrich Schumacher einen Vortrag im Duttweiler-Institut mit dem Titel „Das Problem der Produktion“, in dem er die großen Metaerzählungen unserer Wachstumsökonomen in Frage stellt und die „Rückkehr zum menschlichen Maß“ fordert (3).

- An der University of York veranstaltet im gleichen Jahr die Europäische Kulturstiftung eine Tagung zum Thema „Erziehung des Menschen für das 21. Jahrhundert“, in der als Alternative zur optimistischen Futorologie eine kritische Futurologie Alternativ-Zukünfte für Alternativ-Gessellschaften entwirft (4).

- 1972 gibt Hartmut v. Hentig die deutsche Fassung von Ivan Illics „Entschulung der Gesellschaft“ heraus und schreibt das Vorwort zu diesem Buch, in dem er zu Recht vermutet, dass es Bildungsreformer wie Reformgegner in gleichem Maße treffen würde (5).

- Und schließlich überreicht in diesem Jahr die Faure-Kommission dem Generalsekretär der UNESCO den von einer internationalen Kommission erstellten Welt-Bildungsbericht mit dem Titel „Learning to Be“, in dem der globale Charakter der Bildungskrise und ihrer Lösungsperspektiven betont wurde (6).

Konsens besteht bei den genannten Autoren dahingehend,

- dass es eine Modernisierungskrise gibt,

- dass sie nur durch Lernen überwunden werden kann,

- dass dieses jedoch eine neu Art des Lernens sein muss.

Dissens  besteht  hinsichtlich  der Radikalität, mit  der  eine  Wende empfohlen wird.

Im folgenden geht es um den Versuch, die zugegebenermaßen heterogenen  Ereignisse des Jahres 1972 in - wenn man so will -  postmoderner Manier - zu verknüpfen. 
 
 

2. WACHSTUM UND DIFFERENZIERUNG ALS HAUPTMOTIVE MODERNER KULTUR
 

Der Modernisierungsprozeß in Europa lässt sich als eine Phase  kultureller Evolution verstehen, die vor ziemlich genau 500 Jahren begann und zum beschleunigten Wachstum sowie zu zunehmender Differenzierung  aller  Lebensbereiche führte. Er  führte  zu  einschneidenden territorialen, technologischen, ökonomischen und ökologischen Veränderungen. Vor allem aber führte er einen Wandel der Deutungsmuster und Wertorientierungen herbei, in denen nunmehr Motive der  Differenzierung, der Rationalisierung, der Individualisierung, der  Hierarchisierung und der Medialisierung in den Vordergrund treten.  Peter Sloterdijk hat gute Gründe, diesen Modernisierungsprozeß  „kopernikanische  Mobilmachung“ zu nennen und auf  seinen  kriegerischen Charakter hinzuweisen (7).

In materieller Hinsicht ermöglichte es die sich modernisierende Kultur den von ihr erfassten Individuen, Organisationen und Staaten, 

- immer mehr Natur anzueignen und in Ressourcen zu transformieren,

- immer größere Territorien in die eigene Herrschaftssphäre einzubeziehen,

- immer mehr Güter und Energie zu produzieren und zu konsumieren,

- immer längere Wege immer schneller zurückzulegen,

- immer mehr Wissen und Information zu erzeugen und zu verbreiten,

- immer mehr Wirklichkeit in Bilder und Symbole zu fassen,

- immer länger zu leben und dabei weniger krank zu sein,

- immer weniger anstrengende Handarbeit zu verrichten und

-einen immer höheren sozialen Status zu erlangen.

Territoriales Wachstum durch Eroberung und Kolonisierung, Bevölkerungswachstum  durch verbesserte Versorgung  und  Industrialisierung,  Wachstum  des Wissens durch neue  Erkenntnismethoden  und Wachstum der Kommunikation durch neue Medien und Transportmittel machten  das System der modernen Kultur jedoch nicht nur  größer, sondern  auch komplexer. Durch Differenzierung und  Spezialisierung der  Institutionen  und der einzelnen Subsysteme,  deren  Autonomie zunahm, bewältigte es, diese Komplexität zunächst. Habermas  spricht in  diesem Zusammenhang von der „systemischen  Ausdifferenzierung der Lebenswelt“ (8). Entsprechend differenzieren sich die technologischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse

In geistiger Hinsicht kommt es zur Ausdifferenzierung in  zunehmend mehr, zunehmend autonomer werdende Rationalitätsbereiche. Ökonomische tritt neben ästhetische, moralische neben politische, technologische  neben wissenschaftliche und pädagogische neben  philologische Rationalität.  Sozusagen auf der oberen Ebene moderner  Rationalität kommt es zu dem, was Peter Sloterdijk als „Auseinanderbrechen  des alteuropäischen  Wahrheitsbegriffs“  bezeichnet,  das  er  wie  folgt beschreibt: „Das  Wahre verliert tendenziell seine Beziehung zum  Schönen  und Guten, das Schöne emanzipiert sich mit grandiosem und bedrohlichem Eigensinn von Gutheit und Wahrheit, und das Gute wird vollends  zu etwas,  das  zu  schön wäre, um wahr zu sein. .....  Jedes  von  den dreien  wird sehr viel mehr als in seiner bisherigen Seinsweise  und zugleich sehr viel weniger; mehr, indem die losgelösten Bereiche  des verwissenschaftlichen Wissens, des technisch-politischen Könnens und des  ästhetischen Ausdrucks überwältigend an Ausdruck und  Differenziertheit gewinnen; weniger, indem diese ins Unermessliche gesteigerten  Welten  ihren Zusammenhang untereinander  bis  zur  Beziehungslosigkeit verdünnen“ (a.a.O.,S.31). 

Dass dieser Modernisierungsprozess nicht harmonisch und stetig verlief, sondern  krisenhaft und in Schüben, ist bekannt. Dass er  mit  Katastrophen und Revolutionen verbunden war, sei deshalb erwähnt, weil sonst  der  Eindruck entstehen könnte, es handele sich  bei  dieser unserer gegenwärtigen Modernisierungskrise um die erste ihrer  Art. Deshalb soll im folgenden von „spätmodernen“ Krisen die Rede  sein, wenn  auf  die aktuelle Situation Bezug genommen wird,  wobei  zwei Aspekte hervorgehoben werden sollen, die „spätmoderne  Wachstumskrise“ und als „spätmoderne Differenzierungskrise“.
 

3. DIE SPÄTMODERNE WACHSTUMSKRISE
 

Im Laufe der 500 Jahre ihres Bestehens ist es der modernen  Kultur gelungen, Europas Grenzen zu überschreiten und sich global auszuweiten,  sich  immer  mehr von  ihrer  physischen,  geographischen, biologischen und kulturellen Umgebung anzueignen und ihre Technologien,  Künste,  Ökonomien und Ideologien weltweit  zu  verbreiten. Verstärkt  durch neue Kommunikations- und  Transport-Technologien hatte  sie  in der Mitte unseres Jahrhunderts de facto  den  Globus erobert.  Eine Zeit lang schien es, als wolle sie durch Zellteilung  in eine  westliche und eine östliche Variante ihr  Wachstum  begrenzen, doch belehrt uns die jüngste Vergangenheit eines Besseren.

Bis in die 60er Jahre hinein herrschte dabei ein gewisser  Zukunfts- und  Fortschrittsoptimismus vor. Alle, auch die bis dahin als  unterentwickelt  geltenden  Regionen, sollten am Wachstum  und  an  dem damit  verbundenen Wohlstand teilhaben k”nnen. Neue  Technologien, neue  Industrien, neue Medikamente, neue Saatgut-Sorten und  neue einheimische Staatsbürokratien sollten es möglich machen.

In diesen Hochrechnungen waren aber offensichtlich drei  Nebenwirkungen von Modernisierung übersehen worden, die sich nun als Pole der Krise herausgebildet haben und zu überproportional anwachsenden Destruktivkräften geworden sind:

*das Bevölkerungswachstum,

*die Zerstörung der natürlichen Ressourcen sowie

*die Zunahme der Gewalt- und Zerstörungspotentiale. 
 

In  dem Maße, in dem eine breite Öffentlichkeit sich dieser  Destruktivkräfte bewußt wird - in die volkswirtschaftlichen  Gesamtrechnungen sind sie bis jetzt noch nicht eingegangen - entsteht spätmodernes  Krisenbewusstsein. Wie die eingangs  angesprochenen  Ereignisse belegen,  erreichte  dieses Krisenbewusstsein um das Jahr  1972  eine neue Qualität. Als Auswege aus der Krise werden Askese,  Schonung, Rückkehr  zu menschlichen Maß, Umverteilung und Umnutzung  empfohlen. 

Dass  dieses Krisenbewusstsein nur einen relativ kleinen Teil  der  Öffentlichkeit  erfasste und dass der Modernisierungsprozeß  selbst  mit Beschleunigung  weiterging, soll deshalb erwähnt werden, weil  sonst das Missverständnis entstehen könnte, modernisierungskritische Orientierungen und Maßnahmen hätten seit 1972 unsere Kultur geprägt. Im Gegenteil,  noch herrschen Tendenzen vor, die  Modernisierungskrise mit den Mitteln der Modernisierung zu bewältigen: Verstärkte  Militarisierung   und  Aufrüstung,  verstärkte Strukturhierarchisierung durch Ausbau der europäischen und globalen Bürokratien, verstärkte Aneignung der letzten natürlichen Ressourcen in den Meeren und an den Polen, verstärkte Unterwerfung der Natur durch Gentechnologie.

Auch in bezug auf den Ausbau der Bildungssysteme herrschen  noch Tendenzen verstärkter Modernisierung vor. Hierzu gehört  beispielsweise die zunehmende Standardisierung des Lernens durch  nationale und Euro-Bildungsbürokratien. Und weltweit werden weiterhin Wachstumsziffern und Einschulungsquoten im Bildungswesen als Hauptindikatoren  für Entwicklungsfortschritte im Sinne  von  Modernisierung eingesetzt.

Dass  neben verstärkter Modernisierung und  verstärktem  Krisenbewusstsein - gewissermaßen als dritte Alternative zu Wachstumsbegrenzung  und  neuem Wachstumsschub  -  weltweit fundamentalistische Reaktionen  erkennbar  sind, sei in diesem  Zusammenhang  nur  am Rande vermerkt.
 

4. DIE SPÄTMODERNE DIFFERENZIERUNGSKRISE
 

Die  spätmoderne  Modernisierungskrise erweist sich  bei  genauerer Betrachtung  jedoch auch oder sogar in erster Linie als eine  Differenzierungskrise. Systemtheoretisch gesprochen wachsen erfolgreiche Systeme dadurch, dass sie Wachstum nicht unorganisiert -  sozusagen als Krebsgeschwür - sondern durch Organisation und Komplexitätserhöhung  -  sprich Differenzierung - vollziehen, es sei denn,  sie  begrenzen ihr Wachstum durch Teilung. Kern des  Differenzierungsprozesses  ist die Neubestimmung der Beziehung zwischen  dem Ganzen einerseits  und den neu entstehenden und sich  verselbständigenden Teilen  andererseits,  also die Neudefinition  des  Verhältnisses  von Einheit und der Vielheit.

Auf  der Ebene der soziokulturellen Systeme vollzog  und  vollzieht sich Differenzierung in der Weise, dass sich einzelne Kulturgebiete zu Subsystemen  entwickeln,  deren Autonomie zunimmt,  während  ihre Beziehungen  zum Ganzen schwächer werden. Dies gilt nicht nur  für die  gesellschaftlichen Institutionen im allgemeinen und den Staat  im besonderen,  sondern für alle Felder kultureller Praxis. Und es  gilt im  besonderen für die Deutungsmuster kultureller Praxis,  also  für die einzelnen „Teilrationalitäten“.

Der  Evolutionstheoretiker  Ervin Laszlo hat den  Prozeß  kultureller Evolution und kultureller Differenzierung als einen Sonderfall  jeder Evolution komplexer und dynamischer Systeme dargestellt. Er charakterisiert  Krisen von dynamischen Systemen, die sich  im  Zustand nahe Chaos befinden als „katastrophische Bifurkationen“,  d.h.  als Gabelungen,  an  denen  die in dieses  Stadium  geratenen  Systeme entweder  der  Entropie  anheimfallen, d.h.  absterben oder  ihren bisherigen Rahmen transzendieren und neue Ebenen der Steuerungshierarchie - nicht zu verwechseln mit Strukturhierarchie - aufbauen (9). 

Ohne diesen Gedanken in diesem Zusammenhang weiter zu  vertiefen, scheint mir hier der wesentliche Unterschied zwischen moderner und postmoderner Evolutionsstrategie zu liegen. Modernes Denken  bevorzugt die strukturhierarchische Bewältigung der  Differenzierungskrisen. Es setzt auf transnationale und globale Ordnungskräfte und  es setzt  auf  universalistische Erkenntnissysteme. Dabei  nimmt  es  in Kauf, dass die Bezüge zwischen den oberen und den unteren  Ebenen so schwach werden, dass sie schließlich ganz aufhören.  Postmodernes Denken  verzichtet  auf solche Strukturhierarchie, bekennt  sich  zu den  Prinzipien  von Dezentralisierung,  Kontextualität  und  Vielfalt. Dabei nimmt es in Kauf, dass die Kommunikation zwischen den  kleinen Einheiten unterbleibt.
 
 

5. EINE POSTMODERNE BEARBEITUNG DES EINHEIT-VIELHEIT-PROBLEMS
 

Stellt sich die Frage, ob sich im Rahmen postmodernen Denkens  eine Lösung des Einheit-Vielheit-Problems finden lässt. Bei  meinen folgenden Überlegungen zur  postmodernen  Bearbeitung des Einheit-Vielheit-Problems schließe ich mich Wolfgang Welsch  (10) und  dem von ihm geprägten Begriff einer „transversalen  Vernunft“ an.  Welsch  stellt die Frage, ob denn das „Kaleidoskop“  der  vielen Rationalitäten  das  letzte  Wort sein könne  oder  ob  nicht-totalitäre Einheitsformen  eines neuen Typs denkbar sind:  „Philosophisch  ist klar,  dass die These reiner Vielheit nicht zu halten ist.  Andererseits sind  aber  die Einheitsformen, die dagegen in  Vorschlag  gebracht werden, kontraindiziert. Die Aufgabe ist, eine Einheitsform zu finden, die  nicht  bloß formale  Gemeinsamkeiten  zwischen  Vernunftformen verständlich,  sondern  eine  materielle  Kooperation  ihrer  möglich macht, ohne andererseits der konventionellen Dialektik der Einheit  - Sistierung des Vielen, um dessen Produktivität es doch ginge -  zu verfallen“ (a.a.O., S. 274f.).

Vier  Aspekte führt Welsch ins Feld, welche die Notwendigkeit  einer solchen die Übergänge zwischen den Systemen vermittelnden Instanz begründen: Binnensektorielle Definition, transsektorielle Konstellation, transsektorielle  Verwendung gleicher Prädikate  und  transsektoriell verfügbare Grundstrukturen. 

* Binnesektorielle Definition: Jedes rationale System (z.B. eine wissenschaftliche Disziplin, eine Religion oder eine Pädagogik) muss seine eigenen Grenzen definieren, wenn es sich selbst binnensektoriell definiert. Dabei muss es notwendigerweise Vorstellungen von dem entwickeln, wovon es sich abgrenzt. In diese binnensektorielle Definition der Einzelsysteme gehen aber auch Vorstellungen darüber ein, wie sie mit anderen Einzeltypen in einer Welt koexistieren k”nnen. Welsch spricht in diesem Zusammenhang von „Kompossibilität der Rationalitätstypen“: „Eine jede sektorielle Definition ist tragfähig nur in der Konstellation mit kompossiblen Definitionen anderer Sektoren. Wer die Rationalitätstypen für schlechthin autonom hält, ist einer sektoriellen Illusion verfallen““ (299). Schließlich treten innerhalb jedes einzelnen Systems unterschiedliche Auffassungen über dessen weitere Evolution auf. Da sich diese nicht allein auf immanente Begründungen stützen können, greifen sie in der Regel auf externe - etwa historische, ethische, anthropologische oder ästhetische Begründungen zurück und sind somit zur Auseinandersetzung mit den entsprechenden externen Positionen gezwungen. 

* Transsektorielle Konstellation: Dadurch, dass die einzelnen Teilsysteme aus einem Differenzierungsprozeß hervorgehen, tragen sie ein gemeinsames Erbe in sich, das ihr Verhältnis zueinander bestimmt. Aber nicht nur dadurch wird ihr Verhältnis zueinander festgelegt, sondern auch durch geschichtliche und aktuelle Situiertheit, nicht zuletzt auch durch gemeinsame Selbstverständlichkeiten, die über die Umgangssprache und das Alltagsdenken vermittelt werden: „Situiertheit, Rahmenbedingungen, Bezogensein auf

einen Geschichts- und Kulturstand sind also von den einzelnen Rationalitätsausprägungen nicht zu trennen. Dabei geht es nicht einfach um Vorbedingungen, sondern um etwas, womit diese Rationalitäten selbst mehr oder minder ausdrücklich operieren und dessen Negation für ihre Verfassung und Triftigkeit sofort folgenreich wäre“ (300 f.). „Wo immer einer dieser Rationalitätstypen sichgründlich und umfangreich analysiert, stößt er auf solche Relationen, Basisübereinkünfte, Fremdvoraussetzungen, Rahmenakzeptanzen. Er entdeckt damit, dass er je schon konkrete Übergänge impliziert und praktiziert. Ohne sie ist seine vermeintlich autonome Verfassung gar nicht wirklich zu beschreiben“ (301).

* Transsektorielle Verwendung gleicher Prädikate: Es gibt Sachverhalte, auf die in mehreren Sektoren bezug genommen wird, z.B. Menschenbilder und Gesellschaftsbilder. Auch sie bilden den Ansatz für Übergänge zwischen den Sektoren.

* Transsektoriell verfügbare gleiche Grundstrukturen: Hier bezieht sich Welsch auf Grundprinzipien menschlicher Vernunft, die sektorenübergreifend akzeptiert sind, z.B. das Prinzip der Stimmigkeit.

In  diesen  vier Übergängen also kann  sich  transversale  Vernunft vollziehen.  Reicht dies aus, um in ihr eine neue Ebene  der  Steuerungshierarchie zu sehen, eine solche, die weder als neuer  Überbau noch als neuer Unterbau in das Gesamtsystem einzuziehen ist,  sondern als eine in den Teilen selbst zu entwickelnde Bindekraft ? Liegt also im Konzept transversaler Vernunft eine Denkmöglichkeit, die  es erlaubt, guten Gewissens dem postmodernen Prinzip radikaler Pluralität zuzustimmen? Wenn ja, was bedeutet das für die Praxis  postmoderner Bildungssysteme?

 

6. MODERNE KULTUR UND BILDUNGSSYSTEM
 

Bis  hierher habe ich versucht, den  modernisierungskritischen  Bezugsrahmen zu skizzieren, von dem ich hoffe, dass er meine folgenden Aussagen zum Bildungssystem trägt. Ich möchte nun skizzieren,  wie sich  die Gestalt des modernen Bildungssystems auf  diesem  Hintergrund entwickelte.

Es besteht wohl Konsens darüber, dass die Entwicklung von Systemen öffentlicher  Bildung  und Erziehung in  engem  Zusammenhang  zum Modernisierungsprozeß steht. Die Auffassungen gehen jedoch bezüglich der Frage auseinander, ob man diese Zusammenhänge als  kausale, interaktive oder systemisch-evolutionäre interpretiert. Ich  selbst neige  zu der Auffassung, die Beziehung zwischen Kultursystem  und Bildungssystem als variierend anzusehen, und zwar sowohl über  die Zeit  als auch über den Raum hin variierend. In jedem Falle  jedoch scheint  es  mir sinnvoll, Bildungssysteme in ihrer  Eigenschaft  als Initiationen in moderne Kulturen zu untersuchen.

In den Anfängen der Moderne findet in Europa zunächst eine gewisse  Überformung vor-christlicher und christlicher  Traditionen  statt, die  zu einer gewissen Artenvielfalt der Bildungssysteme  führt.  Die bereits   vollzogene  gesellschaftlich-berufliche  Differenzierung in Ritter und Priester, Händler und Gelehrte, Handwerker und  Bauern brachte  spezifische Varianten  moderner  Bildung  und  Erziehung hervor.  Am deutlichsten ist dies an den Jesuitenschulen zu  erkennen, in denen christlich-klerikale Erziehungstraditionen durch  neue Wertvorstellungen,  im  besonderen  durch  zweckrationales  Denken, Hierarchisierung  undStatusdifferenzierung der Moderne  angepasst wurden.
 
 

In  den  Ländern  außerhalb Europas und  Amerikas  verlief  dieser Prozeß anders. Hier findet keine Überformung einheimischer Traditionen  durch die Moderne statt, sondern ein zumeist radikaler  Bruch („disrupture“), der zu einer dualen Lebenswelt führte, wie sie typisch ist für Übergangsgesellschaften. Manche Autoren sehen es daher  als wesentliche Funktion moder- ner formaler Bildung an, diesen Bruch zu bewältigen.  Andere, zu denen ich mich selbst zähle, halten  ihn  für unüberbrückbar: Entweder man erhält über das moderne Bildungs-system Zugang zum - wie es heißt - modernen, sprich  bürokratischen, Sektor  oder  nicht. Und da diese Chance des Zugangs sich  in  den meisten  Ländern der Dritten Welt in dramatischer Weise  verringert, fallen  immer mehr Menschen ins kulturelle Nirwana. Mehr dazu  später.
 

7. MODERNE BILDUNGSSYSTEME ALS INITIATIONEN IN DEN BÜROKRATISCHEN SEKTOR
 

Zurück  zu Europa und Amerika. In dem Maße, in dem  der  moderne Staat  zunehmend weitere Lebensbereiche seinem  Zugriff  unterwarf und  dabei sein eigenes Personal vermehrte, ging diese  Artenvielfalt zurück.  Und in dem Maße, indem der neue Berufsstand der  Staatsdiener in jenem von Max Weber so klar beschriebenen Prozeß subkultureller Ausdifferenzierung mit teilautonomen Ansprüchen entwickelte, wurden Schulen zunehmend zu Stätten der Initiation in  Bürokratiekultur.  In ihr werden die Grundmotive der Moderne  -  Differenzierung,  Rationalisierung,  Individualisierung  und  Medialisierung  zu einem neuen Habitus weiterentwickelt.

In zunehmender Weise repräsentieren sie diese Kultur in ihren räumlich-zeitlichen  Organisationsformen  und  ihren  Inhalten,  in  ihren Kommunikationsstilen und ihren symbolischen Interaktionen, in  ihren Disziplinierungspraktiken und ihren Prüfungsritualen. Mehr noch: Im Sinne  von Spindlers „cultural compression“ (11) verdichten sie  die kulturelle  Botschaft zu idealtypischen und idealisierenden  Kernbotschaften, ihren „heimlichen Lehrplänen“.

Der  Ethnologe E.T. Hall hat darauf hingewiesen (12), dass  Kulturen und  entsprechend  auch  ihre  verdichtenden  Initiationen  danach beschrieben  werden  können, wie sie mit  Zeit,  Raum,  Tätigkeiten, Werkzeugen, sozialen Rollen, Kommunikationsvorschriften und Körperhaltungen  umgehen. Folgen wir dieser Empfehlung, so  können  wir leicht  erkennen, wie eng diese Bindung von  bürokratischer  Kultur und schulischer Kultur ist: Sie zeichnet sich aus durch 

-Abschirmung gegenüber Öffentlichkeit,

-standardisierte Zeitrhythmen,

-Aufenthalt in sparsam ausgestatteten Räumen,

-extrem reduzierten Aktionsraum,

-sitzende Körperhaltung, 

-klare hierarchische Beziehungen, 

-vorwiegend sprechende, schreibende und lesende Tätigkeit,

-reduzierten Werkzeuggebrauch und

-Beschränkung auf analytische Routinetätigkeit.

Somit kann ich auch nicht beklagen, dass Schule nicht auf das Leben vorbereitet. Sie bereitet sehr wohl auf das Leben vor, allerdings auf das Leben in Schulen oder in bürokratischen Einrichtungen. Dies ist nicht  als Schulbeschimpfung gemeint, sondern als Beitrag zur  Entmythologisierung  von Schule, der den Schulen ihre Modernität  ausdrücklich  bescheinigt. In dem Maße, in dem Menschen  einen  immer längeren Teil ihres Lebens in schulischen Einrichtungen  verbringen, wird Schule ohnehin zum selbstreferentiellen System, das durch sich auf sich selbst vorbereitet. Und in dem Maße, in dem die Bürokratien wachsen, und in dem auch in anderen Bereichen die Lebenswelt  der Berufe  und  der Freizeitgestaltung einen bürokratisch-modernen Charakter annehmen, gewinnt sie zunehmend auch an Funktionalität. Ich bin deshalb auch durchaus optimistisch, dass kultureller  Wandel, der  die  Lebenswelt  der Bürokratie betrifft, sich  rasch  in  einen Wandel der Schule umsetzen wird. 

Damit  wird  eine These aufgestellt, deren Konsequenz  geeignet  ist, Bildungstheoretiker  zu  provozieren. Sie besagt, dass  moderne  Bildungssysteme  nicht  - wie gemeinhin üblich - als  Subsysteme  des Systems  „Gesamtgesellschaft“ anzusehen sind, sondern  als  Initiationen in eines der Subsysteme moderner Kultur, genannt „Bürokratie“ (wobei es unerheblich ist, ob es sich um Staatsbürokratie, Industriebürokratie, Kirchenbürokratie oder Verbandsbürokratie handelt).  Die vor  allem  in  den  deutschen  geisteswissenschaftlichen  Pädagogik geführte  Autonomiedebatte  erhielte dann einen neuen  Akzent:  Der „Kampf  der  gesellschaftlichen Mächte um den  Lehrplan“  (WENIGER 1930), der so geregelt werden sollte, dass sich die einzelnen  „Teilrationalitäten“  den Prinzipien pädagogischer Rationalität zu  unterwerfen hätten, um Eingang in den Bildungskanon zu finden, würde dann als  Auseinandersetzung zwischen bürokratischer und  pädagogischer Rationalität zu verstehen sein (13). 
 

8. DIE BILDUNGSKRISE ALS WACHSTUMSKRISE
 

Zunächst  aber gilt es festzustellen, dass Wachstum  und  Differenzierung,  dass die kopernikanische Mobilmachung nicht nur die  moderne Kultur im allgemeinen und die bürokratische Subkultur im  besonderen  betrifft,  sondern auch die formelle Bildung. Die  in  den  60er Jahren  als „Mobilisierung der Begabungsreserven“ geprägte  Formel spiegelt  diese  Auffassung deutlich wider. Von daher ist  leicht  zu verstehen,  warum  die Bildungsbürokratien aller Länder  in  nahezu selbstverständlicher  Weise Wachstumsziffern im  Bildungssystem  als zentrale Erfolgskriterien verwenden.

Ganz generell tritt die Wachstumskrise der modernen Bildungssysteme in der Gestalt auf, dass Versprechungen und Verheißungen auf  mehr und  bessere  Bildung und Ausbildung für alle  nicht  mehr  erfüllt werden können.

Sie  trat und tritt in den meisten Ländern zunächst als Folge  einer Krise der Staatshaushalte auf. Die Folgen waren und sind von  Land zu  Land unterschiedlich: Unterbezahlung der  Lehrer,  Verlagerung von  Kosten  auf die privaten Haushalte, Erhöhung  der  Klassen-frequenzen, Verzicht auf selbst minimale Qualitätskontrolle, Verzicht auf Erhaltung  der Schulgebäude und Einrichtungen  sowie  zunehmende Schulabbrüche  in vielen Ländern sind nur einige  Merkmale  dieser Wachstumskrise. Nun ersinnen die internationalen Bildungs-bürokraten neue Wege, wie man in der Dritten Welt die modernen Bildungssysteme  in Zukunft wird finanzieren können. Am „dass“ können  sie  wohl keine Zweifel aufkommen lassen.

Sodann  aber tritt diese Wachstumskrise als Krise des  Verhältnisses von Bildungssystem und Beschäftigungssystem auf. Da die  modernen Staatsbürokratien den Menschen nicht nur versprochen haben, durch längeren  Schulbesuch  individuelle  Bildungswünsche  zu  erfüllen, sondern auch Wünsche der Status- und Einkommenserhöhung und  - was  vor allem viele Länder der Dritten Welt betrifft -  der  lästigen und sozial gering bewerteten Handarbeit zu entgehen, steht nun  die Einlösung dieser Versprechen an. Andererseits wagt kaum ein Repräsentant, dieses Versprechen zurückzunehmen und für  Entkoppelung zu plädieren. Stichwort: Taxifahrer mit Promotion.

Der Umgang der Staatsbürokratien und der Eurobürokratie mit  dieser  Wachstumskrise  ist unterschiedlich. Bemerkenswert  sind  periodisch  wiederkehrende Vorschläge zur Begrenzung und  Verkürzung von Schul- und Studiendauer, teilweise mit dem Hinweis darauf,  dass durch „lebenslanges Lernen“ ein sinnvoller Ausgleich erfolgen könne. Sobald solche Abrüstungspläne jedoch geschmiedet sind, werden sich die Planer mit Schrecken bewusst, dass dann (allein in der  Bundesrepublik zusätzlich mehr als eine Million) Arbeitsplätze für Abiturienten und Akademiker fehlen würden. 
 

9. DIE BILDUNGSKRISE ALS DIFFERENZIERUNGSKRISE
 

Die Differenzierungskrise im modernen Bildungssystem trat  zunächst als Gleichheitskrise auf. Die ursprüngliche Hoffnung, dass das moderne  Bildungssystem  seine Klientel nicht nur  umfassend  versorgen, sondern darüber hinaus gesellschaftliche und individuelle  Ungleichheit abbauen können, erwies sich spätestens in den 60er Jahren  als trügerisch. Vielmehr war zu erkennen: „Wer hat, dem wird  gegeben“. Die Regel, nach der bereits vorhandene Chancen die Zukunftschancen überproportional  erhöhen, zeigte sich allenthalben, nicht  nur  beim Kapitalbesitz,  sondern auch in bezug auf Bildungschancen.  In  den Industrieländern sind Tendenzen hin zu „Zweidrittelgesellschaft“, zur „neuen  Armut“ und „Hauptschule als Restschule“  Ausdruck  dieser Gleichheitskrise.

Seit den 60er Jahren passten sich die Bildungssysteme in Europa dem Wachstum durch zunehmende Differenzierung an. Es entstanden neue Differenzierungsstufen   und  neue Differenzierungszweige   (z.B. „Orientierungsstufen“ und technische Zweige  im Sekundarbereich). Neben traditionell differenzierende Systeme traten  gesamtschulartige Systeme mit verschiedenen Formen innerer Differenzierung. Auf diese Weise  sollte das Wachstum im Bildungswesen durch Auslese-,  Verteilungs- und Filtermaßnahmen wenn schon nicht begrenzt, so doch  in geordnete Bahnen gelenkt und so reguliert werden. Zur  Legitimation dieser neuen Differenzierungsmaßnahmen sollten deshalb  zugleich die  technische Qualität und die wissenschaftliche  Rationalität  der Auslese-  und  Verteilungsverfahren verbessert  werden.  Besonders deutlich  war diese Tendenz im tertiären Bereich  im  Zusammenhang mit  Numerus  Clausus ausgeprägt. Wie  die  zunehmende  Absurdität unserer  verschiedenen  Numerus-Clausus-Praktiken  belegt,  konnte und  kann diese Differenzierungskrise weder mit  Hilfe  verbesserter Lyrik  (Lieblingsvokabeln  sind  „Straffung“  und  „Entrümpelung“) noch  mit Hilfe verbesserter Selektionsverfahren  und Ausleserituale bewältigt  werden, ein Ausweg, der im Rahmen von  Bürokratiekultur nahe lag. Sie bescherte uns immer spaßigere Vorschläge, deren  jüngster darin besteht, ein bürokratisches Maß für Diplomarbeiten  einzuführen  und  diese  auf 60 Seiten … 40 Zeilen …  60  Anschlägen  zu begrenzen.

Die Differenzierungskrise trat jedoch nicht infolge der  administrativen  Unzulänglichkeit oder der mangelnden technischen Qualität  von Differenzierungsverfahren ein. Drei andere Entwicklungen sind  hierfür folgenreich: Zum einen hält weltweit die Tendenz der Bürger  an, für sich selbst oder für ihre Kinder längere Zeiten für Bildung  und Ausbildung  anzustreben, und zwar unabhängig von den  Chancen  im Beschäftigungssystem. Zweitens nimmt die Zahl nicht-staatlicher  Anbieter von Bildungsmöglichkeiten zu, wenn der Staat keine entsprechen-den oder keine qualitativ akzeptierten Bildungsangebote  machen kann. Drittens schließlich - und dies gilt für die Länder mit stagnierenden oder zurückgehenden Geburtenraten - kommt es zur Konkurrenz der Bildungseinrichtungen untereinander, die zunehmend um die knapper werdenden Schülerzahlen konkurrieren. Diese drei  Tendenzen wirken sich dahingehend aus, dass die Auslese- und Zuweisungsfunktionen  von  Bildungssystemen  immer  weniger wahrgenommen werden können. Auf irgendeine Art sind fast alle Bildungsabschlüsse zu haben, wenn auch die Bildungssysteme unübersichtlicher  werden. 

Doch  diese neue Unübersichtlichkeit lockt neue  Findigkeit  hervor. Differenzierung und Auslese haben einen Punkt erreicht, an dem  sich aufheben.
 

10. BILDUNGSSYSTEME UND PRINZIPIEN DER POSTMODERNE
 

Nachdem  ich so weit meine Auffassung von der aktuellen  Bildungskrise umrissen habe, möchte ich nunmehr in einigen Linien  mögliche Perspektiven für evolutionäre Weiterentwicklung aus der  chaosnahen Situation zeichnen. Dabei greife ich die von Welsch als  Grundprinzipien  postmodernen  Denkens aufgewiesenen Begriffe  „Vielfalt“  und „Transversale Vernunft“ auf.

Das Prinzip der Vielfalt beinhaltet zunächst eine Absage an Einheitsvorstellungen im Sinne hierarchischer Bindungen. Vor allem  verlangt es  die  Abkoppelung  der Bildungssysteme  von  der  spätmodernen Bürokratiekultur. Diese Freisetzung wird allerdings durch neue,  nun allerdings vielfältige und schwächere Bindungen an andere  Kulturen ausgeglichen  werden müssen. Das Prinzip der  „transversalen  Vernunft“  enthält  auf der anderen Seite eine Absage  an  Chaos  und Beliebigkeit.  Es setzt auf die Evolution von  neuen,  nichthierarchischen  Regulierungsstrategien.  Zur  Konkretisierung  dieser   beiden Prinzipien  nun  einige Optionen, die ich nicht  als  programmatische Forderungen  verstanden  wissen will, sondern als  Anlehnung  an Tendenzen, die bereits deutlich erkennbar sind.
 

11. VIELFALT UND TRANSVERSALE VERNUNFT IN BEZUG AUF DIE TRŽGER VON BILDUNGSSYSTEMEN UND BILDUNGSEINRICHTUNGEN
 

Vielfalt  der  Träger von Bildungseinrichtungen  erfordert  zunächst einmal „Entmonopolisierung“, nicht zu verwechseln mit der Ersetzung eines  Monopols durch ein anderes, etwa des  bürokratischen  durch ein  klerikales oder ein Parteienmonopol. Schon gegenwärtig gibt  es weltweit  die  verschiedensten  Träger  von  Bildungseinrichtungen, angefangen von Vereinen und Wohngemeinden über Elternvereinigungen  und Wirtschafts-betriebe verschiedenster  Gesellschaftsform  bis hin  zum Privatlehrer. Die Angst vor unseriösen Anbietern  ist  verständlich,  aber  wie wir derzeit  im  Weiterbildungsbereich  unserer neuen  Bundesländer sehen, sind es Reaktionen der Betroffenen  und der Öffent-lichkeit,  die als wirksame Korrektive  wirken,  nicht  die überforderten Bildungskontroll-behörden. Auch in diesem Falle  erweisen sich größere Öffentlichkeit, höhere Transparenz und verbesserte Kommunikation als Wege transversaler Vernunft den Wegen  moderner hierarchischer Vernunft überlegen, wie sie sich in den verschiedenen Formen bürokratischer Kontrolle niederschlagen, noch dazu, da deren Effizienzim raschen Niedergang begriffen ist.
 

12. VIELFALT UND TRANSVERSALE VERNUNFT IN BEZUG AUF DIE EINZELNEN BILDUNGSEINRICHTUNGEN
 

.Diese ist dann gegeben, wenn jede einzelne Bildungseinrichtung sich um ein eigenes Profil, um ihre eigene spezifische  „Unternehmenskultur“ bemüht und auch bemühen kann, weil sie nicht durch Vorgaben von  Bürokratien zum Einheitstyp verpflichtet wird. Diese kann  von weltanschaulichen Akzenten bestimmt sein, aber auch von regionalen, lokalen,  beruflichen, ästhetischen und diätetischen, aber  auch  vom Teamgeist  derer,  die sie gestalten. Und das sind  keineswegs  nur Lehrer, sondern vor allem die Lerner selbst. Wir sollten keine Gefahr darin  sehen,  dass durch Steigerung  von  Vielfalt  gesellschaftliche Ungleichheit erhöht wird, zumindest nicht über das Maß hinaus,  das Bürokratiekultur ohnehin erzeugt hat und noch erzeugt.
 

13. VIELFALT UND TRANSVERSALE VERNUNFT DER CURRICULA
 

Ganz allgemein gesprochen kann von einer Vielfalt der Curricula die Rede sein,

* wenn im Rahmen eines festen Fächerkanons eine Vielfalt der didaktischen Konzepte entsteht,die Möglichkeiten der Bewertung und Gewichtung der einzelnen Inhalte und Wissensgebiete zunehmen,die Anzahl der als „lehrplanwürdig“ erachteten Fächer durch Aufnahme neuer Fächer und Inhalte in den Lehrplan wächst,
*die Gleichwertigkeit der Fächer und Lerninhalte für die Bildungsabschlüsse zunimmt,
* der Grad der Wahlfreiheit zunimmt,
* die Verteilung der Lernzeit auf die einzelnen Fächer variabel wird und
* wenn das Spektrum der akzeptierten Lehrbücher und Lehr-Lernmaterialien sich erweitert. 
Erkennbar sind solche Bemühungen um curriculare Vielfalt im besonderen bei Reform-bemühungen in denen neue Verknüpfungen zwischen allgemeinbildenden und berufsbilden-den Elementen ermöglicht werden, in  denen neue Wissensgebiete in  Prüfungsordnungen aufgenommen werden und in denen neue Lehrbücher zugelassen werden. 
Transversale  Vernunft wiederum ist erkennbar in vielseitigen  Verknüpfungen  und Assoziationen zwischen den einzelnen Fächern  und Wissensgebieten, in inter- und transdisziplinären Bemühungen und in intradisziplinären Prozessen der Selbstreflexion, in denen die Repräsentanten  der Fächer deren Möglichkeiten und Grenzen ebenso  zum Thema  machen, wie ihre impliziten Welt- und  Menschenbilder  sowie ihre internen Konfliktpunkte und Positionsunterschiede. Nicht zuletzt auch  tritt transversale Vernunft zutage, wenn Experten sich  bemühen, ihr Wissen in den Horizont von Laien und Novizen zu  übersetzen. 
 
 
14. VIELFALT UND TRANSVERSALE VERNUNFT DER LERNSTILE UND LERNSTRATEGIEN
 
 
Dass das Prinzip der Vielfalt auch in bezug auf das Subjektverständnis  gilt, gehört zu nahezu allen Varianten  moderner  pädagogischer Rationalität, für die bekanntlich die Bildung der individuellen Persönlichkeit  zur zentralen Botschaft wurde. Dieses Prinzip  konnte  sich jedoch  in  den von den Prinzipien bürokratischer  Rationalität  bestimmten Bildungssyste-men, Bildungsprogrammen und Prüfungssystemen nicht durchsetzen. Die Kluft zwischen pädagogischen Ansprüchen und  bürokratischen Realitäten ist hier besonders groß. Die von  der Unterrichtsforschung  vielfach  belegte  Wechselbeziehung  zwischen Lernleistungen,  Lernstilen und Lernumgebungen  unterstreicht  die Notwendigkeit,  die Vielfalt der Lernstile und der Lernstrategien  zu akzeptieren und hierfür geeignete Lernbedingungen zu schaffen. Die Akzeptanz vielfältiger Lernstile kommt etwa darin zum Ausdruck, dass Bevorzugungen von serialistischen Lernern gegenüber holistischen in der Weise entfallen, wie sie sich im Rahmen bürokratischer  Rationalität  herausgebildet  haben. Sie finden ferner ihren  Nieder-schlag  in der  Zunahme  von Lernaufgaben und  Lernumgebungen,  bei  denen Synthese und Design ein gleiches Gewicht erhalten wie Analyse  und kognitive Routinen.

Wenn  schließlich  breitere Akzeptanz für  die  Verschiedenheit  der Lernstile  und  der  Lernstrategien erreicht wird,  kann  auch  das Verhältnis  von  Lernern und Lernhelfern davon  nicht  unbetroffen sein. Transversale Vernunft könnte dann als erhöhte Sensibilität  für lern-  und lehrstilbedingte Interaktionen und  Wechselwirkungen  in Erscheinung  treten.  Sie könnte aber auch in  veränderten  Formen didaktischer Kommunikation ihren Niederschlag finden, indem antagonistische  Rollenzuschreibungen  von „Lehrer“  und  „Schüler“  sich zugunsten  gemeinsamer Lerninteressen auflösen wie dies im  Bereich der Weiterbildung bereits häufig der Fall ist. Und sie könnte schließlich  Ausdruck finden in einer Veränderung, die das  „Regime  über den Sinn“ betrifft, 
 

15. VIELFALT UND TRANSVERSALE VERNUNFT DER DIDAKTISCHEN MODELLE UND DER LEHRMETHODEN
 

Die Menschheit hat in ihrer Geschichte eine große Vielfalt der Formen organisierten Lernens und systematischer Wissensvermittlung  erfunden.  Die  spätmodernen Bildungssysteme mit ihrer  Orientierung  an Bürokratiekultur haben diese Vielfalt im wesentlichen auf eine Grundform reduziert, den sogenannten Frontalunterricht. Er ist offenbar die dieser Kultur optimal angepasste Lehr-Lernmethode. Sowohl die in der europäischen Tradition überlieferten Didak-tiken der Ritter,  Priester, Mediziner,  Handwerker und Dichter als auch die von  pädagogi-schen Reformern  entwickelten Alternativen hatten und haben deshalb  nur geringe  Chancen im modernen Bildungssystemen, weil sie der  Bürokratiekultur weniger angepasst sind.

An der Peripherie, im Bereich der betrieblichen Aus- und  Weiterbildung   und in den außer-schulischen Bildungseinrichtungen  erfreuen sich  die  Alternativen zum  Frontalunterricht jedoch  zunehmender Beliebtheit.  Dies gilt für Simulationen und Lernprojekte ebenso wie für Fallmethode und Famulatur. Vielfalt der didaktischen Modelle und der Lehr-Lernmethoden ist demnach prinzipiell gegeben. Was vorerst weitgehend  fehlt,  ist  ihre größere Akzeptanz  in  den  öffentlich-allgemeinbildenden Schulen.

Was das Prinzip der transversalen Vernunft anbelangt, so könnte  es sich in verschiedener Weise Geltung verschaffen. Zunächst als Ablehnung  von Propaganda für die eine, neue, beste  Universalmethode. Sodann alsBewusstsein für die Bedingungen, Grenzen und  Mög-lichkeiten  jeder einzelnen Lehr-Lernmethode, was im  besonderen  auch die  Reflexion der kulturellen und geschichtlichen Herkunft der  einzelnen Modelle und Methoden einschließt. Und schließlich als  Herausarbeitung  der ihnen impliziten Menschen- und Weltbilder.  Dass  sich hieraus  auch  neue  Herausforderungen für  die  Entwicklung  von didaktischen  Kategorial-Modellen  ergeben, sei nur am  Rande  vermerkt.
 

16. RÜCKBINDUNG DES ORGANISIERTEN LERNENS AN KULTURENTWICKLUNG
 

Bis  hierher habe ich versucht darzustellen, wie sich  Entwicklungen im  Kultursystem in den Bildungssystemen wiederfinden  und  widerspiegeln.  Zum Schluss soll die Frage nach den  möglichen  Beiträgen gestellt  werden,  die organisiertes Lernens  zur  Kulturentwicklung leisten könnte. Nach den bisherigen Überlegungen kann dies nicht im Sinne  einer „Verän-derung der Gesellschaft durch die  Schule“  gedacht sein, sondern nur noch als bewusste, Kontexte berücksichtigende  Gestaltung von Lernkultur („didaktische Rationalität“), die  ihre Beziehungen zu den sie umgebenden anderen Teilkulturen bzw.  Teilrationalitäten im  Sinne  transversaler Vernunft  neu  regelt.  Diese Lernkultur ist als Kultur der Vielheit und des Vie-len zu denken.  Sie ist als Teilrationalität eigenen Anspruchs zu denken. Und sie ist  zu denken  als  vielfältig  und nicht-hierarchisch  verbunden  mit  den anderen Teilrationalitäten der Einzelkulturen.

Wenn  man Maßlosigkeit und Rücksichtslosigkeit als offenbar  unvermeidbare  Fehltugenden  moderner  Kultur gelten  lässt,  dann  wäre Kulturentwicklung (wie eine Zukunft der Menschheit überhaupt)  nur noch denkbar als Entwicklung von Kulturen der Bescheidenheit  und der Rücksichtnahme. Lernkulturen müssten somit selbst von  Bescheidenheit  („menschlichem  Maß“) und  Rücksichtnahme  geprägt  sein. Lernkulturen  dürfen dann weder mit hohem Energieverbrauch  noch mit hohem Materialverschleiß verbunden sein, sie müssen ihre Chance wahrnehmen, Lebensqualität und Kulturgestaltung mit Symbolen  und Kognitionen, mit sanften Technologien und hochorganisiertem  Wissen, mit Motiven der Askese und der Sparsamkeit zu erreichen, mit  einer Schonung von Zeit und Raum, von Menschen und Ressourcen.

Wie  auch immer man die Einwirkung und Einflussnahme der  sich  so entwickelnden Lernkulturen auf ihre Umgebungen denken mag  - als Anregung,  als Kommunikation, als Provokation oder  als  Konfrontation-, sie könnten die notwendige Perestroika von der spätmodernen zur postmodernen Kultur (oder zur postmodernen Moderne)  zugleich vollziehen und vorwegnehmen.
 
 

LITERATUR

(1) Jencks, Ch., The Language of Postmodern Architecture, London 1984, S. 9 ff.

(2) Meadows, D., u.a., Die Grenzen des Wachstums, Reinbek 1972.

(3) Schumacher, E. F., Small is Beautiful, London 1973.

(4) Bengtsson, J., u.a., Zukünfte der Erziehung, München 1973.

(5) Illic, I., Entschulung der Gesellschaft, München 1972.

(6) Faure, E., Learning to be, Paris/London 1972.

(7) Sloterdijk, P., Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt 1987.

(8) Habermas, J., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt 1981, S. 173 ff.

(9) Laszlo, E., Evolution - Die neue Synthese, Wien 1987.

(10) Welsch, W., Unsere postmoderne Moderne, 2. Aufl., Weinheim 1988.

(11) Spindler, G. D., The Transmission of Culture. In: Spindler, G. D. (ed.), Education and Cultural Process, 2. Aufl., Prospect Heights 1987, S. 302 ff.

(12) Hall, E. T., Key Concepts: Underlying Structures of culture. In: Hall, E. T., and Hall, M. R. (ed.), Understanding Cultural Differences, Yarmouth 1990, S. 3 ff. 

(13) Weniger, E., Die Theorie der Bildungsinhalte und des Lehrplans, Weinheim o. J.