Christian Wagenknecht http://www.gwdg.de/~cwagenk/

Auguste über Bürger

Eine Göttinger Skandalgeschichte aus dem 20. Jahrhundert

Die Zeitschrift Auguste. Informationen aus dem Frauenbüro der Universität Göttingen hat im Wintersemester 1997/98 über «eine Göttinger Skandalgeschichte aus dem 18. Jahrhundert» berichtet: die Scheidung der Bürger‘schen Ehe im Jahre 1792. Einleitend werden vor allem «die große Eile, mit der das Gerichtsverfahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit vonstatten ging», und das «unverhältnismäßig harte Urteil, das die Schuldbeladene mittellos der Straße überließ», energisch gerügt. Den Hauptteil des Artikels bildet eine «Festrede für Gottfried August Bürger von Elise Bürger», die bei einer «Doppel-Geburtstagsparty» für Bürger und Heine im Dezember 1997 gehalten worden ist. Darin läßt die Autorin (Traudel Weber-Reich M. A.) die Festrednerin unter anderem sagen: «Du hast mich als Ehebrecherin vor [von?] dem Universitätsgericht aburteilen lassen. Deine Juristenfreunde glaubten Recht zu sprechen, obwohl sie keine Beweise für eine eheliche Untreue fanden. Die ganze Sache war ein abgekartetes Spiel und lief auf die Scheidung hinaus, die ich wie eine Erlösung ersehnte.» Eine Richtigstellung dieses Artikels ist im nachfolgenden Heft der Auguste (Sommersemester 1998) erschienen:

Die in Heft 5 der Auguste versuchte Ehrenrettung für Elise Bürger geht nicht bloß mit einer Ehrenkränkung der Universität und zweier ihrer angesehensten Mitglieder einher, sie enthält auch so viele schiefe oder falsche Angaben, daß der Eindruck entstehen muß, als hätte Traudel Weber-Reich die Protagonistin der «Göttinger Skandalgeschichte» dem Licht der Wahrheit lieber nicht aussetzen wollen.

Aus meiner Mängelliste:

(1) Elise Bürger ist nicht als Ehebrecherin verurteilt, sie ist bloß schuldig geschieden worden. Infolgedessen hat das Universitätsgericht sie allerdings «verurteilt»: zur Erstattung der verursachten Kosten.

(2) Das Gericht hat zwar keine Beweise für eine eheliche Untreue gefunden, es hat aber auch keine zu suchen gebraucht: weil Elise Bürger in flagranti ertappt worden ist und den Ehebruch unter Mitteilung kompromittierender Briefe schriftlich eingestanden hat.

(3) Die Verhandlung hat unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden, aber das war bei Ehescheidungen damals (wie noch in jüngster Zeit) die Regel. Die alsbald verreiste Elise Bürger hat sich vor Gericht durch einen Anwalt vertreten lassen.

(4) Das Gerichtsverfahren ist nicht mit besonderer Eile vonstatten gegangen, vielmehr sind zwischen dem Eingang der Scheidungsklage und der Bekanntmachung des Endurteils mehr als sechs Wochen vergangen.

(5) Dem Universitätsgericht haben nicht nur Juristen (oder gar nur Bürgers «Juristenfreunde») angehört, sondern außer dem Dekan der Juristischen Fakultät auch der Prorektor und die Dekane der übrigen Fakultäten.

(6) Lichtenberg hat Bürgers vormalige Ehefrau allerdings einmal «das infamste Geschöpf auf Gottes Erdboden» genannt, dies aber im Zusammenhang einer Sudelbuch-Notiz (J 1175), die ein Schema möglicher Romanmotive entwirft.

(7) Derselbe Lichtenberg soll «bekanntlich die 13jährige Dorothea Stechardin zur Frau genommen» haben. Tatsächlich hieß seine Frau Margarete Kellner und war bei der Heirat 21 Jahre alt. Als er ein Jahrzehnt vorher Dorothea Stechard zur Geliebten und in sein Haus genommen hat, war sie konfirmiert, also mindestens 14 Jahre alt, nach geltendem Recht also heiratsfähig.

(8) Elise Bürger ist nicht «noch vor drei Jahren vergessen» gewesen, vielmehr ist sie (auch dank Hermann Kinders Buch von 1981) «bis heute nicht vergessen». So jedenfalls steht es in einem vor fünf Jahren erschienenen Artikel derselben Traudel Weber-Reich zu lesen.

Ebenda: «Für uns wäre eine Neubearbeitung von Elise Bürgers Theaterstücken, Prosatexten und Gedichten sowie ihres Briefwechsels bestimmt ein lohnendes Unterfangen.» Man darf gespannt sein.

Christian Wagenknecht

Auf diese Mängelliste hat die Autorin am 3. Juni 1998 mit einem Schreiben reagiert, das ebenfalls in der Auguste vom Sommersemester 1998 abgedruckt worden ist. Aus der sich daran anschließenden Korrespondenz:

12.06.98

Sehr geehrte Frau Weber-Reich,

haben Sie für Ihr Schreiben vom 3. Juni aufrichtigen Dank. Ich möchte jedoch nicht auch noch die Falschmeldungen und Fehldeutungen Ihrer Erwiderung berichtigen – und beschränke mich stattdessen bloß auf die Frage, ob Ihre Angabe:

Nun, was er [Bürger] sah, kommentierte er detailliert, es ging um den Austausch von Zärtlichkeiten, nicht um einen Sexualakt!

sich wirklich mit einem Bericht vereinbaren läßt, in dem es heißt:

Der junge Herr schob unter fortgesetzten Küssen, seine eine Hand in den Busen der Schändlichen. Ich hielt Contenance. Er schob die andere in den Rockschlitz, und operierte da einige Minuten fort. Ich hielt Contenance. Madame dehnte und streckte sich wohllüstig, und es schien, daß die Hand nicht recht bequem auf den Fleck der Wohllust gelangen könne. Ich hielt Contenance, und dachte: Dabei bleibt’s noch nicht! Mein junger Herr zog die Hand aus dem Schlitze, erhob sich, hob Röcke und Hemd auf, und wälzte sich zwischen die blanken Lenden, die sich ihm mit wohllüstiger Willigkeit öffneten. Mit dem Munde hing man schon immer die ganze Zeit über wohllusttrunken zusammen; jetzt suchte man auch wohl die Haupttheile zusammen zu fügen, und hatte es entweder schon gethan, oder war nahe daran.

Ein Austausch von Zärtlichkeiten? Und wegen einer solchen Lappalie hat Bürger sich scheiden lassen?

«Was wollte der Professor für Deutsche Literaturwissenschaft Dr. Christian Wagenknecht mit seiner angriffslustigen Gebärde eigentlich bezwecken?» Eigentlich nicht weniger und kaum mehr als: den Nachweis, daß die Angaben Ihres Kabarettstücks, auch wo sie auf historischen Quellen «basieren», gutenteils schief oder falsch sind. Dank Ihrer Erwiderung hat meine Mängelliste jetzt noch einige Posten mehr.

Ich bin mit freundlichen Grüßen Ihr pp.

P. S. Was die fragliche Sudelbuch-Notiz betrifft, die ich nach Leitzmann (J 1175) angeführt habe, so steht es Ihnen natürlich frei, sie nach Promies (J 1200) anzuführen. Warum aber sollte die Tatsache, daß die in mancher Hinsicht bessere Ausgabe Ihnen unbekannt geblieben ist, mir zum Vorwurf gereichen?

21.06.98

Sehr geehrte Frau Weber-Reich,

erlauben Sie mir bitte einen Nachtrag zu meinem Brief vom 12. Juni. Da Sie mir nun einmal empfohlen haben, das Gerichtsurteil in Sachen Bürger gegen Bürger statt nach Hermann Kinders Buch lieber nach dem Original im Universitätsarchiv (E LXXV/2) anzuführen, dem ich entnehmen könne, daß Elise Bürger eben doch «wegen Ehebruchs verurteilt» worden sei, habe ich die Akte inzwischen in Augenschein genommen und zu meiner Überraschung festgestellt, daß an Kinders Wiedergabe außer einem geringfügigen Fehler [«U(niverstitäts) Synd(icus)» statt «V(ice) Synd(icus)»] sachlich überhaupt nichts auszusetzen ist. Demnach ist Elise Bürger zwar schuldig geschieden, nicht aber wegen Ehebruchs (oder gar «als Ehebrecherin») verurteilt worden. Vielmehr hat das Gericht sich einer solchen Verurteilung geradezu widersetzt – wie aus dem Konzept des Urteils in derselben Akte zu erschließen ist, dessen Verfasser, der Syndicus Johann Friedrich Hesse, vorgeschlagen hatte, Beklagtin zu verpflichten, sich «binnen 6 Wochen nach Eröfnung dieses bey dem Academischen Gerichte in Person zu stellen, und sich wegen des geständlich unternommenen Ehebruchs vernehmen zu lassen, hiernächst aber der deshalb verwirkten Bestrafung zu unterwerfen, oder andere gerichtliche Verfügungen zu gewärtigen.» Eigentlich sollte sie auch «ihres eingebrachten Vermögens überhaupt» und «nicht blos des Brautschatzes verlustig erklärt werden». Beidem hat (wie Sie beim Studium der Gerichtsakte gewiß selber bemerkt haben) der Rechtsgelehrte Johann Stephan Pütter widersprochen:

Meines Erachtens wäre das Urtheil so, wie ich es bey dem anliegenden Entwurfe bemerklich gemacht habe, abzufassen, weil hier nicht sowohl Aufhebung der Ehe (die eigentlich ex capite nullitatis geschieht,) als eine eigentliche Ehescheidung (ex capite diuortii ob adulterium) statt findet.

Nach der Nov. 117. cap. 8. §. 2. glaube ich auch, daß im Urtheile billig nur auf die priuationem dotis zu erkennen sey.

Da wir endlich nur in causa diuortii zu sprechen haben, wozu allenfalls adulterium praesumtum hinreicht, womit es zur Criminal-Bestrafung doch noch eine andere Bewandtniß hat, und da ohnedem Beklagtinn ausser Landes abwesend ist; so werden wir nicht fehlen, wenn wir den Anhang einer ex officio anzustellenden weiteren Untersuchung des Ehebruchs halber vorkommenden Umständen nach weglassen.

Das Gericht ist Pütters Auffassung gefolgt. Man hat also keine «weitere Untersuchung des Ehebruchs halber» angestellt, schon gar nicht Beklagtin einer «Criminal-Bestrafung» unterworfen. So viel zur Frage der Verurteilung.

Im übrigen kann auch davon keine Rede sein, daß G. A. Bürger (falls Sie mit «Bürger» ihn gemeint haben) den Namen des Liebhabers vor Gericht nicht preisgeben wollte, «um sich die angesehene Familie nicht auf den Hals zu laden». Aus seinem Brief an die Schwiegermutter, den Sie hier (nach Kinder) zitieren, geht unzweideutig hervor, daß mit eben dieser Absicht Elise Bürger den Namen des Grafen nicht hat preisgeben wollen. (Sonst hätte Bürger ja doch schreiben müssen: «um mir die angesehene Familie nicht auf den Hals zu laden».) Wenn das keine Fälschung ist – hat Ihre Voreingenommenheit Ihnen einen bösen Streich gespielt.

Ich bin mit freundlichen Grüßen (und bestem Dank für die Einladung zum Studium der Scheidungsakte) Ihr pp.

*

17.07.98

Sehr geehrte Frau Weber-Reich,

ich werde gefragt, ob im nächsten Lichtenberg-Jahrbuch, das sich hauptsächlich mit Bürger befassen soll, unsere Kontroverse um die Scheidungsgeschichte dokumentiert werden kann. Ich wäre einverstanden, und Sie werden jedenfalls dann nichts dagegen haben, wenn man Sie ein Schlußwort sprechen läßt. Für eine korrekte Darstellung kann ich mich verbürgen. Ob Sie mir Ihr Einverständnis wohl in ein paar Zeilen mitteilen wollen?

Ich bin mit freundlichen Grüßen Ihr pp.

PS. Im gerade erschienenen Lichtenberg-Jahrbuch 1997 dürfte Sie besonders Beate Kleppers (nach meinem Eindruck) exzellenter Aufsatz über die Stechardin interessieren.

07.11.98

Sehr geehrte Frau Weber-Reich,

für den Fall, daß mein Brief vom 17. Juli Sie nicht erreicht hat, übersende ich Ihnen, unter Wiederholung der damaligen Bitte, in der Anlage ein Duplikat. Weil die Drucklegung des Lichtenberg-Jahrbuch nun bald beginnen soll, möchte ich mir zur Abkürzung des Verfahrens erlauben, Ihre Zustimmung vorauszusetzen, wenn ich bis zum 17. Januar keinen anderen Bescheid erhalte.

Ich bin mit freundlichen Grüßen Ihr pp.

In der nun postwendend erteilten Antwort vom 11. November 1998 hat Traudel Weber-Reich dann mitgeteilt, sie wünsche ihre in den Schreiben vom 17. 7. und und vom 7. 11. 1998 «angesprochenen» Briefe nicht publiziert zu sehen.

15.11.98

Sehr geehrte Frau Weber-Reich,

darf ich Sie in Erwiderung Ihrer Nachricht vom 11. November fragen, ob Sie mit den Briefen, die ich in meinen Schreiben vom 17. Juli und vom 7. November angesprochen haben soll und die Sie erklärtermaßen nicht veröffentlicht zu sehen wünschen, Ihren Brief vom 3. Juni des Jahres meinen, den Sie selber in Heft 6 der Auguste veröffentlicht haben? In diesem Fall sollten Sie sich füglich mit einem entsprechenden Widerruf an das Frauenbüro der Hochschule wenden. Im übrigen bleibt die Einladung zu einem Schlußwort selbstverständlich bestehen.

Ich bin mit freundlichen Grüßen Ihr pp.

Daraufhin hat Traudel Weber-Reich am 20. November 1998 in aller Form erklärt, sie sei «mit der Veröffentlichung unseres Briefwechsels oder mit der Zitierung von Teilen meines Briefes vom 3. Juni 1998 im Lichtenberg-Jahrbuch nicht einverstanden». Damit betrachte sie die Angelegenheit für sich als endgültig erledigt. Als die Herausgeber des Jahrbuchs keine entsprechende Verzichtserklärung abgeben mochten, nahm die Frauenbeauftragte der Universität die Sache der Autorin selbst in die Hand: indem sie per Einschreiben (nachrichtlich an CW) den Wiederabdruck der inkriminierten Artikel, sicherheitshalber auch der Richtigstellung kurzerhand verbot.

Göttingen, 12. Apr. 99

Sehr geehrter Herr PD Dr. Joost,

hiermit teile ich Ihnen mit, daß ich Ihnen die Erlaubnis, folgende in unserer Zeitschrift Auguste veröffentlichte Texte, im Lichtenberg Jahrbuch erneut abzudrucken, nicht erteile:

- Auguste. Informationen aus dem Frauenbüro der Universität Göttingen, Heft 5, WS 1997/98, S.22-23

- Auguste. Informationen aus dem Frauenbüro der Universität Göttingen, Heft 6, SS 1998, S.40-42.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Ulrike Witt

(komm. Universitätsfrauenbeauftragte)

Darum kann hier und heute die Kontroverse nur zur Hälfte dokumentiert werden. Wer alle von der Auguste in dieser Angelegenheit veröffentlichten Schriftsätze kennenlernen möchte, wendet sich am besten unmittelbar an das Frauenbüro der Hochschule: Goßlerstraße 15a, 37073 Göttingen. Vielleicht ist dort auch etwas über die Gründe zu erfahren, aus denen eine Zeitschrift der Georgia Augusta sich vor Jahresfrist bereit gefunden hat, das akademische Gericht einer Rechtsbeugung zu beschuldigen und Bürger als Opportunisten, Lichtenberg als Kinderschänder darzustellen – da ihr neuerdings doch alles daran gelegen scheint, daß diese Anwürfe nicht öffentlich wiederholt werden und der ganze peinliche Vorfall so schnell wie möglich in Vergessenheit gerät. Und gewiß wäre die Angelegenheit auch kaum des Aufhebens wert, wenn die Verbindung von mutwilliger Geschichtsklitterung und hasenherziger Selbstverleugnung, die darin exemplarisch zutage tritt, nicht den Wunsch nur desto dringlicher erscheinen ließe, es möge die Sache der Frauen wenigstens an der Universität anders geführt werden als mit den Mitteln einer unverantwortlichen Journalistik.

Göttingen, 14. April 1999